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kalbenser Fliegenklatsche

Bd.02 "das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte"

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Mein liebes Kalbe!<br />

30<br />

Mit 6 Wochen kam ich damals mit meiner Mutter zu Dir, wo<br />

schon mein Vater auf uns beide wartete. Glückliche Kindheit,<br />

keineswegs langweilige Jugend... so bin ich aufgewachsen,<br />

mir fehlte es wirklich an nichts. Doch dann, irgendwann, wurdest<br />

Du mir zu einem Käfig, in dem ich mich gefangen fühlte.<br />

Deine Enge, Dein vertrauter Schutz und die Sicherheit, die Du<br />

mir gabst, Deine „Piefigkeit“ schienen mich erdrücken zu wollen.<br />

So entschied ich mich, Dich sehr bald gen Norden des<br />

Landes zu verlassen, um mein Studium in Rostock an der Ostsee<br />

zu beginnen und Dir zu entfliehen. Du tatest Dich inzwischen<br />

wie ein Abgrund vor mir auf. Ich wollte mich ausleben<br />

können (Ich dachte damals jedenfalls, dass es mir hier nicht<br />

möglich wäre). Inzwischen sind Jahre vergangen und ich verbrachte<br />

weit mehr meiner Lebensjahre außerhalb und konnte<br />

mich wirklich in Vielem ausleben. Mein mir inzwischen sehr<br />

lieb gewordenes Hamburg, in dem ich nun schon seit 23 Jahren<br />

sehr gern lebe, wurde nach und nach zu „meiner“ Stadt.<br />

Ich war mir sicher, hier alt zu werden. Aber erstens kommt<br />

es anders und zweitens als man denkt. Eines schönen Tages<br />

weilte ich mal wieder zu Besuch in Dir (Inzwischen nahm ich<br />

Dich als malerisch ruhiges und etwas verschlafenes Städtchen<br />

wahr, das ich sehr gern besuchte). Dieses mal „rief“ mich ein<br />

wunderschönes, kleines und niedliches Häuschen in Deiner<br />

allerschönsten Straße und ich brauchte nicht lange, um es zu<br />

erhören.<br />

Doch nun hab ich den „Salat“. So wie das mit der Liebe auf<br />

den ersten Blick nun mal ist, setzt der Verstand schlichtweg aus<br />

und man macht einfach. So auch ich. Jetzt hab ich ein Haus<br />

in der besten Nachbarschaft, die ich mir vorstellen kann und<br />

lebe und arbeite doch in Hamburg! ...<br />

So werde ich wohl zur Meisterin des Lebens in zwei Welten<br />

werden müssen. Denn, bin ich in Dir, genieße ich die Ruhe,<br />

die Beschaulichkeit, die zwischenmenschliche Nähe und Herzlichkeit<br />

der hier lebenden Menschen, die Einsamkeit in der<br />

Weite der Natur, die Dich umgibt und in die ich mit wenigen<br />

Schritten eintauchen kann, in der ich dann so gern versinken<br />

mag. Ich bin angetan von dem Treiben in der Künstlerstadt,<br />

von der Begegnung mit interessanten Menschen (u.a. aus Afghanistan),<br />

all dem, was die Menschen hier alles auf die Beine<br />

stellen. Und dann möchte ich gar nicht mehr weg von Dir.<br />

Doch wieder in Hamburg, wird mir sehr schnell bewusst, auf<br />

was ich alles verzichten müsste und was ich sehr vermissen<br />

würde. Dinge, die hier bereits selbstverständlich sind und fest<br />

zu meinem Leben gehören: Meine sehr gut bezahlte 3-Tage-<br />

Arbeitswoche, mein BioSupermarkt um die Ecke, mein homöopathischer<br />

Arzt aus der HafenbesetzerSzene der 80er,<br />

die mit dem Rad erreichbaren lauschigen Programmkinos, in<br />

denen auch Filme gezeigt werden, die man sonst nicht zu sehen<br />

bekäme, meine Osteopathin und Freundin, die gekonnt<br />

jedes meiner kleinen Leiden wegzaubert, all meine mir liebgewordenen<br />

Freunde, die Konzerte auf der „Hedi“, auf der wir<br />

zusammen feiernd durch den Hamburger Hafen schippern,<br />

die Industrieromantik des Hafens, der immer Fernweh in mir<br />

auslöst, weil es dort schon nach Nordsee riecht, in die die Elbe<br />

fließen wird, die Konzerte und Partys auf der Stubnitz, die vielen<br />

Hausprojekte, Wagenplätze, Volxküchen, das KubbSpielen<br />

und Biertrinken an der Elbe und das Grillen im Park mit Freunden,<br />

