28 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________gekürzte Onlineversion 29________________________________________________________________________________gen, die mit dem Intellekt hermeneutisch verstanden werden müssen.Die Geisteswissenschaften gehorchen vorrangig dem Interpretationsparadigma:Durch Kommunikation mit einem natürlichen oder symbolischenSubjekt sowie anschließender Interpretation versucht ein Wissenschaftler,das Innere, die Bedeutung desselben zu ergründen. »Weite«Wissenschaft bedarf auch qualitativer Bewertung. 12Beide Wissenschaftsbereiche sind voneinander abhängig und beeinflusseneinander, können aber nicht aufeinander reduziert werden. So ist z.B. Physikohne Mathematik undenkbar, jedoch ist die Mathematik eine Schöpfungdes menschlichen Geistes und somit der Noosphäre zugehörig, existiert alsojenseits der physischen Umwelt.3. Weiterhin gibt es für Wilber einen dritten Weg der Erkenntnis: diekontemplativen Wissenschaften. 13 Zu ihnen zählt er alle Formen der Erkenntnisgewinnung,die die Frage nach der Stellung des erkennendenSubjektes im Kósmos stellen, z.B. die verschiedenen religiösen Lehren,Mystik und andere spirituelle Wege. Die dafür notwendige Injunktionkönnte man am ehesten als Gewahrseinsparadigma bezeichnen 14 , dahier versucht wird, über Intuition, Inspiration, Introspektion, unmittelbaresGewahrsein u.a. transrationale Erkenntnisformen die Pneumosphärezu erforschen.Diese Dreiteilung läßt sich auf Wilbers Weiterentwicklung der HabermasschenErkenntnistheorie zurückführen und gilt für die Erkenntnisgewinnungdurch die Wissenschaft gleichermaßen wie für die Auseinandersetzung desIndividuums mit seiner Um- und Innenwelt. Nachfolgend die sehr vereinfachteschematische Darstellung der wichtigsten Erkenntnisweisen. Sie sind12 vgl. Wilber, 1997 b, S. 121-12613 Wilber nennt diese 3 Arten der Wissenschaft auch die »3 Augen der Erkenntnis«(vgl. Wilber, 2000, S. 136 f)Es hat natürlich von vielen Seiten Einwände gegen die Bezeichnung von transrationalerErkenntnisgewinnung als »Kontemplative Wissenschaft« gegeben. Wilbersetzt sich selbst damit an verschiedenen Stellen auseinander, z.B. Wilber, 1996a,S. 330-34214 vgl. Wilber, 2000, S. 516 fgenau betrachtet eine reduzierte Version der Theorie der Großen Kette desSeins 15 , die in den nächsten beiden Kapiteln ausführlich erörtert wird. Manbeachte bei dieser Darstellung, daß sowohl Umwelt als auch Innenwelt (z.B.Gedanken, Gefühle etc.) beobachtbare Objekte sein können:zunehmende KomplexitätSubjekt (Individuum)GEISTVernunftKörperunmittelbares Gewahrseinparadox-gleichnishafthistorisch-hermeneutischempirisch-analytischsensomotorisch /SinneswahrnehmungAb b . 1.1: ei ni g e a l l g em ei ne E r k ennt ni swei se n (na c h Wi l ber , 1983)ObjektPneumosphäreNoosphärePhysiosphäreVorausgreifend muß erwähnt werden, daß die Ebenen von der Physiosphäreüber die Noosphäre zur Pneumosphäre immer komplexer und subtilerwerden, so daß die kognitive Struktur einer Ebene die nächsthöherenur rudimentär und verzerrt wahrnehmen kann. Sowenig wie die optischeSinneswahrnehmung eines Schachbrettes mit den dazugehörigen Figurendem Betrachter die Gesetze des Schachspiels eröffnet, da dies erst durch diehermeneutische Verständnisfähigkeit seiner rationalen Vernunft möglich ist,sowenig ist diese Vernunft geeignet, transrationale Phänomene des GEISTESvollständig zu erforschen und zu verstehen, da dies erst durch die unmittelbareErkenntnis der Pneumosphäre als GEIST durch den GEIST selbst geschehenkann. 16 Dies hat letztendlich auch zum Versagen der idealistischen15 vgl. Wilber, 1999b, S. 3516 vgl. Wilber, 1988, S. 151-159
