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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Rudi Gutendorf]Stan Libuda – mein schwieriger Star[Uli Borowka]AnpfiffSO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]Schalke war Vorletzter in <strong>der</strong> Bundesliga, als ich sie in<strong>der</strong> Winterpause übernahm, es drohte <strong>der</strong> Abstieg. DieMannschaft war keine Mannschaft mehr. Ich appelliertean die Einsicht <strong>der</strong> Spieler, an ihr Ehrgefühl. Gehorsamfor<strong>der</strong>n kann je<strong>der</strong> Primitivling, aber um Loyalität bittet<strong>der</strong> Gentleman und ich, <strong>der</strong> Rudi aus Neuendorf.Mein Problemkind heißt Reinhard “Stan” Libuda. Er ist <strong>der</strong>beste Spieler, den ich bisher trainiert habe, ein begnadeterFußballkünstler, das merke ich schnell. Aber er ist labilund in seiner Leistung unberechenbar; von den an<strong>der</strong>enSpielern wird er ständig verspottet. Sie benehmen sichwie ungezogene Kin<strong>der</strong>, ihr Opfer ist immer Libuda, <strong>der</strong>sich nicht dagegen wehren kann.Libuda leidet unter den Hänseleien wie ein Hund. Soetwas kann einen in den Selbstmord treiben. Das beunruhigtmich sehr. Friedel Rausch und Rolf Rüssmannsind die einzigen, die versuchen, ihn gegen die gehässigenSprüche in Schutz zu nehmen. Um sein angeknacks -tes Selbstbewusstsein wie<strong>der</strong> aufzubauen, übertrage ichLibuda zunehmend mehr Verantwortung. Wir sitzen dieganze Nacht zusammen und diskutieren. Ich will ihn zumMannschaftskapitän machen - damals konnte man soetwas ja noch als Trainer. Doch Libuda will nicht, er hatAngst davor und ist schrecklich verlegen. Ich sage ihm,er solle nicht glauben, was die an<strong>der</strong>en sagen. Er sei einhervorragen<strong>der</strong> Spieler und müsse nur etwas robusterwerden. Und dann verspreche ich ihm: “Ich bringe dichzurück in die Nationalmannschaft!” Das zieht.Schließlich willigt <strong>der</strong> notorisch Schüchterne ein und löstHermann Erlhoff als Spielführer ab. Es funktioniert. Erzeigt glänzende Leistungen und begeistert die Zuschauer.Keine Blutgrätsche, kein Kampf bis zum Letzten, aberFußballzauber, bei dem die Tribüne enthusiastisch aufstehtund im Stakkato den Namen des Helden ruft: “Stan, Stan!”Seit ich Schalke trainiere, habe ich ihm ständig eingetrichtert,dass er gut genug für die Nationalmannschaft ist.Selbst Helmut Schön habe ich ununterbrochen mit Elogenauf meinen Rechtsaußen genervt: “Der Stan gehört in dieNationalelf”, sage ich wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong>, “wer das nichtbegreift, tut mir Leid. Besser als Libuda kann niemandspielen. Er ist auf seinem Posten Weltmeister.”Ich glaube, dass ich ihm Libuda so penetrant “untergejubelt”habe, hat mir Helmut Schön bis zu seinem Todnicht verziehen. Er nimmt den Flügelstürmer eher wi<strong>der</strong>willigin sein Team. In <strong>der</strong> WM-Qualifikation gegen Schottlan<strong>der</strong>zielt Libuda sein wohl schönstes und wichtigstesTor: ein furioses Dribbling in den gegnerischen Strafraumhinein und ein platzierter Schuss am herausstürzendenKeeper vorbei - 3:2, die Fahrkarte nach Mexiko.Schön kann gar nicht an<strong>der</strong>s, als ihn zum WM–Turniermitzunehmen. Dort macht Libuda gegen Bulgarien eines<strong>der</strong> größten Spiele seiner Karriere - und versagt einigeTage später gegen England völlig. Als er in <strong>der</strong> Begegnungum den dritten Platz gegen Uruguay in <strong>der</strong> 