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Schuld und Verantwortung - Ev. Kirchengemeinden Immenhausen ...

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Friedrich-Karl BaasHistorisch versierten Menschen fälltimmer wieder auf, dass sich die große Geschichtehäufig besonders eindrücklich inEinzelschicksalen spiegelt. Das zeigt auch dieLebens- <strong>und</strong> Leidensgeschichte von KlaraHaase aus <strong>Immenhausen</strong>. Sie wurde bisher- leider zu Unrecht - bei Gedenkveranstaltungenfür NS-Opfer übersehen. Das soll, dasmuss sich ändern!Bevor mit Klaras Leben bekanntgemachtwird, seien hier zur besseren Einordnungder Einzelzüge des Geschehenen kurz dieallgemeinen politischen <strong>und</strong> sozialen Verhältnisseder damaligem Zeit dargestellt. Sieerleichtern eine Bewertung der Ereignisse<strong>und</strong> Handlungsweisen im Lebensumfeld derjungen Frau.Klara Haase als 17-jährigeEs ist eine bekannte Erfahrung, dassMenschen, auch ohne direkt etwas zu tun,<strong>Schuld</strong> auf sich laden können. Schon dasWahrnehmen von Unrecht, ohne dagegenvorzugehen, macht schuldig. In solche Situationensind Deutsche immer wieder währendder NS-Zeit gekommen. Die Erinnerung andie <strong>Schuld</strong> von damals ist nötig, um einenWeg zur Versöhnung zu finden <strong>und</strong> Wiederholungenvon Unrecht energisch <strong>und</strong> verantwortungsbewusstentgegenzutreten.Deutschlands Wirtschaftslage war nach1918 infolge des verlorenen Krieges <strong>und</strong>der hohen Reparationszahlungen äußerstschlecht. Inflation <strong>und</strong> Weltwirtschaftskriseverschärften die allgemeine Situation vielerMenschen <strong>und</strong> führten zu hoher Arbeitslosigkeit.Deshalb fühlten sich viele vonden extremen Auffassungen der antidemokratischenParteien angezogen. Sowohl dieKommunisten als auch die Nationalsozialistenversprachen nach ihrer Wahl kurzfristigeine Verbesserung der Probleme. In hartenKämpfen um die Wählergunst, zunehmendauch handgreiflich offen auf der Straße ausgetragen,entschied die NSDAP die Ausein-3


andersetzungen für sich. 1932 wurde sie mit37 Prozent der Stimmen stärkste politischeKraft im Reichstag.Die Partei agierte nicht nur gegen Judenals die angeblich an der Misere DeutschlandsMitschuldigen, sondern gegen alle politischenGegner wie Kommunisten, Sozialdemokraten<strong>und</strong> besonders auch gegen alleGewerkschafter. Sie ging gegen alles „Andersartige“wie z.B. Sinti <strong>und</strong> Roma, Homosexuelle<strong>und</strong> Farbige, <strong>und</strong> auch gegen bestimmteKunst-, Literatur- <strong>und</strong> Musikrichtungen vor.So wurden Bücher öffentlich verbrannt, <strong>und</strong>danach erhielten bestimmte Schriftsteller,Künstler <strong>und</strong> Wissenschaftler Arbeits- <strong>und</strong>Publikationsverbot. Viele großartige Autorenverließen deshalb ihre Heimat <strong>und</strong> gingenins Ausland.Nach der Machtübernahme im Januar1933 wurden alle demokratischen Parteienverboten, die Vereine <strong>und</strong> Verbände gleichgeschaltet.Die Lenkung des öffentlichenLebens erfolgte über das sogenannte Führerprinzip.So ließen die neuen Machthaberschnell ihre politischen Absichten, gestütztauf eine Ideologie vom angeblich besserenarischen Menschen, erkennen. Seit dieserZeit waren Vorurteile, Intoleranz, Diskriminierung<strong>und</strong> Rassismus willkommenelegale Möglichkeiten zur Bekämpfung derpolitischen Gegner <strong>und</strong> für viele DeutscheRichtlinien ihres Handelns.Bald nach der Machtübernahme war aberauch festzustellen, dass in der Bevölkerungder Wohlstand wirklich zunahm, leider fürviele nicht erkennbar, zu welchem Preis. DieJahre 1934 <strong>und</strong> 1935 standen im Zeichen deswirtschaftlichen Aufschwungs. In zahlreichenFamilien ging die Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> mitihr die Not zurück. Dieser Sachverhalt <strong>und</strong>4die von straffer Hand in Szene gesetzten Massenveranstaltungenmachten auf viele Menschengroßen Eindruck. Weiter widmetendie Machthaber der Jugenderziehung großeAufmerksamkeit, um die Heranwachsendenin die Hand zu bekommen. Dabei erhieltenihre Aktivitäten für die Jungen zunehmendmilitärischen Charakter. Die Mädchen wurdenauf eine „saubere“ Mutterschaft <strong>und</strong>die Führung eines kinderreichen Haushaltesvorbereitet. Durch die Verbesserungen derWirtschafts- <strong>und</strong> Lebensumstände nahm inder Bevölkerung die Zustimmung zur PolitikHitlers <strong>und</strong> seiner Partei weiter zu. Es gabzwar immer noch Gegner; die meisten Deutschenhielten sich aus Angst vor Gewalt <strong>und</strong>Verhaftung mit ihren Ansichten aber zurück.1935 wurden die Rassengesetze erlassen.Nur Menschen mit arischem Blut warennach NS-Auffassung vollwertig. Alle anderenMitbewohner <strong>und</strong> ausländischen Nachbarnwurden in ihren Rechten eingeschränkt.Bestimmte Vorschriften sollten Kontaktezwischen Juden <strong>und</strong> Nichtjuden verhindern<strong>und</strong> führten bei Übertretung zu drastischenStrafen. Man teilte die Menschen nach Rassenein <strong>und</strong> unterschied zwischen hoch- <strong>und</strong>minderwertigen. Die arische war angeblichdie beste; sie durfte deshalb durch Mischungmit vermeintlich „minderwertigem“ Blutnicht abgewertet werden. Aus den beschriebenenSachverhalten leiteten Hitler <strong>und</strong> seineGenossen zwei große politische Ziele her: dieSchaffung eines reinrassigen, überlegenendeutschen Volkes <strong>und</strong> die Gründung eines„Großdeutschen Reiches“; der Lebensraumfür dieses sei durch Eroberungen zu gewinnen.Durch Auslese sollte ein „Herrenvolk“entstehen. Juden, Sinti <strong>und</strong> Roma, Homosexuelle<strong>und</strong> Behinderte stellten dabei eine


Gefährdung der arischen Rasse dar <strong>und</strong>waren zu vernichten. Andere „minderwertigeMenschen“ hatten der Herrenrasse zu dienen<strong>und</strong> durften sich nicht mit dieser verbinden.Am 23. März 1933 beschloss der Reichstag,dass Hitler ohne Volksvertretung regierendurfte. Nur die SPD-Mitglieder, soweit sienoch nicht verhaftet waren, stimmten gegendas sogenannte Ermächtigungsgesetz. DieKPD war zu dieser Zeit bereits verboten.Der Beschluss des Parlaments bedeutete dasEnde des demokratischen Staates. An seineStelle trat die Diktatur der NSDAP. Obwohldie ausländische Presse viel über den Terror<strong>und</strong> die meist nicht legalen Maßnahmender Partei berichtete, handelte sie weiterhinnach Gutdünken. Eine wichtige Maßnahmeaus ihrer Sicht war die Isolierung der jüdischenMitbürgerinnen <strong>und</strong> Mitbürger vonder nichtjüdischen Bevölkerung. Dafürorganisierten die NS-Funktionäre in derNacht vom 9. auf den 10. November 1938ein Pogrom gegen Juden <strong>und</strong> ihre Einrichtungen.Dabei wurden 177 Synagogen verwüstetoder ganz zerstört, 7.500 Geschäftebeschädigt <strong>und</strong> 236 Juden ermordet. Weiterwurden mehr als 30.000 Juden verhaftet <strong>und</strong>in Konzentrationslager verbracht.Mit Beginn des Zweiten Weltkriegesam 1. September 1939 verschärften sich dieMaßnahmen gegen alles „Minderwertige“<strong>und</strong> „Andersartige“ im Land <strong>und</strong> bald auchin den durch deutsche Truppen besetztenGebieten. Im Mai 1940 begann der Kriegim Westen. Die Niederlande, Belgien <strong>und</strong>Frankreich wurden besetzt, Kriegsgefangene<strong>und</strong> Zivilarbeiter aus den niedergerungenenLändern - meist zwangsweise - ins Reichverbracht, um deutsche Arbeitskräfte, dieinzwischen an den Fronten standen, zu ersetzen.Die Nationalsozialisten betrachteten dieBewohner der besetzten Gebiete als „Brudervölker“.Ausgenommen waren die Polen <strong>und</strong>ab 22. Juni 1941 auch die Russen.Nach der sogenannten Wannseekonferenzam 20. Januar 1942 begannen dieorganisierten Deportationen von angeblichzu vernichtenden Menschen in die Konzentrations-<strong>und</strong> Vernichtungslager. Mit deneinsetzenden Niederlagen an den Frontenwurden auch die Maßnahmen gegen die„Volksfeinde“ <strong>und</strong> Kriegsgefangenen wesentlichhärter <strong>und</strong> noch unmenschlicher.Alle angesprochenen Maßnahmen gegenden demokratischen Staat <strong>und</strong> die NS-Feindewaren ebenfalls in <strong>Immenhausen</strong> zu durchleben.In der Stadt wohnten Menschen, die sichgegen die politische Entwicklung auflehnten<strong>und</strong> dafür Nachteile <strong>und</strong> harte Strafen inKauf nahmen. Viele Bewohner stellten sichaber auch in den Dienst der neuen Machthaber,wohl um sich Vorteile zu verschaffenoder zumindest, um sich keine Nachteileeinzuhandeln. Die Mehrheit verhielt sich -wie wohl überall - indifferent, schaute zu <strong>und</strong>machte sich dadurch ebenfalls schuldig.In der Stadt fanden mehrmals handgreiflicheAuseinandersetzungen zwischenSozialdemokraten <strong>und</strong> Kommunisten auf dereinen <strong>und</strong> Nationalsozialisten auf der anderenSeite statt. Sie führten zu Verhaftungen<strong>und</strong> Inhaftierungen im KonzentrationslagerBreitenau. Nicht zu vergessen sind auch dieentwürdigenden zynischen Maßnahmen inder Öffentlichkeit gegen Demokraten sowiedie brutalen Misshandlungen der SPD- <strong>und</strong>Gewerkschaftsmitglieder in der PapierfabrikKeseberg am Fürstenweg in Hofgeismar am5


