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3/2011 - Psychotherapeutenjournal

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Buchrezensionen<br />

Retzlaff, R. (2010). Familien-Stärken. Behinderung, Resilienz und systemische<br />

Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. 288 Seiten. 29,95 €.<br />

Manfred Vogt<br />

„Was hilft Familien mit Kindern, die Behinderungen<br />

haben, gesund zu bleiben?“, ist die<br />

Frage, der Rüdiger Retzlaff in seinem Buch<br />

„Familien-Stärken“ nachgeht. Mit dem Thema<br />

Behinderung greift er Fragestellungen<br />

auf, die in der deutschsprachigen Literatur<br />

zur systemischen Therapie und Beratung<br />

bislang wenig Beachtung gefunden haben.<br />

Der Autor verbindet Behinderung und die<br />

damit einhergehenden Belastungsfaktoren<br />

mit dem Konzept von Resilienz und Kohärenz<br />

als Ausgangspunkte für die Skizzierung<br />

einer systemischen Beratungspraxis für Familien<br />

mit behinderten Kindern.<br />

In der Einführung wird der Leser an eine<br />

differenzierte Betrachtung zum Begriff der<br />

Behinderung sehr informativ für das Thema<br />

sensibilisiert und zu einem normalisierenden<br />

Perspektivwechsel angeregt. Bei<br />

Behinderung denken wir schnell in den<br />

Kategorien von Krankheit, Mangel und<br />

Defizit, an die damit verbundenen Folgen<br />

und die Vorstellung, dass ein Mensch nicht<br />

vollwertig am Leben teilhaben kann. Eine<br />

systemische Betrachtung zeigt, dass eine<br />

Behinderung nicht isoliert als individuelles<br />

Merkmal einer Person zu verstehen ist,<br />

sondern eine Beziehung zwischen System<br />

und Umwelt beschreibt. Diese Beziehungen<br />

sind zunächst in der Familie und<br />

der erweiterten Lebenswelt beschreibbar.<br />

Systemisch betrachtet können Behinderungen<br />

als Ausdruck der Vielseitigkeit des<br />

Seins gelten. Behinderungen können sowohl<br />

als einschränkende Lebensbedingungen<br />

als auch „als ubiquitäre Bestandteile<br />

des Lebens“ verstanden werden (S. 93).<br />

Dieses systemische Verständnis rückt die<br />

Familie als Ort der erlebten Einschränkungen<br />

und möglichen Förderungen in den<br />

Fokus. Die Diagnose Behinderung gilt für<br />

Familien als kritisches Lebensereignis, das<br />

280<br />

enorme Belastungen nach sich zieht und<br />

herausfordernde Anpassungsleistungen<br />

erfordert. Diese Anpassungsleistungen<br />

sind dabei nur zum Teil von dem Schweregrad<br />

der Behinderung abhängig. Aus einer<br />

systemischen Perspektive hängt der familiäre<br />

Umgang mit Behinderungen von drei<br />

wesentlichen Aspekten ab:<br />

den greifbaren Belastungen, die mit<br />

„harten Fakten“ wie ökonomischer<br />

Status, Familiengröße, anderen zusätzlichen<br />

Belastungsmomenten etc. einhergehen,<br />

der familiären Funktionsweise wie Kommunikations-<br />

und Interaktionsformen,<br />

Problemlösungskompetenzen und Umgang<br />

mit affektiven Prozessen, d. h. den<br />

familiären Organisationsprozessen, und<br />

den familiären Glaubenssystemen und<br />

Narrativen im Umgang mit ihren Lebenswelterfahrungen,<br />

die hier als „weiche<br />

Wirklichkeitskonstruktionen“ verstanden<br />

werden. Diese wohltuende sprachliche<br />

Ent-Individualisierung und Ent-Pathologisierung<br />

von Behinderung ist eine der<br />

Kernaussagen des Buches und zeigt die<br />

Bedeutung und Kraft von Sprache.<br />

Mit großer Sensibilität beschreibt Retzlaff<br />

die Stressfaktoren aus der Sicht der betroffenen<br />

Kinder und aus der Sicht der Mütter<br />

und Väter. Er zeigt, wie sich das Stresserleben<br />

auf die Partnerschaft und auf die Geschwister<br />

auswirken kann und was es für<br />

Alleinerziehende heißt, mit einem behinderten<br />

Kind zu leben. Dabei unterscheidet<br />

er zwischen den akuten und chronischen<br />

Anpassungsanforderungen.<br />

Der Autor betont die positiven Copingkompetenzen<br />

und Resilienzfaktoren betroffener<br />

Familien. In der Skizze einzelner<br />

Forschungsarbeiten werden die Bewältigungskompetenzen<br />

betroffener Familien<br />

herausgearbeitet: Gelingt es Familien, ihre<br />

familiäre Organisation transparent, klar<br />

strukturiert und kommunikativ zu gestalten,<br />

so fördert dies die vorhandenen Resilienzfaktoren<br />

wie Flexibilität, Belastbarkeit<br />

und Widerstandkraft, sodass die Familien<br />

schließlich stark werden.<br />

Im zweiten Teil des Buchs werden theoretische<br />

Modelle diskutiert, die für Familien<br />

mit behinderten Angehörigen und<br />

ihren begleitenden und betreuenden Bezugspersonen<br />

bedeutsam sind. Da wird<br />

zunächst ein Familien-Stressmodell erläutert,<br />

das zeigt, wie akute und chronische<br />

Belastungen Ressourcen mobilisieren.<br />

Stressreduktion und situationsbezogene<br />

Neubewertungen führen zu anhaltenden<br />

Adaptionen an aktuelle Lebensumstände.<br />

Gut gelingende Anpassungen beruhen<br />

auf einem hohen Maß an Resilienz, die<br />

im Weiteren als Familienresilienz herausgearbeitet<br />

wird. Hierzu zählen Familienprozesse<br />

„wie hohe familiäre Kohäsion,<br />

Flexibilität, Engagement für die Partnerschaft,<br />

die Qualität der Kommunikation,<br />

gute Grenzen und Rollenverteilungen sowie<br />

familiäre Glaubenssysteme und insbesondere<br />

ein Gefühl der Sinnhaftigkeit<br />

und Kohärenz“ (S. 112). In Anlehnung an<br />

Antonovskys Kohärenzmodell entwickelt<br />

Retzlaff den Begriff der Familienkohärenz<br />

als „globale Ressource“ (S. 137) und zeigt,<br />

wie erlebte Familienkohärenz in einzelnen<br />

Untersuchungen empirisch ermittelbar ist.<br />

In der psychotherapeutischen Praxis lässt<br />

sie sich bevorzugt in den familiären Narrativen,<br />

den Erzählungen und Geschichten<br />

der Familien und ihrer Mitglieder erfassen.<br />

Im dritten und letzten Abschnitt des Buchs<br />

widmet sich der Autor den Aufgaben, He-<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2011</strong>

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