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Lesungen der deutschen + brasiLianischen autoren ...

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[Christoph Nussbaume<strong>der</strong>]DER GIFTIGESO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]Wegen seiner Verkrüppelung, vor allem aber wegenseines unverkennbaren indianischen Aussehens wurde eroft von an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n gehänselt, worauf er mit zunehmendemAlter mit immer heftigeren Aggressionsausbrüchenreagierte.Die ersten fußballerischen Erfolge ließen nicht lange aufsich warten. Sein überbordendes Temperament und seinüberragendes Ballgefühl vereinten sich zu einer schierunschlagbaren Waffe für seinen ersten Profiverein ClubLibertad. Berühmt wurde er aber vor allem mit seinenatemberaubenden Dribblings, die nicht nur die eigene,son<strong>der</strong>n auch die gegnerische Anhängerschaft zu Bewun<strong>der</strong>ungsstürmenhinreißen ließ.1976 ging sein Stern vollends auf, als er mit seinerMannschaft im Finale um die paraguayische Meisterschaftgegen das regimetreue Team von Olimpia stand.Cal<strong>der</strong>óns Mannschaft war <strong>der</strong> krasse Außenseiter.Gegen Mitte <strong>der</strong> zweiten Halbzeit, beim Stand von Nullzu Null, rammte ihm <strong>der</strong> gegnerische Torwart das Knieins Gesicht. Die Aktion war nicht nur ungeheuer brutal,sie blieb auch ungeahndet, dabei war es eine klareTätlichkeit, in <strong>der</strong> Absicht, den Spieler außer Gefecht zusetzen. Cal<strong>der</strong>ón musste minutenlang behandelt werden,dann kehrte er wie<strong>der</strong>, obwohl sein Jochbein gebrochenwar. Mit zugeschwollenem Auge, vier ausgeschlagenenZähnen und halb tollwütig vor Schmerz, schoss er in <strong>der</strong>letzten Minute das Siegtor.Im darauffolgenden Fersehinterview spuckte er einenZahn in die Kamera und fauchte in Richtung des Reporters:“Das Lied <strong>der</strong> Freiheit pfeift man auch ohne Zähne.Lang lebe Paraguay! Die Jacketkronen zahl ich mir selbstverständlichselbst. Wo ist meine Frau!?”Ein Mythos war geboren. Diese Szene soll, ganz nebenbeierwähnt, Sylvester Stallone für das Ende von RockyII inspiriert haben, wo <strong>der</strong> Held nach gigantischem Kampfgegen den Favoriten blutverschmiert und fast erblindetnach seiner Frau Adrian ruft. Cal<strong>der</strong>ón und Stallone habensich, auch das sei an dieser Stelle gesagt, dann 1980kennengelernt, als sie gemeinsam für den Film “Fluchto<strong>der</strong> Sieg” vor <strong>der</strong> Kamera standen.Der Regierung war Cal<strong>der</strong>ón von nun an ein Dorn imAuge, doch <strong>der</strong> Fußballverband konnte schwerlich auf ihnverzichten. 1979 schoss er Paraguay zum ersten und bislangeinzigen Copa-America-Titel seiner Geschichte.Den Gewinn dieser Meisterschaft widmete er mit unüberhörbaremGetöse und unter großem internationalem Aufsehenallen Ausgestoßenen <strong>der</strong> paraguyaischen Gesellschaft,allen voran dem Indianerstamm <strong>der</strong> Aché.Damit hatte er für viele den Rubicon überschritten,denn dem Diktator Stroessner wurde vorgeworfen, fürdie planmäßige Ausrottung eines großen Teils <strong>der</strong> Achéverantwortlich zu sein. Somit stach <strong>der</strong> Volksheld Cal<strong>der</strong>ónin ein Wespennest. Ferner rief er die Fans dazuauf, sich gegen die Militärdiktatur und für die Demokratiezu engagieren. Cal<strong>der</strong>ón wusste, dass er dadurchextrem anecken würde, aber auch <strong>der</strong> Regierung warbewusst: wenn sie ihn unschädlichen machten, könntees zu einem Bürgerkrieg kommen. Angebote aus Europa,wie etwa von Real Madrid, lehnte Cal<strong>der</strong>ón demonstrativmit großem Tamtam ab, er wolle in erster Line einStar in seiner Heimat sein - und bleiben. Bekenntnissesolcher Art machten ihn bei <strong>der</strong> unterpriviligierten Bevölkerungsschichtnatürlich noch populärer, während