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Der Balkon von Lisa Wiedemuth „miner earthquake“ von Adrian Kenyon Als Kind taumelte ich nicht, als Kind war Tollen angesagt. Es gab kein zu hoch, kein zu tief, keine Dimension des Fallens, nur die Neugier. Wenn ich früher in der Neubauwohnung meiner Oma am niedrigen Balkongeländer stand und aus dem 10. Stock in das Unten schaute, dann war das Unten ziemlich interessant, aber weniger angsteinflößend. Wenn ich heute, jetzt an diesem Geländer stehe, dann schaue ich lieber geradeaus. Ich glaube, so funktioniert das Erwachsenwerden. Ja, bloß nicht nach unten schauen, lieber geradeaus, in kühnen Momenten vielleicht sogar nach oben. Aber bloß nicht nach unten schauen und wenn doch, dann beginnt das Taumeln. Die Dimensionen haben sich verschoben, ich bin vielleicht größer geworden, aber vielmehr hat sich die Wahrnehmung des Fallens verändert. Ich stehe am Geländer und habe das Gefühl, ich ziehe mich selbst in die Tiefe, doch mein Oberkörper stemmt sich dagegen. Diese Mischung aus ungewollter Versunkenheit und kaltem Schweiß verursacht meistens Schwindel. Spätestens dann trete ich einen Schritt zurück oder schaue wieder geradeaus. Man kann das sicherlich Höhenangst nennen. Aber ich nenne es das Erwachsenwerden. Das Fallen wird real, weil man es kennengelernt hat. Während ich am Geländer im 10. Stock in der Neubauwohnung meiner Oma stehe und geradeaus schaue, beginnt diese hinter mir vom Absturz der Welt zu sprechen. Die fortdauernde Geschichte ist einen Schritt zu weit in die falsche Richtung gegangen und nun beginnen wir zu taumeln, derzeit noch schwer merklich, aber bald beginnt der Fall. Meiner Meinung nach haben wir zu viel geradeaus geschaut. Aber das behalte ich für mich. Ich wage vieles noch nicht auszusprechen, weil es noch nicht zu Ende gedacht ist. Also lieber von Anfang denken... Das Kindsein, das Erwachsenwerden. Laut Allgemeinplätzen besteht der Übergang aus dem Anstieg täglich wachsender Verantwortung. Aber wer berücksichtigt den Anstieg der Summe von Denkzetteln, die dich so richtig vom Geländer geschubst haben? Sie haben geschubst, während du geglotzt hast. Du lernst das Fallen kennen und sie springen mit einem Lachen hinterher. Unten angekommen versuchst du dich aufzurappeln und kurioserweise schaffst du es. Wenn du dann aber beim nächsten Mal im 10. Stock am Geländer stehst, dann schaust du lieber nicht nach unten. Denn da unten liegen die Denkzettel wie Laub auf dem Asphalt verstreut und sobald du sie siehst, beginnst du zu taumeln. Also lieber geradeaus schauen. Wir schützen uns und lösen uns damit auf. Die Geschichte ist ganz besonders schnell erwachsen geworden, ein Denkzettel nach dem anderen, aber sie wagt es nicht hinab zu schauen. Während der Mensch sich - seit er sein erstes Werkzeug in die Hand genommen hat - exponentiell weiterentwickelt, indem er nämlich ein Werkzeug auf dem anderen aufbaut, findet ein entscheidender Faktor nicht die gleichen Ausmaße in der Entwicklung: Der Humanismus. Aber genau den findet man nicht am Horizont. Er liegt in dem Laub herabgefallener Denkzettel. Und deswegen sind wir mit unserem eigenem Geradeaussichtschutz für ziemlich viel verantwortlich. Das fängt bei uns an und hört in der Geschichte auf. Wenn wir tagsüber nach unten schauen, dann ist das maximal ein Blick auf unser Smartphone, nachts wagen wir ungewollt in unseren Träumen einen Blick in die Tiefe. Wir machen uns selbst Angst, denn wir wollen funktionieren, besser werden, sicher sein, aber keinesfalls einen Schritt zu viel wagen. Und bloß nicht fallen. Meine Oma spricht vom Absturz der Welt. Sie hätte den Kommunismus erlebt. Bringt nichts. Der Kapitalismus? Bringt uns maximal unser Grab. Eine Alternative? Gibt es nicht! Ich stehe im 10. Stock der Neubauwohnung meiner Oma am Geländer und zwinge mich herabzuschauen, das Taumeln zu genießen. Und falls mich ein Denkzettel aus dem 10. Stock schubst, dann steh ich halt wieder auf. Damit denke ich zu Ende. 7