Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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so aus ihm heraus. Manchmal lachten wir, meistens weinten wir. Zum ersten Mal konnte er erzählen. Zwanzig Jahre seines Lebens hatte er verloren. Seine Gesundheit hatte er verloren. Wofür? Was hatte er getan? Doch noch immer hatte ich meine Mutter nicht gesehen. Ich sehnte mich so sehr nach ihr, und ich wollte sie aus ihrer misslichen Lage befreien. Denn inzwischen hatte mir mein Bruder erzählt, was man ihr angetan hatte. Im Verlaufe der Kulturrevolution war sie immer wieder gedemütigt und schikaniert worden. So zwangen die Chinesen die Angestellten meiner Mutter dazu, sich auf ihren Rücken zu setzen und auf ihr zu reiten. Auf diese Weise sollte ihr klar gemacht werden, dass es keine Klassengesellschaft mehr gibt und die einstigen Untergebenen nun die Oberhand haben. Von Kathmandu aus sandte ich deshalb ein Gesuch an die chinesischen Behörden, damit sie meiner Mutter ein Visum für einen Besuch in Indien ausstellen. Nein, lautete der erste Bescheid, meine Mutter habe Herzprobleme und könne nicht reisen, was aber nicht stimmte. Ich reklamierte, und nach einigem Hin und Her erhielt sie schliesslich das Visum. Im April 1980 kam der Tag, an dem mein Bruder und ich mit einem Taxi an die tibetischnepalesische Grenze fuhren, um unsere Mutter abzuholen. Beim Aussteigen sah ich eine alte Frau, beachtete sie jedoch nicht weiter. Das Gesicht sagte mir nichts. Erst als ich meinen Bruder reagieren sah, da realisierte ich: Das war meine Mutter! Ich hatte sie nicht erkannt, so sehr hatte sie sich verändert. Sie war wie gelähmt und konnte kaum sprechen, einerseits vor Freude, andererseits aus einer tiefen Angst, die in der vergangenen Zeit zu ihrem ständigen Begleiter geworden war. Als wir uns hinsetzten und ich sie nach der Situation zuhause fragte, da schaute sie sich immer wieder um und fragte leise: «Darf ich das sagen?» Sie hatte Angst vor Spitzeln. Und als wir dann im Hause meines Bruders angekommen waren, da merkte ich, dass sie sich auch angewöhnt hatte, stumm zu beten. Sie traute sich nicht mehr, Mantras laut zu sagen. Meine Mutter ist nicht nach Tibet zurückgekehrt. Sie ist 1989 in Ruhe und Frieden in Indien gestorben. Bis ich schliesslich auch meine drei Schwestern sehen würde, sollten noch einmal drei Jahre vergehen. Ich traf sie 1992 auf meiner ersten Reise nach Tibet. Es war ein erschreckendes Wiedersehen. Eine hatten die chinesischen Polizisten so lange gefoltert, dass sie heute stark gehbehindert ist; die zweite erhielt Hiebe auf den Kopf, bis sie taub wurde. Nur die dritte hat die Besetzung einigermassen unbeschadet überstanden. Tibet ist mir seither fremd. In Lhasa kann ich mich kaum orientieren. Plötzlich gibt es hier eine Flut chinesischer Gesichter, plötzlich diese unzähligen Autos, und die Häuser sind in den Himmel gewachsen. Deshalb bezeichne ich heute die Schweiz als meine Heimat, oder zumindest als meine zweite Heimat. In mir steckt inzwischen viel einer typischen Schweizerin. Ich denke nicht mehr wie eine Frau aus Tibet, ich bin offener und direkter geworden. Ich sage meine Meinung, ich nehme meine Rechte wahr. Ich habe auch schon eine 1.AugustRede in unserer Gemeinde gehalten. Das heisst, mein Herz ist in zwei Ländern zuhause. So betrachtet, ist das übrigens ein Gewinn. Ich kenne nicht nur eine Kultur, ich kenne zwei. Ich kenne nicht nur eine Lebensart, sondern zwei. Das versuche ich auch unseren Kindern Jigme Norbu, Norzin Dolkar und Pema Dolkar weiterzugeben. Alle drei sind natürlich zweisprachig – wobei sie besser Schweizerdeutsch als Tibetisch sprechen. Trotzdem engagieren sich mein Mann und ich weiterhin und mit aller Kraft für die Sache Tibets. Ich sehe es nicht nur als meine Verantwortung, sondern auch als Pflicht an, mich für mein Land einzusetzen, und zwar unermüdlich. Das habe ich auch unseren Kindern weiterzugeben versucht. Wenn ich heute sehe, wie sie sich für Tibet einsetzen, dann bin ich dankbar und stolz und denke, dass unsere Erziehung etwas genützt hat. Aus: Christian Schmidt/Manuel Bauer: Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht. 12 Lebensgeschichten. Zürich: Limmat Verlag 2009. S. 29–43. 179 | Unterrichtseinheit Exil Schweiz, Tibeter auf der Flucht Unterrichtseinheit Exil Schweiz, Tibeter auf der Flucht | 180