26. März 1933, die neben ImmenhäuserBürgern auch viele Regime-Gegner im Landkreistrafen <strong>und</strong> sie böse zurichteten. Aus<strong>Immenhausen</strong> waren es 16 Sozialdemokraten<strong>und</strong> vier Kommunisten, deren Ges<strong>und</strong>heitnach den Schlägen nur mit Mühe wiederhergestellt werden konnte. Die bis zur Bewußtlosigkeitmisshandelten wurden aufeinen LKW geladen <strong>und</strong> am Kelzer Teich insWasser getrieben <strong>und</strong> sich dann selbst überlassen.Die so „Zubestrafenden“ waren aufsogenannten „schwarzen Listen“ erfasst; dennes sollte niemand übersehen werden. Besonderseingepägt hat sich vielen Bewohnern derStadt die Demütigung des langjährigen SPD-Mitglieds Wilhelm Diederich am 08. Juni1933. Er wurde von SA-Leuten aus seinemHaus geholt <strong>und</strong> auf einem Ochsen reitenddurch die Stadt zum Rathaus geführt.In <strong>Immenhausen</strong> gab es am 1. April 1933auch einen Boykott-Aufruf gegen die jüdischenMitbewohner. Im Mai 1933 branntenauf dem Marktplatz sogar Bücher. Sie stammtenaus der kleinen öffentlichen Bücherei derStadt <strong>und</strong> aus privatem Besitz. Neben dentraurigen Schicksalen der jüdischen FamilienGoldin <strong>und</strong> Friedemann, über die bereitsmehrmals berichtet worden ist, steht die erstkürzlich international bekannt gewordeneLebens- <strong>und</strong> Leidensgeschichte der jüdischenKinderärztin Dr. Lilli Jahn. Sie wurde durchihren Enkel Martin Doerry unter dem Titel„Mein verw<strong>und</strong>etes Herz“ in einer vielbeachtetenPublikation der Deutschen Verlagsanstaltveröffentlicht.6<strong>Immenhausen</strong> hat noch ein weiteresOpfer, das unschuldig in einem Konzentrationslagersterben musste <strong>und</strong> über das zuberichten ist, zu beklagen. Der Name derjungen Frau wurde bereits genannt. IhreLebensgeschichte ist bisher leider übersehenworden, wenn es um das Erinnern anNS-Opfer ging. Gründe dafür sind nichtbekannt. Genannt werden kann lediglich diebereits angesprochene mittelbare <strong>und</strong> unmittelbare<strong>Schuld</strong> von Bewohnern am Tod vonKlara Haase.Mit der Darstellung ihrer Lebensgeschichtesoll nach über 60 Jahren auch ihrName aus der Vergessenheit geholt werden.Dass das gerade jetzt geschieht, ist zufällig<strong>und</strong> hat mit dem Tod ihres letzten direktenVerwandten, des Bruders Wilhelm Haase, deram 7. Dezember 2004 verstorben ist, nichtszu tun. Die zeitliche Berührung der beidenSachverhalte hat keine inhaltlichen Gründe.Klara Gertrud Haase wurde am 23.März 1921 in <strong>Immenhausen</strong>, Glashütte 8,als Tochter des Glasmachers Wilhelm MartinHaase geboren. Ihre Mutter hieß MarieEmma Haase <strong>und</strong> war eine geborene Hörnigaus Fichtenberg, Kreis Liebenwerda. 1 Klarawurde am 15. Mai 1921 in der evangelischenStadtkirche St. Georg in <strong>Immenhausen</strong> getauft.Ihre Patin war Klara Therese Röhrer,eine Nichte der Eltern aus Ilmenau in Thüringen.2 Das Kind hatte eine erstgeboreneZwillingsschwester; sie erhielt den NamenMinna. Zur Familie gehörten noch sechsältere Geschwister, vier Mädchen <strong>und</strong> zweiJungen. 3Die Familie Haase stammte aus demehemaligen Kreis Witzenhausen. Ihre männlichenMitglieder arbeiteten seit mindestenszwei Generationen in der Glasherstellungim Kaufunger Wald. Der Großvater Klaras,ein Heinrich Christoph Haase, kam ausBischhausen bei Witzenhausen <strong>und</strong> war


Sonntagsausflug der Familie Haase an den Kampteich im Sommer 1942 - v.l.n.r.: Karl Haase; ElseBräutigam, geb. Haase, mit Sohn Walter; Emmy Strege, geb, Haase, mit Tochter Ilse (verheirateteHobein); Therese Stößel, geb, Haase, mit Ingrid Rudeldt (mit Hut), eine Nichte; Minna Haase mitTochter Erikaihres Mannes, durch den Anwalt vorgetragen:Seelische Überforderung auf Gr<strong>und</strong> derpolitischen Verhältnisse, <strong>und</strong> durch diese ausgelöst,eine übergroße Angst vor persönlicherNot <strong>und</strong> wirtschaftlicher Bedrängnis für ihn<strong>und</strong> seine Familie. 12 Diese Entscheidung warnach der juristisch kleinkarierten Argumentationder Behörde beachtlich <strong>und</strong> richtig,wie sich noch zeigen wird. Sie war Voraussetzungfür die Bewertung <strong>und</strong> Einstufung derInhaftierung Klaras aus politischen Gründendurch das Gericht <strong>und</strong> anschließend durchdie Behörde.Der Tod des Familienoberhauptes <strong>und</strong>Ernährers brachte den Hinterbliebenen nebendem persönlichen Leid große Belastungen;<strong>und</strong> diese führten für alle zu erheblichenVeränderungen. Die Witwe geriet mit dennoch im Haushalt lebenden Kindern durchdie widerlichen politischen Verhältnisse gesellschaftlichin eine Randposition. Darüber10hinaus reichten die Einnahmen nicht für dieVersorgung der Mutter <strong>und</strong> der beiden kleinenMädchen aus. Sie mussten deshalb durchdie noch ungeb<strong>und</strong>enen erwachsenen Geschwisterzu einem Teil miternährt werden.Trotz aller Bemühungen der großen Kinderblieb die persönliche <strong>und</strong> wirtschaftlicheLage der Familie bis weit über das Kriegsendehinaus sehr schlecht.Klara HaasesKindheit <strong>und</strong> JugendMinna <strong>und</strong> Klara Haase wuchsen,wie bereits ihre älteren Geschwister, in<strong>Immenhausen</strong> auf. Sie besuchten hier vom1. April 1927 bis zum 29. März 1935 dieVolksschule. 13 Beide Mädchen wurden vonihren Klassenkameradinnen <strong>und</strong> Klassenkameraden„die Häschen“ genannt. Diesenliebevollen Spitznamen behielten sie auch


