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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Matthias Sachau]Schütze holt!SA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]Was damals passiert ist, hätte nicht passieren dürfen.Und nachdem es doch passiert war, wusste ich gleich,dass es nur ein Vorzeichen für etwas noch viel schlimmereswar. Aber eins nach dem an<strong>der</strong>en.Ich wohnte in Oberbayern, irgendwo an einem Stadtrand.Da herrschten klare Verhältnisse. Hier war Siedlung undda war Maisfeld. Die Grenzlinie dazwischen war ein gera<strong>der</strong>Strich auf dem Katasterplan. Nur an einer Stelleschrieb er eine kleine rechteckige Ausbuchtung in denAcker hinein. Das war <strong>der</strong> Bolzplatz.Dort stand auf <strong>der</strong> Maisfeldseite ein großes Tor aus Aluminium.Gleich dahinter ragte ein Maschendrahtzaunacht Meter in den Himmel, damit zu hoch geschosseneFußbälle nicht im Maisfeld verschwanden. Auf <strong>der</strong> Siedlungsseitewäre ein zweites Tor gut gewesen, aber manwollte auch etwas für die Kleinen haben. Deswegen standdort ein bunt lackiertes Klettergerüst. Das wurde aberauch von den Großen benutzt. Zum Biertrinken und KüssenÜben. Und die Kleinen kletterten lieber auf den hohenZaun hinter dem Tor.Man musste klein sein, um auf den Zaun klettern zukönnen. Nur bis Schuhgröße 34 passten die Füße in dieMaschen. Als meine Füße noch gepasst hatten, verbrachteich so viel Zeit dort oben, dass ich ohne hinzuschauen, alleinanhand von Geräusch und Erschütterung bestimmenkonnte, wer gerade den Ball in meinen Hochsitz gedonnerthatte.Als meine Füße zu groß für den Zaun geworden waren,wollte ich bei den Fußballern mitspielen. Zuerst durfte ichnicht, weil ich noch zu klein war und verbrachte einigeZeit im Niemandsland zwischen Zaun und Spielfeld undwuchs. Als ich endlich durfte, musste ich ins Tor. Hier warmein Platz, bis <strong>der</strong> nächste Kleine vom Zaun herunterkommen und mich ablösen würde. Bis dahin musste ichaufpassen, den Großen keinen Grund zur Beanstandungzu geben. Das war nicht immer einfach. Mein größtesProblem bestand darin, dass ich kein bayerisch sprach.Außerdem konnte ich fast nie einen Ball halten, weil dasTor viel zu groß für mich war.Als Ausgleich holte ich alle verschossenen Bälle. Wenneiner den Ball am Zaun vorbei in das Maisfeld drosch,schrien die an<strong>der</strong>en immer „Schütze holt!“ Wenn dann ichstattdessen losrannte, war <strong>der</strong> Schütze froh, dass er verschnaufenkonnte.Nur wenn Toni kam, durfte ich Feldspieler sein. Toni wollteProfi-Torwart werden und ging deswegen freiwillig insTor. Der Andi, <strong>der</strong> Rudi o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schorsch schrien mirdann zu, wie das mit dem Feldspielen ging. Sie wohntenalle drei in meiner Straße und waren für meine fußballerischeErziehung zuständig. Sie waren sehr gut.Wenn sie in einer Mannschaft zusammenspielten, gewannensie immer.Doch an diesem Tag war alles an<strong>der</strong>s. Und es hätte nichtpassieren dürfen. Die Verwandtschaft aus <strong>der</strong> Schweizwar zu Besuch gekommen. Mit ihren Kin<strong>der</strong>n Urs, Wulfund Fritz. Und ich musste Urs, Wulf und Fritz mit zumBolzplatz nehmen. Das war schlecht. Schweizer sind niegut im Fußball, das wusste ich. Deshalb waren sie für diebevorstehende Weltmeisterschaft auch gar nicht qualifiziert.Und sie redeten Schweizerdeutsch. ZumindestWulf und Fritz. Urs, <strong>der</strong> größte von ihnen, redete garnichts. Außerdem wechselte er aus irgendeinem Grundnur einmal in <strong>der</strong> Woche die Socken, was dazu führte,dass seine Füße sogar noch durch seine Turnschuhe hindurchstanken. Das würde alles auf mich zurückzufallen.Schritt für Schritt näherten wir uns dem Bolzplatz. Ichversuchte so langsam wie möglich zu gehen, aber wir kamentrotzdem an. Andi, Rudi und Schorsch waren schonda und warteten auf Mitspieler. Urs, Wulf und Fritz wolltenzusammenspielen. Andi, Rudi und Schorsch wareneinverstanden. An diesem Tag ging ich gerne ins Tor.Vielleicht war so noch etwas zu retten. Wenn Andi, Rudiund Schorsch zusammenspielten, würden meine Cousinszehn zu null geschlagen werden. Vielleicht gingensie dann weg und ich könnte noch etwas länger bleibenund Andi, Rudi und Schorsch würden erkennen, dass ichnichts mit denen zu tun hatte, außer ein bisschen Verwandtschaft.Wie ein Fußballspiel auf dem Bolzplatz begann, warnicht festgelegt. Es musste halt irgendwie anfangen. Wie,das wurde jedes Mal neu erfunden. An diesem Tag hieltRudi den Ball lange mit den Füßen hoch. Das konnte ersehr gut. Dann ließ er ihn gnädig zu seinen Gegnern rollen.Ausgerechnet zu