Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong>Paul-Gerhardt Gemeinde<strong>Pastor</strong>Hamburg-Winterhude Predigt am 10.07.11Andererseits reagieren wir mit Abwehr. Wir „murren“ wie die Pharisäer bei Jesus. Der Mörder- ein Edelstein? Einer, der so viel Schuld auf sich geladen hat, muss doch mit Strafe undAusgrenzung rechnen, bei Gott wie bei den Menschen. Einer, der sich so schwer an derGemeinschaft versündigt, wie und für wen ist der noch „kostbar“? Oder auch jene, die vergewaltigen,missbrauchen oder zu Hass und Gewalt gegen andere aufrufen (wie gesternAbend am Dammtorbahnhof) - kostbare Edelsteine?!Wir merken: Wir sind den murrenden Pharisäern gar nicht so unähnlich. Genau wie jene habenwir unsere Normen und Glaubensüberzeugungen, und an denen lassen wir nur ungernrütteln. Jesus ist noch immer unbequem. Er mischt sich ein, und das auch ganz anders alswir es erwarten. Wir sind ja gern bereit zur Diskussion; wir dürfen doch wenigstens erwarten,dass er sich rechtfertigt, wenn er sich so weit vorwagt. Aber nichts dergleichen. Er erzählteinfach die beiden Geschichten vom Schaf und der Drachme.Was bezweckt er damit? Ich denke, es geht ihm vor allem um zwei Dinge: Erstens sprichtJesus von „Umkehr“. Das ist uns vertraut - am besten durch das Gleichnis, das dann gleichfolgt: vom verlorenen Sohn, der alles Gute verprasst, was er vom Vater bekommen hat, imGrunde sogar seinen eigenen Status als Sohn. Er hat nichts mehr zu erwarten. Aber er findetden Weg zurück. Er erkennt und bereut seine Schuld, zerknirscht und beschämt stellt er sichdem Vater und darf erleben, wie dieser ihn wieder in die Arme schließt.Hier wird „Umkehr“ deutlich, im wörtlichen Sinne. Aber „Umkehr“ im Blick auf das Schaf oderdas Geldstück?! Ein Schaf ist ohne seine Herde und ohne den Hirten nicht überlebensfähig,und es kann schon gar nicht allein seinem Weg zurück finden. Was für das Schaf gilt, gilterst recht für das Geldstück. Ist das erstmal verloren, kommt es uns beim Suchen auch nichteinen Zentimeter entgegen. Nein, Umkehr als eigenständiger Akt der Reue, das kann hiernicht gemeint sein.Jesus zielt hier auf etwas anderes. „Umkehr“ kann auch in absoluter Passivität geschehen.Schaf wie Geldstück sind darauf angewiesen, sich finden zu lassen. Nicht anders geht esuns Menschen. Wir müssen uns von Gott finden lassen. Mehr noch: Wenn er uns gefundenhat, müssen wir uns von ihm tragen lassen. So wie der gute Hirte sein Schaf auf den Schulternnach Hause trägt, will Gott jeden von uns tragen. Wir können dazu kaum etwas tun; imGrunde können wir die Umkehr nur geschehen lassen.Das klingt verblüffend einfach. Aber es ist alles andere als das. Denn es bedeutet umgekehrtja: Wir müssen auf alle eigene Aktivität verzichten, all unser Bemühen, Gott aus eigenerKraft ein Stück näher zu kommen.Kajakfahrer erzählen, dass sie bei besonders gefährlichen Bergwasserfahrten im Momenthöchster Gefahr auf absolute Passivität angewiesen sind - und das fällt gerade Extremsportlerngar nicht leicht. Kajakfahrer brauchen beim Wildwasser all ihre Kräfte zum Paddeln undGleichgewichthalten. Es kann aber passieren, dass in der Nähe von Felsen so genannte„Wasserdellen“ entstehen. Dabei bildet sich ein ständiger Sog, eine Wasserwalze. Gerät derKajakfahrer da hinein, wird er unweigerlich in die Tiefe gerissen und kann in einen endlosenKreislauf geraten - immer wieder hinabgezogen, ausgespieen, wieder erfasst. Um dem zuentkommen, muss sich der Sportler zwingen, sich hinabziehen zu lassen, es geschehen zulassen. Und das heißt: ganz zu verzichten auf den Einsatz eigener Stärke. Passiv bleiben,bis einen die Wasserwalze