84 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________gekürzte Onlineversion 85________________________________________________________________________________Eine weitere Dimension ist Wilber zufolge die Störungsart im Sinne vonSymptomkomplex. Sie beschreibt die Ausdrucksweise der Störung, indemsie die einzelnen Symptome den jeweiligen Entwicklungslinien (und damitauch den Quadranten) zuordnet. 127 Störungsebenen und Störungsarten stehenwiederum in kreuzweiser Verschränkung zueinander.Leben Vernunft Seele GEISTStörungsebenenD-9D-8D-7 spirituelle KrisenD-6 existentielle KrisenD-5 IdentitätskrisenD-4 SkriptpathologienD-3 PsychoneurosenD-2 Persönlichkeitsstörg.D-1 psychot. StörungenStörungen des wahrgenommenen KörpersS t ö r u n g s a r t e naffektive Störungenkognitive StörungenStörungen der spirituellen EntwicklungStörungen der Körperentwicklunginnen außenAb b . 1.17: k r euz wei se V er schr ä nk ung v on S t ör ung se benen und S t ör ung s a r t en. 128So kann also eine Depression, als Beispiel einer affektiven Störung, sowohlals psychotische, neurotische oder existentielle Depression auftreten – mitder Charakteristik der jeweiligen Entstehungsebene und – das ist die Impli-127Die Erkenntnis, daß zwischen Ebenen (Psychosen, Borderline, Neurosen etc.)von Pathologien und Ausdrucksarten (im Sinne von Symptomkomplexen, z.B.Zwangsstörungen, Ängsten, Depressionen, Süchten etc.) unterschieden werdenmuß, ist von Mahler, Kernberg, Kohut etc. eingehend untersucht worden. (vgl.Wilber, 2001a, S. 111)128 Die kreisförmige Darstellung, die der Differenzierung aus einem Ursprung besserRechnung trägt, wird hier zugunsten der Übersichtlichkeit verlassen. Aus gleichemGrunde werden nur Störungsarten der individuellen Quadranten dargestellt.Doch können in allen 4 Quadranten Entwicklungslinien gestört sein.Störungen des Verhaltenskation für die Therapie – nur bestimmten, dieser Ebene angemessenen Interventionsmodiursächlich zugänglich sein. Aufgrund der geringeren Differenzierungdes Selbst-Systems auf den frühen Entwicklungsebenen umfassenStörungen in diesen Lebensphasen weit mehr Anteile der Persönlichkeit(Komorbidität der Störungsarten), als später erworbene. Auch muß durchdie gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Entwicklungslinien dieStörungsart nicht unbedingt der Entwicklungslinie entsprechen, auf der dieStörung erworben wurde (Störungsverlagerung).Als dritte Dimension kann man die Störungsstärke bezeichnen, die sich inder Intensität der Symptome widerspiegelt und dadurch dafür verantwortlichist, ob eine Störung überhaupt als krankheitswertig wahrgenommenwird oder lediglich als Persönlichkeitsakzentuierung. Weiterhin ist sie mitverantwortlichdafür, inwieweit in der weiteren Entwicklung andere Persönlichkeitsanteilebeeinträchtigt werden.Als letztes Kriterium ist der gesellschaftliche Kontext zu erwähnen: Wenn einMensch in seiner psychischen Entwicklung auf einer Ebene stagniert oderregrediert, wird es um so stärker als krankheitswertig von der Umwelt wahrgenommenwerden, je größer die Differenz zum Durchschnittsbewußtseingleichaltriger Menschen ist. Aus dieser Perspektive besteht eine psychischeErkrankung also darin, daß ein Mensch nicht fähig ist, sich mit seinemSelbst-System mit einer Entwicklungsebene zu identifizieren, die seine sozialeUmwelt aufgrund ihrer eigenen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungals die für sein Alter angemessene definiert hat. Statt dessen wird sein Erlebenund Handeln von der Identifikation mit einer deformierten, kontextundaltersunangemessenen Entwicklungsebene determiniert. Dies erklärt,warum Menschen, die sich krankheitsbedingt mit einer sehr niedrigen Entwicklungsebene(z.B. D-2) identifizieren, in Gesellschaften, die sich in ihremdurchschnittlichen kollektiven Bewußtsein auf dieser Stufe befinden (z.B.frühe Stammeskulturen), nicht unbedingt als beeinträchtigt auffallen, insbesonderedann, wenn außer den Grundstrukturen (z.B. Metabolisierungsmodus)auch die Oberflächenstrukturen (z.B. kulturelle Prägung) kompatibel