Urs.Urs stellte seinen stinkenden Fuß auf den Ball undwartete, die Nase hoch in die Luft gereckt, als wäre er<strong>der</strong> Fußballgott persönlich. Ich überlegte, ob ich schnellim Maisfeld verschwinden und nie wie<strong>der</strong> kommen sollte.Rudi wurde die Sache bald zu dumm. Er schlappteaufgesetzt schwerfällig zu Urs und trat dann plötzlichnach dem Ball. Wenn man den Fuß auf den Ball gestellthatte und jemand trat einem den Ball unter dem Fußweg, war das peinlich.Aber Rudi hatte ins Leere getreten. Urs war schneller,hatte den Ball mit <strong>der</strong> Fußsohle weggezogen und ihnanschließend zwischen Rudis Beinen hindurchgeschoben.So ging es dann los. Urs spielte zu Wulf, Wulf zuFritz, Fritz zu Urs. Beängstigend schnell kamen sie in dieNähe meines Tors, aber sie schossen nicht. Sie spieltensich nur den Ball zu.Urs, Wulf, Fritz, Urs, Wulf, Fritz, Urs, Wulf, Fritz, als ob siegenau diese Reihenfolge einhalten müssten. Andi, Rudiund Schorsch kamen nicht an den Ball, egal was sie versuchten.Selbst wenn sie sich die Pille durch ein leichtesFoulspiel ergaunerten, wurden sie sie sofort wie<strong>der</strong> losund meine Cousins spielten weiter Urs-Wulf-Fritz. Es sahaus, als führe <strong>der</strong> Ball auf unsichtbaren Schienen einenpräzise berechneten Zickzackkurs zwischen Bahnhöfen,die immer genau dann auftauchten, wenn er ankam.Andi, Rudi und Schorsch wurden sauer. Sie sagten, dassUrs, Wulf und Fritz gescheit spielen und Tore schießensollten. Urs ließ sich den Ball zuspielen, umkurvte Andiund Rudi und kam auf mich zu. Andi schrie „Torwart rauslaufen!“und ich lief Urs entgegen. Mit offenen Handflächen,die Arme im Dreißig-Grad-Winkel vom Körperabgespreizt, so wie ich es gelernt hatte. Aber Urs schossnicht. Er schob den Ball zur Seite. Dort stand Wulf undließ ihn im Zeitlupentempo ins Tor kullern.Ich war nicht schuld. Mehr, als mit offenen Handflächenherauslaufen, kann ein Torwart nicht, wenn ein Spielerallein auf ihn zukommt. Das wussten Andi, Rudi undSchorsch. Urs, Wulf und Fritz schossen jetzt lauter Kullertoreund Andi, Rudi und Schorsch schrien sich wütendgegenseitig an.Dann kamen Michi, Thomas und Rainer. Andi wollteneue Mannschaften machen und Urs, Wulf und Fritzverteilen, weil sie zu gut waren. Meine Cousins wolltenaber zusammenbleiben. Sie wollten gegen Andi, Rudi,Schorsch, Michi, Thomas und Rainer spielen. Sechs gegendrei. Michi, Thomas und Rainer schauten komisch aberAndi sagte sofort ja.Die zahlenmäßige Überlegenheit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en wirkte. DerBall wurde oft aus den Schienen gestoßen und Bahnhöfekamen nicht mehr pünktlich. Wenn die Schweizer am Ballwaren, versuchten sie weiter, Kullertore zu schießen,aber es waren zu viele Beine dazwischen. Der an<strong>der</strong>enMannschaft gelang allerdings auch kein Tor. Sie kämpften,schwitzend, verbissen, aber umsonst.Normalerweise weiß man es schon kurz vorher. Der Ballzischt leise und wird größer. Man sieht ihn, aber er ist zuschnell. Danach fühlt es sich an, als hätte man kein Gesichtmehr und es piept im Kopf. Während die an<strong>der</strong>ensich über einen beugen, versucht man ruhig zu atmenund es riecht nach Gras und Erde. Wenn <strong>der</strong> Schmerzeinsetzt und man sein Gesicht wie<strong>der</strong> fühlt, weiß man,dass alles in Ordnung ist, steht auf und spielt weiter.Aber auch das war an diesem Tag an<strong>der</strong>s.Meine Mutter kam und rief zum Essen. Nun passierteauf einmal das, womit keiner mehr gerechnet hatte. Ursschoss ein einziges Mal richtig. Fünfzehn Metern halbrechtslegte er sich den Ball vor und zog ab, um einenwürdigen Schlusspunkt für das Spiel zu setzen. So festhatte noch nie jemand auf mein Tor geschossen. Der Ballwar sofort da. Er zischte nicht, son<strong>der</strong>n pfiff wie eineGewehrkugel. Und er hätte unhaltbar im rechten Eck eingeschlagen,aber Michis Schulter hatte ihn abgelenkt.Ich lag im Staub und hatte kein Gesicht mehr. Nase, Mund,Augen, Stirn, Wangen, Kinn, alles weg. Es piepte. Aberes roch nicht nach Gras und Erde. Es stank. Ich hattekeine Nase mehr, aber es stank. Nach Urs’ Füßen. Überall.Ich robbte ein paar Zentimeter vorwärts und stießgegen Beine. Ich kroch um die Beine herum und robbteweiter. Es war sinnlos. Etwas hatte sich von Urs Fuß zuBall zu nicht mehr vorhandenem Gesicht übertragen. DerGestank drang durch meinen Kopf in meinen Körper undbreitete sich aus. Ich wurde eins mit Urs Füßen. Das hättenicht passieren dürfen. Ich schrie.Drei Wochen später verlor Deutschland in Cordobagegen Österreich.SA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]14 15

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