in Strömungsrichtung wieder ausstößt und regelrecht freigibt ansLeben.Mit anderen Worten: Der, der Gott sucht, sollte innehalten. Nicht länger jedes Angebot aufdem religiösen Supermarkt ausprobieren, sich keine täglichen Gebetspflichten auferlegen,kein zwanghaftes Meditieren, sondern einfach mal innehalten, zur Ruhe kommen und sichvon Gott finden lassen.Das Zweite, was Jesus bei den Gleichnissen hervorhebt, ist die große Freude. Sicher, wirkennen das. Wer einmal etwas verzweifelt gesucht hat (und sei es nur die Brille oder denSchlüsselbund), der kennt auch die Erleichterung, die große Freude des Wiederfindens. Man
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong>Paul-Gerhardt Gemeinde<strong>Pastor</strong>Hamburg-Winterhude Predigt am 10.07.11kann sagen: Je größer der Schmerz über einen Verlust, desto größer auch die Freude desWiederfindens.Aber das erklärt noch nicht die Pointe der Gleichnisse. Das sind zwar auch zwei Alltagsgeschichten(die jeweils dem Leben der Männer, der Hirten, und der Frauen, Hausfrauen, entnommensind), aber die große Freude der Finder steht in keinem Verhältnis mehr zum Wertder Objekte. Die Finder feiern gleich ein Freudenfest mit ihren Nachbarn und Freunden!Wieso ist die Freude derart groß?Sie ist schlicht ein Bild für die große Liebe Gottes zu jedem einzelnen. Es wäre ja durchausauch eine andere Reaktion denkbar: Der Schäfer hat ja noch neunundneunzig andere Schafe,die Frau noch neun weitere Drachmen. Sie könnten nun die Schultern zucken und sagen:„Schade drum, aber etwas Verlust ist immer. Das Leben geht weiter …“ Aber genau das tunsie nicht. Ihnen liegt an diesem einen; Gott geht es um jeden einzelnen. So wie ein guterLehrer möglichst alle Schüler ans Klassenziel bringen will, weil sie ihm alle gleichermaßenam Herzen liegen. Wenn das tatsächlich gelingt, ist die Freude riesengroß. Über meine wiedergefundeneBrille kann ich mich auch im Stillen freuen, aber wo Unfassbares gelingt(Menschen wieder zusammenfinden, Gemeinschaften „heil“ werden), da braucht die FreudeGesellschaft, da wird sie laut, drängt über sich hinaus.Und dennoch: Alle lassen sich anstecken. Einige stehen abseits und „murren“, als Jesus dieAußenseiter zurück in die Gemeinschaft holt. Für sie ist das alles andere als ein Grund zurFreude; vor allem, dass er das im Namen Gottes tut, ist für sie unerträglich.Wer sich so verweigert und abseits bleibt, muss Acht geben, dass er zum Schluss nichtselbst zu den Verlorenen zählt. Das ist für mich eine weitere Pointe dieser Gleichnisse, auchwenn sie nicht ausdrücklich im Text steht. Der Finder lädt zum Fest; alle, wirklich alle sollensich mitfreuen, mitfeiern. Viele aber bleiben abseits, auch heute, manche murren sogar.Warum? Ist es die Angst zu kurz zu kommen oder benachteiligt zu sein, wenn anderen soviel Liebe zuteil wird? Ist es Narzissmus oder Egoismus, der nur sich selbst als Mittelpunktverträgt? Oder ist es einfach Gleichgültigkeit (nach dem Motto: Lass die anderen doch feiern,mir hat das nichts zu tun)?Welcher Grund auch vorliegen mag, so viel ist sicher: Wer sich Gottes Liebe beharrlich verweigert,wer sich partout nicht finden lassen will, der wird die Folgen schmerzlich spüren.Das Bild vom Kajak-Fahrer hat es deutlich gemacht: Der wird zum verzweifelten Einzelkämpferund hat doch keine Chance, aus eigener Kraft dem Wassersog (das ist für uns das Gestrüppvon Sorgen) zu entrinnen.Wie tröstlich ist da das Evangelium; zu hören: Gott ist längst zu uns unterwegs: keinen gibter verloren; jeden einzelnen will er zurückholen in seine große Gemeinschaft. Das lässt unsfröhlich feiern an jedem Tag unseres Lebens.Amen.