nach der Konfirmation <strong>und</strong> Schulentlassungals Jugendliche.Die Geschwister Haase lebten im Hütten-Umfeldohne großen Kontakt zu denStadtkindern. Dieser Sachverhalt erklärt sichaus den Lebensumständen der Hüttenarbeiter.Sie bildeten damals ein Völkchen fürsich ohne eine enge Beziehung zur Stadt. DieKinder begegneten sich nur am Vormittag inder Schule.Beide „Häschen-Mädchen“ waren sehrruhige <strong>und</strong> unauffällige Kinder, gutmütig<strong>und</strong> nach innen gekehrt. Sie sprachen wenig,paßten sich leicht <strong>und</strong> bereitwillig den gegebenenUmständen an <strong>und</strong> bereiteten wederden Mitschülern noch den Lehrern Probleme.Sie taten sich beim Erwerb des Schulwissensaber etwas schwerer als die meistenMinna (links) <strong>und</strong> Klara Haase (rechts) mit derFre<strong>und</strong>in Frieda Krumsig, um 1931anderen Kinder. Trotzdem hatten beideMädchen keine Randposition in der Klassengemeinschaftinne; sie waren voll integriert. Die Schwestern Haase blieben als junge1. April. 14 pflegten freien Wochenend-Zusammenkünf-Das änderte sich vorübergehend aber nach Frauen ebenfalls unauffällig <strong>und</strong> lebten indem aufsehenerregenden Selbstmord des ihren Arbeitsumfeldern zurückgezogen. NachVaters, der die Familie <strong>und</strong> besonders die beidender Schulentlassung hatten beide, so wie esZwölfjährigen psychisch sehr belastete. damals oft für Mädchen üblich war, StellenWährend dieser Zeit wurde das Verhältnis als Hausgehilfinnen in landwirtschaftlichender Mitschülerinnen <strong>und</strong> Mitschüler zu den Betrieben angenommen. Sie lebten dort inbeiden durch Mitleid bestimmt. Sie wurden „Kost <strong>und</strong> Logis“ <strong>und</strong> erhielten neben diesenin der Klassengemeinschaft von der Mehrheit Leistungen ein bescheidenes Entgelt. Minnamitgetragen, obwohl es auch Kinder gab, die arbeitete auf dem Bauernhof K. <strong>und</strong> Klarasie zu isolieren versuchten.im landwirtschaftlichen Betrieb G. Letztereverdiente nach einer Bescheinigung ihres ArbeitgebersDas war während der kurzen Konfirmandenzeitbis zu ihrer Verhaftung durch dieebenso. Der kirchliche Unterricht Gestapo jährlich 450,— RM. 15 Beide Mädchenwurde von Pfarrer Wörner aus Hohenkirchenzeichneten sich bei der praktischen Ar-gehalten, weil die Immenhäuser Pfarrstelle beit im Haushalt <strong>und</strong> in der Landwirtschaftunbesetzt war. Der Geistliche feierte dann durch Zuverlässigkeit <strong>und</strong> großen Fleiß aus.auch mit den Kindern im Jahre 1935 dieKonfirmation. Pfarrer Heinrich Keßler übernahmMinna <strong>und</strong> Klara nahmen nicht an dendie freie Stelle erst nach dem Fest am von den Jugendlichen damals in der Stadtge-11


ten auf der Straße oder in der Umgebungteil. Sie verbrachten ihre Freizeit mit den Geschwisternin der Familie. Dazu besuchten siedes Sonntags am Nachmittag das ElternhausGlashütte 8; ab 1939 - die Mutter mußtedamals umziehen, weil die Hüttenhäuser verkauftwurden - das Haus Kampweg 11, heuteNr. 10. Zu Hause wurde mit der Mutter <strong>und</strong>den noch anwesenden älteren GeschwisternKaffee getrunken <strong>und</strong> dabei erzählt. Gegen17.00 Uhr hatten beide dann wieder in ihrenBetrieben im Kampweg bzw. in der NeuenStraße zu sein. So verliefen die ersten Arbeitsjahrefür beide Mädchen zwischen häuslicher<strong>und</strong> landwirtschaftlicher Arbeit <strong>und</strong> kurzensonntäglichen Familienbesuchen.Nach Kriegsbeginn im Herbst 1939wurde das Leben aller Deutschen erheblichhärter. Durch den Fronteinsatz vieler jungerMänner fehlten schnell überall Arbeitskräfte.Auch trafen bald erste Gefallenen-Meldungenein; sie verursachten gravierende Veränderungenin den betroffenen Familien. Nichtselten mischten sich hier Verzagtheit <strong>und</strong>Trauer <strong>und</strong> führten zu großer Ausweglosigkeit.Der Mangel an Arbeitskräften wurdedurch sogenannte Fremdarbeiter auszugleichenversucht. Es kamen zwangsweise - wohlkaum freiwillig! - Männer aus dem besetztenPolen <strong>und</strong> später aus den Niederlanden <strong>und</strong>Frankreich, seltener Frauen, als Arbeitskräfte„ins Reich“.In <strong>Immenhausen</strong> wurden Polen <strong>und</strong>Franzosen eingesetzt. Die Polen waren in denHaushalten der Bauern untergebracht, dieFranzosen, zahlmäßig eine größere Gruppe,mußten die Nächte im Saal Pfleging (heuteKonfirmanden des Jahrgangs 1935, untere Reihe 5. <strong>und</strong> 6. von links Minna <strong>und</strong> Klara Haase12


Hof G. in der NeuenStraße im heutigen Zustandnach ihrer Verhaftung bei der Stadt gemacht,auch bei der Gestapo in Kassel <strong>und</strong> in derLandesarbeitsanstalt Breitenau wiederholt.Der Sachverhalt wurde ebenfalls von der vorübergehendmitinhaftierten ImmenhäuserinC. R. nach Kriegsende bei der Stadtverwaltung<strong>Immenhausen</strong> bestätigt. 18 Klara habeihr in mehreren Gesprächen in Breitenau immerwieder ihre Unschuld beteuert. Auch derPole, Gerhard C., der das KonzentrationslagerBuchenwald überlebt hat <strong>und</strong> 1946 nocheinmal nach <strong>Immenhausen</strong> zurückgekehrt ist,hat auf dem Rathaus zu Protokoll gegeben,daß er keine Beziehung zu Klara Haase ge-habt habe. Die Anschuldigung sei seinerzeitvöllig aus der Luft gegriffen gewesen. 19 DieBeteuerungen der jungen Leute sind bei ihrenVernehmungen ohne Gehör geblieben, auchbei späteren Verhören in Kassel, zu denenbeide - getrennt voneinander noch einmalvon Breitenau geholt wurden: Klara vom 28.August 1941 bis 3. September <strong>und</strong> GerhardC. vom 2. bis 12. September 1941. 20 Beideblieben fast ein Jahr bis zu ihrer Überstellungin die Konzentrationslager Ravensbrück bzw.Buchenwald ohne Verurteilung in Breitenau.Sie wurden als sogenannte „Schutzhäftlinge“festgehalten.Wie es Klara Haase bei der ortspolizeilichenVernehmung im Rathaus erging, wie siedort behandelt wurde, was sie auch später beider Gestapo in Kassel zu erdulden hatte, istnicht bekannt. Zeitzeugen berichteten, daßman sie in <strong>Immenhausen</strong> vor der Übergabeam 31. März 1941 an die Gestapo durch dieInnenstadt getrieben habe. Sie soll dabei einSchild um den Hals gehabt haben, auf dem„Polenliebchen“ geschrieben stand. Für diese14Demütigung, deren Sachverhalt ja nichtstimmte, gibt es in den Unterlagen aber keinenBeleg. Deshalb sind die Zeitzeugen-Hinweisemit einem Fragezeichen zu versehen.Die Woche im Kasseler Gestapo-Gefängnis,Klaras Überstellung nach Breitenau erfolgteerst am 8. April 1941, 21 ist für sie sicherhart gewesen. Die Akten geben über dieseTage keine Auskunft. Hinreichend bekannt


Vor dem HauseingangGlashütte 8, heutePoststraße 24, im Jahre1937v.l.n.r.: Bruder KarlHaase, SchwesterMinna Haase, KlaraHaase, Schwager FerdinandStregesind hingegen die Vernehmungsmethodender Gestapo. Sie kamen sicher auch im FallKlara Haase zur Anwendung.Klaras Personalbogen aus Breitenauist erhalten. Er verdeutlicht, mit welcherAkribie der nationalsozialistische Machtapparatgearbeitet hat. Neben den persönlichenDaten der Eingelieferten wurden auch ihreLebensumstände <strong>und</strong> eine genaue Personenbeschreibungfestgehalten. 22 Hier ist zu lesen,daß die ledige Hausgehilfin 1,40 Meter groß<strong>und</strong> dunkelblond war. Ihre Augenbrauenwaren ebenfalls dunkel <strong>und</strong> ihre Augen graugrün.Das ovale Gesicht wurde durch einemittelhohe Stirn, eine kleine Nase <strong>und</strong> einenschmalen M<strong>und</strong> mit r<strong>und</strong>lichem Kinn geziert.Das Gebiß war vollständig. Die relativkleine Person machte insgesamt einen ges<strong>und</strong>enEindruck, was auch die frische Gesichtsfarbeerkennen ließ. Besondere Kennzeichenhatte die Zwanzigjährige nicht.Sie lebte am Tage ihrer Verhaftung in<strong>Immenhausen</strong> in der Adolf-Hitler-Straße14. Ihre Familie bestand aus Mutter EmmaHaase, aus zwei Brüdern im Haushalt derMutter <strong>und</strong> sechs Schwestern. Von diesenwaren bereits drei verheiratet, zwei in Kassel<strong>und</strong> eine in <strong>Immenhausen</strong>. Eine noch ledigeSchwester war in Kassel verlobt; zwei lebtenin <strong>Immenhausen</strong>. Sie waren ebenfalls nochledig. Aus diesem Familienkreis wurde Klaraganz unvermutet <strong>und</strong> völlig gr<strong>und</strong>los herausgerissen.Das Arbeitserziehungslager Breitenau bestätigteder Gestapo Kassel noch am 8. Aprilden „Empfang“ des Schutzhäftlings Haase. 23Über den Verlauf der knapp einjährigenHaftzeit in Breitenau geben die erhaltenenAkten keine Auskunft. Sicher hat KlaraHaase, wie alle anderen Häftlinge, hier hartarbeiten müssen, vermutlich außerhalb derAnstalt.Die Unterbringung der Insassen erfolgtein großen Sälen. Der Hunger wurde zu ihremständigen Begleiter. Hinzu kam im Winterdie Kälte, kamen Schläge <strong>und</strong> Demütigungen.Das allgemein schon sehr harte Lagerlebenwurde für einzelne Häftlinge noch durchschwere Verhöre durch die Gestapo in Kasseloder in Breitenau - hier durch dazu extra15


