Glareana_61_2012_#2
Martin Kirnbauer Armando Fiabanes lettera su Ganassi [italienisch/deutsch] S. 40-54 Georg Senn Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung S. 55-62 Jörg Fiedler Ein "Eisbohrkern" in Sachen "historische Intonation" Peter Prelleur: The Art of Playing on the Violin (in: The Modern Musick-Master, London 1731, Facs. Kassel usw. 1965) S. 63-74 CD-Neuheiten besprochen von Georg Senn - Jean-Louis Tulou et ses élèves. La flûte romantique à Paris (Sarah van Cornewal, Thomas Leininger) - Fanny Hensel-Mendelssohn: "Das Jahr" (Els Biesemans, Fortepiano) S. 75-77 Buchbesprechung Flötenmusik in Geschichte und Aufführungspraxis zwischen 1650 und 1850, Michaelsteiner Konferenzbericht Bd. 73, Augsburg 2009 (Ueli Halder) S. 77-78
Martin Kirnbauer
Armando Fiabanes lettera su Ganassi [italienisch/deutsch]
S. 40-54
Georg Senn
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung
S. 55-62
Jörg Fiedler
Ein "Eisbohrkern" in Sachen "historische Intonation"
Peter Prelleur: The Art of Playing on the Violin (in: The Modern Musick-Master, London 1731, Facs. Kassel usw. 1965)
S. 63-74
CD-Neuheiten
besprochen von Georg Senn
- Jean-Louis Tulou et ses élèves. La flûte romantique à Paris (Sarah van Cornewal, Thomas Leininger)
- Fanny Hensel-Mendelssohn: "Das Jahr" (Els Biesemans, Fortepiano)
S. 75-77
Buchbesprechung
Flötenmusik in Geschichte und Aufführungspraxis zwischen 1650 und 1850, Michaelsteiner Konferenzbericht Bd. 73, Augsburg 2009
(Ueli Halder)
S. 77-78
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GLAREANA<br />
Nachrichten der Gesellschaft der Freunde alter Musikinstrumente<br />
<strong>2012</strong> <strong>61</strong>. Jahrgang Heft 2<br />
Editorial 39<br />
Armando Fiabanes lettera su Ganassi<br />
von Dr. Martin Kirnbauer<br />
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung<br />
von Georg Senn<br />
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“?<br />
von Jörg Fiedler<br />
CD-Neuheiten<br />
von Georg Senn<br />
Flöten und ihre Musik im Wandel der Zeit<br />
von Ueli Halder<br />
40<br />
55<br />
63<br />
75<br />
77<br />
Verkauf einer Toggenburger Hausorgel 79
38 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Impressum:<br />
<strong>Glareana</strong><br />
Nachrichten der Gesellschaft der<br />
Freunde alter Musikinstrumente<br />
Herausgeber:<br />
Gesellschaft der Freunde alter<br />
Musikinstrumente, Zürich (GEFAM)<br />
Postfach 109<br />
CH – 4007 Basel<br />
info@gefam.ch / www.gefam.ch<br />
Redaktion und Satz:<br />
Jörg Fiedler / jf<br />
joerg.fiedler@bluewin.ch<br />
Druck: Schwabe AG, Muttenz<br />
Die <strong>Glareana</strong> erscheint zweimal jährlich<br />
IssN 1660-2730
Editorial 39<br />
Editorial<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
wo kaufen Sie Ihre Brötchen? Lassen Sie mich raten: an der Tankstelle -<br />
wie die meisten der weniger und weniger irritierten Zeitgenossen, die auf<br />
dem gleichen Weg noch schnell das Eilpäckchen für Tante Emmis Geburtstag<br />
im Lebensmittelladen vorbeibringen. Dann rasch auf einen Sprung rüber in<br />
den Baumarkt, wo das Sonderangebot an Cola steht (für die Kinder gerade<br />
noch ein paar Schokoriegel mitnehmen!), und die paar fehlenden Schreibwaren<br />
hat „naturgemäss“ die Post im Angebot. Anderntags gehts dann zum Lebensmittel-Discounter,<br />
wo es gerade zum Superpreis den nötig gewordenen<br />
Computer nebst Drucker und Monitor gibt. Nicht weit davon hält der Computerladen<br />
den Lieblingskaffee im Kilopack feil, die fluffige Frottee-Wäsche<br />