74. Minutevon Schön aus dem Spiel genommen wird, kommt es zumendgültigen Bruch zwischen den beiden. Vor laufendenKameras verweigert Libuda dem Bundestrainer einenversöhnlichen Händedruck. Später fragen mich Journalisten,ob denn ich als Bundestrainer auf Libuda gebauthätte? Ich muss zugeben: Nein, wenn ich Coach <strong>der</strong> Nationalmannschaftgewesen wäre, ich hätte mich wohlnicht auf jemanden wie Libuda verlassen. Dafür war ereinfach zu unbeständig. Man konnte nie sicher sein, wieer drauf war. Manchmal lief es hervorragend, doch dannwar mal wie<strong>der</strong> gar nichts von ihm zu sehen, dann fummelteer sich unentwegt fest, dass es für alle eine Qualwar. Mein permanentes Insistieren war taktisch: Ich wolltesein Selbstbewusstsein stärken. Dann spielte er besser.Er brauchte Sicherheit, privat wie in <strong>der</strong> Mannschaft.Und ich musste sehen, wie ich ihn so weit bekam, seineprivaten Angelegenheiten zu vergessen.Nach meinem Abgang von Schalke ging es mit Libuda nurnoch bergab. Im September 1974 bestritt er sein letztesSpiel. Wenig später übernahm er den Tabakladen neben<strong>der</strong> Glückauf-Kampfbahn und verkaufte Zigaretten, Toto-Zettel und Eintrittskarten für Schalke 04, mehr trautesich dieser grandiose Ausnahmespieler beruflich nichtzu. Sandaletten tragend, mit Fahrradspange an <strong>der</strong> Hose,wurde er endgültig zum tragischen Held, <strong>der</strong> selbst einfachsteRechenaufgaben [“sechs Karten bitte”] mit <strong>der</strong>Registrierkasse zu bewältigen versuchte. “Sieh nur, wasgeschieht, wenn man nichts Anständiges lernt“, tuscheltendie Leute. Immer mehr versank er im Alkohol. Aus<strong>der</strong> Legende Libuda war Mitleid geworden, aus dem Geschäft,wo er die Zeit abstand, ein Käfig.Als ich Jahre später in <strong>der</strong> Kurt-Schumacher-Straße vorbeischaute,sah ich einen zutiefst deprimierten Mann ineinem nach Tabak und Bier stinkenden Kasten, vielleicht16 Quadratmeter groß. Ausgestellt wie ein schönes,wildes Tier. Schalke 04 hatte es nicht geschafft, ihn daherauszuholen. Hätten sie ihm ernsthaft helfen wollen,hätten sie ihm anbieten müssen, Jugendtrainer zuwerden. Sie hätten ihn, <strong>der</strong> ja immer ablehnte, viel stärkerbedrängen und einfach verpflichten müssen. Dochnichts wird so schnell vergessen wie die Erfolge <strong>der</strong> Vergangenheit.Kurz vor seinem 53. Geburtstag ist Reinhard“Stan” Libuda völlig verarmt gestorben.[Aus “Mit dem Fußball um die Welt – Ein abenteuerliches Leben”März 1996. Vor vier Jahren war ich auf dem Gipfel. Damalsin Lissabon. 2:0 mit Wer<strong>der</strong> Bremen im Finale desEuropapokals <strong>der</strong> Pokalsieger gegen den AS Monaco. Europapokalsieger.Was für ein schönes Wort. Dieter Eiltsschor mir eine Glatze, ich sah aus wie eine Bowlingkugel.Eine Bowlingkugel, die gerade den Europapokal gewonnenhatte! Wer<strong>der</strong> und Monaco. Lissabon. Allofs undRufer. Rehhagel betritt <strong>deutschen</strong> Boden. Die Fans. DerJubel. Der Ruhm. Das Gefühl, einer <strong>der</strong> besten Fußballer<strong>der</strong> Welt zu sein. Der Eisenfuß. Die Axt. Ein Held. MeineFresse, ist das lange her.Jetzt sitze ich auf einer dreckigen Matratze in meinemleeren Wohnzimmer in meiner leeren Villa. Voll bin nurich und das nicht zu knapp. Habe einen Kasten Bier undvier Flaschen Wein gesoffen. O<strong>der</strong> waren es nur zweiFlaschen? Drei? Fünf? Scheißegal. Vor vier Jahren standan dieser Stelle noch ein teures Designersofa. Als ichnach Hause kam, saß dort meine