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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Jörg Schieke]Die Glücklichen[Marcelo Moutinho]DER BALL UND DIE ZEITSA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]Manche Menschen schwimmen im Sommer mit dem Herzen voranaber viele fangen auch einfach zu weinen an.Weißt du, ich habe mal ein prima Mädel getroffendas hatte seine Lieblingspuppehoch in einen Kastanienbaum geworfen.An einem Julitag, seinerzeitin den vorbestraften fünfziger Jahren.Scharlach, Mumps, Windpocken, Röteln– wir waren schon eine lustige Truppe.Mumps ist dann hin zu dem Baum, zielt, schießt:Die Puppe fällt runter, <strong>der</strong> Fußball bleibt oben.Ich habe die eine Krankheit nachträglich mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n verwoben.Weißt du, ich habe mal auf einem Platz spielen müssen<strong>der</strong> war so klein, dass sich die Strafräume in <strong>der</strong> Mitte berührten.Vor dem einen Tor eine Pfütze voller Krankheitserreger, voller Schaumein richtiger Infektionsherd. Wir durften unseren Ballda um Gottes willen nicht hineinrollen lassen. Nur <strong>der</strong>diensttuende Pflegerwar ein bisschen geimpft. WindpockenMasern, Mumps, Röteln: lauter Kin<strong>der</strong>krankheiten, alles Kin<strong>der</strong>kacke.Zwischenfrage: Dieser Seuchen-Ball, war das <strong>der</strong> aus dem Baum?Und stand da noch immer jenes Puppenmädeldas mit den braunen Lockenund hat böse böse geschimpft?Natürlich, sie war ja unsre Lieblingsärztinund lebte Arm in Arm mit Blaulicht und Martinshorn in <strong>der</strong> Sani-Baracke.Zwanzig Jahre später fiel <strong>der</strong> Ball von ganz allein aus dem Baum. Wirwaren inzwischen alle entlassen und trafen uns ein letztes Mal, um endlichmit unserem Ball ein richtiges Spiel auszutragen. Der Platz war noch immerso klein, dass sich die Strafräume berührten. Das Gras reichte uns biszu den Kniekehlen. Der Ball war zu einer Matschpflaume geworden, dasheißt, alle Luft war entwichen. Die meisten von uns konnten inzwischenrecht ordentlich zählen, aber keiner konnte die Zahlen auch zum Rechnenanwenden. Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division. Mumps, Masern,Röteln, Windpocken. Zählen ist das eine, zusammenzählen das an<strong>der</strong>e. Dasschlimmste aber war, dass niemand an eine Luftpumpe gedacht hatte. Wirversuchten es mit <strong>der</strong> Kraft unserer Mün<strong>der</strong> und Lungen, wir pustetenund sabberten am Ventil rum, und hatten doch nur das Gefühl, es sei allesvergebens. Einer sagte: Wir sind zu neunt, wir spielen die Guten gegen dieBösen, und die Guten bekommen acht Tore Vorsprung; mindestens. Das istso – sagte ein an<strong>der</strong>er, einer, <strong>der</strong> sich schon immer sehr schlau vorgekommenwar – als müsste bei einer Schachpartie <strong>der</strong> Schwächere mit einemTurm, einem Läufer und einem Springer weniger anfangen. Wir wusstenallerdings, dass wir sowieso nicht spielen würden, weil <strong>der</strong> Ball, <strong>der</strong> sichdie ganze Zeit über tot gestellt hatte, gegen 22.37 Uhr wirklich gestorbenwar. Spätestens da wünschten sich viele das Puppenmädel zurück, unsereliebe Ärztin, aber die war mittlerweile von einer Betreuerin zu einer Insassingeworden und hatte an diesem Abend gar keinen Ausgang.123Mein Vater hat nur mit <strong>der</strong> Picke schießen können. Erhat nie eine Flanke mit dem Außenrist geschossen, einenSchuss mit drei Zehen, mit dem man dem Ball Effet gebenkann und seinen Bewacher