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kalbenser Fliegenklatsche

Bd.02 "das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte"

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Wir waren 12 Leute und gerade beim Aufpumpen der<br />

Schlauchboote, als die Polizei kam. Sie hatten Hunde<br />

dabei. Die Kinder hatten Angst und weinten. Wieder<br />

Edirna - 5 Tage Gefängnis.<br />

attempt 7 to achieve Level 3<br />

Shakila hatte die Idee: „Warum versucht niemand über<br />

das Schwarze Meer nach Bulgarien zu gelangen?!“ Zu<br />

gefährlich. Wegen Wellen und Wetter taten wir die Sache<br />

mit einigen Gefährten zuerst ab.<br />

Kurz darauf haben wir uns dann doch dazu entschlossen.<br />

Wir waren eine Gruppe von 34 Leuten und bestachen<br />

einen Skipper in der Nähe von Istanbul uns zu<br />

fahren. Nach außen hin gaben wir uns wie Touristen,<br />

keine Ahnung, ob man uns das abnahm.<br />

Gleich nach dem Auslaufen begann der Skipper sich<br />

zu betrinken und zu kiffen. Er meinte, es wäre seine<br />

Ausrede, falls die Polizei käme. Wir nahmen erst einmal<br />

Kurs aufs offene Meer um in internationale Gewässer<br />

zu gelangen. Der Skipper war mittlerweile kaum noch<br />

ansprechbar und wollte auch nicht mehr nach Bulgarien,<br />

da er plötzlich Angst hatte, dort als Schlepper festgenommen<br />

zu werden. Er wurde immer panischer und<br />

drohte uns. Irgendwann haben Ajmal und ein weiterer<br />

Begleiter mit Gewalt das Steuer und damit die Führung<br />

des Schiffes übernommen. Wir wollten eigentlich nach<br />

Varna, erreichten aber nach ca. 17 Stunden den Hafen<br />

von Burgas. Als wir nicht mehr weit entfernt waren<br />

kamen 6 Motorboote der Küstenwache auf uns zu. Die<br />

Besatzungen hatten Maschinengewehre. Man bedrohte<br />

uns und schrie uns über ein Megafon zu: „Dreht um, in<br />

internationale Gewässer, das ist bulgarisches Gebiet.“<br />

Wir haben daraufhin unsere Kinder hochgehalten und<br />

gerufen „Wir sind nur Flüchtlinge, wir können nicht<br />

mehr umkehren. Macht was ihr wollt, aber wir werden<br />

nicht mehr umkehren!“ Also wurden wir dann doch an<br />

Land gebracht.<br />

(Es war der erste Versuch dieser Fluchtroute. Später<br />

erfuhren wir, dass ein paar Monate später der zweite<br />

Versuch scheiterte: Das Boot sank und alle 65 Leute,<br />

größtenteils Afghanen, sind dabei ertrunken)<br />

Der betrunkene Skipper behauptete sofort, Ajmal sei<br />

der Captain des Schiffes gewesen. Mein Mann wurde<br />

daraufhin erst einmal ausgiebig vernommen, konnte<br />

dann aber doch durch diverse Dokumente glaubhaft<br />

machen, dass er zu uns gehört und nur ein Flüchtling<br />

war. Wir wurden in eine Art Gefängnis gebracht und<br />

mussten alle unsere Fingerabdrücke abgeben. (Bis heute<br />

ein Problem für uns, da wir noch kein Bleiberecht in<br />

Deutschland haben und laut Dublin-Verfahren in das<br />

Land abgeschoben werden können, über dessen Grenze<br />

wir Europa zuerst betreten haben)<br />

Trotzdem waren wir überglücklich, das Level geschafft<br />

zu haben. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet.<br />

Level 3: Bulgarien.<br />

Nach drei Tagen kamen wir dann in eine große Flüchtlingsunterkunft.<br />

Dort bekamen unsere Kinder erst einmal<br />

die Windpocken und unsere ganze Familie kam ein<br />

paar Tage in Quarantäne.<br />

Irgendwann kam ein Mann auf uns zu und bot an, uns<br />

mit seinem Auto nach Sofia zu bringen, gegen Geld<br />

natürlich. Wir willigten ein. Von dort aus ging es in einer<br />

kleinen Gruppe von 13 Leuten zu Fuss weiter. Nach ca.<br />

ca. 5 Stunden erreichten wir gegen 23 Uhr die serbische<br />

Grenze.<br />

Level 4: Serbien.<br />

Im Laderaum eines kleinen Transporters ging es weiter.<br />

Gegen 4 Uhr Ankunft in Belgrad Der Fahrer erklärte,<br />

dass er nun umkehren müsse. Er gab uns ein Handy<br />