findet sich wiederum, wen wundert's, im Kaffeeladen (wo es ausserdem vom<br />
Eierkocher bis zum Bügelbrett so ziemlich alles gibt).<br />
Genug des Sarkasmus: neu ist das alles ja nicht. In der „guten alten Zeit“<br />
zog auch schon der Frisör die kranken Zähne, der Schulmeister schlug die Orgel,<br />
wohingegen der Herr Kantor Latein unterrichten musste. „Zweckentfremdung“?<br />
Und nicht immer, wenn man einen eleganten Tafelklavier-Deckel lupft,<br />
findet sich darunter Stimmstock, Saiten und Klaviatur - manchmal eben auch<br />
Schreibzeug und Papier. Nicht die uneleganteste Verwendung für ein altes<br />
Klavier, wie GEFAM-Alt-Präsident Georg Senn in seinem Artikel in diesem<br />
Heft zeigt.<br />
Recycling im allerbesten Sinne, im Sinne von „wieder in Verkehr bringen“:<br />
schauen Sie doch mal vorbei auf der GEFAM-Website – dort hat ein arbeitsames<br />
Team von Kollegen sämtliche alten Jahrgänge der <strong>Glareana</strong> bis und mit<br />
2007 in elektronischer Form verfügbar gemacht (www.gefam.ch – Stichwort<br />
„<strong>Glareana</strong>“). Eben: es wäre ein Jammer, das alles vergammeln zu lassen!<br />
Aber vergessen Sie darüber das druckfrische Heft nicht.<br />
In diesem Sinne grüsse ich Sie herzlich - Ihr
40 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Armando Fiabanes lettera su Ganassi<br />
von Martin Kirnbauer<br />
Vorbemerkung<br />
Silvestro Ganassi ist heute vor allem als Autor zweier bedeutender Instrumentalschulen<br />
des 16. Jahrhunderts bekannt: der Opera intitolata Fontegara,<br />
1535 in Venedig erschienen (Abb. 1, S. 42), sowie der in zwei Teilbänden 1542<br />
resp. 1543 ebenfalls in Venedig publizierten Regola Rubertina samt Lettione<br />
seconda (Abb. 2, S. 54). Während die erste Publikation eine „Schule des kunstvollen<br />
Flötenspiels und Lehrbuch des Diminuierens“ – so der Titel der ersten<br />
deutschen Übersetzung von 1955 – 1 darstellt, bietet die Regola Rubertina vor<br />
allem eine Einführung in das Gambenspiel („Regola che insegna . Sonar . de<br />
uiola darcho Tastada“). 2 Die besondere Bedeutung dieser Lehrwerke wurde in<br />
der Forschung längst erkannt. So streicht etwa Howard Mayer Brown ihren<br />
einzigartigen Detailreichtum und ihre Raffinesse heraus, beinhalten sie doch<br />
eine vollständige Einführung in alle Aspekte des Instrumentalspiels der genannten<br />
Instrumente. 3 Der unbestrittenen Bedeutung dieser Schriften steht<br />
eine nur ansatzweise bekannte Biographie ihres Autors gegenüber, von dem<br />
bislang etwa weder das genaue Geburtsdatum noch das Todesjahr bekannt ist<br />
und die meisten Informationen nur seinen Publikationen selbst entnommen<br />
werden können.<br />
1<br />
Hildemarie Peter (Hg.), Sylvestro Ganassi: Schule des kunstvollen Flötenspiels und Lehrbuch<br />
des Diminuierens, Venedig 1535, Berlin-Lichterfelde: Lienau 1956.<br />
2<br />
So die Formulierung des Titels der Regula Rubertina; statt der gleichfalls von Hildemarie<br />
Peter 1972 vorgelegten Übersetzung sei hier auf diejenige samt Kommentar von Wolfgang<br />
Eggers, Silvestro Ganassi, „Regola Rubertina, 1542/43. Eine Gambenschule des 16. Jahrhunderts,<br />
Kassel etc.: Bärenreiter 1974 verwiesen.<br />
3<br />
Howard Mayer Brown & Giulio Ongaro, Art. „Ganassi dal Fontego, Sylvestro di“, in:<br />
NGrove2 9 (2001), 508 („Ganassi's works differ from all others in their detail and subtlety.<br />
They offer a complete discussion of instrumental technique up to its most sophisticated<br />
aspects; [.]“).
