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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Thomas Klupp]Joe Strocka [o<strong>der</strong>] warum ich einTOP FuSSballer bin und trotzdem immer auf <strong>der</strong> Ersatzbank sitze[Vladir Lemos]Im Namen des BallsSA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]Ich bin ein TOP Fußballer – schnell, wendig, trickreich, <strong>der</strong>wohl beste Techniker unter den europäischen Autoren –aber ich habe eine Schwäche. Ich steige nicht zum Kopfballhoch. Wirklich nie. Selbst wenn beim Stande von 1:1 in <strong>der</strong>90. Minute im eigenen Strafraum eine butterweich getreteneFlanke auf mich zusegelt und hinter mir <strong>der</strong> extremkopfballstarke Stürmer des gegnerischen Teams lauert,<strong>der</strong>, wenn ihn die Flanke erreicht, todsicher das finale 1:2köpfen wird: Ich steige trotzdem nicht hoch! Das heißt: Ichsteige schon hoch, aber nur zum Schein. Ich werfe michdem Ball wie ein angreifen<strong>der</strong> Stier entgegen, springe mittief gesenktem Kopf haarscharf unter ihm hindurch undnehme, während ich den scharfen Luftzug des über michhinweg zischenden Le<strong>der</strong>s in meinen Locken spüre, schwe -ren Herzens den Sieg unseres Gegners in Kauf. Ich habeso schon manch bittere Nie<strong>der</strong>lage verschuldet, habevielfach den Zorn meiner aufopferungsvoll kämpfendenKameraden auf mich gezogen, die sich allerdings schonlange nicht mehr von meinen Sprüngen täuschen lassenund mich deshalb auf die Ersatzbank verbannt haben, dieich nur dann noch verlasse, wenn wir haushoch führeno<strong>der</strong> aussichtslos hinten liegen und es völlig egal ist, obnoch jemand zum Kopfball hochsteigt o<strong>der</strong> nicht.Ich bedauere dieses elendige, meinen technischenFähigkeiten Hohn spottende Reservistendasein auf denFußballplätzen dieser Welt, immer wie<strong>der</strong> nehme ich mirvor, nun doch einmal zum Kopfball hochzusteigen ... aber<strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Vergangenheit ist stärker als ich. DerSchatten <strong>der</strong> Vergangenheit: Ich spreche von Joe Strocka,den wir nur G.I.Joe o<strong>der</strong> auch den Strecker nannten,seines Zeichens Oberfeldwebel bei den ostbayerischenGebirgsjägern und C-Jugendtrainer des VfB Weiden,<strong>der</strong> uns Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre Disziplin und Mut undMannschaftsgeist einzuimpfen suchte, bis er von unbekannterHand auf dem schlecht beleuchteten Parkplatzhinter dem VfB-Vereinsheim mit einem Schraubenzieherzwischen den Lendenwirbeln in den Vorruhestand geschicktwurde.Disziplin und Mut und Mannschaftsgeist jedenfalls: Für denStrecker waren das nicht nur Worte son<strong>der</strong>n eine Haltung,die es zu verinnerlichen galt. Eine Haltung, die unsden Sieg bringen würde. Eine Haltung, die allerdings seinenPreis hatte. Disziplin und Mut und Mannschaftsgeistimpfte uns <strong>der</strong> Strecker nicht durch schneidige Kabinenansprachenein, nicht indem er uns auf gemeinsameKlettertouren schickte o<strong>der</strong> gar über heiße Kohlen laufenließ son<strong>der</strong>n durch Freistoßtraining. Jeweils die letztenfünf Minuten jedes Mittwochabends waren dafür reserviert.Mit langen Gummibän<strong>der</strong>n, die den Spinden <strong>der</strong>VfB-Turnerabteilung entnommen waren, wurden wir vomStrecker zu einer Mauer geschnürt, Hüfte an Hüftezusammengezurrt zu einem einzigen Körper, einem singulärenOrganismus, <strong>der</strong> dem standzuhalten hatte, wasauch immer da kommen mochte.Noch heute sehe ich geschlossenen Auges die schmalenLippen unter dem dünnen, eisengrauen Oberlippenbartdes Streckers, sein Mund ein dunkles Loch, ich hörewie er brüllt: Einer für alle, und wie wir mit zu Panikfratzenverzerrten Gesichtern zurück brüllen: A ll e f ü reinen! Und wie er brüllt: Die Mauer hält, und wiewir zurück brüllen: Bis zum jüngsten Tag! Und wie erdann, flankiert von Pöll und Kampe, den beiden schussgewaltigstenSpielern <strong>der</strong> B-Jugend, auf die fünf, sechsMeter vor uns aufgereihten Bälle zusprintet. Synchronsprinteten <strong>der</strong> Strecker und Pöll und Kampe auf dieBälle zu, droschen die Freistöße mit Vollspann in unshinein, wie Artilleriefeuer kam das Le<strong>der</strong> über uns, eineinziges Zischen und Knallen, wenn die Kugeln die ungeschütztenStellen unseres Körpers trafen. Teils zielte<strong>der</strong> Strecker auf den Unterleib, teils auf den Kopf,nur selten auf die Brust. Im Hagel <strong>der</strong> Geschosse, denscharfen Angstschweiß <strong>der</strong> Kameraden in <strong>der</strong> Nase,ihre Schmerzensschreie im Ohr, habe ich eins gelernt:Entwe<strong>der</strong> du