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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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Ein Duell des Stils [Celso de Campos Jr.]Marcos x Kahn, Brasilien x Deutschland, im Finale <strong>der</strong> Weltmeisterschaft 2002[Christoph Nussbaume<strong>der</strong>]DER GIFTIGESO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]Wir wünschen uns, dass <strong>der</strong> Film mit Ronaldo in einemmagischen Höhepunkt endet; er schenkt Corinthians dieCopa Libertadores Amerikas, die Weltmeisterschaft 2010,den Weltpokal <strong>der</strong> Clubs, und erst dann kann <strong>der</strong> Abspannbeginnen.Etwas aber, steht diesem Drehbuch entgegen: es ist <strong>der</strong>Bauch. Er deutet an, dass Ronaldo den Leuten ja vielleichtgar nichts [o<strong>der</strong> nicht mehr so viel] beweisen will. Werweiß, vielleicht hat er einfach nur Lust darauf, Fußball zuspielen, hier und da ein Tor zu schießen und jubelnd aufdie Fans zuzulaufen; in seiner freien Zeit und mit seinerFrau im Shopping Center spazieren zu gehen, mit Freundenauszugehen, keine Ahnung.Dieser Bauch ist seine Achillesferse und, von daher, seinmenschlicher Ballast. Mit jedem Tor befreit uns Ronaldovom hollywood’schen Imperativ, in dem nur die Perfektionzählt und uns zeigt, dass wir, sogar mit unseren Fehlern,Schwächen und schlechten Angewohnheiten gutund glücklich sein können. Jedes Mal, wenn er auf demSpielfeld aufläuft, denken sich die Brasilianer: „Schau mal,da laufe ja ich!“ und man lernt, dass es noch an<strong>der</strong>e Artengibt, genauso schön o<strong>der</strong> sogar noch schöner, einen Filmzu beenden, abgesehen vom magischen...[Happy End]Als Torhüter <strong>der</strong> Endspielteilnehmer, hatten Marcosund Oliver Kahn nur eines gemeinsam, nämlich die Nummer1 auf ihren Trikots. Ansonsten schien nichts weiterdie beiden zu verbinden. Auf dem Spielfeld bevorzugte<strong>der</strong> Brasilianer die Gelassenheit, das Kollektiv und dieDiskretion; <strong>der</strong> Deutsche aber kultivierte Aggressivität,den Personenkult und die Rage als Form <strong>der</strong> Motivation.Einer von ihnen war bereits fast vollständig kahlköpfig,<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e stellte eine üppige blonde Mähne zur Schau.Sankt Marcos war religiös und hatte immer Medaillenmit Heiligenbil<strong>der</strong>n bei sich; King Kahn, <strong>der</strong> skeptischeAlbinogorilla, hat sich in die Hand <strong>der</strong> letzten Personverbissen, die versuchte, ihm ein solches Amulett unterzuschieben.Abgesehen von den Unterschieden imStil, war die Leistung von beiden während des Turniersgleichermaßen solide. Beide befanden sich in <strong>der</strong> Gruppe<strong>der</strong> 33 Spieler, die die Studiengruppe <strong>der</strong> FIFA bereitsvor dem Halbfinale als die Besten des Wettbewerbs erwählthatte.A b e r w ä h r e n d F e l i p ã o ü b e r R i v a l d o , R o n a l d o , R o n a l d i -nho Gaúcho, Roberto Carlos und Cafu verfügte – ebenfallsauf dieser Liste <strong>der</strong> FIFA – musste sich <strong>der</strong> Deutsche,Rudi Völler, ohne auf den gesperrten Michael Ballackzählen zu können, allein auf Kahn im Kampf gegen dieKanariengelben stützen. „Er hat die Bedeutung, die Linienspielerfür an<strong>der</strong>e Nationalmannschaften haben,wie Zidane für Frankreich und Rivaldo und Ronaldo fürBrasilien“, erklärte <strong>der</strong> Trainer, dessen Team sogar dieeigenen Landsleute in Erstaunen versetzte, die einenbis dahin einwandfreien Sturmlauf mit fünf Siegen undeinem Unentschieden zu sehen bekamen. Nicht durchZufall war Oliver Kahn, mit nur einem Gegentor in sechsSpielen, <strong>der</strong> Favorit für den Lew-Jaschin-Pokal, den dieFIFA dem besten Torhüter <strong>der</strong> Weltmeisterschaftsspieleverleiht. Marcos, <strong>der</strong> vier Mal überwunden wurde, versicherte,dass ihn <strong>der</strong> Preis nicht interessieren würde. Alser gegen Ende des vorletzten Trainings für das Finale,hierauf angesprochen wurde, polterte er los: „Ich binnicht hierhergekommen, um <strong>der</strong> beste Torhüter zu sein,son<strong>der</strong>n nicht <strong>der</strong> schlechteste. Was ich wirklich will, dasist Weltmeister zu werden.