das Kickern im „Onkel Otto“, das Millerntor, kurz das<br />

ganze Großstadttreiben, all das, was Du mir nicht bieten<br />

konntest...<br />

Und doch werden dann genauso schnell all die unangenehmen<br />

Seiten einer Großstadt in mir laut, die mich seit längerem<br />

wirklich mehr und mehr nerven: Der ständige Straßenlärm<br />

(nicht nur durch den Verkehr, sondern auch der Sirenen der<br />

Rettungswagen und<br />

den Bullenwannen),<br />

die täglich grölenden<br />

und feiernden Menschen,<br />

der Lärm der<br />

U-und S-Bahnen und<br />

der ihnen eigene Geruch<br />

nach allem, was Menschen<br />

in einer Großstadt ausmacht, der Lärm der startenden und<br />

landenden Flugzeuge und Airbusse, der Lärm der überall<br />

mehr und mehr auftauchenden Baustellen, den stinkenden<br />

und lauten Laubpustern, Motorsägen, Rasenmähern und<br />

Presslufthämmern, das Tuten der unglaublich vielen und riesigen<br />

Containerschiffe auf der Elbe und die Kreuzfahrtschiffe,<br />

die sich wie riesige Häuserblöcke auf der Elbe vorwärts schieben<br />

und von denen Menschen herunter winken, die vergeblich<br />

auf ein Winken von mir warten, die verstopften Straßen, die<br />

unglaublich hohe Feinstaubbelastung, die aggressiven Bulleneinsätze<br />

bei Demos, all die „Druffis“, Verrückten, Obdachlosen<br />

und zahllosen Flüchtlinge, die verzweifelt am Hauptbahnhof<br />

warten, die vielen traurigen und einsamen Menschen, die<br />

überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel, die fürchterliche Dichte<br />

von Menschen auf engstem Raum bei größter Anonymität...<br />

...so anonym, dass die Menschen, die gemeinsam in einem<br />

Haus wohnen, nicht miteinander reden, sondern sich Luft machen,<br />

in dem sie ihre Anliegen mit an Computern geschriebenen<br />

Zetteln an der Eingangstür, ohne ihren Namen zu nennen,<br />

anbringen:<br />

Wo tun sich denn nun eigentlich die wirklichen Abgründe vor<br />

mir auf? Wo ist es enger und piefiger?<br />

„Es ist kein Anzeichen von seelischer Gesundheit,<br />

sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft<br />

anpassen zu können.“ Jiddu Krishnamurti<br />

Und deshalb werde ich täglich demütiger Dir gegenüber und<br />

hoffe, Du verzeihst mir, dass ich erst meine eigenen Erfahrungen<br />

sammeln musste, um zu verstehen. Die Heimat, wenn<br />

man solch ein Gefühl überhaupt einmal kennenlernen durfte,<br />

verlässt einen ohnehin nie im Leben. Manche unter uns sehnen<br />

sich nach ihr, ohne dass sie jemals (wieder) erreichbar zu<br />

sein scheint.<br />

Ich kann mir immer besser vorstellen, meinen Lebensmittelpunkt<br />

nach und nach wieder zurück zu verlegen. Hier sind<br />

meine Wurzeln, hier ist meine Familie, zu Dir kann ich zurück<br />

kehren, um „ARTgerecht“ als Mensch leben zu können. Ich<br />

bekomme mehr und mehr das Gefühl, hier in Dir, vor allem<br />

endlich auch ANKOMMEN zu können.<br />

Und die kleine weise Pippi Langstrumpf sagte bereits: „Wer<br />

nicht weggeht, der kann auch nicht wiederkommen.“ ICH<br />

KANN wiederkommen und danke Dir, mein kleines, ruhiges<br />

und „zartes“ Kalbe dafür, dass es Dich für mich mal gab und<br />

jetzt auch wieder gibt, dafür dass Du mir nicht böse bist, sondern<br />

mich wieder mit offenen Armen empfängst!<br />

Ich danke aber auch allen, die mich hier in diesem traumhaft<br />

schönen Städtchen, in dem es mir so gut gefällt, so herzlich<br />

willkommen heißen. Das weiß ich sehr zu schätzen und freue<br />

mich auf ein beidseitig bereicherndes Zusammenleben und<br />

einige schöne und spannende neue Projekte mit Euch allen,<br />

vorerst wohl eher noch an den Wochenenden, aber sicher<br />

schon ganz bald auch in meinem Alltag.<br />

Deine, Dir wieder (oder immer noch?)<br />

sehr verbundene,<br />

Ilka

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