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 41<br />
Im Rahmen eines vom Bundesamt für Bildung und Technologie (BBT) und<br />
der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel (FAG) finanzierten Forschungsprojekts<br />
an der Schola Cantorum Basiliensis – Hochschule für Alte<br />
Musik (SCB) wurde Silvestro Ganassis Gambenschule näher in den Blick genommen.<br />
4 Dort geht es um das breiter gefasste Thema der Entwicklung der<br />
Streichinstrumente am Beispiel der frühen Viola da gamba, Ganassis Publikation<br />
dient dabei u.a. als konkreter Ausgangspunkt für eine hypothetische Rekonstruktion<br />
von Instrumenten. Bei der intensiven Auseinandersetzung mit<br />
dieser Quellenschrift wurde das Fehlen von biographischen Informationen<br />
immer wieder schmerzlich vermisst, auch um Ganassis Publikation besser<br />
kontextualisieren und ihre Aussagekraft bewerten zu können (beispielsweise<br />
hinsichtlich der Holzschnitte mit den Instrumentendarstellungen, tritt Ganassi<br />
doch auch als möglicher Verleger bzw. sogar eigener Holzschneider und<br />
Drucker seiner Schriften auf).<br />
Bei der Recherche stiess ich auf einen in dieser Hinsicht vielversprechenden<br />
Text, den Armando Fiabane angeblich am VI Corso di iconografia musicale,<br />
organologia e musicologia in Urbino im Juli 1991 vorgelegt haben soll. 5<br />
Die Neugier darauf wurde noch verstärkt durch einen Beitrag von Florence<br />
Gétreau zu einem venezianischen Gemälde mit einer Darstellung eines Gambenspielers,<br />
in dem eine Reihe von bislang unbekannten Details zu Ganassi<br />
mit Berufung auf Informationen von Fiabane gegeben werden. 6 Die Suche<br />
nach dem Text wie seinem Autor gestaltete sich als kompliziert, schliesslich<br />
aber konnte ein Kontakt mit ihm hergestellt werden.<br />
Armando Fiabane, der über viele Jahre in venezianischen Archiven<br />
forschte, sieht sich im Moment leider nicht in der Lage, seine Forschungsergebnisse<br />
auch adäquat zu publizieren. Er erklärte sich jedoch bereit, seinen<br />
4<br />
„Transformationen instrumentaler Klanglichkeit: Die Entwicklung der Streichinstrumente<br />
am Beispiel der frühen Viola da gamba“, Laufzeit September 2011 bis Juni 2013 (Thomas<br />
Drescher, Thilo Hirsch, Martin Kirnbauer, Kathrin Menzel, Martina Papiro). Eine Tagung<br />
am 3./4. Mai 2013 im Musikmuseum in Basel wird über die Ergebnisse orientieren.<br />
5<br />
Zitiert etwa von Keith Polk in seinem Beitrag „Foreign and Domestic in Italian Instrumental<br />
Music of the Fifteenth Century“, in: Irene Alm e.a. (Hgg.), Muscia Franca. Essays in<br />
Honor of Frank A. D'Accone, Stuyvesant, N.Y.: Pendragon 1996 (Festschrift Series 18), 323-<br />
32, 328 Fn. 14.<br />
6<br />
Florence Gétreau, „Un portrait énigmatique de l’ancienne collection Henry Prunières“,<br />
in: Musiques Images Instruments 5 (2003), 148-56.