Sonntagsausfahrt imJahre 1938v.l.n.r.:Emmy Haase, verh.Strege;am Kinderwagen linksKlara Haase;am rechten KinderwagenMinna Haaseangereiste Beamte - zusätzlich erschwert.Während dieser Verhöre wurde geschlagen,getreten oder mit Gegenständen auf dieVorgeführten geworfen. Es gab für dieseTorturen auch einen Prügelbock, auf demStockhiebe verabreicht wurden. Auch Klarawar vom 28. Aug. bis 3. Sept. 1941 bei derGestapo in Kassel zu so einem Verhör. 24Die Kontakte der Häftlinge zur Außenweltwaren völlig abgeschnitten. Ihre Briefewurden zensiert, häufig einfach zurückgehalten,Besuchsanträge in der Regel abgelehnt.Es verschwanden auch mehrmals Häftlinge.Dieses Verschwinden ohne Rückkehr sollteder Abschreckung dienen.Unter den beschriebenen Bedingungenlebte Klara in ständiger Ungewißheit. Waswürde wohl mit ihr geschehen? Als Häftlingdes Gestapo-Sammellagers war sie in Breitenauso lange festzuhalten, bis das Reichssicherheitshauptamtin Berlin entschied, wasmit ihr zu passieren hat. Da Klara zur Zeitihrer Verhaftung nicht volljährig war, mußtesie ein Jahr in Breitenau verbleiben, um dannnach Ravensbrück überstellt zu werden. 2516Nach Erreichen der Volljährigkeit am23. März 1942 wurde die Gestapo Kassel imFalle Haase, wohl auf Anweisung aus Berlin,wieder aktiv, ebenso für den mitinhaftiertenpolnischen Zivilarbeiter Gerhard C., Nr. 408des Aufnahmebuches. Mit Schreiben vom11. März 1942, Az.: II D - 1558/41, ist, soverfügte die Gestapo, die Hausgehilfin KlaraHaase „mit dem nächsten Sammeltransportin das Konzentrationslager Ravensbrück“ zuüberstellen. Eine gleichlautende Verfügungerging ebenfalls für den Polen GerhardC., geboren am 26. November 1921 inLopienno. Auch er war mit dem nächstenSammeltransport in das KonzentrationslagerBuchenwald bei Weimar zu verbringen.Dem Schreiben der Gestapo vom 11.März beigefügt waren die Sammeltransport-Zettel. 26 Sie gingen am 14. März 1942 anden Landrat des Landkreises Melsungen mitder Bitte um weitere Veranlassung. Die Zuweisungzu einem Sammeltransport war alsoAufgabe der Kreisverwaltung. Klaras Transportnach Ravensbrück erfolgte - so hart wardas Schicksal! - am 23. März 1942, genau anihrem 21. Geburtstag. 27


Die letzte Unterlage der Akte Haase inBreitenau ist das bei ihrer Einlieferung am8. April 1941 ausgefertigte „Hinterlegungs-Blatt“ für die Effekten-Kammer. Die damalsvon ihr abgelieferten Gegenstände warenausschließlich Kleidungsstücke, die jetztwieder ausgehändigt wurden. Sie waren fürsie - wenn sie sie in Ravensbrück behaltendurfte, was aber unwahrscheinlich war - vonunschätzbarem Wert.Klara hatte in ihrem dürftigen Gepäcknur unwesentlich mehr als das, was sie aufdem Leib trug. Eine Frau Steinmetz, Lagermitarbeiterin,bescheinigte am 8. April denEmpfang eines grauen Mantels mit einemWert von 8,00 Reichsmark, eines rotenKleides (Wert: 5,00 RM), eines braunenUnterrocks (Wert: 1,20 RM), zweier weißerHemden (Wert: 1,50 RM), eines blauenSchlüpfers (Wert: 0,80 RM), eines weißenBüstenhalters (Wert: 0,50 RM), eines Taschentuches(Wert: 0,10 RM), eines Paaresbrauner Strümpfe (Wert: 1,10 RM), einesPaares schwarzer Halbschuhe (Wert: 2,50RM), eines grünen Schals (Wert: 0,50 RM),eines Paares brauner Handschuhe (Wert:1,20 RM). 28Es ist nicht bekannt, wann der Sammeltransportaus Hessen in Ravensbrück eingetroffenist <strong>und</strong> unter welchen Bedingungendie Häftlinge dabei zu leiden hatten. Vonvielen anderen Transporten ist aber bekannt,dass die Verhältnisse in den Güterwagenmeist unerträglich waren <strong>und</strong> dass die Fahrtenohne eine Versorgung der Häftlingeerfolgt sind.Leider haben sich aus dem Lager Ravensbrücknur sehr lückenhaft Unterlagen erhalten.Die SS hat im April 1945 die gesamteLandesarbeitsanstalt Breitenau Ende der 30er Jahre (Quelle: Archiv der Gedenkstätte Breitenau). Derschwarze Pfeil links vom Kirchturm zeigt auf das Frauenhaus17


Frauen-KonzentrationslagerRavensbrück- Lagereingang;im Hintergr<strong>und</strong>dasBarackenlager(heutigerZustand)Original-Registratur vernichtet. Auch gingenetwa 40 % der Ankunftslisten verloren, sodass Aussagen über Häftlinge nicht immermöglich sind. Im Archiv der heutigen Mahn<strong>und</strong>Gedenkstätte Ravensbrück hat sich derName Klara Haases nur in einer so genanntenZugangsliste vom 4. April 1942 erhalten.29 Der Quelle sind lediglich ihr Name,ihr Geburtsdatum sowie der Haftgr<strong>und</strong>„politisch“ <strong>und</strong> der „Zusatzgr<strong>und</strong>: Verkehrmit ...“ sowie die Haftnummer 10061 zu entnehmen.Klara war also politischer Häftling;die 7. Zivil- <strong>und</strong> Entschädigungskammer amLandgericht in Kassel hat also am 6. November1956 - wie bereits berichtet - ohne diesenSachverhalt aus Ravensbrück zu kennen, einerichtige Entscheidung bezüglich ihres Status‘getroffen. 30Über die Lebensumstände Klaras inRavensbrück <strong>und</strong> über das von ihr erduldeteLeid ist nichts bekannt. Die ehemalige18Das Kommandantur-Gebäudeim Frauen-KZRavensbrück (heutigerZustand)


Lagerinsassin Irma Trksak, 31 die zur selbenZeit in Ravensbrück inhaftiert war, hat demVerfasser dieser Zeilen anlässlich des 60.Jahrestages der Befreiung des Lagers am 28.Mai 2005 in Ravensbrück berichtet, wie esseinerzeit im Lager zugegangen ist:„An eine Klara Haase kann ich michnicht erinnern. Dafür waren damals zu vieleFrauen im Lager, <strong>und</strong> es herrschte auch einständiges Kommen <strong>und</strong> Gehen. Wenn Klarawegen einer Beziehung zu einem Polen eingeliefertworden ist, dann hatte sie hier harte Zeitenzu durchleben. Frauen wie sie erhielten nachihrer Ankunft generell 25 Stockhiebe <strong>und</strong> bekamendie Haare abgeschoren. Was das bedeutete,kann man nicht beschreiben. Sie können es inunserer kleinen Broschüre ‚Mit den Augen derÜberlebenden‘ nachlesen. Charlotte Müller hatdort darüber berichtet. Sie schreibt:“‚Wenn unsere Kolonne im Zellenbau zu tunhatte, konnten wir manchmal einen Blick inden Prügelraum werfen. In der Mitte stand derPrügelbock. An der rechten Wand befand sicheine Leiste mit Haken, daran hingen Ochsenziemer<strong>und</strong> Handtücher [...] Beim Ausgußbeckenauf der anderen Seite standen Eimer. Ausdenen wurde der Häftling mit Wasser übergossen,wenn er bewußtlos geschlagen war[...]‘Charlotte Müller berichtete auch überdie ‚Bestrafung‘ einer Mitinsassin im beschriebenenPrügelraum, den Klara Haasemit Sicherheit kennenlernen mußte.‚Ich hatte den Bock zu besteigen. MeineFüße wurden in einer Holzzwinge festgemacht,<strong>und</strong> die Grünwinklige 32 [gemeint ist dieSchlägerin] schnallte mich über. Mein Rockwurde mir über den Kopf gezogen, so daß dasGesäß frei war - die Hosen hatten wir schonauf dem Block ausziehen müssen. Dann wurdemein Kopf in Decken gehüllt, wahrscheinlich,um die Schreie zu dämpfen. Beim Anschnallenhatte ich viel Luft eingeatmet, um nicht so engfestgeschnallt zu werden. Als Suhren [Fritz Suhren,seit Oktober 1942 Lagerkommandant]das merkte, kniete er sich auf mich <strong>und</strong> zog dieRiemen so fest an, daß ich vor Schmerz stöhnte.Mir wurde befohlen, die Schläge laut mitzuzählen,aber ich kam nur bis elf.‘ 33Die SS-WohnsiedlungimFrauen-KZRavensbrück(heutigerZustand)19