Bausteine Tibet-Thementage/Materialien Vorträge und Kooperationen Lehrpersonen, die sich für die Gestaltung von TibetThemen tagen direkt in den Schulzimmern oder der Aula interessieren, empfehlen wir die folgenden Referentinnen und Referenten und Bildschauen: Autoren Manuel Bauer: – «Flucht aus Tibet», LiveReportage und Vortrag (mit Integration aktueller Zeitdokumente seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und «Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht. 12 L e b e n s g e s c h i c h ten»). – «Dalai Lama – Unterwegs für den Frieden», LiveReportage und Vortrag (Manuel Bauer begleitete den Dalai Lama auf über vierzig weltweiten Reisen als offizieller Fotograf. Ein Nahporträt einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit unserer Zeitgeschichte.) Manuel Bauer lebt und arbeitet in Winterthur, freischaffender Fotograf. Nach seiner Ausbildung zum Werbefotografen wen de te sich Manuel Bauer dem Fotojournalismus zu und spezialisier te sich auf Langzeitprojekte. Gründungsmitglied der Foto grafie agentur Lookat. Seit 1990 fotografiert er in Indien, der Tibetischen Diaspora und Tibet. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine Reportage «Flucht aus Tibet» in der Kulturzeitschrift du. Seit 2001 ist er persönlicher Fotograf des Dalai Lama. Zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen im In und Ausland. Lehrtätigkeit am Medienausbildungszentrum MAZ Luzern. Kosten und Daten auf Anfrage. Manuel Bauer, Albrechtstrasse 2, 8406 Winterthur / ZH T 078 622 08 11, bauer@manuelbauer.ch Christian Schmidt und Manuel Bauer: «Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht. 12 Lebensgeschichten». Lesung aus dem Buch «Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht. 12 Lebensgeschichten» mit Christian Schmidt und «Flucht aus Tibet»Ton und Bilddokumentation mit Manuel Bauer, anschliessende Diskussion mit den Autoren. Christian Schmidt, 1955, lebt und arbeitet in Zürich, freischaffender Journalist. Studium der Publizistik. Christian Schmidt kennt das Thema Tibet aufgrund seiner Texte für Manuel Bauers Bildband «Dalai Lama – Unterwegs für den Frieden». Dazu kommen mehrere Interviews mit dem Dalai Lama, Texte für Tonbildschauen zum Thema Tibet, Reisen zu den Exilaufenthaltsorten der Tibeter in Indien sowie Zeitungsartikel über die Situation des Landes. Schmidt beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Menschenrechte. Kosten und Daten auf Anfrage bei Manuel Bauer (Adresse siehe linke Seite), oder Christian Schmidt, Kontrast AG, Josefstrasse 92, 8005 Zürich T 044 272 63 31, schmidt@kontrast.ch Portraitierte Es besteht ausserdem die Möglichkeit mit den deutschsprechenden Portraitierten aus dem Buch: «Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht.12 Lebensgeschichten» ein Gespräch zu führen. Daten nach frühzeitiger Vereinbarung. Dickie Shitsetsang, 9573 Littenheid TG T 071 923 31 12, dshitsetsang@bluemail.ch Pema Meier, Dorfplatz 14, 9056 Gais AR T 071 793 33 59 Pema Lamdark, Hinterdorfstrasse 46, 8400 Winterthur T 079 766 44 51 79, p.lamdark@gmx.net 181 | Unterrichtseinheit Exil Schweiz, Tibeter auf der Flucht Unterrichtseinheit Exil Schweiz, Tibeter auf der Flucht | 182
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