68 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________gekürzte Onlineversion 69________________________________________________________________________________als »kreuzweise Verschränkung« bezeichne. Die unscharfen Abgrenzungenstehen für die fließenden Übergänge, weshalb Wilber in Anlehnung an H.Gardener auch von »Wellen« und »Strömen« spricht:Ebenen*GEIST*kognitivspirituellGEISTSeeleVernunftLebenMaterieVerlagerung des EntwicklungsschwerpunktesaffektivsozialMateriemoralischAb b . 1.12: E nt wi ck l ung de r Bewußt sei nsl i ni e n dur c h di e Ebenen (na ch Wi l ber , 2001a )LebenVernunftSeeleGEIST* G E I S T *körperlich affektiv kognitiv spirituell Zeuge LinienAb b . 1.11: Kr euz wei se V er schr ä nk ung v on E nt wi ck l ung sebe nen und - l i ni en 98Einige Entwicklungslinien sind besonders eng mit der Entwicklung des Selbstassoziiert. Wilber nennt sie die selbstbezogenen Linien, die gemeinsam dasGesamt-Selbst bilden. Dazu gehören z.B. die Moral, die Weltsicht, die Bedürfnisse,die sozioemotionale Entwicklung etc. Durch ihre Entwicklungtreiben sie die Entwicklung des Gesamt-Selbst voran, wobei abwechselndjede der selbstbezogenen Entwicklungslinien die Führung übernehmenkann. Andere Linien, wie die des mathematischen Denkens, der Kreativitätoder die kinästhetische, entwickeln sich relativ unabhängig vom Selbst. 9998Diese Darstellung beschränkt sich auf den individuell-inneren Quadranten. Deshalbbleiben andere Entwicklungslinien (z.B. die sozialen) unberücksichtigt.»Körperlich« meint hier wieder die subjektive Körperwahrnehmung. Genau genommenentwickelt sich der Zeuge nicht, da er seinem Charakter nach unveränderlichesunmittelbares Gewahrsein ist, sondern tritt im Laufe der Entwicklungimmer stärker in Erscheinung. (vgl. Wilber, 2001a, S. 285)99 vgl. Wilber, 2000, S. 479 f; Wilber, 2001a, S. 55Das Selbst-System im engeren Sinne ist der aktive Teil des Bewußtseins, derzur Selbstwahrnehmung fähig ist und sich auf den einzelnen Bewußtseinsebenenbewegen und sich mit ihnen identifizieren kann. Das Selbst-Systembesteht unter funktionellen Gesichtspunkten aus:a) dem proximalen Selbst (aktuelles Selbst, »Ich«) als dem derzeitigen Ortder Selbstidentifikation (in Form eines Selbstgefühls) mit einer der Bewußtseinsebenen.Dabei ist die Identifikation nicht als etwas Starres,sondern eher als ein Schwingen um einen Schwerpunkt, mit Ausschlägenin die Bewußtseinsebene darüber und darunter zu verstehen undkann auch für kurze oder längere Zeiten auf höhere Entwicklungsebenenspringen bzw. auf frühere regredieren. 100 (Wenn im folgenden pauschalvom Selbst gesprochen wird, ist damit immer das aktuelle Selbstgemeint.)b) dem distalen Selbst (entferntes Selbst, »ich«, »mein«, »mir«), welchesSelbstanteile beschreibt, die das aktuelle Selbst als Objekt beobachtenkann, weil es sich davon differenziert hat, also vor allem alle früherenSelbstidentifikationen.100vgl. Wilber, 1997b, S. 196; Wilber, 2001a, S. 52
70 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong>________________________________________________________________________________gekürzte Onlineversion 71________________________________________________________________________________c) den Subpersönlichkeiten, die als temporäre funktionale Selbstrepräsentantenauftreten, z.B. bei der Wahrnehmung bestimmter sozialerRollen. Sie sind Facetten des »Ich« mit eigenen Entwicklungslinien(Moral, Weltsicht, Bedürfnissen usw.), die sich auf jeder Entwicklungsebenedes Selbst bilden können und die vom aktuellen Selbst integriertund koordiniert werden. Durch die Forschung sind ca. ein DutzendSubpersönlichkeiten beschrieben, z.B. Eltern-Persona (Über-Ich), Kind-Persona, Vater-Persona, Ehemann-Persona, Ich-Ideal etc. Jede dieserTeilpersönlichkeiten kann sich auf einer unterschiedlichen Entwicklungsebenebefinden, genauso wie die zu ihr gehörigen selbstbezogenenEntwicklungslinien. Problematisch wird es erst, wenn eine dieser Subpersönlichkeitenvom bewußten Selbst abgespalten wird und aus dieserPosition heraus beginnt, die weitere Entwicklung zu sabotieren. 