30 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________gekürzte Onlineversion 31________________________________________________________________________________Philosophie um Hegel geführt, die sich dem Phänomen rational lediglichannähern konnte und läßt Wilber zufolge auch die derzeit modernen Versuche,GEIST mittels Quantenphysik, Systemtheorie, Anthropischem Prinzipoder anderen »ganzheitlichen« wissenschaftlichen Paradigmen zu erklären,scheitern. 17 Aus diesem Grunde ist die entsprechende Linie durchbrochendargestellt. Doch selbst wenn eine authentische Erkenntnis der Pneumosphäredurch den GEIST vorliegt, gibt es Einschränkungen, da diese Erkenntnissich nicht ohne weiteres mitteilen läßt: die menschliche Spracheals Produkt der Noosphäre ist ungeeignet, die höhere Komplexität und Subtilitätder Pneumosphäre in vollem Umfang abzubilden, sondern kann dieseErkenntnis lediglich in paradoxen Beschreibungen bzw. bildlichen Analogienandeuten.U m zu v a l i d en Er k e nnt ni s s e n de r v er s c hi e de nen S phä r e n zu ge l a ng e n, si ndW i l be r zuf ol g e je doc h im m er dr e i g r undl eg end e Sc hr i t t e not we ndi g , di eg l e i c hf a l l s für d i e Über p r üfung von Hyp ot he s en v e r w ende t w er d en k önnen 18 :1. Instrumentelle Injunktion: Um zu vergleichbaren Daten / Ergebnissen zukommen, muß der Wissenschaftler eine festgelegte Handlungsanweisungausführen.2. Apprehension / Evidenz: direkte Wahrnehmung und Sammlung derDaten, die von der Injunktion enthüllt wurden, durch den Forschenden.Dabei kann es sich gleichermaßen um naturwissenschaftliche, geisteswissenschaftlicheoder kontemplative Daten / Ergebnisse / Befundehandeln.3. Konsens: Verifikation oder Falsifikation der Daten, Ergebnisse oder Befundedurch andere Menschen, die gleichfalls diese Injunktion und dieDatensammlung in angemessener Weise durchgeführt haben.Wilber ist sich mit den Empirikern einig, daß alle Erkenntnis auf Erfahrungsbeweisegegründet sein muß. Er kritisiert allerdings, daß viele WissenschaftlerEmpirismus nur als das Sammeln von Daten über die sinnliche Erfahrung,nicht aber auch als mentale oder spirituelle Empirie verstehen. Mit dieser17 vgl. Wilber, 1999b, S. 37 ff18 vgl. Wilber, 2000, S. 138; Wilber, 1999b, S. 204Einengung des Empirie-Begriffes stellen sie sich selbst infrage, da Mathematik,Logik und andere Werkzeuge der Wissenschaft z.B. nur mental erfahrbarseien. 19 Er betont in diesem Zusammenhang, daß eine Injunktion(oder auch »Paradigma« im Sinne von »Musterbeispiel« nach T. Kuhn) einetatsächliche Praxis ist, die der Erzeugung von Daten dient und daß neue Injunktionenneue Daten hervorbringen. Diese Daten sind echtes Wissen indem Sinne, daß sie nicht erfunden, sondern enthüllt werden. Demzufolgesind daraus abgeleitete Interpretationen auch keine beliebigen Realitätskonstruktionenim Sinne der Postmoderne, speziell des radikalen Konstruktivismus,auch wenn die Subjektivität des Forschers und der gesellschaftlicheKontext durchaus eine Rolle spielen. 20 Weiterhin bemerkt Wilber, daß jederWissenschaftsbereich die ihm eigenen Injunktionen / Paradigmen anwendenmüsse. Z.B. könne man aus dem Repräsentationsparadigma der Naturwissenschaftkeine Schlüsse über die Noosphäre oder Pneumosphäre ziehen,da diese eine völlig andere Charakteristik besitzen und deshalb andererMethoden bedürfen:19 vgl. Wilber, 1999b, S. 198-20120 vgl. Wilber, 1999b, S. 35, 45-51; Wenn es keine objektive Wirklichkeit gibt,sondern nur beliebige gleichwertige Konstruktionen/Interpretationen derselben,wie es der radikale Konstruktivismus behauptet, so ist konsequenterweise erselbst auch nur eine Konstruktion. Wissenschaft würde aufgrund dieser Beliebigkeitund der daraus resultierenden Unmöglichkeit, Wahrheit zu erkennen, letztendlichüberflüssig. Nach Wilber nimmt der Wissenschaftler sehr wohl innereMerkmale des beobachteten Gegenstandes wahr. Diese Wahrnehmung wirdnatürlich immer durch die begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachtersund seine subjektive Interpretation des Beobachteten, die wiederum von seinemspezifischen kulturellen Kontext beeinflußt wird, modifiziert. Dadurch entstehenbessere oder weniger gute Abbildungen der Wirklichkeit, die nichtsdestotrotzobjektiv existent ist. (vgl. Wilber, 1999b, S. 40 f, 55 f; S. 160 f) In einem Vorgriffauf das folgende Kapitel »Quadranten, Ebenen und Linien« läßt sich sagen, daßjedes Holon eine objektive und eine interpretative Komponente hat, die jeweilsdie inneren bzw. äußeren Quadranten repräsentieren.