86 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________sind. 129 Das heißt auch, daß, je einfacher eine Gesellschaft strukturiert undje niedriger das Durchschnittsbewußtsein ihrer Mitglieder ist, desto geringerist der Anteil der dort möglichen psychischen Erkrankungen. Dies impliziertim Gegenzug für unsere Gesellschaft, daß mit zunehmender KomplexitätPsychopathologien eine immer größere Rolle spielen werden.Für Wilber können Entwicklungsstörungen in allen Phasen des Lebens auftretenund die weitere Entwicklung des Selbst-Systems deformieren oderstagnieren lassen: Der von der Psychoanalyse postulierte Zeitraum für dieEntstehung psychischer Erkrankungen wird über die Kindheit hinaus auf diegesamte Lebensspanne erweitert. Dieser Ansatz beinhaltet die Chance zugroßen Schritten in der Persönlichkeitsentwicklung auch über die Pubertäthinaus bis in das hohe Alter, wobei hier die Entwicklung des tieferpsychischenSelbstes (Seele) im Mittelpunkt steht. Damit widerspricht Wilberden Forschern, die durch ihre Fixierung auf die kognitive Entwicklungsliniedie psychische Entwicklung im Alter überwiegend als defizitären Abbauprozeßbetrachten.Die Genese posttraumatischer Belastungsstörungen macht deutlich, daßdurch kritische Lebensereignisse nicht nur Deformation und Stagnation,sondern grundsätzlich auch eine dauerhafte Regression von einer schon erreichtenhöheren Ebene auf eine niedrigere möglich ist. In diesem Fallewürde nicht ein latent vorhandenes Defizit offenbar werden, sondern dasSelbst würde aus Gründen des Selbstschutzes bzw. im Zuge eines Selbstheilungsversuchesdie Identifikation mit e i ner s c hon er r ei cht en Be wußt s e i ns -ebene wieder aufgeben. Diese Regression führt nicht zur Lösung des Problems,sondern, wie im Kapitel »Die Prä/Trans-Verwechslung« ausgeführtwurde, erst einmal zur Vermeidung bzw. Nichtwahrnehmung. Auch wennauf diese Weise ein Drehpunkt eingenommen wird, der natürlicherweiseeinem kindlichen Entwicklungsstand entspricht, wird der Betroffene nur bedingtzu einem Kind. Zum einen dadurch, daß verschiedene Entwicklungs-129 Gewisse Ähnlichkeiten im Erleben und Verhalten von Kindern, indigenen Kulturenund psychisch Erkrankten sind seit Freud immer wieder Thema in der psychologischenLiteratur. (vgl. z.B. Sechehaye, 1992, S. 218 ff)gekürzte Onlineversion 87________________________________________________________________________________bereiche deformiert sind, also in ihrem Ausdruck nicht einem natürlichenNoch-Nicht-Entwickelt-Sein entsprechen. Zum anderen entspricht der Entwicklungsstandanderer Linien durchaus dem tatsächlichen Alter, wodurcheine starke Heterogenität entsteht: Ein Schizophrener mit der Selbstidentifikationauf der Stufe eines Babys kann trotzdem sprechen wie ein Erwachsener– auch wenn er es vielleicht aufgrund der Deformation / Stagnation /Regression seines Selbstes verweigert. Jedoch spiegelt sich die Entwicklungsebene,mit der sich das Selbst gerade identifiziert, auf unterschiedlichsteWeise in der Persönlichkeit, z.B. in der Art der moralischen Ansichten,der Fähigkeit zu Impulskontrolle, Selbstreflexion etc. und bestimmt damitnicht unwesentlich den Charakter der möglichen Kommunikation. Für denTherapeuten bedeutet dies, daß er umso leichter Zugang zum Klienten findet,umso mehr er die Störungsebene in der Art seiner Kontaktaufnahme berücksichtigt.Dies kann in der Praxis im Extremfall dahin führen, die Gesetze derkindlichen Kommunikation (z.B. Anrede in der dritten Person, sprachlicheBilder, starke emotionale Bezüge) anzuwenden – doch ansonsten die Komplexitäteiner erwachsenen Sprache beizubehalten.Da das Kleinkind aufgrund eines erst mangelhaft ausgebildeten frontalenSelbstes (ICH) pathogenen Einwirkungen besonders schutzlos preisgegebenist, dürften traumatisch bedingte Erkrankungen m.E. vor allem die frühen,präpersonalen Ebenen bestimmen. Die Störungen der personalen Ebenendagegen werden – posttraumatische Belastungsstörungen einmal ausgenommen– aufgrund des schon stabileren ICHs und der speziellen Entwicklungsaufgabenauf diesen Ebenen vorrangig durch psychische Lerndefizitegeprägt. In der Nachfolge traumatischer Erfahrungen kann es allerdings aufallen Ebenen zu Fehllernen kommen: Die durch die Erfahrung erzeugtennegativen Bewertungen und Erwartungen können zur – bewußten oder unbewußten– Motivation für dysfunktionales Verhalten sich selbst und anderengegenüber werden, welches durch Wiederholung in ähnlichen Situationenimmer stärker konditioniert wird. Die hier vorgelegte grobe Einteilungist insofern von Nutzen, da sie eine erste Auskunft darüber gibt, ob derSchwerpunkt einer Therapie mehr auf der Integration traumatischer Erfahrungenoder im Konditionieren bzw. Um- und Neulernen liegen sollte.