Frau mit meinen beidenKin<strong>der</strong>n und wartete auf mich. Ich erzählte ihneneine Gute-Nacht-Geschichte aus dem Stadion des Lichts inLissabon. Zwei wun<strong>der</strong>bare Kin<strong>der</strong>, eine bildhübsche Frau.Eine 250-Quadratkilometer-Villa im noblen Bremer StadtteilOberneuland. Drei Autos vor <strong>der</strong> Tür. Stammspielerbei Wer<strong>der</strong> Bremen. Der meist gefürchtete Abwehrspieler<strong>der</strong> Bundesliga. Europapokalsieger. Ich hatte alles.Jetzt sind sie alle weg. Meine Frau ist mit unseren beidenKin<strong>der</strong>n zu ihren Eltern geflohen. Weil ich sie sturzbetrunkenim Streit mit dem Kopf gegen die Wand geschlagenhabe. Sie wird nicht mehr zurückkommen. BeiWer<strong>der</strong> Bremen haben sie mich rausgeschmissen. Sie sagen,ich habe ein Alkoholproblem.Ich bin 33 Jahre alt, die Knie tun weh, meine Karriereist im Eimer. Die Autos vor <strong>der</strong> Tür habe ich verkauft.Vergangene Woche habe ich ein Umzugsunternehmenangerufen. Die Möbel, die Klamotten, die Fotos an denWänden, Tische, Schränke, Stühle, Teller, Tassen, Gläser,Pokale, Medaillen und Urkunden, alles ist weg. Ich habeden Möbelpackern die neue Adresse von meiner Frau undvon meinen Eltern in die Hände gedrückt. Weg, bloß wegmit dem ganzen Zeug. Der Makler war schon hier, die Villawird verkauft. Nur noch ich bin da. Ich, die Matratze, einKühlraum voller Alkohol und die Hausapotheke.Ich besaufe mich, das kann ich gut. Erstaunlich, wie vielein Mensch verträgt, bis er den Verstand verliert.Da! Ein Schrei! Der kam von oben, aus den Kin<strong>der</strong>zimmern!Mein Sohn Tomek ist fünf Jahre alt und hatte früherimmer so schlimme Ohrenschmerzen. Jetzt schreit erwie<strong>der</strong>. Nach mir, seinem Papa! Ich renne die Stufen nachoben, stürze über den Flur und öffne die Tür zu TomeksZimmer. Aber da ist nichts. Ich höre den Schrei, ganz klarund deutlich, aber das Zimmer ist leer. Tomeks Kin<strong>der</strong>bettchen,seine Spielsachen, das bunte Poster an <strong>der</strong>Wand, nichts ist mehr da. Ich höre meinen Sohn schreien,aber er ist gar nicht hier. Die Einsamkeit frisst sich durchmeine Eingeweide, ich schließe die Augen. Das Schreienverstummt.Zurück auf <strong>der</strong> Matratze. Ich öffne die nächste FlascheWein. Leere sie, öffne die nächste. Versuche, die Einsamkeit,die Leere, die Angst und die Trauer zu ertränken.Aber heute klappt das nicht. Heute nicht. Heute muss ichzu drastischeren Maßnahmen greifen. Ich gehe ins Badezimmerund hole den Karton mit den Tabletten. Schmerztabletten, Schlaftabletten, <strong>der</strong> ganze Karton ist volldamit. In <strong>der</strong> Küche steht noch ein letztes großes Glas.Tabletten und Glas stelle ich vor die Matratze. Mir ist daeben ein Gedanke gekommen. Was, wenn ich morgennicht mehr aufwache? Würde mich jemand vermissen?Braucht mich jemand? Brauche ich mich noch? Wäre esnicht besser, <strong>der</strong> ganzen Scheiße ein Ende zu bereiten?Sich hier und jetzt zu verabschieden? Was hin<strong>der</strong>t michdaran?Ich schütte die Tabletten ins Glas. Eine Handbreit Schmerz -mittel und Schlaftabletten vermengt mit Rotwein undBier. Minutenlang sitze ich da und starre auf den selbstgemachtenCocktail. O<strong>der</strong> sind es Stunden?Jetzt. Ich nehme das Glas und leere es in einem Zug.Mein Name ist Uli Borowka und ich werde mir jetzt dasLeben nehmen.Verlag Die Werkstatt]32 33SO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]

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