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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[José Luiz Tahan]Coutinho vor dem Tor[Nils Straatmann]FuSSball-SlamSO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]Fußball ist eine ernste Sache. Die Welt bleibt stehen,wenn <strong>der</strong> Ball rollt. In Santos, wo ich diese Zeilen schreibe,existiert ein ganz beson<strong>der</strong>es Gefühl dieser britischenSportart gegenüber. Dort wurde das meistverehrte undsiegreichste Team geboren, von dem man je gehört hat,und das seinen Weg in die Welt gemacht hat: <strong>der</strong> SantosFutebol Clube.In Rio de Janeiro kann man, hin und wie<strong>der</strong>, einen bekanntenSchauspieler in einem Restaurant sehen o<strong>der</strong> amStrand. Hier aber sehen wir Fußballspieler, die meistenmit weißen Haaren, wie Coutinho, wie <strong>der</strong> wohlbekannteSpitzname von Antonio Wilson Honório lautet.Zuhause in Piracicaba, wo er auch geboren wurde, nannteihn seine Mutter, „Cotinho“, weil er so schmalwüchsigwar. Der Junge lief von Zuhause fort, indem er, von jenerMannschaft verzaubert, die ihn für immer verän<strong>der</strong>n sollte,aus dem Fenster und über die Mauer sprang, und kamdann nach Santos. Die Hände in den Drahtzaun gekrallt,<strong>der</strong> das Spielfeld abgrenzte, sah <strong>der</strong> 13-jährige Junge,Pagão, Pelé und Pepe spielen und von da an wusste er,was er wollte: er wollte in dieser Mannschaft mitspielen,bei diesem Leben, das sich ihm zum ersten Male zeigte,mitmachen.Noch bevor er 15 wurde, spielte er zum ersten Mal beiden Profis, und er spielte schlecht. Bei seinem wichtigstenSpielzug umspielte er einen, zwei, drei Gegner un<strong>der</strong>st dann merkte er, dass er in die falsche Richtung lief,aufs eigene Tor zu. Damals war es noch üblich, dass mansich für etwas schämte, und <strong>der</strong> Junge hat deswegen sehrgelitten. Er war entschlossen, ins Landesinnere zurückzukehren,aber die älteren Spieler haben es ihm ausgeredet.Es war die Zeit einfacher Männer und kompliziertenFußballs, von Kameradschaft und wenig Geld.Ich stehe immer noch unter dem Einfluss dieses Klimas unddieser Geschichten: wir haben gerade die Biografie vonCoutinho in unserem Verlag am Strand herausgegeben.Einige <strong>der</strong> Geschichten habe ich in einer Kneipe genaugegenüber <strong>der</strong> Vila Belmiro gehört, an dem Ort <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>einmal unsere Koryphäe willkommen hieß, diesmalaber, um seine Geschichte zu feiern. Nachdem viele Autogrammegeschrieben waren, bekamen die Leute dortDurst, aber sie wollten nichts vom angebotenen Schaumweinwissen und viel weniger noch vom Wasser. Man gingalso direkt zur Bar do Alemão, in die Bar des Deutschen –eines seltenen Exemplars eines Fußballfans in Santos, <strong>der</strong>so fanatisch war, dass er sich das Vereinswappen mittenauf die Stirn hat tätowieren lassen.Dann machten wir es uns in <strong>der</strong> Kneipe gemütlich undnahmen das Fest wie<strong>der</strong> auf, jetzt aber mit Samba undBier, zusammen mit den Fußballern.Am selben Tisch saßen die Spieler, Negreiros, Mengálvio,Coutinho, Maneco, und wir, die Gurkentruppe. Ich wun<strong>der</strong>temich, dass Pepe nicht da war, also habe ich ihn angerufen.Als er sich meldete, bemerkte ich, dass er etwasüberrascht war.Ich sagte: „Pepe, mein Bestseller! Da ist jemand <strong>der</strong> aufdich wartet… <strong>der</strong> Coutinho!“.Und er: „Ach du liebe Güte, wird das in <strong>der</strong> Bücherei statt -finden?“.„Nein, Pepe, in <strong>der</strong> Vila, Mann!“Als dann unsere vielgeliebte Kanone aus <strong>der</strong> Vila imTrophäensaal erschien, war die Freude groß.Coutinho scherzte: „Warst du noch im Schlafanzug? Hatman dich aufgeweckt?