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„Und es schrie aus den Wunden“ - eDiss - Georg-August-Universität ...

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Þórhallr in der Brennu-Njáls saga muß zunächst wegen ein<strong>es</strong> Absz<strong>es</strong>s<strong>es</strong> im Bettbleiben und kann einer wichtigen Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen. SeinVerhalten wird in der Saga ebenfalls nicht negativ kommentiert. Die Protagonistenwirken an di<strong>es</strong>en Stellen demaskiert und authentisch zugleich. Ihr Schmerz verleihtihnen menschliche Züge, die durch <strong>den</strong> Verhaltenscodex der Hel<strong>den</strong> normalerweisenicht zum Vorschein kommen. Di<strong>es</strong>er Eindruck b<strong>es</strong>tätigte sich auch in der Eiríkssaga rauða, die <strong>den</strong> einzigen Schmerzensschrei der behandelten Sagaliteraturverzeichnet. Erik der Rote fällt vom Pferd, bricht sich die Schulter und schreit: „Ái,ái!“ Er wird auf di<strong>es</strong>e Weise dafür b<strong>es</strong>traft, daß er vor seiner Abreise eineGeldkassette vor seiner Frau versteckte. Der Schrei erscheint als natürliche undverständliche Reaktion auf die Verletzung; sein Status leidet nicht unter di<strong>es</strong>er„Entgleisung.“ Die Hel<strong>den</strong> lassen also die Maske für einen kurzen Augenblick fallenund geben <strong>den</strong> Blick frei auf ein Schmerzverständnis, das ihnen durch ihrenVerhaltenscodex verboten ist. Di<strong>es</strong><strong>es</strong> „andere“ Schmerzverständnis scheint demallgemein gültigen Modell der Durchschnittsbevölkerung zu entsprechen. Einenwichtigen Hinweis liefert die Gísla saga Súrssonar. Spür-Helgi täuscht bei seinenNachforschungen nach Gísli Kopf- und Gliederschmerzen vor, um sich ung<strong>es</strong>tört imH<strong>aus</strong> umsehen zu können. Die List ist nur d<strong>es</strong>halb erfolgreich, weil er sich derRegeln d<strong>es</strong> gelten<strong>den</strong> Schmerzmodells bedient. Wer sich nicht wohl fühlt, wird vonseinen Pflichten entbun<strong>den</strong> und darf im Bett bleiben.In di<strong>es</strong>em Zusammenhang ergab sich ein inter<strong>es</strong>santer Aspekt <strong>aus</strong> Janssonsvergleichender Analyse der Vínlandssagas. Anhand einer Gegenüberstellung derEiríks saga rauða in der Skálholtsbók mit der Hauksbók stellt er erheblicheStilkorrekturen durch Haukr Erlendsson zugunsten ein<strong>es</strong> normierten Sagastils f<strong>es</strong>t. Ergeht davon <strong>aus</strong>, daß der Schreiber der Skálholtsbók di<strong>es</strong>elbe Kopiervorlage benutzte,warhrscheinlich jedoch aufgrund mangeln<strong>den</strong> Ehrgeiz<strong>es</strong> oder mangels Kompetenzauf Textänderungen verzichtete. Auf di<strong>es</strong>e Weise wurde Eiríkrs Schmerzensschreiüberliefert. Es stellte sich in Bezug auf <strong>den</strong> Schmerz die Frage, wie viele weitereSchmerzensäußerungen in der r<strong>es</strong>tlichen Sagaliteratur beim Kopiervorgang <strong>den</strong>Stilvorgaben zum Opfer fielen. Da nur Kopien der Originalhandschriften überliefertsind, ist di<strong>es</strong><strong>es</strong> Problem nicht lösbar. Spekulieren ließe sich über eine relativ kleineGruppe von Schreibern, die die vorliegen<strong>den</strong> Sagas beim Abschreiben ähnlichHaukrs Vorgehen dem Sagastil anpaßten. Schließlich ist <strong>es</strong> eine Tatsache, daßHel<strong>den</strong> der oberen sozialen Schicht entstammten, die ihrerseits für <strong>den</strong> größten Teil244

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