42 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Brief mit der Beantwortung meiner Fragen zu Silvestro Ganassi zu veröffentlichen<br />
– eben den nachfolgend abgedruckten lettera su Ganassi. Diese ungewöhnliche<br />
Textform erklärt auch das Fehlen von genauen Quellenangaben,<br />
die Armando Fiabane einer allerdings erst in fernerer Zukunft geplanten Publikation<br />
vorbehält. Aber die Bedeutung der in dem Schreiben enthaltenden<br />
Informationen zu Silvestro Ganassi rechtfertigt auch eine „fussnotenlose“<br />
Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse in Form eines Briefes. Er bietet<br />
einen faszinierenden Einblick in die besonderen Verhältnisse Venedigs in der<br />
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in denen Musiker, Instrumentenmacher<br />
und Künstler lebten und wirkten. Der deutschen Übersetzung 7 wurden nur einige<br />
Präzisierungen in Form von Fussnoten beigefügt, eine weitergehende<br />
Auswertung findet in dem genannten Forschungsprojekt statt.<br />
Abb. 1: Opera intitolata Fontegara, Venedig 1535 - Titelblat<br />
7<br />
Mit herzlichem Dank an Martina Papiro für eine kritische Durchsicht.
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 43<br />
Egregio Professore,<br />
La città di Bergamo venne in<br />
dominio della Serenissima Repubblica<br />
di Venezia nel 1428, da<br />
allora, in fasi successive, si registra<br />
una consistente emigrazione<br />
di famiglie che dalle valli bergamasche<br />
si trasferisce nella Dominante<br />
(Venezia). Sono generalmente<br />
famiglie di artigiani ma vi<br />
compaiono anche artisti come<br />
pittori, intagliatori etc. Per quanto<br />
riguarda i pittori basta pensare<br />
a Licinio di Postcantu (ora<br />
Poscante da cui provengono anche<br />
alcuni Ganassi), a Palma il<br />
Vecchio della Val Serina, a Girolamo<br />
Santacroce etc. Tra questi<br />
emigranti ci sono anche i Ganassi<br />
che sono numerosi, provenienti<br />
soprattutto, come rivelano i documenti,<br />
dalla Val Serina e dalla<br />
Val Brembana. Non è facile oggi<br />
ricostruire le parentele dei molti<br />
Ganassi (de Ganatiis) presenti a<br />
Venezia nel ‘500. Per fare un esempio<br />
e parlando solo di musicisti,<br />
sappiamo che uno Zaccaria<br />
Ganassi da Venezia venne eletto<br />
nel 1509 tra i „Musici Palatini“ di<br />
Bologna con un salario superiore<br />
Egregio Professore,<br />
die Stadt Bergamo kam 1428 unter die<br />
Herrschaft der Serenissima Repubblica di<br />
Venezia, in deren Folge und unterschieden<br />
in mehreren Etappen sich eine Emigration<br />
von Familien aus den Bergamasker Tälern<br />
in die „Hauptstadt' Venedig beobachten<br />
lässt. Generell sind es Handwerkerfamilien,<br />
darunter erscheinen aber auch Künstler<br />
wie Maler, Holzschnitzer bzw. Graveure<br />
usw. Hinsichtlich der Maler genügt es<br />
an Licinio di Postcantu zu denken (aus<br />
Poscante, aus dem auch einige der Ganassi<br />
stammen), oder an Palma il Vecchio<br />
aus dem Val Serina, an Girolamo Santacroce<br />
usw. Unter diesen Emigranten finden<br />
sich zahlreiche Ganassi, die laut den<br />
Dokumenten vor allem aus dem Val Serina<br />
und dem Val Brembana stammen. Es<br />
ist heute schwierig, die genauen Verwandtschaftsverhältnisse<br />
dieser Ganassi<br />
(„de Ganatiis“) zu rekonstruieren, die um<br />
1500 in Venedig lebten. Um ein Beispiel zu<br />
geben und um nur von Musikern zu sprechen:<br />
Wir wissen, dass ein gewisser Zaccaria<br />
Ganassi aus Venedig 1509 in die<br />
„Musici Palatini“ 8 von Bologna gewählt<br />
wurde und ein höheres Gehalt als die übrigen<br />
Musiker erhielt, aber wir wissen<br />
nichts über seine verwandtschaftlichen<br />
Beziehungen zu Silvestro Ganassi. Noch<br />
8<br />
Das berühmte Concerto Palatino della Signoria war das städtische Musikensemble Bolognas.
