64 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________burtlichen bis zum nichtdualen Bewußtsein schlägt Wilber 11 Ebenen derEntwicklung vor, die sich jeweils in eine frühe, mittlere und späte Phaseweiter unterteilen lassen. Die grundlegende materielle Ebene (Rot) wird beiden meisten der folgenden Abbildungen vernachlässigt, weil sie spätestensin dem Moment überschritten wird, wo der Fötus beginnt, als biologischesLebewesen auf Umweltreize zu reagieren. Sie ist für die Entwicklung desmenschlichen Bewußtseins lediglich im Sinne der biologischen Voraussetzungenvon Bedeutung (z.B. genetische Ausstattung):gekürzte Onlineversion 65________________________________________________________________________________den Errungenschaften der v or he r g e he nd e n aufba ut . A l s Bei s pi el ma g di e k og -nitive Entwicklung herhalten: nach Bildern entwickeln sich Symbole, dannBegriffe, dann Regeln. Diese Abfolge kann nicht verändert werden. Jedochgenügt der Erwerb einer allgemeine Kompetenz auf einer Ebene, um zurnächsten fortschreiten zu können. Um beispielsweise in der kognitiven Entwicklungdie Ebene der Schau-Logik transzendieren zu können, genügt es,die Fähigkeit zum aperspektivischen und dialektischen Denken entwickeltzu haben – es ist nicht nötig, ein Spezialist in Systemtheorie zu werden. 88*GEIST*GEISTSeeleVernunftLebennichtdualkausalsubtilastral-psychischSchau-Logikformal-operationalRegel/RollekonzeptuellemotionalsensomotorischtransrationalrationalprärationalPsychologische Typologien (z.B. nach Jung, Lowen, Myers-Briggs, Eysenck´sBig Five, Enneagramm etc.) sind in erster Linie horizontale Einteilungen,deren elementarste die Dualitäten, z.B. von männlich und weiblich, aktivund passiv, etc. sind. Sie sagen viel über die individuelle Orientierung, Persönlichkeitsakzentuierung,Abwehrverhalten und Ressourcen, aber wenigüber die erreichte Bewußtseinsebene (vertikal), da sie auf jeder Ebene vorkommenkönnen, was von den Vertretern dieser Systeme oft übersehenwird. Wilber gesteht ihnen eine gewisse Nützlichkeit zu, da sie auch Ungleichgewichtein der Entwicklung deutlich machen können, bezweifelt jedoch,daß sich alle Aspekte des Menschseins damit beschreiben lassen, wiedie Vertreter mancher Typologie-Systeme behaupten. 89pränatalAb b . 1.10: E nt wi ck l ung sebenen d es i nd i v i due l l en B ewußt s ei ns ( na ch Wi l ber , 1997b)D i e Bez i ehung zwi s c hen de n Ebene n is t hi e r a r chi s c h: j ed e höhe r e E be netranszendiert und umfaßt die vorhergehende, wodurch eine asymmetrischeHierarchie mit zunehmender holistischer Komplexität entsteht. Die Entwicklungdes Bewußtseins durch diese Ebenen ist also grundsätzlich linear – esgibt keine Auslassungen und keine Umkehr 87 – weil jede folgende Welle auf87Diese Linearität gilt nicht für die Selbstidentifikation, wie später noch gezeigtwerden wird.Bewußtseinsstrukturen entstehen durch die Metabolisierung (Verdauung)temporärer Bewußtseinszustände und Erfahrungen im Selbst. Sie sind nachWilber stabile Muster von Ereignissen und bilden den Inhalt sowohl derhierarchischen Bewußtseinsebenen als auch der heterarchischen Entwicklungslinien.Damit werden sie zur Grundlage der »kreuzweisen Verschränkung«.90 Es gibt dauerhafte Grundstrukturen wie z.B. kognitive Fähigkeiten,sprachliche Kompetenz, räumliche Koordination, motorische Fertigkeitenetc., die durch die Grundmechanismen der Evolution – differenzieren undintegrieren – lediglich erweitert werden: jede Errungenschaft einer Ebene888990vgl. Wilber, 2001a, S. 265 f; Wilber, 1996a, S. 320 fvgl. Wilber, 2001a, S. 71 fvgl. Wilber, 2001a, S. 29; siehe auch Abb. 1.11: »Kreuzweise Verschränkung«