„Schlimm waren“, so Frau Trksak, „dieFolgen dieser Misshandlungen. Da brauchteman schon eine gute Konstitution, eine robusteGes<strong>und</strong>heit, um das zu überstehen. BesondereProbleme bereiteten Infektionen der gerissenenblutigen Haut. Das eiterte <strong>und</strong> schwächte dieFrauen oft wochenlang. Damit musste ja auchnoch gearbeitet werden.Im Lager überleben konnte nur, wer durchdie Solidarität der Mithäftlinge Unterstützunghatte <strong>und</strong> selbst zu problematischen illegalenUnterstützungsmaßnahmen für andere bereitwar. Wer allein dastand, hatte keine Chance.Wir haben zwischen den Blocks Verbindungenaufgebaut, <strong>und</strong> wenn es ging, gegen Maßnahmender Lagerleitung gehandelt. Wenn, wieSie sagen, Klara Haase ein introvertierterMensch war, wird sie es schwer gehabt haben.Die Strategie der Machthaber war ja, denHäftlingen durch mangelnde Ernährung <strong>und</strong>Entkräftung durch Arbeit Schaden zuzufügen.Junge, zunächst ges<strong>und</strong>e Frauen wurden auchzu medizinischen Experimenten missbraucht.Die Möglichkeiten, die Insassen zu schädigen<strong>und</strong> zu quälen, waren mannigfaltig.Wenn Klara Haases angebliche Todesursachenach dem Totenschein des SS-StandortarztesRavensbrück vom 23. Mai 1943 Tuberkulosewar, 34 so muss diese Aussage bei einer jungenFrau nach relativ kurzem Lageraufenthaltschon hinterfragt werden. Als Tbc-Krankewäre sie durch Block 10 gegangen. Er warDurchgangsstation auf dem Weg zur Gaskammer<strong>und</strong> zum Krematorium. Geringe oder garkeine ärztliche Betreuung, 300 Gramm Brot(später gekürzt auf 200 Gramm) <strong>und</strong> 1/2 LiterSteckrübensuppe ohne eine Spur von Fett <strong>und</strong>1/2 Becher Ersatzkaffee zweimal pro Tag. Daswar hier alles.“ 35Klara Haase ist wohl den Weg durchBlock 10 gegangen. Laut Totenschein <strong>und</strong>Eintragung des Standesbeamten in RavensbrückII ist die junge Frau „am 23. Mai1943 um 9 Uhr“ verstorben. Der Todesfallwurde unter Nr. 209/1943 beurk<strong>und</strong>et.Totenschein <strong>und</strong> Sterbeurk<strong>und</strong>e gingen erstTage später bei der Stadt <strong>Immenhausen</strong>,wohl zusammen mit der Urne, ein. MutterEmma Haase bekam die Todesnachricht,wie sie dem Hessischen Minister des Innern20Blick von derKommandanturauf das BarackenlagermitLagerstraße 1 inder Zeit 1940/41 des Frauen-KZ Ravensbrück(Foto 1942 ausdem Propaganda-Albumder SS; SammlungenderMGR/StBG)


in einem Schreiben vom 5. Juni 1951 36 zuihrem Entschädigungsantrag mitteilte, am26. Mai 1943.Das Standesamt <strong>Immenhausen</strong> hat damalsden Tod Klara Haases nicht mit einerEintragung im Sterberegister aktenk<strong>und</strong>iggemacht. Es wurde lediglich im Geburtsregister1921-1922 zur dortigen Eintragungder Hinweis hinzugefügt: „Gestorben am23.5.1943 in Ravensbrück“.Korrekter <strong>und</strong> vor allem mutiger war daPfarrer Heinrich Keßler. Er notierte im Totenbuch:37 „Klara Haase, ledig, geb. am 23.März 1921 in <strong>Immenhausen</strong>, gest. am 23.Mai 1943 in Ravensbrück in Brandenburgim Konzentrationslager.“ Während der damaligeStandesbeamte der Stadt - vermutlichdurch den Bürgermeister dazu angewiesen- mit einer kurzen Notiz in neutraler Art denwahren Sachverhalt zu verschleiern versucht,hat der Geistliche den nachfolgenden Generationenden Sachverhalt erkennbar gemacht.Für seine Entscheidung, das zu tun, ist ihmnachträglich herzlich zu danken.Ehemalige Bäckerei S.Gerhard C.,Block 27,April 1945Foto:GedenkstätteBuchenwald,ArchivGerhard C. wurde nach den in denArchiven in Breitenau <strong>und</strong> Buchenwaldvorliegenden Unterlagen am 26. Januar 1922in Lopienno, Kreis Eichenbrück, in Polengeboren. 38 Seine Eltern waren Maria <strong>und</strong>Michael C. Das Ehepaar hatte sieben Kinder,sechs Jungen <strong>und</strong> ein Mädchen.Gerhard C. war von Beruf Bäcker. DerAchtzehnjährige kam 1940 als sogenannterZivilarbeiter nach Deutschland.Er wurde - wie viele seinerLandsleute - über damalsdafür eingerichtete Lager, inseinem Fall vermutlich überTrutzhain bei Ziegenhain, demImmenhäuser BäckermeisterGustav S. zugewiesen. Derjunge Mann hatte hier für dieVersorgung der Bevölkerungmit Brot zu arbeiten. Im BetriebS. wurde er am 28. März1941 - wohl auf Anweisungder Gestapo - verhaftet <strong>und</strong>nach Kassel gebracht. Am 8.21


April 1941 erfolgte von dort seine Überstellungin die Landesarbeitsanstalt Breitenau.Nach fast einjähriger Haftzeit, kurz in Kassel<strong>und</strong> dann in Breitenau, kam er am 20. März1942 mit einem Sammeltransport in dasKonzentrationslager Buchenwald. Sein „Fall“wurde genau wie der von Klara Haase behandelt.Zu einem Teil gab es für beide sogarnur einen Schriftverkehr. 39C. war als Fremdarbeiter in <strong>Immenhausen</strong>nicht schlecht gestellt. Er hatte beiseinem Meister einen verhältnismäßig großenFreiheitsspielraum. Wie sich aus einemSchriftverkehr des Bäckermeisters mit derLandesarbeitsanstalt Breitenau ergibt, besaßC. auch eine gute persönliche Ausstattung anKleidung, die er wohl aus Polen mitgebrachthatte. Da die Sachen bei seiner Verhaftung in<strong>Immenhausen</strong> in seinem Zimmer verbliebenwaren, wurden sie von der Anstalt bei S.angefordert. Es ging dabei um zwei Koffer,einen Pullover, eine Kleiderkarte mit 105Punkten, zwei Mützen, einen Schal, sechsTaschentücher, ein Paar lederne Handschuhe,drei Sporthemden, fünf Oberhemden, dreiArbeitshemden, zwei Unterhosen, drei Arbeitshosen,eine Arbeitsjacke, vier Bäckerschürzen,drei Mützen, drei Paar Strümpfe,einen Leibriemen (Gürtel), einen Selbstbinder,ein Paar Schnürschuhe für Sonntag <strong>und</strong>ein Paar Schaftstiefel. Die Übersendung derHabe nach Breitenau war nach Mitteilungdes Bäckermeisters vom 1. Februar 1942nicht möglich, weil C. bereits einen ebenfallsin <strong>Immenhausen</strong> beschäftigten befre<strong>und</strong>etenZivilarbeiter gebeten hatte, die in einem seinerKoffer befindlichen 50,— RM zu holen<strong>und</strong> an seine Mutter nach Polen zu senden,was auch geschehen sei. Daraufhin habe dieMutter den Landsmann gebeten, ihr auch dieSachen ihres Sohnes zu übersenden. Das seiebenfalls geschehen. Der Fre<strong>und</strong>, so MeisterS., habe die Sachen bei ihm abgeholt <strong>und</strong>nach Polen gesandt. Die Postabschnitte, diedas belegen, seien vorhanden. 40Auch der Schutzhäftling C. kam alsoohne große persönliche Habe nach Buchenwald.Hier erhielt er die Häftlings-Nummer3571 <strong>und</strong> wurde dem Block 27 zugewiesen.Lange Zeit musste er hier im „Steinbruch-Kommando“ arbeiten. In diesem Kommandoherrschte eine uneingeschränkte Willkür.Deshalb hatte die Arbeitsgruppe auch unterallen Lagerinsassen die höchste Todeszahl zuverzeichnen. Ein Teilder Häftlinge brachhier das Material fürden Straßen- <strong>und</strong> Wegebau,andere schlepptenes dann nur mitihrer Körperkraft ansehr unterschiedlicheBestimmungsorte. Ge-22Steinbruch, 1937 (Polizeifoto),GedenkstätteBuchenwald, Archiv


