WIEDERAUFBAU UND WIRTSCHAFTSWUNDER - Der Kessener
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Panorama<br />
Eine Stunde Zeit für jeden<br />
Vor 15 Jahren eröffnete der Gesprächsladen in Würzburgs<br />
Innenstadt<br />
Würzburg. „Kommst du schon wieder damit an?“ Kerstin blockt<br />
das Gespräch mit Max sofort ab. Will nicht, dass ihr Nachbar<br />
ihr „zum hundersten Mal“ erzählt, wie schlecht es ihm seit der<br />
Trennung von seiner Frau geht. Sie hat das oft genug gehört.<br />
Das „ewige Gejammer“, wie Kerstin es nennt. Die Sekretärin<br />
hat anderes zu tun. Hat überhaupt immer viel zu tun. Und hat<br />
Zeit für Leute, die ihr, wie sie sagt, ihr „ein Ohr abkauen “.<br />
Im Würzburger Gesprächsladen, wohin Max sich mehrere<br />
Wochen, nachdem Kerstin ihm eine Abfuhr erteilt<br />
hatte, hinwandte, nahm man sich Zeit. Eine ganze Stunde.<br />
Nur für ihn. Eine Stunde, in der Max sich von seinem<br />
„Seelenmüll“ entlasten konnte. In dem er ausdrücken<br />
durfte, wie alleine er sich fühlt. In der ihm interessante<br />
Fragen gestellt wurden. Fragen, die Max weiterbrachten.<br />
Max erkennt, dass er irgendetwas in seinem Leben<br />
anders machen müsste, damit die Menschen, die er mag,<br />
bei ihm bleiben. Seine Frau war schließlich nicht die erste,<br />
die ihn verließ.<br />
Im Oktober werden es 15 Jahre, dass der von den Augustinern<br />
getragene Gesprächsladen in der Fußgängerzone<br />
seine Türen erstmals öffnete. In direkter Nachbarschaft<br />
zur Augustinerkirche. Sowie zu Geschäften,<br />
in denen man Uhren, Bijouterie und Drogeriewaren<br />
kaufen kann.<br />
Im Gesprächsladen gibt es nichts zu kaufen. Hier kann<br />
man deshalb auch eintreten, ohne Geld in der Tasche zu<br />
haben. Im Gesprächsladen gibt es „nur“ Zeit, um miteinander<br />
in Kontakt zu kommen. Um Rat zu holen, wenn<br />
man nicht mehr weiter weiß. Um tiefer einzutauchen<br />
in die eigene Lebensgeschichte. Die einem manchmal<br />
... über‘s Leben mit Höhen<br />
und Tiefen, Träumen,<br />
Fürchten und Freisein,<br />
über Grenzen...<br />
... über Gott und die Welt.<br />
6 <strong>Der</strong> <strong>Kessener</strong> 03/2009<br />
Wer für sich eine Gesprächspartnerin oder einen<br />
Gesprächspartner sucht, kann zu uns kommen und<br />
sofort oder zu einem vereinbarten Zeitpunkt mit einem<br />
Seelsorger bzw. einer Seelsorgerin reden.<br />
Wir bieten: Gespräche für Einzelpersonen, Paare<br />
und Gruppen • Anonyme Beratung zu allen<br />
Lebensthemen • Weiterverweis an andere Beratungseinrichtungen<br />
• Keine finanzielle Hilfe.<br />
Zu uns darf jeder kommen, unabhängig von Alter<br />
und Geschlecht, Nationalität und Weltanschauung<br />
Als GesprächspartnerInnen begegnen Ihnen<br />
bei uns: Priester • Diplom-SozialpädagogInnen<br />
• Ordensleute • LehrerInnen • Pastoralreferenten<br />
Wir haben einen rollstuhlgerechten Zugang<br />
und unsere Gespräche sind kostenfrei.<br />
Dominikanerplatz • 97070 Würzburg<br />
Tel. 0931/5 58 00 • Fax: 0931/30 97 200<br />
Träger: Augustinerkloster • Diözese Würzburg<br />