101Das aktuelle Selbst hat verschiedene Funktionen. Neben der Selbstidentifikationund dem Selbstgefühl gehören dazu Selbstkonzept, Wille (dieWahlfreiheit innerhalb der Grenzen der gegenwärtigen Bewußtseinsebene),Kognition, Interaktion, Abwehrmechanismen, Navigation (Entwicklungsentscheidungen)und Integration (von Funktionen, Ebenen, Linien, Subpersönlichkeitenund Zuständen). 102Die wichtigste Funktion des Selbstes ist die Persönlichkeitsentwicklung – alsodie individuelle Evolution – durch die Verarbeitung temporärer Erfahrungenmittels Wahrnehmung und Metabolisierung (geistiger Stoffwechsel).Dabei folgt es den Grundgesetzen der Emergenz von Holonen: Das aktuelleSelbst ist mit einer Ebene identifiziert (Subjekt); es verarbeitet (metabolisiert)und internalisiert neue Erfahrungen, die über diese Ebene hinausgehen 103101vgl. Wilber, 2001a, S 50 f, 118 ff, S. 272 ff102vgl. Wilber, 2001a, S. 252; Wilber 2000, S. 215103 Eine Erfahrung kann um so besser wahrgenommen und verarbeitet werden, jeweniger sie in ihrer Komplexität den Metabolisierungsmodi, die einemIndividuum auf seiner Entwicklungsebene zur Verfügung stehen, übersteigt. Sowird ein Baby, dem die Mutter eine mathematische Aufgabe erklärt, diekörperlichen Signale vollständig, die begleitenden Emotionen teilweise und diekognitiven Inhalte überhaupt nicht wahrnehmen und verarbeiten können.und kumuliert sie – schafft also neue, komplexere Bewußtseinsstrukturen –wodurch es sich von dieser Ebene differenziert und sie dadurch transzendiert.104 Im nächsten Schritt löst es die Identifikation und beginnt sich jetztmit der nächsthöheren Ebene zu identifizieren, die in Form der neuen Bewußtseinsstrukturenimmer deutlicher hervorgetreten ist. Von hier aus integriert(umfaßt) es die vorherige Ebene als Teil des distalen Selbstes: das frühereSubjekt wird zum Objekt. Vereinfacht ließe es sich auch folgendermaßenausdrücken: Durch die Anhäufung verarbeiteter temporärer Bewußtseinszustände(states) und anderer Erfahrungen kommt es beim Erreicheneiner kritischen Masse zu einem Umschlag in eine neue Qualität, die sich inihrer Gesamtheit als höhere Bewußtseinsebene und im einzelnen als neuestabile Persönlichkeitseigenschaften (traits) äußert. Dieser Prozeß verläuftlinear: Eine Bewußtseinsebene nach der anderen wird durchlaufen, keine104Dieser erste Schritt ist in all seinen Teilschritten, jedoch mit anderen Worten (Assimilation,Akkomodation, Äquilibration), sehr detailliert von Piaget beschriebenworden (vgl. z.B. Oerter & Montada, S. 473-481; auch 413-462). Da Piaget abernur eine einzelne Entwicklungslinie – nämlich die kognitive – analysiert und diesauch noch ausschließlich naturwissenschaftlich-empirisch tut, kann er viele Fragennicht beantworten. So bleiben ihm größere Zusammenhänge und der Sinndieser Entwicklung verborgen, auch kann er unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeitenbzw. Entwicklungsstörungen nicht erklären (vgl. Oerter & Montada,S. 462). Wilber betont, daß James Mark Baldwin, von dem Piaget die meistenseiner Konzepte entlehnt hat, diesem in Bezug auf eine Gesamtschau umvieles voraus war (vgl. Wilber, 2001a, S. 100). Er selbst löst das Problem, indemer die kognitive Entwicklung, die er für eine der grundlegendsten und wichtigstenEntwicklungen überhaupt hält, in sein 3-dimensionales Gebäude aus Quadranten,Ebenen und Linien einfügt und sie um Formen der Erkenntnis erweitert,die außerhalb des von Piaget untersuchten Bereiches liegen, vornehmlich umsubtile (z.B. Intuition, Imaginationen, Träume, kreative Visionen, transpersonaleZustände) und kausale (als reine Aufmerksamkeit / Gewahrsein/ Zeugenschaft)(vgl. Wilber, 2001a, S. 144 f). Außerdem zählt er sensomotorische Körperwahrnehmungen,Empfindungen und Gefühle zu den Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmodi,die Erkenntnis ermöglichen. (vgl. Wilber, 2001a, S. 140).