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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Uli Hannemann]Helden des FuSSballsports: Meine Oma[Vladir Lemos]Adriano, <strong>der</strong> ImperatorSO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]Die Flanke ist scharf und zu ungenau, das lange Beindes Stürmers schlicht zu kurz. Kein Vorwurf, aber - „Denhätte doch meine Oma reingemacht!“ Das wollte ich nicht.Der Satz ist mir rausgerutscht. Auch wenn er stimmt.„Deine Oma?“ Mein Nachbar, den mir <strong>der</strong> Zufall und diegemeinsame Vorliebe für kaltes Bier und Kneipenfußballan den Tisch gelost hat, dreht sich zu mir um und mustertmich missmutig. Doch mit dem Erkennen weicht <strong>der</strong> Argwohnaus seinem Blick, um Verblüffung Platz zu machen.„Du bist … deine Oma ist … wirklich … die … die große …?“Die Ehrfurcht lässt seine Stimme beben.„Genau die.“ Ich versuche, nicht zu stolz zu klingen, auchwenn ich es bin. Aber es ist nicht mein Verdienst und ichbin auch kein Angeber, son<strong>der</strong>n nur ein unfreiwilligerTrittbrettprominenter. Ich bin einfach nur <strong>der</strong> Enkel.„Uwe.“ Ich hebe mein Glas und stoße es kurz an seines.„Uwe Przewalski.“„Ich weiß.“ Seine Augen schimmern feucht. „Andreas. Ichbin ein großer Bewun<strong>der</strong>er deiner Oma. Mein Keller istein einziger Altarraum: Verschlissene Original-Töppen,Fotos mit dem Kaiser, dem Reichstrainer und <strong>der</strong> Queen,Autogrammkarten, Aktenordner mit vergilbten Zeitungsausschnittenund natürlich mehrere signierte Exemplarevon‚ Waltraud Przewalski: Eine Frau steht ihren Mann‘.“Prof. Dr. Frank Willmanns großartige Biographie übermeine Oma kenne ich natürlich. Ein sportjournalistisches,ein sporthistorisches Meisterwerk. Neben hochinteressantenEinblicken in die Entwicklung des europäischenFußballs erstellt das Buch auch ein Sittengemälde von <strong>der</strong>gesellschaftlichen Position <strong>der</strong> Frau in den zwanziger unddreißiger Jahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts.Waltraud Przewalskis Spezialität war ihr unglaublich harterSchuss. So wurde die 1908 Geborene kurz nach Beendigungdes Ersten Weltkriegs von einem Jugendtrainerauf Kartoffelplün<strong>der</strong>fahrt entdeckt, als sie auf dem elterlichenHof im westpommerschen Bömmensinchen dasScheunentor mit einem lebenden Huhn einschoss. Danachwar es allerdings tot.Der Läuseplage war es zu verdanken, dass <strong>der</strong> Nachwuchs -coach das Mädchen mit dem stoppelkurzen Blondhaar füreinen Jungen hielt. Zum Glück. Denn was für eine grandioseSpielerin wäre <strong>der</strong> Welt sonst vorenthalten geblieben– die Zeiten des Frauenfußballs waren schließlich nochweit entfernt.Waltraud wuchs zu einer jungen Frau heran. Der Karrieretat das keinen Abbruch, denn ihre androgyne und zugleichkräftige Erscheinung erleichterte ihr das erfolgreicheVersteckspiel zwischen all den männlichen Mitspielern.Dass man damals nach dem Spiel in Unterwäscheduschte, kam <strong>der</strong> Vermeidung zeitgenössisch kleinlicherFragen bezüglich <strong>der</strong> primären Geschlechtsmerkmalezusätzlich entgegen. Den Namen Waltraud hielt man füreine bloße Marotte.Über Victoria Bömmensinchen, Sportfreunde Stettin undHertha BSC landete sie beim FC Schalke 04, dem vorläufigenHöhepunkt ihrer Laufbahn. Zu jener Zeit verfügtemeine Oma längst über den wohl wuchtigsten Vollspannstoßauf dem Kontinent. Mehr als einmal musste dasSpiel abgebrochen werden, da die Holzpfosten <strong>der</strong> brachialenGewalt ihrer Abschlüsse nicht standhielten. Undnoch mit 48 Jahren trat sie unter dem Pseudonym PeterMurphy für Birmingham City im englischen FA-Cup-Finalegegen Manchester City an und schoss <strong>der</strong>en KeeperBert Trautmann aus dreißig Metern den Kopf ab. Für denSieg reichte es trotzdem nicht.Deutschland hatte sie schon Mitte <strong>der</strong> 30er Jahre verlassen.Über Rapid Wien, Olympique Marseille und dieBolton Wan<strong>der</strong>ers gelangte sie zu Real Madrid, wo sieunter dem Trainerfuchs Hugo Bal<strong>der</strong>ez das Zentrum <strong>der</strong>legendären Sturmreihe Sanchez – Quijote – Przewalski– Rigatoni – Melltorp bildete. Die Karriere ließ sie dannin England ausklingen, wo sie bis zu ihrem Abschied mitfast sechzig Jahren über tausend Tore schoss.Ab so etwa dem Alter von achtzig Jahren wurde Omalangsamer, doch ihre rechte Klebe war noch immerfurchterregend. Das bekam auch das Küchenpersonal imGelsenkirchener Seniorenstift „Zur Ruhe“ zu spüren, demdas belgische Gemüse durch die geschlossene Schwingtürwie Schrappnelle um die Ohren flog. Oma hassteRosenkohl.Lei<strong>der</strong> ließ ihr Geist noch vor dem Schussbein nach. Wirsahen oft zusammen in ihrem Zimmer Fußball und siereagierte im Grunde nur noch, wenn sie eine verpassteTorchance sah: „Den hätte ich reingemacht.