gen diese unmenschliche Behandlung Widerstandzu leisten, wurde versucht, endete fürdie Teilnehmer aber fast immer in den Zellendes „Bunkers“, der schlimmsten Folterstätteim Lager. C. überlebte die vielen Schikanen<strong>und</strong> das vorsätzliche Töten durch Arbeit,auch den Aufenthalt in einer besonderenBaracke, in der SS-Ärzte an jungen, ges<strong>und</strong>enHäftlingen mit Typhus-Viren Experimentedurchführten.Der Haftgr<strong>und</strong> des Polen war - wie bereitsgesagt - das angebliche Verhältnis miteiner deutschen Frau, mit Klara Haase.Die Beschuldigung durch einen ImmenhäuserBürger hatte ausgereicht, um die beidenjungen Menschen in Konzentrationslager zubringen <strong>und</strong> dort unter unvorstellbaren Haftbedingungenleiden zu lassen. C. gab 1945nach seiner Befreiung als Haftgr<strong>und</strong> seineMitgliedschaft in der Widerstandsgruppe„Sluzba Zwyeisestwa Polski“ (Dienst demSieg Polens) an. Ob er in dieser Mission nachDeutschland geschickt worden war, konntebisher nicht ermittelt werden. C. überlebtedurch seine gute ges<strong>und</strong>heitliche Konstitution<strong>und</strong> eine außergewöhnliche Willenskraftsowie durch die Solidarität unter den Mitgliedernseiner Haftgruppe.Auf Gr<strong>und</strong> der akribisch geführtenAufzeichnungen der Gestapo in Breitenauist es auch im Falle C. möglich, das äußereErscheinungsbild des jungen Mannes genauzu beschreiben. C. war damals 168 cm groß<strong>und</strong> von kräftiger Statur. Sein volles, bartlosesGesicht wurde durch blaugraue wache Augenbeherrscht. Das blonde Haar verstärkte seinefrische, ges<strong>und</strong>e Gesichtsfarbe. Als besonderesKennzeichen notierte der Beamte bei derEinlieferung in Breitenau eine Narbe überdem linken Auge. Sein einziger Makel warein lückenhaftes Gebiss. 41Die gute Verfassung des Neunzehnjährigenbei Haftbeginn war sicher ein Ergebnis derVersorgung in der Bäckerei S. In Buchenwaldsollte sich das schnell ändern. Häftling Nr.3571 wog bei Kriegsende, d. h. zur Zeit derBefreiung durch die US-Armee am 11. April1945, nur noch 48 Kilogramm. Sein Körperwar durch Kolbenschläge <strong>und</strong> andere Verletzungenmit W<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Narben übersät.Seine Zähne hatte er vollständig verloren. 42Appell, 1944(SS-Foto),GedenkstätteBuchenwald,Archiv23


Als C. am 20. März 1942 aus Breitenauin Buchenwald eintraf, hatte das Lager nachdem abendlichen Zählappell vom 19. Märzeine Belegstärke von 8.388 Häftlingen. Mitdem Polen trafen weitere 16 Häftlinge ein.Nach der Auflistung der Lagerleitung warendas zwei Schutzhäftlinge - einer davon warein Jude -, vier Berufsverbrecher, weitere vierwaren ebenfalls Polen, <strong>und</strong> zwei waren sogenanntePolizei- <strong>und</strong> fünf Arbeitserziehungshäftlinge.Nach dem Abendappell am 20.März betrug die Lagerstärke 8.390 Personen.Die Zahlen dokumentieren nach banalemSS-Jargon: „15 Abgänge“. Das heißt: Amgenannten Tag waren im Lager Buchenwald15 Häftlinge ums Leben gekommen.Frauen-KZ Ravensbrück; zwei Plastiken von WillLammert an der Mauer der Nationen („Frau mitKopftuch“, „Frau mit kahlrasiertem Kopf“)24C. wurde am 2. Mai 1945 zusammen mitzahlreichen anderen ehemaligen Häftlingendurch die Amerikaner entlassen. Bereits zudieser Zeit hatten einige junge Polen ausMitgliedern des Buchenwald-Häftlings-Orchesters<strong>und</strong> unter Nutzung der noch vorhandenenInstrumente eine Kapelle von etwa20 Musikern gebildet. Gerhard C. wurde indieser Gruppe Schlagzeuger <strong>und</strong> Manager.Die jungen Männer nannten sich „Buchenwald-Tiger“<strong>und</strong> begannen bereits im Lagermit der Probenarbeit. Nach zwei oder dreiKonzerten für die ehemaligen Mithäftlingebegann eine umfangreiche Tournee-Tätigkeit.Die Amerikaner stellten den MusikernFahrzeuge zur Verfügung, <strong>und</strong> sie verließendas Lager. Ihr Weg führte die Männer zunächstins hessische Battenberg. Hier erholtensich die oft über Jahre Gesch<strong>und</strong>enen,übten nebenher, erweiterten ihr Repertoire<strong>und</strong> verbesserten den Bestand an Instrumenten.Dann besuchten sie die Orte in derAmerikanischen Besatzungszone, in denensich DP-Lager (Displaced Persons) befanden.C. nannte im Jahre 2004 bei einem Besuchin Buchenwald u.a. Darmstadt, Erlangen,Fritzlar, Fulda, Mannheim, Wetzlar, Wiesbaden,Würzburg <strong>und</strong> Ziegenhain (Trutzhain).Die beliebten <strong>und</strong> anspruchsvollen Konzertewaren damals sehr gefragt. Die Gruppe löstesich erst im Sommer 1948 auf. C. kehrte danachin seine Heimat zurück. Der inzwischenVier<strong>und</strong>achtzigjährige ist heute der einzigenoch lebende Musiker der Gruppe von damals.Er wohnt seit seiner Rückkehr im Zentrumvon Krakau <strong>und</strong> arbeitete dort bis zuseinem Eintritt ins Rentenalter als Konditor.C. hat noch immer Kontakt mit Buchenwald.Als Überlebender des ehemaligenMordlagers hält er Verbindung zur heutigenGedenkstätte <strong>und</strong> war dort bei Jubiläumsveranstaltungenauch Gast. 43


Am 26. Mai 1943 - drei Tage nach demAbleben ihrer Tochter - erhielt EmmaHaase die Todesnachricht, vermutlich miteinem vorgedruckten Formschreiben. 44 Obwohlsich für das Lager Ravensbrück bisherkeine offizielle Anweisung für die Bearbeitungder Todesfälle hat finden lassen, 45 istdafür ein praktiziertes Verfahren erkennbar.Johannes Tuchel 46 hat es 1994 herausgearbeitet<strong>und</strong> beschrieben. Nach dem Eintreteneines Todesfalles meldete der SS-Lagerarztdiesen der politischen Abteilung. Von dorterfolgten Mitteilungen an die einweisendeDienststelle (im Falle Haase an die Gestapoin Kassel), an die Amtsgruppe D <strong>und</strong> an dasReichssicherheitshauptamt in Berlin sowiean das Standesamt Ravensbrück II 47 , umden Todesfall zu erfassen. Gr<strong>und</strong>lage hierfürwaren der Totenschein, eine amtsärztlicheBescheinigung <strong>und</strong> die Einäscherungsanordnung.Erst danach erfolgte die Benachrichtigungder Angehörigen.So ist vermutlich auch der Tod KlaraHaases bearbeitet worden. Unterlagen darüberhaben sich aber weder in der Lagerverwaltungnoch in der Familie erhalten, so dasshier die Darstellung ihres Falles der allgemeinenErfahrung nach erfolgt.Das bereits angesprochene förmlicheSchreiben an Emma Haase in <strong>Immenhausen</strong>ist sicher mit dem anderer Todesfälle inRavensbrück identisch gewesen. Es lautete:„Die Klara Haase, geb. 23. 3. 1921 in<strong>Immenhausen</strong>, ist am 23. 5. 1943 an denFolgen von Lungentuberkulose im hiesigenKrankenhaus verstorben.Die Leiche wird im staatlichen Krematoriumeingeäschert. Gegen die Ausfolgung derUrne bestehen, wenn eine Bescheinigung derörtlichen Friedhofsverwaltung beigebrachtwird, dass für ordnungsmäßige BeisetzungSorge getragen wird, keine Bedenken. Eswird gebeten, die Bescheinigung an das Krematoriumdes KZ Ravensbrück bei Fürstenbergzu senden. Die Übersendung der Urneerfolgt kostenlos.Frauen-KZRavensbrück;Blick auf denBunker <strong>und</strong>rechts auf dasKrematorium;vor dem Bunkerdie berühmtberüchtigteWalze25


Frauen-KZ Ravensbrück;Verbrennungsöfenim KrematoriumDer Totenschein ist anliegend beigefügt.Eine Standesamtliche Sterbeurk<strong>und</strong>e könnenSie von dem Standesamt II in Ravensbrückbei Fürstenberg anfordern.Der Nachlass wird demnächst übersandt.Der LagerkommandantSuhrenSS -Hauptsturmführer“Fritz Suhren verschickte auch maschinenschriftlicheKondolenzschreiben. Aus seinenFormulierungen ist ein gewisser Zynismusnicht zu überhören. Nach überliefertenSchreiben hatte die Beleidsbek<strong>und</strong>ung andie Familie Haase vermutlich den folgendenWortlaut:„Sehr geehrte Frau Haase!Ihre Tochter Klara, geb. am 23.3.21, meldetesich krank <strong>und</strong> wurde daraufhin unter Aufnahmeim hiesigen Krankenhaus in ärztlicheBehandlung genommen.Es wurde ihr die bestmögliche medikamentöse<strong>und</strong> pflegerische Behandlung zuteil.Trotz aller angewandten ärztlichen Bemühungengelang es nicht, der Krankheit Herrzu werden.Ich spreche Ihnen zu Ihrem Verlust meinBeileid aus.26Erschießungsgang im FrauenkonzentrationslagerRavensbrück mit Gedenkplatte