“Als größte Gewinner in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Fußballweltmeisterschaftensind Brasilien mit vier Titeln undDeutschland mit dreien bisher noch niemals in einerWeltmeisterschaft aufeinan<strong>der</strong>getroffen. Das Schicksalwollte es, dass dieses erste Duell ausgerechnet in einemEndspiel, bei einer geschätzten Zuschauerzahl von ungefähr1,5 Milliarden Menschen o<strong>der</strong> 25% <strong>der</strong> Weltbevölkerungstattfand.Internationales Stadion von Yokohama, am 30. Juni2002. Brasilien 2, Deutschland 0. Während Marcos mitdem Gefühl erfüllter Pflicht vom Platz geht, wurde Kahn,aufgrund seines Fehlers beim ersten Tor <strong>der</strong> Brasilianer,zum Sündenbock des Spiels. Mit Sicherheit von Mitgefühlgetrieben, versuchte die brasilianische Nr. 1, Oliver Kahnzu entlasten, <strong>der</strong>, nach Ansicht des Torhüters vom FCPalmeiras, von nun an mit demselben Schatten würde lebenmüssen, wie <strong>der</strong> damalige brasilianische Torwart von1950. „Ich bin nicht <strong>der</strong> Meinung, dass Kahn einen Fehlerbegangen hat. Es hat ihm einfach an Glück gefehlt, denn<strong>der</strong> Ball ist ihm aus den Armen gerutscht. Er wird abertrotzdem für den Rest seines Lebens gebrandmarkt sein.So ist es nun einmal im Leben eines Torhüters. Nur einmalhat man ein Problem und all das, was man vorher geleistethat, ist vergessen.“Allerdings hat Solidarität auch ihre Grenzen: <strong>der</strong> fünffacheWeltmeister begehrte gegen die Tatsache auf, dassdie FIFA den Deutschen zum besten Torwart und bestenSpieler <strong>der</strong> Weltmeisterschaft gewählt hatte. „Ich fand daslächerlich. Der Kahn zum Beispiel hat eine Weltmeisterschaftwie ich und <strong>der</strong> Torwart von Senegal gespielt. DerTorhüter <strong>der</strong> Türkei hätte den Preis gewinnen sollen undals Spieler war Ronaldo bei Weitem <strong>der</strong> Beste.“Allerdings bittet die Mutter des Torhüters ihren Heldensohnum Erlaubnis, an<strong>der</strong>er Meinung zu sein. Direkt aus<strong>der</strong> Stadt Oriente applaudierte Dona Antônia stehend <strong>der</strong>Entscheidung des höchsten Fußballgremiums. „Der Kahnhat doch gut gespielt, denn er hat Ronaldinho den Ball vordie Füße gelegt. Er hat Brasilien ein super Geschenk damitgemacht. Und deshalb stimme ich seiner Wahl zum bestenFußballer <strong>der</strong> Weltmeisterschaft zu.“ Das war’s.[Aus “São Marcos de Palestra Itália”, Biografie des Torwartsund fünffachen Weltmeisters mit <strong>der</strong> brasilianischen Nationalmannschaft,2002]Für alle gefallenen und wie<strong>der</strong>auferstandenenFuSSballer. Denn niemand gelte alsgescheitert, den man nicht vergisst.Ob wir wollen o<strong>der</strong> nicht: Unser gesamtes Denken isttief und in jedem Bereich vom Christentum beeinflusst.Die religiöse Ideologie eines gefolterten und ermordetenLiebesgottes hat uns alle erfasst, gleichgültig, ob wir andiesen Gott glauben o<strong>der</strong> nicht. Jedes Kind kennt abernicht nur die faszinierende Legende von Jesus, son<strong>der</strong>nauch die von Luzifer. Der Abgestürzte und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>auferstandene,beide sind fester Bestandteil unsereskulturellen Gedächtnisses.Wahrscheinlich brauchen die Menschen in einer christlichgeprägten Welt das dramatische Spektakel vom Aufstiegund vom Fall genauso, wie das tägliche Brot. Vielleicht,weil es sie erleichternd vergewissert, dass es sich beiihrem Helden letztendlich doch nur um einen fehlerhaftenMenschen, also um Ihresgleichen handelt. Vielleicht,weil die geliebte beziehungsweise verhasste Person ihreigenes Durchschnittsdasein für einige Augenblicke vergessenmacht. Vielleicht. Auf alle Fälle gibt es ein ungetrübtkindliches Staunen und es gibt die Sehnsuchtnach dem fernen Lichtträger, <strong>der</strong> den Schatten birgt.Fest steht auch, dass es in diesem Spiel <strong>der</strong> Polarisierungund Projektion einen gibt, <strong>der</strong> bisher alle übertroffenhat: <strong>der</strong> paraguayische Fußballer und Hasardeur JesúsLúz Cal<strong>der</strong>ón, genannt “El Tóxico” - <strong>der</strong> Giftige.Love him or hate him, you can’t ignore him. Und selbstdie, die ihn hassten, liebten ihn dafür, dass er ihnen einenGrund zum Hassen gab.Der Kleine Jesús Lúz wurde am 6. Mai 1954 geboren, justam selben Tag, an dem sich <strong>der</strong> Diktator Alfredo Stroessneran die Macht putschte. Cal<strong>der</strong>ón wuchs in einem<strong>der</strong> berüchtigen Slums von Asunción auf. Seinen Vater- ein vagabundieren<strong>der</strong> Indio - hat er nie kennengelernt,denn <strong>der</strong> ließ seine Frau noch vor <strong>der</strong> Entbindung desKindes sitzen. Von Geburt an war sein Rückgrat deformiert,und sein linkes Bein war fünf Zentimeter kürzerals sein rechtes. Durch zahlreiche Operationen wurdeihre Beweglichkeit zwar soweit hergestellt, dass er damitlaufen konnte, sein linkes Bein blieb jedoch ein O- undsein rechtes ein X-Bein. Um seine Beinmuskulatur zukräftigen, begann er, Fußball zu spielen, und entwickeltedabei schon im Kindesalter erstaunliche Fähigkeiten. Vonkleiner Statur, lag sein Körperschwerpunkt beson<strong>der</strong>stief, was ihm schnelle Drehungen und Bewegungen ermöglichte.Bereits früh - angeblich schon mit zehn Jahren- wurde er zum Alkoholiker, um seine Schmerzen zu22 lin<strong>der</strong>n.231SO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]

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