44 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
a tutti gli altri, ma non sappiamo<br />
se era in relazione di parentela<br />
con Silvestro Ganassi. Ancora Cosimo<br />
Bartoli, letterato fiorentino,<br />
nei suoi Ragionamenti Accademici<br />
ricorda un Bartolomeo<br />
Trombone suonatore in Firenze<br />
del Duca e riferisce: „benché già<br />
vecchio era ancora veramente<br />
raro... e aveva acquistato il cognome<br />
ancora dalla virtù nel<br />
suono del trombone“. Aggiunge<br />
inoltre che vi era „un Girolamo<br />
suo cugino in Venezia che suona<br />
miracolosamente“. Ora noi sappiamo<br />
da altre fonti che questo<br />
Girolamo virtuoso di trombone a<br />
Venezia era fratello di Silvestro<br />
Ganassi. Ne dobbiamo dedurre<br />
che anche il Bartolomeo di Firenze<br />
era un Ganassi? Non lo sappiamo.<br />
Voglio aggiungere ancora<br />
che nel 1553 Antonio Gardano ristampa<br />
una raccolta di musiche<br />
a due voci di diversi autori, soprattutto<br />
francesi come Jean<br />
Mouton, Ghiselin, Gombert etc.,<br />
ma vi compaiono anche due italiani:<br />
il Parabosco e un Andrea<br />
Ganassi. Questo Andrea era parente<br />
di Silvestro? Probabilmente<br />
Cosimo Bartoli, ein Florentiner Literat,<br />
erwähnt in seinen Ragionamenti Accademici<br />
einen Bartolomeo Trombone, Instrumentalmusiker<br />
(„suonatore“) des<br />
Grossherzogs von Florenz, und berichtet:<br />
„benché già vecchio era ancora veramente<br />
raro [...] e aveva acquistato il cognome<br />
ancora dalla virtù nel suono del trombone“<br />
('obgleich schon alt war er wirklich<br />
aussergewöhnlich [...] und hatte seinen<br />
Beinamen wegen seiner besonderen Fähigkeit<br />
als Posaunenspieler erhalten'). 9<br />
Dazu ergänzt er, dass es „un Girolamo<br />
suo cugino in Venezia che suona miracolosamente“<br />
gab ('einen Vetter namens Girolamo<br />
in Venedig, der bewunderungswürdig<br />
spielt'). Aus anderen Quellen wissen<br />
wir, dass dieser virtuose venezianische<br />
Posaunist Girolamo ein Bruder von<br />
Silvestro Ganassi war. Können wir daraus<br />
schliessen, dass auch jener Bartolomeo<br />
in Florenz ein Ganassi war? Wir wissen<br />
es nicht. Dem möchte ich noch hinzufügen,<br />
dass 1553 Antonio Gardano eine<br />
Sammlung mit Musik für zwei Stimmen<br />
von verschiedenen Komponisten druckte,<br />
vor allem frankoflämischen wie Jean<br />
Mouton, Johannes Ghiselin, Nicolas<br />
Gombert usw., aber auch von zwei italienischen:<br />
Parabosco und einem Andrea<br />
Ganassi. 10 War dieser Andrea ein Ver-<br />
9<br />
Ragionamenti Accademici Di Cosimo Bartoli, Gentil'Hvomo Et Accademico, Venedig:<br />
Francesco de Franceschi 1567, fol. 38r.<br />
10<br />
Il primo libro a due voci de diversi autori novamente ristampato et con ogni diligentia<br />
corretto, Venedig: Antonio Gardano 1553 (RISM 1553/26). - Dieser Druck erschien
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 45<br />