Kath. Dekanat Würzburg-Stadt<br />
www.augustiner.de<br />
gespraechsladen@augustiner.de<br />
Geöffnet: Mo-Fr: 10-13 Uhr • 14-17 Uhr<br />
(außer Mittwoch Nachmittag)<br />
Angeregtes Fachgespräch im Kollegenkreis: Bruder Jochen,<br />
Dorothea Maiwald-Martin und Birgit Wysocki tauschen sich in<br />
einer ruhigen Ecke des Gesprächsladens aus. Foto: Pat Christ<br />
richtiggehend rätselhaft vorkommt. Was treibt mich<br />
immer wieder zu falschen Entscheidungen? Was treibt<br />
mich in die Arme von Menschen, die es nicht gut mit mir<br />
meinen?<br />
„Identitätsprobleme sind der häufigste Grund, weshalb<br />
die Leute zu uns kommen“, sagt Augustinerbruder Jochen<br />
Wawerek nach einem Blick in die Jahresstatistik<br />
2008. Fast 2.300 Kontakte sind dort für das vergangene<br />
Jahr registriert. Die konkrete Zahl jener Menschen, die<br />
in den Laden kamen, um sich auszusprechen, ihr Herz zu<br />
entlasten oder um die Sicht eines anderen Menschen auf<br />
ihre Probleme abzurufen, liegt etwas niedriger: „Manche<br />
Besucher kommen im Abstand von zwei Wochen,<br />
zwei Monaten oder einem halben Jahr immer wieder zu<br />
uns“, sagt der Einrichtungsleiter, der, weil er Priester ist,<br />
auch Beichten im Gesprächsladen abnehmen darf.<br />
Sehr viele Gespräche hat Bruder Jochen in den vergangenen<br />
Jahren geführt. Nicht immer waren sie leicht.<br />
Denn schließlich sind nicht alle Menschen „leicht“, die<br />
das Angebot des Gesprächsladens nutzen. Doch während<br />
gerade komplizierte Charaktere „draußen“ in der<br />
Welt regelmäßig die Erfahrungen machen, bei anderen<br />
abzublitzen, erleben sie im Gesprächsladen einen von<br />
Respekt getragenen, professionellen Umgang mit ihren<br />
Sorgen. Und mit ihrer eigenen Person, die so oft aneckt<br />
und abblitzt.<br />
Für Dorothea Maiwald-Martin entstehen bei jenen<br />
Ladengästen, die „irritieren“, die interessantesten<br />
Gespräche. Sensibel kommt die Pastoralreferentin bei<br />
schwierigen Gesprächspartnern darauf zu sprechen,<br />
dass es zwischenmenschlich mit ihnen nicht ganz einfach<br />
ist. Sie fragt nach, woran dies aus Sicht des Gegenübers<br />
wohl liegen mag. Animiert den Ladengast,<br />
über sich selbst und sein Verhalten, sein Auftreten zu<br />
reflektieren. Dies wiederum deckt ein großes Interesse<br />
der Laden“kunden“ ab. Die Menschen erwarten laut<br />
Maiwald-Martin nicht in erster Linie gute Ratschläge:<br />
„Sondern Resonanz.“<br />
Zwölf Beraterinnen und Berater umfasst das Gesprächsladenteam.<br />
Nur das aus Bruder Jochen und Dorothea<br />
Maiwald-Martin bestehende Leitungsduo ist fest angestellt.<br />
Zehn Fachkräfte mit Hochschulstudium und Zusatzausbildung<br />
arbeiten im Gesprächsladen, ohne Geld<br />
dafür zu erhalten. Birgit Wysocki zum Beispiel. Was sie<br />
motiviert? Die Sozialpädagogin lacht. Das, was sie durch<br />
das Ladenteam zurückbekommt, wiege ihr Engagement<br />
voll und ganz auf. Nicht zuletzt die hervorragende Supervision<br />
sei eigentlich unbezahlbar.<br />
Pat Christ