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kalbenser Fliegenklatsche

Bd.02 "das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte"

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Der Balkon<br />

von Lisa Wiedemuth<br />

„miner earthquake“ von Adrian Kenyon<br />

Als Kind taumelte ich nicht, als Kind war Tollen angesagt.<br />

Es gab kein zu hoch, kein zu tief, keine Dimension des<br />

Fallens, nur die Neugier. Wenn ich früher in der Neubauwohnung<br />

meiner Oma am niedrigen Balkongeländer<br />

stand und aus dem 10. Stock in das Unten schaute, dann<br />

war das Unten ziemlich interessant, aber weniger angsteinflößend.<br />

Wenn ich heute, jetzt an diesem Geländer<br />

stehe, dann schaue ich lieber geradeaus. Ich glaube, so<br />

funktioniert das Erwachsenwerden. Ja, bloß nicht nach<br />

unten schauen, lieber geradeaus, in kühnen Momenten<br />

vielleicht sogar nach oben. Aber bloß nicht nach unten<br />

schauen und wenn doch, dann beginnt das Taumeln. Die<br />

Dimensionen haben sich verschoben, ich bin vielleicht<br />

größer geworden, aber vielmehr hat sich die Wahrnehmung<br />

des Fallens verändert. Ich stehe am Geländer und<br />

habe das Gefühl, ich ziehe mich selbst in die Tiefe, doch<br />

mein Oberkörper stemmt sich dagegen. Diese Mischung<br />

aus ungewollter Versunkenheit und kaltem Schweiß verursacht<br />

meistens Schwindel. Spätestens dann trete ich einen<br />

Schritt zurück oder schaue wieder geradeaus. Man kann<br />

das sicherlich Höhenangst nennen. Aber ich nenne es das<br />

Erwachsenwerden. Das Fallen wird real, weil man es kennengelernt<br />

hat. Während ich am Geländer im 10. Stock in<br />

der Neubauwohnung meiner Oma stehe und geradeaus<br />

schaue, beginnt diese hinter mir vom Absturz der Welt zu<br />

sprechen. Die fortdauernde Geschichte ist einen Schritt zu<br />

weit in die falsche Richtung gegangen und nun beginnen<br />

wir zu taumeln, derzeit noch schwer merklich, aber bald<br />

beginnt der Fall. Meiner Meinung nach haben wir zu viel<br />

geradeaus geschaut. Aber das behalte ich für mich. Ich<br />

wage vieles noch nicht auszusprechen, weil es noch nicht<br />

zu Ende gedacht ist. Also lieber von Anfang denken...<br />

Das Kindsein, das Erwachsenwerden. Laut Allgemeinplätzen<br />

besteht der Übergang aus dem Anstieg täglich wachsender<br />

Verantwortung. Aber wer berücksichtigt den Anstieg<br />

der Summe von Denkzetteln, die dich so richtig vom<br />

Geländer geschubst haben? Sie haben geschubst, während<br />

du geglotzt hast. Du lernst das Fallen kennen und sie<br />

springen mit einem Lachen hinterher. Unten angekommen<br />

versuchst du dich aufzurappeln und kurioserweise schaffst<br />

du es. Wenn du dann aber beim nächsten Mal im 10.<br />

Stock am Geländer stehst, dann schaust du lieber nicht<br />

nach unten. Denn da unten liegen die Denkzettel wie Laub<br />

auf dem Asphalt verstreut und sobald du sie siehst, beginnst<br />

du zu taumeln. Also lieber geradeaus schauen. Wir<br />

schützen uns und lösen uns damit auf. Die Geschichte ist<br />

ganz besonders schnell erwachsen geworden, ein Denkzettel<br />

nach dem anderen, aber sie wagt es nicht hinab zu<br />

schauen. Während der Mensch sich - seit er sein erstes<br />

Werkzeug in die Hand genommen hat - exponentiell weiterentwickelt,<br />

indem er nämlich ein Werkzeug auf dem anderen<br />

aufbaut, findet ein entscheidender Faktor nicht die<br />

gleichen Ausmaße in der Entwicklung: Der Humanismus.<br />

Aber genau den findet man nicht am Horizont. Er liegt in<br />

dem Laub herabgefallener Denkzettel. Und deswegen sind<br />

wir mit unserem eigenem Geradeaussichtschutz für ziemlich<br />

viel verantwortlich. Das fängt bei uns an und hört in<br />

der Geschichte auf. Wenn wir tagsüber nach unten schauen,<br />

dann ist das maximal ein Blick auf unser Smartphone,<br />

nachts wagen wir ungewollt in unseren Träumen einen<br />

Blick in die Tiefe. Wir machen uns selbst Angst, denn wir<br />

wollen funktionieren, besser werden, sicher sein, aber keinesfalls<br />

einen Schritt zu viel wagen. Und bloß nicht fallen.<br />

Meine Oma spricht vom Absturz der Welt. Sie hätte den<br />

Kommunismus erlebt. Bringt nichts. Der Kapitalismus?<br />

Bringt uns maximal unser Grab. Eine Alternative? Gibt es<br />

nicht! Ich stehe im 10. Stock der Neubauwohnung meiner<br />

Oma am Geländer und zwinge mich herabzuschauen,<br />

das Taumeln zu genießen. Und falls mich ein Denkzettel<br />

aus dem 10. Stock schubst, dann steh ich halt wieder auf.<br />

Damit denke ich zu Ende.<br />

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