“.Pepe umarmte Coutinho und die Fans umdrängten ihnmit Fotoapparaten in den Händen und baten ihn um Autogramme.Ich verstehe ja, dass jemand den Pepe daran erinnernmuss, immer wie<strong>der</strong> zu noch einer Veranstaltung zukommen. Die Emotionen heute, die Autogramme, dieErinnerungen und die Geschichten, die sind für sie selbstviel weniger bewegend, als die auf dem Spielfeld gelebtenRuhmestaten, in den fast achtzig Län<strong>der</strong>n, in denensie sich vor Königen und Plebejern, vor Präsidentenund Päpsten als die Besten <strong>der</strong> Welt präsentiert haben.Nichts ist dem Torjubel in einem Endspiel vergleichbar,mit einer Menschenmenge, die ihre Namen ruft. Für unsaber, war es das Höchste!Irgendwo im hiesigen Nordennördlicher sogar als West und Osteinst bewohnt von friesigen Hordenheute gekleidet in Rest und Rostliegt nahe <strong>der</strong> Pfade von Bremen zur Jadein mahnen<strong>der</strong> Lage fast flehend im Sargeeine kleine, klar malade StadtBremerhavenbauergraute Hochhausfel<strong>der</strong>Atzen hartzen Steuergel<strong>der</strong>gut, man hat das Klimahaus,Ökobau, sieht prima ausund die WindparkindustrieDoch kurz gesagt im Paarreim:Der Bremerhavener an sich,<strong>der</strong> fristet kein Daseinden fistet sein DaseinAm Rande des Zentrums, nahe des Stadtparks Speckenbüttelliegt <strong>der</strong> Olympische Sportclub OSC. Ein Kunstrasenplatz,schwarz geperlt, zwei Rasenplätze, ein Hauptplatz,Tribünengerade für gut 5000 Zuschauer. 2005 warSchalke zu Gast, Fabian Ernst, Kevin Kuranyi himself, ansonstenliegt <strong>der</strong> Zuschauerdurchschnitt bei Spielen <strong>der</strong>Herrenmannschaft um gut fünfundzwanzig plus-minuszwei.Die Linien sind wie<strong>der</strong> nicht ganz gerade<strong>der</strong> Platzwart hat wie<strong>der</strong> gesoffenund trotz unsres Torwarts Glanzparadewurd doch noch im Nachschuss getroffenDie Eckfahnen stehen in windschiefer Neigungdas Netz ist schon mehrfach geflicktund trotzdem wird hier noch in zünftiger Kleidungvon Montag bis Sonntag gekicktJenio auf Steffen, Steffen auf Terry, Terry an’nPfosten gesetztTerry auf Rose, Rose auf Ollie und Olliver hautihn ins NetzMomo stand zwischen den Pfosten. Und sonst meistenseher am Rand. Er kam aus einer schwierigen Familie hatteauffallend schlechte Zähne, dazu sensationelle Reflexe,vor allem auf <strong>der</strong> Linie, und wenig Grips. Unser Trainerwar stets sehr besorgt um ihn.„Momo“, sagte er, „Momo, ich hab dir nen Ausbildungsplatzbesorgt. Als Schweißer in ner Ree<strong>der</strong>ei am Hafen,das is super Momo, du verdienst dein eigenes Geld, lernstneue Leute kennen, trägst nen Blaumann und...“„Trainer, was isn Blaumann?“„Na, so blaue Schutzanzüge, damit du dich nicht verletzt.“„Danke Trainer, schwöre, aber ich kann den Job nichtmachen – mir steht kein blau.“Walter war unser Fahrer. Unterhemd, Schnurrbart unddick. Er trug Goldkette und Brusthaar und sah aus wieein Walter eben auszusehen hat. Er fuhr pünktlich undsicher und in seinem Handschuhfach lagerten Schmierheftchen.Döschers Tochter war zwei, als ich in die Mannschaftkam. Ich war siebzehn, ein Jahr Jünger als Döscher undDöscher ein sich mühen<strong>der</strong> Vater. Mike zeigte selbstgedrehte Pornos in <strong>der</strong> Kabine und Mike war es auch,<strong>der</strong> sich beim Turnier in England lauthals beim Schiri beschwerte:„Reverend! That was a foul, reverend!“Vielleicht waren wir nicht die schlausten,wir wolltens auch niemals seinDas Spiel lief mehr über die Außenund dann von <strong>der</strong> Grundlinie reinWir trainierten vier Mal die Woche, fraßen Gras und Erde– und am Ende stiegen wir ab. Im folgenden Jahr kämpftenwir um den Aufstieg, fraßen Staub und Schlacke undverloren das entscheidende Relegationsspiel in <strong>der</strong> sechs-ten Minute <strong>der</strong> Nachspielzeit.Mein Opa hat früher immer gesagt: Mien Jung, dat givtkeen Fallen. Dat givt blots Fleegen – mit nem schmerzhaftenAufprall. Leever Arm dran as Arm ab.Leever Levertran as Levertransplantation.Momo wird heute Gärtner sein, denn grün hat ihm schonimmer geschmeichelt. Walter hat sicher noch immerdie gleichen Schmierheftchen im Handschuhfach undDöschers Tocher geht mittlerweile wahrscheinlich zurSchule. Terry hat es geschafft. Er spielt bei einem <strong>der</strong>großen Vereine Österreichs, wenn man dort von Größesprechen kann, und ich erinnere mich an die größte Zeitmeines Lebens, als ich siebzehn war und einem Ballnachrannte.So oft wan<strong>der</strong>n wir Hügel hinan, vertrauend undblind, und erst im Rückblick erkennen wir, dassda ein Weg war, den wir gegangen sind,<strong>der</strong> sich in Serpentinen hinter unsdurch die Täler schlängelt.SO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]30 31

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