sì ma non lo sappiamo con certezza.<br />
Fermiamoci allora su quello<br />
che sappiamo in quanto riportato<br />
dai documenti d'archivio.<br />
Silvestro Ganassi nasce a Venezia<br />
nel 1492 e viene battezzato<br />
nella parrocchia di San Silvestro<br />
dove il padre, proveniente dal<br />
bergamasco, aveva aperto una<br />
bottega di barbiere. L'ubicazione<br />
di questa barberia con annessa<br />
abitazione "penes fonticum farinae"<br />
sarà fondamentale per distinguere<br />
questa famiglia Ganassi<br />
da tutte le altre, i Ganassi dal<br />
Fontego, appunto. Silvestro Ganassi<br />
si chiamerà anche Silvestro<br />
dal Fontego, i famigliari che suonavano<br />
nel suo gruppo „i sonadori<br />
del fontego“ o „quei del fontego“.<br />
Dal fatto di abitare vicino al<br />
fontego della farina a Rialto viene<br />
anche il titolo della prima<br />
opera a stampa del Ganassi la<br />
Fontegara che letteralmente sarebbe<br />
il femminile di „fontegher“<br />
ossia l'operaio che lavora nel fontego<br />
(in italiano fondaco ossia<br />
magazzino). Ancora oggi vicino<br />
alla chiesa di San Silvestro rifat-<br />
wandter von Silvestro? Vielleicht, aber<br />
das wissen wir nicht mit Gewissheit. Bleiben<br />
wir also bei dem, was wir aus Archivdokumenten<br />
wissen.<br />
Silvestro Ganassi wurde 1492 in Venedig<br />
geboren und im Pfarrbezirk von San<br />
Silvestro getauft, wo sein Vater, aus Bergamo<br />
stammend, einen Barbierladen eröffnet<br />
hatte. Der Standort dieses Barbierladens<br />
mit angeschlossenem Wohnhaus<br />
„penes fonticum farinae“ (beim Kornbzw.<br />
Mehlspeicher) wird wichtig sein, um<br />
diese Familie Ganassi, die „Ganassi dal<br />
Fontego“, von allen anderen genau zu<br />
unterscheiden. Silvestro Ganassi nannte<br />
sich selbst Silvestro dal Fontego und<br />
die Familienmitglieder, die sich mit ihm<br />
zu einer Musikgruppe zusammenschlossen,<br />
werden mit „i sonadori del fontego“<br />
('die Musiker des Fontego') oder „quei del<br />
fontego“ ('die des Fontego') bezeichnet.<br />
Aus der Tatsache, in der Nachbarschaft<br />
des Rialto am „fontego della farina“ zu<br />
wohnen, folgt auch der Titel des ersten<br />
gedruckten Werkes von Ganassi, die Fontegara,<br />
was wörtlich die weibliche Form<br />
von „fontegher“ ist, also desjenigen, der<br />
im 'fontego' arbeitet (im Italienischen<br />
'fondaco' oder Lagerhaus). Noch heute<br />
verläuft an der im 19. Jahrhundert neu getatsächlich<br />
zuerst bereits 1543 (RISM 1543/19), vermutlich in zwei Auflagen; vgl. Mary S.<br />
Lewis, Antonio Gardano, Venetian Music Printer 1538-1569, Vol. I: 1538-1549, New York &<br />
London: Garland 1988, 399-405 (Nr. 48 + 48a); laut dem Komponistenindex der entsprechenden<br />
RISM-Serie (RISM B/I – Recueils imprimés XVI-XVII siècles) enthalten weitere<br />
Drucke aus den Jahren 1559 bis 1586 Sätze eines gewissen Alfonso Ganassi (RISM 1559/19<br />
mit Nachdrucken 1564/15 und 1586/10).
