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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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wandten, dass ich ins Spital gebracht werden konnte. Hier operierten<br />

sie mein linkes Auge, und nach drei Monaten konnte ich<br />

wie<strong>der</strong> etwas lesen. In dieser Zeit erfuhr ich auch, was mit den<br />

«Jungen Tigern» geschehen war. Zwei hatten sie hingerichtet;<br />

die an<strong>der</strong>en waren ins Gefängnis geworfen worden.<br />

Damit beende ich die Erzählung über diese Zeit.<br />

Es dauerte drei Jahre, bis ich erneut verhaftet wurde. Sie<br />

fanden schnell einen Grund. Kaum konnte ich wie<strong>der</strong> sehen, begann<br />

ich mich erneut für mein Land einzusetzen und verteilte<br />

Flugblätter. Ich war überzeugter denn je. Weil ich an die Unabhängigkeit<br />

Tibets glaube. Weil ich mein Land liebe. Weil Tibet<br />

unrechtmässig besetzt ist. Weil ich <strong>auf</strong> eine bessere Zukunft hoffe.<br />

Und weil ich davon ausging, es würde endlich zu einem Volks<strong>auf</strong>stand<br />

kommen. Endlich würden sich meine Landsleute erheben<br />

und gemeinsam würden wir Tibet befreien. Aber es kam<br />

nicht so weit. Am 1. September 1983 holten sie mich und brachten<br />

mich zurück ins Gefängnis. Aufgrund meiner schlechten Augen<br />

hatte ich nicht bemerkt, dass Polizeispitzel mich beschatteten.<br />

Im Gefängnis wurde ich wie<strong>der</strong> verhört, zwei Tage lang,<br />

vielleicht auch drei, was weiss ich. Ich sagte dasselbe, was <strong>auf</strong><br />

meinen Flugblättern stand: dass Tibet unabhängig werden müsse.<br />

Sie erwi<strong>der</strong>ten dar<strong>auf</strong>, ich sei kein guter Bürger. Ich sei gegen<br />

die Revolution. Und ich sei auch kein guter Mensch. Achtzehn<br />

Monate sass ich in Untersuchungshaft, dann kam es zur Verhandlung.<br />

Die erste Verhandlung übrigens; bis anhin hatte ich<br />

meine Strafen immer ohne Urteil abgesessen. Vier Richter sassen<br />

mir gegenüber, einen Verteidiger hatte ich nicht, und Publikum<br />

war nicht zugelassen, obwohl die Verhandlung in einem<br />

Saal mit tausend Plätzen stattfand. Ich sass in einem Käfig und<br />

trug Handschellen. Wie<strong>der</strong> hörte ich, was für ein schlechter<br />

Mensch ich sei, dar<strong>auf</strong> teilten sie mir das Verdikt mit: fünfzehn<br />

Jahre.<br />

Ich war sprachlos. Fünfzehn Jahre. Wie sollte ich überleben?<br />

Als sie mir schliesslich das Wort erteilten, sagte ich: «Ich akzeptiere<br />

das Urteil nicht! Was habe ich getan – ausser mich für mein<br />

Land einzusetzen? Ich bin nicht schuldig. Hören Sie: Ich bin nicht<br />

schuldig!» Aber natürlich half es nicht. Diesmal brachten sie<br />

mich in ein an<strong>der</strong>es Gefängnis, immerhin war es etwas besser,<br />

keine Baracke mit Sandboden, son<strong>der</strong>n ein Neubau mit richtigen<br />

Betten, zwei übereinan<strong>der</strong>, zwölf in einem Raum. Alle, die hier<br />

lebten, hatten sehr lange Strafen abzusitzen. Es war auch das<br />

Vorzeigegefängnis, wie sich herausstellte. Das bedeutete, dass<br />

offizielle Besucher und ausländische Delegationen hierhin geführt<br />

wurden, denen man den chinesischen Gefängnisalltag<br />

demonstrieren wollte. Das war clever gemacht, denn von den Insassen<br />

hier traute sich niemand zu klagen – aus Angst, dass die<br />

Strafe zusätzlich verlängert würde.<br />

Die ersten Jahre verliefen ruhig, bis es im Herbst 1987 in<br />

Lhasa wie<strong>der</strong> zu Aufständen kam. Weil Mönche und Nonnen gefoltert<br />

wurden. Weil schwangere Frauen zur Abtreibung gezwungen<br />

wurden. Weil Neugeborene erstickt o<strong>der</strong> mit Injektionen getötet<br />

wurden. Wir hörten im Gefängnis davon. Eines Tages,<br />

während dem Morgenessen, schrie ich laut: «Freiheit für Tibet!<br />

Gefangene, wehrt euch! Solidarisieren wir uns! Aufstand im Gefängnis!<br />

Aufstand!!»<br />

Aber nichts passierte. Niemand unterstützte mich. Einzige<br />

Folge war, dass ich erneut in Einzelhaft gesetzt wurde, wor<strong>auf</strong> ich<br />

zehn Tage lang Nahrung und Wasser verweigerte. Sie versuchten,<br />

mich zwangsweise zu ernähren, aber ich würgte alles wie<strong>der</strong><br />

hinaus, solange, bis sie <strong>auf</strong>gaben. Sie sagten: «Dann krepier halt!»<br />

Mit <strong>der</strong> Einzelhaft war es aber nicht erledigt. Ich wurde erneut<br />

angeklagt. Zur Verhandlung waren diesmal mehrere hun<strong>der</strong>t Zuschauer<br />

zugelassen, denen ich als Beispiel für einen schlechten<br />

Menschen vorgeführt wurde. Der Staatsanwalt stellte den Antrag,<br />

mich hart zu bestrafen, und die Richter erwogen tatsächlich,<br />

mich hinrichten zu lassen. Schliesslich entschieden sie aber,<br />

mir «nochmals eine Chance» zu geben und mich nur zu zusätzlichen<br />

fünf Jahren zu verurteilen. Anstatt fünfzehn waren es nun<br />

zwanzig. Aber ich war bereit, jedes Urteil hinzunehmen. Für mich<br />

gab es keinen an<strong>der</strong>en Weg. Mein Herz sagte mir, was ich zu tun<br />

hatte, und wenn ich für mein Land mein Leben lassen musste.<br />

163 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 164

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