mit SIM-Card und die Auskunft, dass wir uns von einem<br />

Taxi an den nördlichen Stadtrand, bringen lassen sollten.<br />

Dort gab es ein verwildertes Brachland, dass man<br />

„Dschungel“ nannte. Dem Müll nach zu urteilen, diente<br />

er schon vielen Flüchtlingen als geheime Zwischenstation.<br />

Wir warteten dort wie geheißen. Dort wurde es<br />

nicht langweilig: Im Laufe des Tages kam ein Radfahrer<br />

und brachte uns Essen: 2 Hähnchen, Brot und Milch.<br />

Die Freude war groß. Er verschwand wie er gekommen<br />

war. Später kamen zwei Typen und bedrohten uns, wollten<br />

unser Geld. Als sie aber merkten dass sie mit Gegenwehr<br />

rechnen müssten, zogen sie wieder ab. Nun<br />

hatten wir Angst, dass sie wieder kommen würden. Am<br />

Abend kam dann noch ein Polizist mit einem Rad. Nach<br />

Zahlung von Schmiergeld verschwand auch er wieder.<br />

Es gab noch einen Versuch, mit einem PKW weiter<br />

zu kommen. Wir wurden festgenommen: Eine Nacht<br />

Gefängnis, Verhöre, Fingerabdrücke... Wieder in den<br />

„Dschungel“. In der folgenden Nacht brachen wir zu<br />

Fuß in Richtung Ungarische Grenze auf. Nach einem<br />

endlosen Marsch kamen wir zu einem leeren Haus, wo<br />

wir den Rest der Nacht verbrachten und den nächsten<br />

Tag über abwarteten Mit Einbruch der Dunkelheit ging<br />

es weiter. In dieser Nacht quälten uns unzählige Mosquitos,<br />

wir alle hatten leichte Kleidung an, es gab kein<br />

Spray. Ohne es zu merken, überquerten wir irgendwann<br />

die ungarische Grenze und kamen gegen Morgen in<br />

ein Dorf.<br />

Level 5: Ungarn.<br />

In einem geschlossenen Van ging es für unsere 9 köpfige<br />

Gruppe weiter. Wir wurden aufgefordert, uns während<br />

der Fahrt umzuziehen und uns mit Feuchttüchern<br />

notdürftig zu waschen. Man kann sich vorstellen wie wir<br />

nach all den Strapazen mittlerweile aussahen.<br />

Einige Stunden später, an einer verlassenen Tankstelle,<br />

wurden die Fahrzeuge getauscht. Wir stiegen um in einen<br />

normalen offenen PKW. Aus dem Grund also die<br />

verordnete Katzenwäsche: Wir waren ab jetzt wieder<br />

sichtbar.<br />

In diesem Fahrzeug war unsere Familie vereint und es<br />

ging über Stunden durch verschiedene Landschaften.<br />

Wir wussten einen größten Teil der Strecke über nicht,<br />

wo wir waren. Wahrscheinlich sind wir über Österreich<br />

nach Deutschland gekommen.<br />

Am 24. Juni 2014 gegen 18.00 Uhr<br />

erreichten wir Frankfurt.<br />

Level 6: Deutschland.<br />

Die Kinder waren krank und brauchten einen Arzt. Wir<br />

alle waren total kaputt, aber als wir dort ausstiegen,<br />

war das alles egal und wir die glücklichsten Menschen<br />

der Welt. Unsere Flucht hatte anstatt 3 Tage rund 9 Monate<br />

gedauert und uns so oft fast das Leben gekostet.<br />

Ein ein indischer Taxifahrer, den wir um Rat fragten,<br />

brachte uns in ein Flüchtlingscamp in Gießen, nördlich<br />

von Frankfurt. Am nächsten Tag wurden wir mit einem<br />

Taxi von Gießen nach Halberstadt in die Zentrale Anlaufstelle<br />

für Asylbewerber gebracht. Dort verbrachten<br />

wir 17 Tage. Dann entschied man, dass wir im Zuge der<br />

weiteren Verteilung nach Gardelegen gebracht werden.<br />

Nach ein Paar Tagen dort im Heim, wies man uns eine<br />

Wohnung in Kalbe/Milde zu. Es hätte uns genau so gut<br />

nach Schweden oder Frankreich oder ein anderes europäisches<br />

Land treiben können, wir mussten nur weg.<br />

Nun sind wir Kalbenser und es ist gut so.<br />

Die Geschichte ist stark gekürzt und hat beim<br />

Erzählen schmerzhafte Wunden aufgerissen.<br />

Vieles davon wollten wir einfach nur vergessen.<br />

Nun, in Kalbe angekommen, haben wir für uns<br />

und unsere Kinder erstmals so etwas wie Frieden<br />

und wieder eine neue Heimat gefunden.<br />

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