Ihre Tochter hat keinen letzten Wunschgeäußert.Ich habe die Gefangeneneigentumsverwaltungmeines Lagers angewiesen, denNachlass an den erbberechtigten Empfängerzu senden.“ 48Emma Hasse musste nach Eingangbeider Schreiben schnell handeln <strong>und</strong> dieBescheinigung über die mögliche „ordnungsgemäßeBeisetzung“ der Urne in <strong>Immenhausen</strong>bei der Friedhofsverwaltung beantragen<strong>und</strong> sie dem Krematorium in Ravensbrückvorlegen. Es gibt Hinweise dafür, dass hiereine Frist von zehn Tagen einzuhalten war.Bei Überschreitung dieser Zeit wurde dieUrne „von Amtswegen“ in Ravensbrückbeigesetzt. 49In <strong>Immenhausen</strong> wurde für die Bestattungdie Grabstelle des Vaters gewählt. PfarrerHeinrich Keßler war bereit, eine kleineTrauerfeier mit anschließendem Begräbniszu gestaltetn.Herr F., unangemeldet in Mutters Küchegetreten ist <strong>und</strong> ihr die Urne kommentarlosauf den Schrank gestellt hat.Die Beisetzung erfolgte am 12. Juni 1943.Pfarrer Keßler hat seine Amtshandlung - wiebereits berichtet - ordnungsgemäß <strong>und</strong> ohneden genauen Sachverhalt zu verschleiern, imKirchenbuch dokumentiert: „Klara Haase,ledig, geb am 23. März 1921 in <strong>Immenhausen</strong>,gest. am 23. Mai 1943 in Ravensbrückin Brandenburg im Konzentrationslager.“ 50Der Pole Gerhard C. ist 1946 nocheinmal nach <strong>Immenhausen</strong> gekommen. Erwollte wissen, wie das Leben Klaras nachihrer Inhaftierung verlaufen ist. Als er vonihrem Tod erfuhr, war er bereit, die Verantwortlichenfür diesen Mord einer gerechtenBestrafung zuzuführen. Emma Haase wolltedas aber nicht. Sie meinte, dadurch kommeihre Klara ja nicht wieder. Und es würde inweiteren Immenhäuser Familien womöglichneues Leid entstehen.Die Urne ging bei der Stadtverwaltungein. F. S. - eine Zeitzeugin, damals bei derStadt beschäftigt - erinnert sich daran. Derdamalige Bürgermeister-Vertreter G. nahmdie Urne entgegen <strong>und</strong> meinte, mit dieserhabe er für die Übergabe an die Mutter derVerstorbenen einen schweren Gang vor sich,denn es sei seine Aufgabe, sie der Familie zuüberbringen.Zu diesem Weg ist es dann aber nichtgekommen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt.Die Familie berichtet, dass der damaligeHausmeister <strong>und</strong> Botengänger der Stadt,Emma Haase, geb. Hörnig, Weihnachten 1958in der Wohnküche im Hause Pascheburgstraßebei Staubesandt27


C. hat die Entscheidung der Mutterakzeptiert, auf dem Bürgermeisteramt aberzu Protokoll erklärt, „dass er keinerlei Beziehungenzu Klara gehabt habe.“ 51 Die jungeFrau Klara Haase ist also, wie sie immerbeteuert hat, als Unschuldige inhaftiert <strong>und</strong>schließlich durch das brutale Lager-Systemermordet worden.Dagegen wurde ihr Denunziant 1946,angeblich wegen seines fortgeschrittenen Alters,durch die Spruchkammer in Hofgeismarzu nur 1 1/2 Jahren Arbeitslager verurteilt. 52Wie mag der Schuhmachermeister F. F.mit seiner <strong>Schuld</strong> wohl gelebt haben?1Taufbuch Ihs. 1874-1927, S. 340; TotenbuchIhs. 1917-1985, S. 157; Standesamt <strong>Immenhausen</strong>,Geburtenregister 1921 - 19242Taufbuch Ihs., a.a.0.3Die Geschwister Klara Haases waren:1. Emmy Haase, verh. Strege; geb. am 5. Oktober1907 in Ilmenau; gest. am 28. Mai 1990 inHofgeismar (Totenbuch Ihs.1985 ff., S. 36)2. Else Haase, verh. Bräutigam; geb. am 29.Dezember 1909 in <strong>Immenhausen</strong>; gest. am 5.Januar 1981 in <strong>Immenhausen</strong> (Taufbuch Ihs.1874-1927, S. 279; Totenbuch Ihs. 1917-1985,S. 217)3. Marie Haase, verh. Rudelt; geb. am 9. September1911 in <strong>Immenhausen</strong>; gest. am 20.Februar 1999 in Kassel (Taufbuch Ihs. 1874-1927, S. 290; Todesanzeige, Familienbesitz)4. Therese Haase, verh. Stößel; geb. am 20. Juli1913 in <strong>Immenhausen</strong>; gest. am 15. Januar2003 in <strong>Immenhausen</strong>28(Taufbuch Ihs. 1874-1927, S. 302; TotenbuchIhs. 1985 ff., S.100)5. Wilhelm Haase, geb. am 5. Juni 1915 in<strong>Immenhausen</strong>; gest. am 7. Dezember 2004 inVellmar (Taufbuch Ihs. 1874-1927, S. 314; TotenbuchIhs. 1985 ff., S. 108)6. Karl Haase, geb. am 25. November 1917 in<strong>Immenhausen</strong>; gest. am 24. Dezember 1985 in<strong>Immenhausen</strong> (Taufbuch Ihs. 1874-1927, S.323; Totenbuch Ihs. 1985 ff., S. 6)7. Minna Haase, geb. am 23. März 1921; ältereZwillingsschwester von Klara; gest. am 25. Mai2003 in <strong>Immenhausen</strong> (Taufbuch Ihs. 1874-1927, S. 340; Totenbuch Ihs. 1985 ff., S. 102)4Totenbuch Ihs. 1917-1985, S. 855a.a.0., S. 3056a.a.0.7Traubuch Ihs. 1884-1949, S. 678Mündliche Mitteilung von Tochter Ilse Hobein,geb. Strege, <strong>Immenhausen</strong>9Über die damals gewonnenen Partei-Erfahrungenberichtete später Hermann Henning,<strong>Immenhausen</strong>, Untere Bahnhofstraße, sehranschaulich.10Aussagen von Friedrich Topp, <strong>Immenhausen</strong>,Glashütte 5, <strong>und</strong> Willi Seitz , <strong>Immenhausen</strong>,Poststraße 14; siehe hierzu auch EntschädigungsakteAbtlg. 518, Nr. 3980, Hess. HauptstaatsarchivWiesbaden, Bl. 4111Siehe die Auflistung der Geschwister-Namenunter Anmerkung 3.12Entschädigungsakte, HSta Wiesbaden, Abtlg.518, Nr. 3980, Bl. 15 u. 1613Entschädigungsakte, HStA Wiesbaden, Abt.518, Nr. 3980, Bl. 1514Fre<strong>und</strong>l. Mitteilung von Frau Elfriede Müller,<strong>Immenhausen</strong>; Pfarrei-Chronik, <strong>Ev</strong>angel. Kirchengemeinde<strong>Immenhausen</strong>15Entschädigungsakte, HStA Wiesbaden, Abt.518, Nr. 3980, Bl. 2016a. a. 0., Bl. 14 u. 1817Fre<strong>und</strong>l. Mitteilung der Familie vom 7.12.200418C. R., geb. 1899, war lt. telefon. Auskunft aus