46 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
ta nell'ottocento, è possibile<br />
passare per il rio, oggi interrato<br />
del fontego.<br />
Ganassi, come abbiamo visto,<br />
prende il nome Silvestro dal titolo<br />
della parrocchia nella cui chiesa<br />
San Silvestro, appunto, vi era anche<br />
la sede della „Scuola dei Sonadori“<br />
l'organismo a cui bisognava<br />
associarsi per poter esercitare<br />
l'arte del suonatore dopo<br />
aver superato le prove prescritte.<br />
La barberia del padre doveva essere,<br />
come tutte le barberie<br />
dell'epoca, un luogo di incontro<br />
dove si scambiavano opinioni, si<br />
chiacchierava, ma dove si poteva<br />
anche suonare, perché i barbieri,<br />
come del resto i calzolai (calegheri),<br />
potevano esercitare la doppia<br />
professione di barbiere (o calzolaio)<br />
e suonatore. Lo si evince<br />
chiaramente da un documento riguardante<br />
Giovanni Ganassi,<br />
fratello di Silvestro che si definisce<br />
„barbier e sonador“. La botega<br />
era quindi un luogo d'incontro<br />
dove poteva sicuramente capitare<br />
anche il Giorgione che risiedeva<br />
in quella parrocchia e<br />
che oltre alla pittura esercitava<br />
per diletto anche la musica (era<br />
stalteten Kirche San Silvestro der 'Rio<br />
Terà del Fontego', der inzwischen aufgeschüttete<br />
Kanal, der von der Kirche zum<br />
einstigen Speicher am Canal Grande<br />
führt. 11<br />
Wie wir gesehen haben, trägt Ganassi<br />
seinen Namen Silvestro nach dem Titularheiligen<br />
San Silvestro in seinem Pfarrbezirk,<br />
zugleich der Ort, wo auch der Sitz<br />
der „Scuola dei Sonadori“ war. Dieser Korporation<br />
musste man sich anschliessen,<br />
um „l'arte del suonatore“ (den Beruf des<br />
Instrumentalmusikers) auszuüben, nachdem<br />
man eine vorgeschriebene Probe abgelegt<br />
hatte. Der Barbierladen seines Vaters<br />
muss, wie alle Barbierläden der Zeit,<br />
ein Treffpunkt gewesen sein, wo man<br />
Meinungen austauschte, plauderte, aber<br />
auch musizierte, da die Barbiere – wie übrigens<br />
auch die „calegheri“ (Schuster) –<br />
oftmals den doppelten Beruf des Barbiers<br />
(oder eben Schusters) und des Musikers<br />
ausübten. Das lässt sich klar einem Dokument<br />
für Giovanni Ganassi, einem Bruder<br />
von Silvestro, entnehmen, in welchem<br />
er sich als „barbier e sonador“ bezeichnet.<br />
Der Laden war daher ein Ort der Begegnung,<br />
an dem sicher auch der Maler Giorgione<br />
vorbeikommen konnte, der im gleichen<br />
Pfarrbezirk wohnte und der zum<br />
Vergnügen musizierte (er war ein hervorragender<br />
Lautenspieler). Ich halte es für<br />
sehr wahrscheinlich, dass sich die Nachbarn<br />
Giorgione und Silvestro Ganassi<br />
11<br />
Siehe Abb. 3, S. 54
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 47<br />
un eccellente liutista). Ritengo<br />
poco probabile che, vicini di casa,<br />
il Giorgione e Silvestro Ganassi<br />
non si siano frequentati nonostante<br />
che alla morte del Giorgione,<br />
Silvestro non avesse che quindici<br />
anni. È possibile che Giorgione<br />
abbia trasmesso a Silvestro<br />
l'amore per la pittura perché, forse<br />
non tutti sanno, che Silvestro<br />
oltre che musico fu anche pittore<br />
non spregevole. Il Dolce nel Dialogo<br />
della pittura (Venezia 1557)<br />
a proposito di ciò che si suol dire<br />
delle belle pitture „che sembrano<br />
aver moto e favella“ fa dire al<br />
Fabrini, un interlocutore, „in ciò<br />
si può ricercare il parere del<br />