dieRegierung schäumte. Doch die Staatsmacht war schlau,sie wusste, wie man den Rebellen schlagen konnte, ohneihn anzugreifen.Cal<strong>der</strong>ón war nicht nur genuss-, son<strong>der</strong>n auch extremgeltungssüchtig. Darüber hinaus hatte er ein ausgeprägtesFaible für Status- beziehungsweise Luxusgüter.Von seinem Werbehonorar - er war <strong>der</strong> erste südamerikanischeSportler, <strong>der</strong> Reklame für Brandwein machte- kaufte er sich einen nagelneuen Ferrari 512 BB. Dasprotzige Auto und seine Villa im Nobelviertel “Las Carmelitas”machten ihn in den Augen vieler verdächtig.Sein verschwen<strong>der</strong>ischer Lebensstil kollidierte arg mitseiner politsichen Haltung, die ihm nun zunehmendals linkspopulistische Attitüde ausgelegt wurde. Immermehr Fotos drangen jetzt an die Öffentlichkeit: Cal<strong>der</strong>ónin Nachtclubs, Cal<strong>der</strong>ón mit Zigarre und Whiskyglas in<strong>der</strong> Hand, Cal<strong>der</strong>ón mit Nacktmodellen im Arm.Als sein Haus im Mai 1980 von Paparazzi belagert wurde- Cal<strong>der</strong>ón feierte seinen 26. Geburtstag mit einer ausschweifendenParty -, versuchte er volltrunken, die Fotografen,bei denen es sich in Wirklichkeit um Regierungsangestelltehandelte, mit einer Schrotflinte zu verjagen.Dabei traf er den 18-jährigen NachwuchsjournalistenEnrico Martinez tödlich; auf dem Weg ins Krankenhausverblutete <strong>der</strong> Junge.Erst 2005 belegeten geheime Dokumente, dass es sichbei Martinez um ein Bauernopfer handelte, man ließ ihnim Krankenwagen verbluten, um Cal<strong>der</strong>ón einen Mordanhängen zu können.Auf einmal stand Cal<strong>der</strong>ón massiv unter Beschuss. Erkam in Untersuchungshaft, gleichzeitig kam heraus, dasser eine Affäre mit <strong>der</strong> berühmten Samba-Sängerin MariaAntunes unterhielt, die er bereits ein Jahr zuvor bei <strong>der</strong>Copa America kennengelernt hatte.Ein sogenannter Freund, <strong>der</strong> ihm auch an<strong>der</strong>e Damenzuführte und mit dem er wilde Orgien veranstaltet habensoll, gab <strong>der</strong> Presse bereitwillig Auskunft. Dieser Umstandbrachte nun seine letzten Unterstützer gegen ihn auf, dennseine Ehefrau - die Fabrikarbeiterin Anna Sol, mit <strong>der</strong> erseit seinem 15. Lebensjahr liiert war -, hielten nicht wenigefür den eigentlichen guten Geist in seinem Leben. Manschrieb ihr gemeinhin zu, sie habe ihn politisch sensiblilisiertund ihn für die Rechte <strong>der</strong> Armen eintreten lassen.Da die Ehe keine Kin<strong>der</strong> hervorbrachte - Cal<strong>der</strong>ón waroffenbar zeugungsunfähig -, überzog ihn die Journaillezudem mit Häme <strong>der</strong> übelsten Machismoart. Es wurdesogar offen spekuliert, ob Cal<strong>der</strong>ón in Wahrheit nichtschwul sei, seine kolportierte Gier nach Frauen würde gutins Bild passen, um den Umstand seiner Homosexualitätperfekt zu kaschieren. Außerdem machte man sich überseinen Analphabetismus lustig, <strong>der</strong> zwar kein Geheimniswar, aber jetzt, im Zuge <strong>der</strong> Schmutzkampagne beson<strong>der</strong>shervorgekehrt wurde.Als Jesús Lúz endlich auf Kaution freikam, musste er einAbkommen unterschreiben, in dem er zusicherte, dasLand nie mehr zu betreten. Der Staat konfiszierte überdiesseinen Besitz und Anna trennte sich von ihm. Erstgegen Ende seines Lebens, am Sterbebett, bat er sie unterTränen um Vergebung.In einer Nacht- und Nebelaktion floh er aus Paraguay nachArgentinien und heuerte dort Ende 1980 für ein Jahr beiden Bocca Juniors an, wo er den kommenden WeltstarDiego Armando Maradonna unter seine Fittiche nahm.Wenngleich nur sechs Jahre älter, so war Cal<strong>der</strong>ón eineArt Ziehvater für Maradonna, sowohl was das Fußballerische,als auch was das Feiern anging. Maradonna schriebspäter in seiner Autobiographie “El Diego”: “Das Jahrhun<strong>der</strong>ttor1986 bei <strong>der</strong> WM gegen England