täuschen. Er hat Fußball gerneam Fernseher verfolgt, hat aber noch niemals in seinemLeben in einem Spiel mitgespielt.Meine erste Erfahrung mit dem Ball war eigentlich einesehr einsame Geschichte. Ich stellte das Radio auf denSen<strong>der</strong> ein, <strong>der</strong> das Spiel von Fluminense übertragen sollte,schloss die Tür in meinem Zimmer, rannte herum undschoss einen virtuellen Ball, während <strong>der</strong> Reporter beschrieb,was sich im Stadion zutrug. Es war ein geheimerund einsamer Tanz mit <strong>der</strong> eigenen Vorstellungskraft.Im Gymnasium habe ich die Pausen genutzt, um michmit den Kameraden auf ein „Spielchen“ zu treffen. DasSpielfeld – ein Teil des ewig langen Schulhofs – vertrug soviele Spieler, wie mitspielen wollten. Das taktische Systemwar einfach: alle sind dahin gelaufen, wo <strong>der</strong> Ball war– <strong>der</strong> in Wahrheit ein kugelförmiges Objekt aus zusammengedrücktenSchokoladengetränkekartons war, die mitTesa-Film zusammengehalten wurden.Ein Fußballspiel live, mit einem offiziellen Fußball, Trikotsund allem was so dazugehört, das habe ich erst gesehen,als ich schon acht Jahre alt war und es geschafft hatte,meinen Vater zu überreden, wie<strong>der</strong> ins Maracanã-Stadionzu gehen. Der Alte war einer <strong>der</strong> Überlebenden <strong>der</strong> Weltmeisterschaftvon 1950. Er hatte dort das Endspiel gegenUruguay gesehen und das Trauma war so groß gewesen,dass er nie wie<strong>der</strong> das Stadion hat betreten wollen. Nochdazu war er begeisterter Anhänger von Botafogo, wases mir auch nicht gerade leichter machte: Ich musste ihndazu überreden, sich ein an<strong>der</strong>es Spiel als das seines Vereinsanzuschauen. Ich habe es aber dennoch geschafft. Alswir im Maracanã ankamen und das Spiel begann, fragteich ihn: „Wo ist denn <strong>der</strong> Reporter?“. Vater lachte undumarmte mich, wie nur Väter es können.In meiner Jugend dann spielte ich mit Freunden, die beimir in <strong>der</strong> Nähe wohnten. Wir haben auf <strong>der</strong> Straße, aufdem Asphalt gespielt. Die beiden kleinen Tore, aus altenHolzlatten und einem gebrauchten Volleyballnetz zusammengezimmert,brauchten keine Torhüter. Wenn dann einAuto kam, wurde das Spiel für einige Sekunden unterbrochen.Danach ging es wie gewohnt weiter.Es war dort, auf <strong>der</strong> Straße, dort habe ich gelernt mit demAußenrist zu schießen, einen Schuss mit drei Zehen, vollerEffet. Wenn ich auch kein geborenes Talent war, so lernteich es doch durch beharrliches Üben.Nelson Rodrigues, <strong>der</strong> Chronist, <strong>der</strong> am besten überden Fußball geschrieben hat, sagte einmal, dass brasilianischeSchriftsteller nichts vom Sport verstünden, ja,dass sie nicht einmal einen einfachen Einwurf zustandebrächten. Als ich mein erstes Buch veröffentlichte, dahat mein alter Herr noch gelebt, und das gut, aber erhat nie ein Tor von mir gesehen. Die ganze Zeit, seitdemich begonnen habe, mich auf den Rasen zu wagen, habeich versucht, diesen Satz von Nelson Rodrigues zu wi<strong>der</strong>legen.Spiel für Spiel. Und manchmal, wenn mitten ineinem Spiel <strong>der</strong> Ball gerade auf den Körper zukommt, eraber zu kurz ist, um ihn mit rechts o<strong>der</strong> auch mit links zuschießen, da mache ich nicht lange herum und pfeif aufKlasse. Dann schieße ich mit <strong>der</strong> Picke, wie mein Vater,nur um seiner zu gedenken.10 11SA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]

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