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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Moritz Rinke]Wir ewigen Träumer [Die Generation Fimpen][Rogério Pereira]Auf den Vater wartendSA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]Vor ein paar Tagen war ich im Kino. Es lief <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>film„Fimpen, <strong>der</strong> Knirps“, den habe ich zuletzt vor fast30 Jahren gesehen, und es gibt ihn in Deutschland auchnur noch auf einer einzigen, knisternden und holprigen16mm-Kopie.„Fimpen, <strong>der</strong> Knirps“ wurde 1974 in Schweden gedreht,und es war <strong>der</strong> erste Film, den ich je im Kino gesehenhabe. In <strong>der</strong> „Gondel“ in Bremen, ich war sechs, und dieserFilm hat mein Leben verän<strong>der</strong>t! Normalerweise än<strong>der</strong>tman ja mit sechs noch nicht sein Leben, aber in diesemFall schon, sonst wäre ich heute realistischer.In <strong>der</strong> ersten Szene läuft <strong>der</strong> große schwedische NationalstürmerMackan zufällig über einen Spielplatz. Erhat gerade noch die Deutschen im Län<strong>der</strong>spiel mit demKolibri-Trick, einer Vorstufe des Übersteigers, zur Verzweiflunggebracht und die Kin<strong>der</strong> schießen ihm nun ehrfürchtigeinen Ball zu, <strong>der</strong> ihm dann von einem kleinenJungen beim Dribbling einfach wie<strong>der</strong> abgenommen wirdund genauso aussieht wie mein Ball <strong>der</strong> Kindheit: altesLe<strong>der</strong>, mittlerweile braun und leicht verformt. Der Junge,<strong>der</strong> sechsjährige Fimpen Johan Bergman, wird nachdiesem Dribbling sofort vom Profiverein Hammarby IFverpflichtet und schießt als Linksaußen gegen Ätvidabergzwei Tore. Danach ruft <strong>der</strong> Nationaltrainer Georg Ericsonan, <strong>der</strong> kleine Johan nimmt den riesigen Telefonhörerab und wird für die entscheidenden Qualifikationsspielezur Fußballweltmeisterschaft 1974 in Deutschland in dieschwedische Nationalmannschaft berufen.Fimpen, <strong>der</strong> Knirps, hat lange Haare wie ich sie auch damalsmit sechs getragen habe, unsere Bälle sind fast identisch,er spricht wenig [wie ich damals!] und kann auchnicht 2+2 zusammenzählen, schießt aber Schweden zurWM! In einer meiner Lieblingsszenen muss <strong>der</strong> NationaltorwartRonnie Hellström dem Knirps am Vorabenddes Län<strong>der</strong>spiels in Wien aus „14 kleine Bären“ vorlesen,damit er einschläft, aber dann schläft Ronnie Hellströmein, tatsächlich gespielt von Ronnie Hellström, <strong>der</strong> damalsin <strong>der</strong> Bundesliga beim 1. FC. Kaiserlautern zwischen denPfosten stand und als Elfmetertöter galt.Während dieser Szene beugte ich mich im Kino pathetischzu einem Jungen hinüber, <strong>der</strong> mit seiner Mutter nebenmir saß, so als sei dieser Junge jetzt ich vor fast vierzigJahren in <strong>der</strong> Bremer „Gondel“.„Das ist ein echter Nationaltorwart, <strong>der</strong> da aus den 14kleinen Bären liest, toll, was?“, sagte ich. „Pass auf, gleichspielt Fimpen gegen Österreich!“Ich dachte, ich hör nicht richtig. „Podolski ist einundzwanzig,Fimpen aber erst sechs!“, entgegnete ich.„Scheißbild! Da wackelt ja unsere Waschmaschine weniger!Harry Potter ist mit Computeranimation!“, erklärte<strong>der</strong> Junge.„Na, hör mal, Fimpen ist auf 16 mm gedreht, das ist dieletzte Kopie, die es gibt, aber dafür mit dem echten RonnieHellström! Der war Elfmetertöter!“„Häh? Wer?? Kenn ich nicht!“, antwortete <strong>der</strong> Jungeund schien seiner Mutter zu signalisieren, dass ich ihmirgendwie auf die Nerven ging.Ich glaube, das war mein erster echter Generationenkonflikt,aber diesmal in entgegengesetzter Richtung! Bisherhatte ich nur diese Konflikte, in denen ich den Älterendiesen ganzen nervenden Mist um die Ohren schlug:Woodstock, APO, Kommune, Uschi Obermaier etc. AberSätze wie „Podolski ist besser!“ o<strong>der</strong> „Da wackelt ja unsereWaschmaschine weniger!