66 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________bleibt wesentlicher Bestandteil der nächsten Ebene. „Mit anderen Worten,die Grundstrukturen sind einfach die Hauptebenen im Spektrum des Bewußtseins….“,während die Benennung von untergeordneter Bedeutungist. 91 Als weitere Kategorie gibt es die Oberflächenstrukturen, die bei derEntwicklung zur nächsten Bewußtseinsebene verdrängt oder ersetzt werden.Hierzu zählt die moralische Entwicklung – die präkonventionelle Moral wirddurch die konventionelle ersetzt, diese wiederum durch die postkonventionelleusw. – die Weltsichten, Selbstbedürfnisse, Selbstidentität u.a. DieOberflächenstrukturen bauen auf den Grundstrukturen auf. Die Entwicklungder Grundstrukturen ist notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungfür die Entwicklung der darauf aufbauenden Oberflächenstrukturen. So istbeispielsweise eine konventionelle Moral nicht möglich ohne die kognitiveFähigkeit zur Dezentrierung – jedoch ist es kein zwingend notwendigerAutomatismus, daß sich, wenn die kognitiven Grundlagen vorhanden sind,aus der präkonventionellen eine konventionelle Moral entwickelt. 92 Eintreffendes Beispiel dafür mag das rücksichtslos-zynische (Moral), geistigeGenie (Kognition) abgeben. Es kann daher nicht deutlich genug betont werden,daß die verschiedenen Formen der Intelligenz zwar eine Voraussetzung,aber nicht identisch mit dem Bewußtsein sind.Holone entwickeln sich durch die Ebenen hindurch in den nebeneinanderexistierenden Quadranten, die sich nochmals in spezielle Bereiche, dieEntwicklungslinien, unterteilen lassen. Aus einem gemeinsamen Ursprungkommend differenzieren sich diese einzelnen Aspekte mit fortschreitenderEvolution immer deutlicher voneinander. Das Bewußtsein des Menschen(individuell-innen) besteht Wilber zufolge aus ca. 2 Dutzend Entwicklungslinien,von denen die wichtigsten die kognitive, die affektive, die soziale, diemoralische und die spirituelle (seelische) sind. Weiterhin gehören dazuSelbstidentität, Psychosexualität, Rollen, Kreativität, kommunikative Kompetenz,Altruismus, sozioemotionale Fähigkeiten, Weltanschauungen, Wer-9192Wilber, 2000, S. 212 fvgl.Wilber, 2000, S. 213 f; Wilber, 2001a, S. 37gekürzte Onlineversion 67________________________________________________________________________________te, Bedürfnisse, kinästhetische Fertigkeiten, wahrgenommener Körper 93 u.a.,die vielfach im einzelnen gut erforscht und empirisch belegt sind. 94 DieseLinien haben eine immanente Tendenz zur Selbstentfaltung 95 und entwikkelnsich parallel und relativ unabhängig voneinander, so daß sie auch unterschiedlicheEntwicklungszustände haben können, wodurch ein Menschrecht heterogen erscheinen kann. Andererseits beeinflussen sie sich aberauch gegenseitig bzw. bilden Voraussetzungen füreinander, wie das obenaufgeführte Beispiel vom Verhältnis von kognitiven Fähigkeiten und Moralillustriert. Die erreichte Entwicklungsebene determiniert Inhalt und Charakterder einzelnen Linien. So sind z.B. Art und Inhalt des Denkens (kognitiveEntwicklungslinie) eines Menschen auf der Ebene des Lebens völlig andersals auf der Ebene der Vernunft oder gar auf den transrationalen Ebenen.Doch trotz der prinzipiellen Parallelität der Entwicklung der Linien verschiebtsich der Schwerpunkt der Evolution mit der Zeit immer stärker vonder Materie zum GEIST. 96 Auch wenn durch die Verlagerung des Entwicklungsschwerpunktesimmer neue Entwicklungslinien das Selbst determinieren,heißt das nicht, daß eine Entwicklungslinie, nachdem sie die ihr eigeneEntwicklungsebene erreicht hat, nicht weiter evolvieren würde: auch nachder Transzendenz der physischen Ebene wird das Selbst nicht nur emotionaleoder kognitive, sondern auch neue sensomotorische Fähigkeiten erwerbenund auch nach dem Erreichen der kognitiv geprägten Ebenen gehtdie Differenzierung der emotionalen Fähigkeiten weiter. 97 Das Zusammenspielder heterarchischen Entwicklungslinien und der hierarchisch übereinandergeschichteten Entwicklungsebenen ergibt eine Symmetrie, die ich hier9394959697Wilber unterscheidet deutlich zwischen physischem Körper als Materie (individuell-außen)und seiner Innenwahrnehmung als »gefühltem Körper«, der Teil desBewußtseins und somit das Pendant des materiellen Körpers im individuellinnerenQuadranten ist. (vgl. Wilber, 2001a, S. 198-201)vgl. Wilber, 2001a, S. 39, 45 fD i e s is t di e Kr a f t , di e sow ohl di e E nt w i c k l ung de s K ós m os, al s a uc h di e i nd i v i duel l eE nt wi ck l ung v or a nt r e i bt : De r Ev ol ut i ons i m pul s is t a l l em , w a s ex i s t i e r t , i m m a nent !vgl. Wilber, 2001a, S. 39-43, 141-149, 282vgl. Wilber, 1997b, S. 270 f