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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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chen war. Natürlich hatte es schon früher Zeichen gegeben. Bereits<br />

als Kundün seinen Amtssitz 1950 zum ersten Mal gezwungenermassen<br />

verlassen hatte und in die Nähe <strong>der</strong> indischen<br />

Grenze nach Dromo flüchtete, hatte ich gedacht: «Wir müssen<br />

doch kämpfen! Wir können unser Land nicht einfach <strong>auf</strong>geben!»<br />

Und dann hatten sie dieses 17­Punkte­Abkommen erlassen. Ich<br />

war absolut dagegen. Fünf chinesische Generäle kamen, um es<br />

umzusetzen. Als sie durch die Strassen von Lhasa marschierten,<br />

ging ich wie alle an<strong>der</strong>en Bewohner hin, um sie anzuschauen.<br />

Einige spuckten sie an, an<strong>der</strong>e klatschten. Das war aber kein<br />

Applaus. Klatschen heisst in Tibet: «Geht weg! Verschwindet!»<br />

So wie die Mönche klatschen, wenn sie böse Geister vertreiben<br />

wollen. In dieser Zeit hatte ich mich auch zum ersten Mal einer<br />

Gruppe von Aktivisten angeschlossen. Wir hängten Plakate <strong>auf</strong>,<br />

<strong>auf</strong> denen stand: «Chinesen, wir leiden unter euch! Wir brauchen<br />

euch nicht! Lasst uns in Ruhe!» Dabei müssen die Besetzer und<br />

ihre Spitzel mich wohl beobachtet haben.<br />

Das trug mir, wie gesagt, die ersten drei Jahre Gefängnis<br />

ein, von 1965 bis 1968. Danach befand ich mich für zwei Jahre in<br />

Halbgefangenschaft, und bereits 1970 wurde ich zum zweiten<br />

Mal verhaftet.<br />

Das kam so. Ehemalige Schüler von mir hatten eine Untergrundorganisation<br />

gegründet. Sie nannten sich «Junge Tiger». Im<br />

Militär hatten sie als Übersetzer gearbeitet und waren dabei offenbar<br />

in den Besitz von wichtigen Dokumenten gekommen. Sie<br />

wollten damit nach Indien fliehen, wurden aber in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Shigatse verhaftet. Als die Polizei sie durchsuchte, fand sie neben<br />

den Dokumenten auch ein Foto von mir. Das Bild hatten sie offenbar<br />

in Erinnerung an ihren Lehrer mitgenommen. Ich erinnere<br />

mich, wie die Schüler eines Tages bei mir zuhause darum gebeten<br />

hatten. Ich gab es ihnen – ohne eine Ahnung zu haben, dass sie<br />

eine Wi<strong>der</strong>standsbewegung gegründet hatten und ohne zu ahnen,<br />

welche Folgen dieses Souvenir für mich einmal haben sollte.<br />

Da für die Polizei klar war, dass ich die Schüler angestiftet<br />

hatte, kam ich wie<strong>der</strong> ins Gefängnis. Diesmal aber nicht in eine<br />

Wellblechbaracke, son<strong>der</strong>n in eine Isolierzelle, zwei <strong>auf</strong> zwei Me­<br />

ter gross, im Boden ein Loch anstelle einer Toilette. Schlafen<br />

musste ich <strong>auf</strong> einem rohen Betonblock, unter dem steten Blick<br />

<strong>der</strong> Wächter, die <strong>auf</strong> dem Gitterdach hin und her gingen. Zudem<br />

wurden mir Schellen um die Oberarme gelegt. Sie waren mit einer<br />

über meinen Rücken l<strong>auf</strong>enden Kette verbunden, die meine<br />

Bewegungsfreiheit so stark einschränkte, dass ich kaum essen<br />

konnte. Auch drangen bei je<strong>der</strong> Bewegung Stacheln in meine<br />

Muskeln. Ja, die Armschellen hatten Stacheln; sie waren nach<br />

innen gerichtet und liessen mich vor Schmerzen schreien. Da,<br />

hier, hier und hier. Man sieht die Narben noch immer.<br />

Den ganzen Tag tat ich nichts an<strong>der</strong>es als beten und <strong>auf</strong> und<br />

ab gehen, in einer Welt, die zwei Schritte gross war. Ich sagte<br />

immer dieselben Mantras, tausende Male, ohne Unterbruch. Und<br />

immer wie<strong>der</strong> schrie ich: «Freiheit für Tibet! Raus mit den Kommunisten!»<br />

Das half mir, nicht wahnsinnig zu werden. Und ja,<br />

ich weinte auch immer wie<strong>der</strong>. Die Mitgefangenen versuchten<br />

mir so gut als möglich zu helfen. Sie liessen mir heimlich Butter­<br />

und Fleischstücke zukommen, die sie sich vom Mund absparten.<br />

Zudem gelang es ihnen, mir eine Schnur mit hun<strong>der</strong>t Knoten in<br />

die Zelle zu schmuggeln. Das war meine Betschnur, mein Ersatz<br />

für den Rosenkranz. Ja, hun<strong>der</strong>t Knoten, nicht hun<strong>der</strong>tacht wie<br />

üblich. Es war einfach so.<br />

Nach neun Monaten nahmen sie mir die Kette ab; nach zwei<br />

Jahren entfernten sie die Oberarmschellen und verlegten mich<br />

in eine normale Zelle. Kurz danach erkrankte ich. Ich verlor fast<br />

meine ganze Sehkraft und konnte nur noch zwischen hell und<br />

dunkel unterscheiden. Trotzdem durfte ich zu keinem Arzt. Bis<br />

ich mich von einem Arzt untersuchen lassen durfte, vergingen<br />

drei Jahre. Er sagte, meine Augen könnten geheilt werden, aber<br />

ich müsse in ein Spital. Dar<strong>auf</strong> entschied die Gefängnisleitung,<br />

mich nicht behandeln zu lassen.<br />

1980 – nach zehn Jahren – war meine zweite Haftzeit vorbei,<br />

und ich wurde entlassen. Entlassen, das heisst, ich kam wie<strong>der</strong><br />

in Halbgefangenschaft. Da ich aber so schlecht sah, durfte ich<br />

mit einem Stock spazieren gehen, während die an<strong>der</strong>en Insassen<br />

Ziegelsteine brennen mussten. Schliesslich erwirkten meine Ver­<br />

161 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 162

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