schützt deine Eier o<strong>der</strong> du schützt deinenKopf. Du kannst nicht beides schützen. Du musst dichentscheiden: für die Eier o<strong>der</strong> für den Kopf. Ich habemich stets für die Eier entschieden. Die Eier waren mirimmer wichtiger als <strong>der</strong> Kopf.Ich weiß nicht, wie oft ich dort halb ohnmächtig, nur nochaufrecht gehalten von den zum Zerreißen gespanntenGummibän<strong>der</strong>n und den gebeutelten Körpern meinenKameraden in <strong>der</strong> Mauer hing, während <strong>der</strong> Streckermir Disziplin und Mut und Mannschaftsgeist mit Vollspannin meinen Schädel bläute. Bestens aber kann ichmich an die rasenden Kopfschmerzen erinnern, an die inmeinem Gesichtsfeld jäh aufblitzenden Sterne des Mittwochabends.Noch immer höre ich das Sausen und Zischenund Knallen und die Speichel sprühenden Triumphschreiedes Streckers, wenn eins seiner Geschosse inmeinem Gesicht, auf meiner Stirn, auf meinen Schläfenexplodierte. Diese Laute höre ich unter Garantie nochheute, wenn eine Flanke auf mich zusegelt, wenn es darumgeht, den heran fliegenden Ball mit dem Kopf aus<strong>der</strong> Gefahrenzone zu beför<strong>der</strong>n.Wie gesagt, ich bin ein TOP Fußballer – schnell, wendi g , t r i c k r e i c h , d e r w o h l b e s t e Te c h n i k e r u n t e r d e neuropäischen Autoren – aber ich steige nicht zum Kopfballhoch. Seit rund 20 Jahren nicht mehr.Schweren Herzens akzeptiere ich mein elendiges Reservistendasein,sehe den An<strong>der</strong>en beim Spielen zu undhalte den Mannschaftsgeist hoch. Nur ab und zu, wennNußbaume<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Rinke zum Kopfball hochsteigeno<strong>der</strong> wenn Merkel o<strong>der</strong> Ostermaier die Mauer dirigieren,dann ziehe ich auf <strong>der</strong> Ersatzbank still und heimlicheinen mittlerweile rostigen Schraubenzieher aus meinerSporttasche und kratze mich damit leise kichernd amHinterkopf.Ich schreibe mit <strong>der</strong> Andacht von einem, <strong>der</strong> ein Gebetspricht. Ich schreibe in seinem geheiligten Namen. Dieerste Erinnerung, die ich an einem Ball habe, erscheintmir als etwas, das bis auf die Vorfahren zurückgeht.Es war einer dieser riesigen und unermesslich leichtenBälle, die kleine Kin<strong>der</strong> üblicherweise vom Rummelplatzmitbrachten. Ich erinnere mich nicht an das Spiel. Aberden lauten Knall, den er machte, als er an die Wände <strong>der</strong>alten Garage sprang, den höre ich bis heute. Ein Wink desTobens. Eine erste Begeisterung. Seine Farbe, ein Rot,das ein kleines Rendezvous mit Rosa hatte. Aus endlosenkleinen Quadraten gefärbt, die vom Gelb in ein unwahrscheinlichesBlau spielten.Ich weiß nicht, wie es hier in Deutschland ist. In Brasilienaber ist dieses Thema schon seit langem im Gespräch. Ihrwisst schon, wie das ist. Als wäre es noch nicht genug,ihn mit den Füßen zu malträtieren, jetzt beleidigen sieihn auch noch und verleumden ihn. Ich bin <strong>der</strong> Meinung,dass ein Fußball unantastbar sein sollte. Ihn imRückwärtsgang zu sehen, bereitet mir einige Verlegenheit.Wo er doch so rund und anspruchsvoll ist. Aber daswar es nicht, was wir in unserem sogenannten Land desFußballs gesehen haben. Schon seit einiger Zeit steht erin Frage. Man beschuldigt ihn, zu leicht zu sein. UngehorsameKurven zu machen, die nicht von dem diktiertwurden, <strong>der</strong> ihn getreten hat. Eine Katastrophe. Und manspricht nicht von den Bällen meiner Kindheit, man redetvon den heutigen Bällen, von Hightech-Bällen. Wie kannman nur?Wenn ich es mir recht überlege… und die technischeQualität in Rechnung stelle, die ihren Glanz verloren hat,so macht es doch Sinn, dass die Athleten sich plötzlichvon ihm bedroht fühlen. Und ich gehe sogar noch weiter.Hinterhältig o<strong>der</strong> auch nicht, so ist er doch für allegleich. Der Ball besitzt einen noblen Geist, niemals würdeer sich Privilegien einräumen lassen. Den Ball seltsamzu finden, gehört praktisch zum Spiel. Ich erinneremich, dass als Kind einen Ball fürs Spiel auszuwählen,oftmals in Streit ausartete. Und wenn es gar ein Spielgegen die Mannschaft aus <strong>der</strong> Nachbarstraße war, dannerst recht. Der arme Ball, <strong>der</strong> vom gegnerischen Teammitgebracht wurde, wurde regelrecht nie<strong>der</strong>gemacht.Man beschuldigte ihn alt zu sein, ohne Luft, zu hart, zuviel o<strong>der</strong> zu wenig springend. Im Allgemeinen war es dieHeimmannschaft, die entschied welcher Ball genommenwürde. Wem wäre es nicht lieber, mit einem Ball zu spielen,an den man gewöhnt war?SA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]18 19

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