“, das sind ja jetzt Aussagen,die meine letzten 30 Jahre in Frage stellen. Immer nochträume ich davon, in <strong>der</strong> Nationalmannschaft zu spielen,theoretisch hätte ich vielleicht noch zwei Jahre, berufenzu werden, da ist noch alles drin, die 68-iger glauben jaschließlich auch, dass bei ihnen noch alles drin sei.Seit dem Konflikt mit dem Jungen im Kino habe ich sogardas Gefühl, ich muss mich bei jemandem entschuldigen,den ich einmal auf einem Podium lächerlich machte, weiler seine ganze revolutionäre Existenz bescheinigen wollte,indem er sagte, er sei mit Rudi Dutschke Linienbusgefahren. Ich kenne einen Mann, <strong>der</strong> seinen gesellschaftsutopischen Geist immer noch für intakt hält, weil er einmalfür die RAF-Terrorsitin Gudrun Ensslin öffentlichZahnersatz for<strong>der</strong>te. Und nun komme ich ernsthaft mitmeiner heiligen, schrottigen 16mm-Kopie, Ronnie Hellströmliest die „14 kleinen Bären“ vor, und ich glaube immernoch, dass alles möglich ist?Ja, offen gestanden, glaube ich das! Wenn man mit sechsTore für die Nationalmannschaft schießt, dann geht dasauch in entgegengesetzter Richtung, dann schieße sieauch noch mit 40! Ja, <strong>der</strong> stürmende Knirps Fimpenhat bestimmt Abertausende meiner Generation zu träumenden,tänzelnden, ewigen Spielern gemacht, da bin ichmir sicher, we are the fimpen-generation!-Aber vielleicht werde ich in Zukunft sanfter, wenn ich ältereHerren treffe, bei denen sie partout nicht ausziehenwollen.Bei mir war übrigens damals <strong>der</strong> Filmvorführer schuld,dass ich noch immer weiterträume, vielleicht noch mehrals all die an<strong>der</strong>en aus <strong>der</strong> Fimpen-Generation. Der Filmvorführerlegte nämlich die zweite Filmrolle zuerst einund dann die erste. Der Film endet eigentlich kritisch,denn Fimpen wird immer mü<strong>der</strong> von den großen Spielenund muss sich am Ende für Schule und Leben entscheiden.Bei mir endete es mit Hellströms Gute-Nacht-Geschichteund Fimpens Wun<strong>der</strong>toren gegen Österreich amnächsten Tag.[Aus “Also sprach Metzel<strong>der</strong> zu Mertesacker”, Kiepenheuer &Witsch-Verlag, 2012]Nie habe ich Vater mehr gehasst. Ich wartete auf ihnvor <strong>der</strong> Haustür. Er kam die steinige Straße herunter.Wir hatten das Land erst vor kurzem verlassen. Jetztmussten wir Beton- und Asphaltboden bearbeiten.Allmählich würden wir uns an das Geräusch des neuenLebens gewöhnen. Hinter dem Holzhaus haben wir unserStadion errichtet – ein armseliges Maracanã, umgebenvon Ze<strong>der</strong>n und einem schüchternen Graben. UnserNetz, die Rückseite eines Schuppens, in dessen Innereiendickbäuchige Ratten schliefen. Wir waren Migranten ineiner Welt, die uns Furcht einflößte.Der Vater trägt das Päckchen. Und er kommt auf michzu. Ich warte auf ihn. Meine Nackenwirbel pulsierenvor Spannung. Ein Knoten knapp vorm Zerspringen imGebrüll des uralten Tiers. Er läuft langsam, als wolle erdie Zeit einfrieren, den Moment lähmen, in dem er demSohn das Brot gibt, das nie seinen Hunger stillen wird. Ichhasse dich so sehr Vater, an diesem unendlichen Nachmittag.Ich hatte es schon meinen Freunden angekündigt.Mein Warten war ihr Warten. Wir waren eine HordeGnus am Rande eines ausgetrockneten Flusses, ohneKrokodile. Wir würden in unser Fantasiestadion sprinten.Endlich wären wir wie kleine Götter, fähig zu kleinen ungehörigenWun<strong>der</strong>n. Mein Vater streckte mir die Händeentgegen. Auf ihnen, das Päckchen. Eine Nachahmungdes Weihnachtsmannes, dessen Klei<strong>der</strong> eine lächerlichtraurige Figur von ihm abgaben. Bitte, mein Sohn. Ichriss es mit allen Kräften eines neunjährigen Jungen anmich. David und Goliat tauschten Streicheleinheiten undHöflichkeiten. Ich habe das grünliche Papier aufgerissenwie ein Ausgehungerter das Kleid seiner Liebhaberinzerreißt.Um mich herum, fiebernde Augenpaare. Endlich würdenwir den ausgeliehenen Plastikball aufgeben. Wir hättenunseren Ball: groß, weiß, gegerbtes Le<strong>der</strong>. Das zerknülltePapier, die Enttäuschung. Ein kleiner Ball, dunkle Farbe,aus Gummi, er stach seine Stacheln in meine Handfläche.Gefällt er dir mein Sohn? Die Frage des Vaters verlor sichin nicht zu brechen<strong>der</strong> Stille. Schweigsam und resigniertbegaben wir uns in Richtung unseres Stadions. Ich trugden Hass unter meinem Arm.Der kleine hässliche Ball - verdammtes Gummi - verwandeltesich in Kürze. Wir erfanden den perfekten Ball. UnserSchweigen wurde eine lustige Toberei. Die lärmendenGnus schleckten den reißenden Fluss. Krokodile erschrecktenuns nicht. Wir erfanden Dribblings für diesenwahnsinnig springenden Ball. Unsere Füße litten darunter,ihn zu beherrschen. Allmählich zähmten wir seineTobsucht. Wir dribbelten und schossen ihn durchs Leben.Hellström, Dutschke, Uschi Obermaier, Podolski, Potter– wahrscheinlich kann man sich die Filme, Busse, Kommunenund Zeiten, in denen sich die Träume in die MenschenEs schmerzt weniger den Vater zu hassen, wenn man„Podolski ist viel besser! Harry Potter auch!“ antworteteschleichen und einrichten, nicht aussuchen.glücklich ist.16<strong>der</strong> Junge.17SA | 12.10.2013 | 14H [ Ist <strong>der</strong> Ball noch rund? – Zeit, dass sich was dreht! ]

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