Breitenau vom 3. bis 21. Februar 1942 Schutzhäftlingim Landesarbeitslager. Eine mehrblättrigeAkte ist nicht vorhanden, auch ist der Haftgr<strong>und</strong>nicht bekannt.Nach einer fre<strong>und</strong>l. Mitteilung von Frau A.Rippe, <strong>Immenhausen</strong>, wohnte C.R. mit ihremEhemann auf dem Mühlenanger. Herr R. warals landwirtschaftl. Arbeiter auf dem Mühlenhofbeschäftigt. Das Ehepaar war kinderlos <strong>und</strong>verzog später nach Borken. Frau R. war wegenHörens eines Feindsenders inhaftiert.19Entschädigungsakte, HStA Wiesbaden, Abt.518, Nr. 3980, Bl. 4220Akte Landeswohlfahrtsverband Hessen, PsychiatrischesKrankenhaus Merxhausen, AußenstelleGuxhagen, Nr. 5555, Bl. 4; Akte Nr. 5169,Bl. 221Akte Haase, Klara; LandeswohlfahrtsverbandHessen (LWV, Psychiatrisches KrankenhausMerxhausen, Nr. 5555, Bl. 122a. a. 0.23a. a. 0., Bl. 224a. a. 0., Bl. 425Nach Dietfrid Krause-Vilmar (Das KonzentrationslagerBreitenau. Ein staatliches Schutzhaftlager1933/34, Marburg 1998, S. 208 ff.) warBreitenau neben seiner Aufgabe als Arbeitsanstalt,die es bis zum Kriegsende auch blieb, vonJuni 1933 bis März 1934 ein „Konzentrationslagerfür politische Schutzhäftlinge“. Im Sommer1940 richtete die Geheime Staatspolizei (Gestapo)Kassel, Wilhelmshöher Allee 32, abermalsein Lager, ein Arbeitserziehungslager für Schutzhäftlinge,in der Arbeitsanstalt ein. Hier solltenunter KZ-Bedingungen arbeitsscheue Elementediszipliniert werden. Das Lager war eine Vorstufefür ein Jugend-Konzentrationslager. AuchVerstöße gegen die Volksgemeinschaft wurdenhier geahndet. Dazu gehörten ebenfalls Verletzungender Rassenhygiene.Gleichzeitig diente das Arbeitserziehungslagerfür die Gestapo-Stellen Kassel (für Männer<strong>und</strong> Frauen) <strong>und</strong> Weimar (nur für Frauen) alsSammellager für Schutzhäftlinge ohne Verbleibentscheidung.Die Haft endete für dieseGruppe entweder mit einer Rückführung anden Arbeitsplatz oder mit einer Überstellungin ein Konzentrationslager. Zur letzten Gruppegehörte auch Klara Haase.26Akte Haase, LWV Hessen, Nr. 5555, Bl. 527a. a. 0.28a. a. 0., Bl. 6 f.29Schreiben der Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte Ravensbrückvom 21.4.04; dort die genaue Quellenangabe:Sammlungen Mahn- <strong>und</strong> GedenkstätteRavensbrück/Stiftung BrandenburgischeGedenkstätten, RA Nr. IV/1, MF 135, Nr.56/43-45, Zugangsliste vom 4.4.42 (Kopie)30Entschädigungsakte der Wwe. Emma Haase,<strong>Immenhausen</strong>, für Tochter Klara, HauptstaatsarchivWiesbaden, Abt. 518, Nr. 3980, Bl. 55 f.31Irma Trksak war Mitglied einer tschechischenWiderstandgruppe in Wien. Sie wurde im Sommer1941 verhaftet, zu einer Gefängnisstrafeverurteilt <strong>und</strong> anschließend nach Ravensbrückverbracht. Sie überlebte in einem harten Kampfgegen das Lagerleben in unterschiedlichenHäftlingsfunktionen <strong>und</strong> -gruppierungen <strong>und</strong>an sehr verschiedenen Lagerorten, so z.B. imSiemenswerk in der Leistungskontrolle bei derRelais-Fertigung. Sie zeichnete dort die Leistungskurvenihrer in der Produktion tätigenMithäftlinge <strong>und</strong> manipulierte sie, damit dieSchwächeren nicht wegen ihrer Minderleistungbestraft werden konnten. Sie beteiligte sich auchan der Sabotage-Tätigkeit russischer Frauen.Ende 1944 wurde sie strafweise als Stubenältestein das ehemalige Jugendlager „Uckermark“,östlich vom Hauptlager gelegen, gesteckt. Hierwurden bereits zu diesem Zeitpunkt die alten<strong>und</strong> kranken Frauen gesammelt, selektiert <strong>und</strong>getötet. „Mit Injektionen, mit Gift, durch Stehenin Kälte <strong>und</strong> Regen, indem die Essensration gedritteltworden ist; täglich sind im Revier <strong>und</strong> in denBlocks viele Frauen gestorben [...]. In der Uckermarksind wir sehr bald drauf gekommen, daß29


die Frauen irgendwo außerhalb des Lagers vergastwerden. [...] [Sie] wurden mit Lastautos weggeführt<strong>und</strong> kamen nicht mehr zurück.“ („Mit denAugen der Überlebenden“, Essen 2002, S. 38;dort zit. nach „Ich geb Dir einen Mantel, daßDu ihn noch in Freiheit tragen kannst“, Wien1987, S. 127 ff.)Irma Trksak hat Ravensbrück überlebt <strong>und</strong>ist nach Wien zurückgekehrt. Sie lebt dort mitder selbst gestellten Aufgabe, das Leid nicht inVergessenheit geraten zu lassen. Deshalb geht siein Schulen, pflegt Kontakte mit der Jugend <strong>und</strong>hält Vorträge. Ravensbrück hat sie inzwischenwieder besucht; sie war am 27. <strong>und</strong> 28. Mai2005 zum 60. Jahrestag der Befreiung des LagersGast der Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte.32Die Frauen trugen zur Kennzeichnung verschiedenfarbigeWinkel an ihren blau-graugestreiften Häftlingskleidern. Rote Winkelkennzeichneten politische Gefangene. So einenWinkel trug Klara Haase. Vermutlich musste sieauch noch das „Zeichen der Rassenschanden“tragen. Das war ein gelber Winkel von einemschwarzen überkreuzt. Emigranten <strong>und</strong> staatenloseFrauen waren an blauen, Zeugen Jehovas anlilanen; <strong>und</strong> aus kriminellen Gründen inhaftierteFrauen waren an grünen Winkeln zu erkennen.Schwarze Winkel markierten „Asoziale“;zu diesen wurden die Sinti <strong>und</strong> Roma gezählt.Jüdinnen hatten einen gelben Streifen, so dassaus diesem zusammen mit dem Winkel ein gelberStern geformt werden konnte.33„Mit den Augen der Überlebenden“, sieheAnm. 29, S. 54; dort zit. nach Müller, Charlotte:Die Klempnerkolonne von Ravensbrück. Erinnerungendes Häftlings Nr. 10787, Frankfurt/M. 1981, S. 76 ff.34Entschädigungsakte, Hauptstaatsarchiv Wiesbaden,Abt. 518, Nr. 3980, Bl. 2135Vgl. hierzu auch „Mit den Augen der Überlebenden“,S. 26 ff.36Entschädigungsakte, Hauptstaatsarchiv Wiesbaden,Abt. 518, Nr. 3980, Bl. 21 <strong>und</strong> 253037Totenbuch der evangelischen KirchengemeindeIhs. vom 1.1.1917-31.12.1985, Nr. 658, S. 9638Siehe Archiv des LWV Hessen, Best. 2 (Breitenau),Nr. 5169, <strong>und</strong> Archiv der GedenkstätteBuchenwald, NARA Washington, RG 242,Film 12 <strong>und</strong> 15a39LWV, Best. 2 (Breitenau), Nr. 5169, Bl. 240a.a.O., Bl. 4-641a.a.O., Bl. 142Archiv der Gedenkstätte Buchenwald, Sendemanuskriptdes WDR (Ulla Jung) vom28.6.2003, S. 443Frdl. Mitteilung der Gedenkstätte Buchenwald,Archiv, vom 11. Mai <strong>und</strong> vom 26. November200444Entschädigungsakte, HStA Wiesbaden, Abt.518, Nr. 3980, Bl. 2545Schreiben der Mahn- <strong>und</strong> Gedenkstätte Ravensbrückvom 30. Juni 200646Tuchel, Johannes: Die Inspektion der Konzentrationslager1938-1945. Das System des Terrors,Berlin 1994, S. 112 ff.47Die kleine Gemeinde Ravensbrück hatte von1939 bis 1941 die Todesfälle des KZ Ravensbrückzu beurk<strong>und</strong>en. Sie wurden dort vomLagerkommandanten angezeigt. Die dann aberstark zunehmende Zahl der Verstorbenen machteein eigenes Amt erforderlich. Es wurde abJanuar 1942 im Lager eingerichtet <strong>und</strong> erhieltdie Bezeichnung Ravensbrück II. Die Behördewar in der Lagerkommandantur angesiedelt<strong>und</strong> unterstand dem Kommandanten (Schindler-Saefkow<strong>und</strong> Schnell: Ravensbrück/ProjektGedenkbuch, Berlin 2005, S. 39 ff.).48Beide Schreiben aus dem Archiv der Mahn<strong>und</strong>Gedenkstätte Ravensbrück49Wie Anmerkung 4750Totenbuch der <strong>Ev</strong>. Kirchengemeinde <strong>Immenhausen</strong>1917-1985 Nr. 658, S. 9651Entschädigungsakte, HStA Wiesbaden, Abt.518, Nr. 3980, Bl. 4252a.a.O., Bl. 25


Fotosaus dem Besitz der Familie Haase: S. 3, 5 unt., 9, 10, 11, 12, 15, 16, 26 unt.;aus dem Besitz der Famile Bernhard Jäger: S. 13Friedrich Karl Baas: Titelseite, S. 1 ob., 18, 19, 24, 25, 26 ob., 27;Adolf Dick: S. 15, 21Bescheinigung über die ausgehändigten persönlichen Gegenstände am 8.4.1941 im Zusammenhangmit dem Transport von Breitenau nach Ravensbrück mit der Unterschrift von Klara Haase (siehe auchSeite 17) 2831

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