wäre ohne meinVorbild Jesús Lúz Cal<strong>der</strong>ón nicht möglich gewesen. Erlehrte mich die Bewegungen <strong>der</strong> Verteidiger im Voraus zuerahnen. Mit Cal<strong>der</strong>ón konnte man außerdem eine MengeSpaß haben.”In Argentinien wurde er überschwänglich empfangen, diein ihn gesteckten Erwartungen konnte er letztendlich abernie erfüllen. Die Trainingspause war zu lang gewesen, erwurde nie richtig fit. Mehrere Comeback-Versuche scheiterten,weil er zu ungeduldig war, immer wie<strong>der</strong> zog ersich Muskelverletzungen zu, die ihn zum Zuschauenverurteilten. Doch auch wenn seine Zeit in Argentiniennicht von Erfolg gekrönt war, so wird er den Bocca-Fansfür eine Szene immer im Gedächtnis bleiben. Im prestigeträchtigenDuell gegen River Plate wurde Cal<strong>der</strong>ónbeim Stand von Eins zu Eins zehn Minuten vor Schluss alsJoker eingewechselt. In <strong>der</strong> 85. Minute kam Maradonnaan den Ball, <strong>der</strong> narrte drei Gegenspieler auf engstemRaum und lupfte das Spielgerät in den Strafraum. Diean und für sich etwas zu ungenaue, in den Rücken desStürmers geratene Flanke, katapultierte Cal<strong>der</strong>ón im Flugmit <strong>der</strong> Hacke ins Tordreieck. Ein sensationeller Treffer.Es war sein erster Ballkontakt und zugleich das Siegtor.Nach den Bocca Juniors verschlug es Cal<strong>der</strong>ón nach Venezuelazu Deportivo, einem mittlerweile mittelmäßigenClub, die ihn als Heilsbringer engagiert hatten. Doch auchdort lief es nicht son<strong>der</strong>lich rund für ihn. Er überwarfsich mit dem Trainer und mit dem Rest <strong>der</strong> Mannschaft,für die er nur abschätzige Bemerkungen übrig hatte. Ausdieser Zeit ist folgendes Zitat von ihm überliefert, daser nach seinem letzten Spiel in <strong>der</strong> Kabine gesagt habensoll: “Ich tue euch jetzt den Gefallen und gehe.”Ein dubioser Spielerberater brachte ihn zudem um seinin Argentinien erwirtschaftetes Geld. Die Samba-Sängerinverstieß ihn - wenn man den Boulevardblättern jenerJahre Glauben schenken darf - und tauschte ihn für denbrasilianischen Star Zico ein, <strong>der</strong> eben mit Flamengoden Weltpokal gewonnen hatte. Cal<strong>der</strong>ón war von nunan nur noch in den Bars von Caracas anstatt auf demTrainingsgelände zu sehen. Der Vertrag wurde aufgelöst.Cal<strong>der</strong>ón war 28, aufgedunsen, übergewichtig und pleite.In einer Nobeldiskothek wurde er vom Türsteher nichterkannt (er war auch nicht wie<strong>der</strong>zuerkennen) und aufgrundseines indianischen Aussehens wurde ihm <strong>der</strong> Einlassverwehrt. Daraufhin zettelte er eine Schlägerei anund brüllte seinen Namen vergeblich in die Finsternis.Kein Verein in Südamerika, ja auf <strong>der</strong> ganzen Welt wollteihn mehr haben. Allein gelassen und orientierungslostrieb er durch die Nächte. Nicht mal in seine Heimat Paraguaykonnte er zurück. Am Silvesterabend des Jahres1982 stieg er auf einen Stuhl und knüpfte sich mit einemKälberstrick an <strong>der</strong> Zimmerdecke auf. Als er den Stuhlumkippte, schwebte er kurz im Raum, er blickte auf sichselbst, wie auf einen fremden Körper und sein ganzesLeben zog im Zeitraffer an ihm vorüber. Dann brach <strong>der</strong>Karabinerhaken aus <strong>der</strong> Decke und mit ihm ein riesigerKlumpen <strong>der</strong> maroden Bausubstanz. Sein Übergewichthatte ihm das Leben gerettet. Beim Sturz auf den Fußbodenbrach er sich allerdings den Ellbogen.In seiner peinlichen Not wandte er sich am Neujahrstag1983 an den Vereinsarzt von Deportivo. Da sich <strong>der</strong> Arztin seiner Freizeit als Mafiadoktor verdingte, traf er indessen Apartment zufällig auf den bei einer Schießereiverwundeten kolumbianischen Auftragskiller John JairoVelásquez Vásquez, genannt „Popeye“.SO | 13.10.2013 | 11H30 [ Ausgetanzt [o<strong>der</strong>] Vom Fallen in die Tiefen des Raumes ]24 25

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