“Natürlich bestätigte ich dann: „Ja, Oma, den hättestdu locker reingemacht.“ Inmitten eines dieser immergleichen Dialoge trat sie vor gesegnet wenigen Jahrenauch den letzten Schlummer an.Eines hatte Oma übrigens nie verwunden: Wegen ihrerkritischen Haltung gegenüber dem NS-Regime schlossendie Nazis sie aus dem Nationalteam aus und ließen ihrenNamen aus den Annalen tilgen. So kommt es, dass anstellevon Waltraud Przewalski noch heute ein gewisserErnst Lehner als Rekordtorschütze <strong>der</strong> 30er Jahre gilt,obwohl meine Oma in nur zweiunddreißig Län<strong>der</strong>spielenhun<strong>der</strong>telfmal traf, davon ein Dutzend Treffer aus <strong>der</strong>eigenen Hälfte.Es sind Menschen wie meine Zufallsbekanntschaft Andreas,die dafür sorgen, dass die Treffsicherheit meinerOma nicht nur nicht vergessen wird, son<strong>der</strong>n geradezuSprichwörtlichkeit erlangt hat. Dafür bin ich ihm dankbar.Sein nächstes Bier geht auf mich, während auf demBildschirm <strong>der</strong> nächste Riese gnadenlos versemmeltwird. Meine Oma hätte ihn reingemacht.Mit einunddreißig Jahren, personifiziert Adriano, <strong>der</strong>Imperator, den Schmerz und die Freude am Fußball. Zueinem gewissen Zeitpunkt war dies in aller Munde. Angesichtsdieser Omnipräsenz habe ich mich dabei erwischt,an all die Leute zu denken, die über diese, meine Wortestolpern könnten. Leute, <strong>der</strong>en tägliches Einkommen eserlaubt eine Tageszeitung zu kaufen, o<strong>der</strong> Leute, die diesein meinem Blog finden, in dem ich sie für gewöhnlich undin bescheidener Weise hinterlege. Leute, die einen Computerbesitzen und die sich das Recht erkauft haben, dasInternet zu benutzen. Leute, die eine Familie haben undArbeit, Leute, die pünktlich kommen und gehen müssen.Leute, die Zugang zu sanitären Einrichtungen haben. Undzu Unterhaltung.Ich habe mich also gefragt: Was wissen wir eigentlichvom Leben dieses Adriano? Wer von uns ist tatsächlich in<strong>der</strong> Lage den Werdegang dieses, in <strong>der</strong> Vila Cruzeiro aufgewachsenenMannes, zu erklären? Für den, <strong>der</strong> es nichtweiß, die Vila Cruzeiro ist eine <strong>der</strong> gewalttätigsten Gegendenin Rio de Janeiro. Eine Gegend, in <strong>der</strong>en StraßenTag für Tag <strong>der</strong> Bürgerkrieg tobt. Wer unter uns könntewissen, was diese Favela wirklich bedeutet? Wer? Werwüsste, auf welche Weise Adrianos Jugend sich mit denGeschichten dieses hintersten Winkels im Norden von Riode Janeiro vermischte?Es handelt sich hier um einen Imperator, <strong>der</strong> in einem vonmakabren Imperatoren verpesteten Land aufgewachsenist. Und es entstehen Vermutungen, denn die Favela istein fruchtbares Land dafür. Noch dazu ist da <strong>der</strong> Alkohol– es ist immer <strong>der</strong> Alkohol – und die idiotische Erklärungeines befreundeten Torhüters. Aber die Tugend gewisserGedanken ist nun einmal die, den Typ von Mensch bloßzustellen,<strong>der</strong> diese ausgesprochen hat.Wer von uns wäre in <strong>der</strong> Lage zu verstehen, dass ein jungerMann eines Tages - in einem dieser Ausbrüche - sichdas Recht zugesteht, den Fußball zum Teufel zu wünschenund die Entscheidung zu treffen, den Rest seiner Tage unterMenschen zu verbringen, die ihn haben aufwachsensehen? Wer könnte ihn sich dabei glücklich vorstellen? Istes denn so schwer zu verstehen, dass jemand, <strong>der</strong> auseiner solchen Gegend kommt, sich in einem Konflikt sieht,wenn er von Angesicht zu Angesicht, mit dem Gegenteilvon allem was er bisher gelebt hat, konfrontiert wird?Warum ist es so schwer sich vorzustellen, dass Adrianomehr Spaß an einer Funk-Party hat, als an den Partys <strong>der</strong>Reichen und Schönen mit viel teurem Wein und Champagner?Ein Grand Cru ist für ihn etwas an<strong>der</strong>es – es ist dierohe Realität. Und die hat keine Geheimnisse.SO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]34 35

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