160 Johannes Grebe-EllisDas «Festkörperbüschel»Das «Festkörperbüschel» lässt sich im wechselnden Anblick der Doppelbildereines Kalkspats hervorrufen. Hierzu ist indessen einige Übungerforderlich. Es erscheint insbesondere auch im Durchblick durch dichroitischeMineralien, beispielsweise dünne Turmalin- oder Andalusitscheiben. 22Die Ansicht der Umgebung durch eine solche Scheibe erscheint, je nachVarietät, gleichmäßig gefärbt und zugleich abgeschattet. Dreht man dieScheibe, während man sie unmittelbar vor die Augen hält und gegen einengleichmäßig hellen Grund blickt, um 90° und verharrt einen Moment, soerscheint das Büschel geradezu leuchtend für einige Sekunden, bevor esmatter wird und schließlich wieder verschwindet. Erneutes Drehen bringt dieErscheinung erneut hervor. Man hat die Sache gewissermaßen «in der Hand».Besonders geeignet für diese Beobachtungen erweisen sich Stücke dergängigen Polarisationsfolie. Mit etwas Übung findet man die Geschwindigkeit,mit der man die Folie drehen muss, damit sich im Durchblick derKontrast und damit die Erscheinung des Büschels fortwährend erhalten lässt.Dann stellt man fest, dass die Orientierung des «Festkörperbüschels» mitderjenigen der Folie fest verbunden ist: Dreht man die Folie, so dreht sich dasBüschel mit. 23 Wie bei den natürlichen Dichroiten steht dabei dieeine Blickrichtung zu finden, unter der die innere Basisfläche des Prismas nicht mehrvoll spiegelt, sondern von einem Grauschleier überzogen ist. «Dieser tritt dann ein,wenn sie nicht nur spiegelt, sondern gleichzeitig durchsichtig wird, das heißt, wenndas Prisma Spiegel und Fenster zugleich ist. [...] Im Grau wird das Haidinger-Büschelaugenscheinlich. An jeder Prismenhälfte einmal. Das eine steht senkrecht zumandern» (Lobeck 1954, S. 39).22 HAIDINGER entdeckte das Büschel bei Untersuchungen an dünnen, senkrecht zurHauptachse der Kristalle geschnittenen Andalusit- und Turmalinplatten und in denDoppelbildern des Kalkspats (Haidinger 1844, S. 29ff). Dabei zeigte sich, dass dieGelbrichtung des durch die Turmalinscheibe gesehenen Büschels senkrecht zurHauptachse des Kristalls verläuft. Die Gelbrichtung des im Durchblick durch eineAndalusitscheibe sich zeigenden Büschels liegt dagegen senkrecht dazu, d.h. parallelzur Hauptachse des Kristalls. Damit weisen Turmalin und Andalusit zusammengenommen die Polarität der orthogonalen Büschelstellungen in den Doppelbildern desKalkspats auf: Der Turmalin zeigt die Stellung des außerordentlichen Bildes,Andalusit diejenige des ordentlichen Bildes, vgl. (Grebe-Ellis 2005, S. 119f).23 Diese Tatsache ist der Konstruktion von Geräten (Synoptophor/Synoptometer,Koordinator nach CÜPPERS u.a.) zugrunde gelegt, mit deren Hilfe AugenärzteFixationsprüfungen und –therapien am menschlichen Auge durchführen bzw. dasmonokulare Blickfeld vermessen. Sie bestehen im Wesentlichen aus einerPolarisationsfolie, die vor einer blauen Beleuchtung rotiert und deren Drehfrequenz sogewählt wird, dass der Patient ein gleichbleibend deutliches Haidinger-Büschelrotieren sieht (Cüppers 1956; Johanning 2000).
Phänomenologische Optik: eine „Optik der Bilder“ 161Orientierung des Büschels in einer Beziehung zur inneren Struktur derPolarisationsfolie: Die Gelbrichtung des Büschels fällt mit der Hauptachseder Folie zusammen, die durch Strecken der Folie bei ihrer Herstellungentsteht. 24Abb. 3: Aufgehellte Doppelbilder eines schwarzen Quadrats (links); schematischeDarstellung der orthogonalen Büschelorientierungen in den Doppelbildern relativ zurHauptachse des Spats (rechts): Die Gelbrichtung im unverrückt gesehenen(ordentlichen) Doppelbild liegt parallel zum Hauptschnitt, diejenige des verrücktgesehenen (außerordentlichen) Doppelbildes senkrecht dazu.90°-DrehungHAHAAbb. 4: Das «Festkörperbüschel» im Durchblick durch eine Polarisationsfolie. HAkennzeichnet die Hauptachsenlage (Streckrichtung) der Folie.Das «Beziehungsbüschel»HAIDINGER beschreibt eine weitere charakteristische Beobachtung (Haidinger1844, S. 34f), die folgendermaßen nachvollzogen werden <strong>kann</strong>: Hält manzwischen sich und ein Stück Polarisationsfolie ein doppelbrechendes Mittel,etwa ein dünnes Glimmerblatt, und dreht dieses senkrecht zur Blickrichtung,24HAIDINGER folgte dem Augenschein und bezeichnete die Gelbrichtung alsPolarisationsrichtung. Im Rahmen des Wellenmodells ist die Polarisationsrichtunghingegen senkrecht dazu definiert, d.h. parallel zur Blaurichtung des Büschels (vgl.die Lage des «Oberflächenbüschels» relativ zur spiegelnden Fläche).