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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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Mitgefühl verleiht uns auch innere Kraft. Ist es erst einmal<br />

entwickelt, öffnet sich eine Tür im eigenen Innern, durch die wir<br />

uns mit unseren Mitmenschen und selbst mit an<strong>der</strong>en Wesen von<br />

Herz zu Herz leicht verständigen können. Hegen wir dagegen<br />

Hass und an<strong>der</strong>e böse Gefühle, empfinden die an<strong>der</strong>en uns gegenüber<br />

vielleicht ebenso. Das Ergebnis sind Misstrauen und<br />

Furcht, die eine Kluft zwischen uns schaffen und die Verständigung<br />

erschweren. Man fühlt sich einsam und isoliert. Sicher werden<br />

nicht alle uns gegenüber eine negative Einstellung hegen,<br />

aber bei einigen ist es sicher <strong>der</strong> Fall. Der Grund dafür liegt in<br />

unseren eigenen Gefühlen.<br />

An<strong>der</strong>en gegenüber negative Gefühle zu hegen und dennoch<br />

zu erwarten, dass man freundlich behandelt wird, ist unlogisch.<br />

Wenn wir von einer freundlichen Atmosphäre umgeben sein wollen,<br />

müssen wir zuerst einmal die Grundlage dafür schaffen. Ob<br />

die an<strong>der</strong>en dann dar<strong>auf</strong> positiv o<strong>der</strong> negativ reagieren, ist zweitrangig.<br />

Wir müssen den Boden für Freundlichkeit bereiten. Reagieren<br />

die an<strong>der</strong>en negativ dar<strong>auf</strong>, dann haben wir das Recht,<br />

uns entsprechend zu verhalten.<br />

Immer, wenn ich mit Menschen zu tun habe, versuche ich,<br />

mich so zu verhalten. Eigentlich braucht es keine offizielle Vorstellung<br />

bei einer ersten Begegnung mit einer Person, die ich<br />

noch nicht kenne. Ganz offensichtlich ist <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ein Mensch.<br />

In <strong>der</strong> Zukunft wird man vielleicht Roboter mit Menschen verwechseln<br />

können, aber im Augenblick besteht diese Gefahr nicht.<br />

Ich sehe ein Lächeln, ein paar Zähne und Augen und weiss, da ist<br />

ein an<strong>der</strong>es menschliches Wesen. Wir gleichen uns emotional,<br />

und auch was die körperlichen Merkmale angeht, sind wir uns<br />

ähnlich, manchmal mit Ausnahme <strong>der</strong> Farbe. Ob die Menschen<br />

im Westen nun aber gelbes, blaues o<strong>der</strong> weisses Haar haben, ist<br />

ziemlich unwichtig. Was zählt, ist, dass wir uns <strong>auf</strong> <strong>der</strong> emotionalen<br />

Ebene gleichen. Dadurch empfinde ich den an<strong>der</strong>en wie einen<br />

Bru<strong>der</strong> und begegne ihm spontan. In den meisten Fällen reagiert<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ähnlich und wird zum Freund. Manchmal<br />

gelingt es mir nicht, und dann habe ich die Freiheit, den Umständen<br />

entsprechend zu handeln.<br />

Grundsätzlich sollten wir einan<strong>der</strong> in aller Offenheit begegnen.<br />

Der an<strong>der</strong>e ist ein Mensch wie wir selbst. Es gibt gar nicht<br />

so viele Unterschiede zwischen uns.<br />

Mitgefühl schafft ganz natürlich eine positive Atmosphäre,<br />

in <strong>der</strong> man frei von Aggression und zufrieden ist. An einem Ort,<br />

an dem eine mitfühlende Person lebt, herrscht immer eine angenehme<br />

Atmosphäre, so dass sogar Tiere sich furchtlos nähern.<br />

Vor etwa fünfzig Jahren hielt ich einige Vögel im Norbulingka,<br />

dem Sommerpalast in Lhasa. Unter ihnen war ein kleiner Papagei.<br />

Zu jener Zeit hatte ich einen schon etwas älteren Betreuer,<br />

<strong>der</strong> mit seinen runden, strengen Augen ein wenig unfreundlich<br />

wirkte. Er fütterte die Vögel immer mit Nüssen. Schon beim<br />

Klang seiner Schritte o<strong>der</strong> sogar wenn er hustete, wurde <strong>der</strong> Papagei<br />

immer ganz <strong>auf</strong>geregt. Dieser Mann war zu dem kleinen<br />

Vogel aussergewöhnlich freundlich, und <strong>der</strong> Papagei reagierte<br />

mit aussergewöhnlicher Zuneigung dar<strong>auf</strong>. Ein paarmal gab<br />

auch ich ihm Nüsse, aber mir gegenüber zeigte er nie die gleiche<br />

Zuneigung. Manchmal versuchte ich ihn mit einem kleinen<br />

Stöckchen zu animieren, in <strong>der</strong> Hoffnung, dass er dann an<strong>der</strong>s<br />

reagieren würde, aber das Ergebnis blieb negativ. Ich wollte etwas<br />

erzwingen, und <strong>der</strong> Vogel reagierte nicht.<br />

Wenn man sich echte Freunde wünscht, sollte man also zuerst<br />

eine angenehme Atmosphäre erzeugen. Wir sind Gemeinschaftswesen,<br />

und Freunde sind wichtig. Wie bringt man Menschen<br />

zum Lachen? Wohl kaum, wenn man sich wie ein Stein<br />

benimmt und voller Misstrauen ist. Vielleicht schenken einem<br />

ein paar Leute ein künstliches Lächeln, wenn man reich ist o<strong>der</strong><br />

Einfluss hat, aber ein echtes Lächeln kommt nur aus echtem<br />

Mitgefühl.<br />

Die Frage ist also, wie man Mitgefühl entwickelt. Können<br />

wir wirklich ein vollkommen vorurteilsfreies, unparteiisches<br />

Mitgefühl entwickeln? Die Antwort dar<strong>auf</strong> ist ein eindeutiges<br />

«Ja». Obwohl früher und auch heutzutage vielfach die Ansicht<br />

vorherrscht, <strong>der</strong> Mensch sei von Natur aus aggressiv, denke ich,<br />

dass er sanft und gütig ist. Diesen Punkt wollen wir kurz betrachten.<br />

49 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 50

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