vostro virtuoso Silvestro [il discorso<br />
è rivolto all'Aretino] eccellente<br />
musico e suonatore del<br />
Doge, il quale disegna e dipinge<br />
lodevolmente e ci fa toccare con<br />
mano che le figure da buoni<br />
maestri parlano quasi a paragone<br />
delle vive“. Da qui si ricava<br />
anche che, come il Parabosco, frequentava<br />
la cerchia dell'Aretino.<br />
Va ricordato che le incisioni che<br />
compaiono nella Fontegara e nella<br />
Regola Rubertina sono opera<br />
kannten und trafen, obgleich Silvestro<br />
beim Tode von Giorgione erst 15 Jahre alt<br />
war. Und es ist möglich, dass Giorgione<br />
an Silvestro die Liebe zur Malerei weitergegeben<br />
hatte, weil – was vielleicht<br />
nicht alle wissen – Silvestro nicht nur<br />
Musiker, sondern auch ein nicht zu verachtender<br />
Maler war. In seinem Dialogo<br />
della pittura (Venedig 1557) lässt Lodovico<br />
Dolce übrigens in Bezug auf das, was<br />
man gemeinhin über schöne Gemälde<br />
sagt, nämlich „che sembrano aver moto e<br />
favella“ (dass sie der Bewegung und Rede<br />
fähig scheinen), Fabrini, einen der beiden<br />
Gesprächsteilnehmer, sagen: „in ciò si può<br />
ricercare il parere del vostro virtuoso<br />
Silvestro eccellente musico e suonatore del<br />
Doge, il quale disegna e dipinge lodevolmente<br />
e ci fa toccare con mano che le figure<br />
da buoni maestri parlano quasi a paragone<br />
delle vive.“ ('dazu kann die Ansicht Eures<br />
Virtuosen Silvestro [das Gespräch richtet<br />
sich an Pietro Aretino] angeführt werden,<br />
exzellenter Musiker und Suonatore<br />
des Dogen, der selbst sehr löblich zeichnet<br />
und malt; er versichert uns, dass die von<br />
guten Meistern gemalten Figuren sprechen,<br />
fast genauso wie die Lebenden<br />
selbst'). 12 Dem lässt sich entnehmen, dass<br />
er, wie auch Girolamo Parabosco, im<br />
Kreis um Pietro Aretino verkehrte. 13 Es<br />
12<br />
Lodovico Dolce (1508-1568), Dialogo della pittura intitolata l'Aretino, Venedig: Gabriel<br />
Giolito 1557, 153. Zu ergänzen ist hier, dass Ganassi bereits 1548 in Paolo Pinos Dialogo<br />
della pittvra, Venedig: Comin da Trino di Monferato 1548, 31, als „buon pittore“ gerühmt<br />
wurde.
48 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
sua.<br />
Nella Fontegara sono rappresentati<br />
tutti i „Sonadori del Fontego“<br />
ossia i fratelli Girolamo (eccellente<br />
trombonista), Giovanni,<br />
Venturin, Silvestro al centro e il<br />
figlio Battista (virtuoso di cornetto)<br />
alla sua sinistra. Nella Regola<br />
Rubertina compaiono gli<br />
stessi suonatori ad eccezione del<br />
fratello Girolamo che a quell'epoca<br />
era già morto. Fu in famiglia<br />
che, con ogni probabilità, ricevette<br />
la prima educazione musicale<br />
ma non mancavano certo le<br />
scuole di musica che erano concentrate<br />
a San Marco e a Rialto<br />
dove i Ganassi abitavano.<br />
Nel 1517 il Doge Leonardo Loredan,<br />
a causa della morte di<br />
Melchiorre detto Signoria, nomina<br />
Silvestro Ganassi, abitante al<br />
fontego della farina a Rialto, alla<br />
barberia „alle tre teste“, suonatore<br />
del Doge. Questo incarico prestigioso<br />
lo metteva al centro della<br />
ist zu erinnern, dass die Holzschnitte, die<br />
die Fontegara wie die Regola Rubertina begleiten,<br />
vermutlich seine eigenen Werke<br />
sind.<br />
Meiner Meinung nach sind auf dem Titelbild<br />
der Fontegara alle „Sonadori del<br />
Fontego“ dargestellt: seine Brüder Girolamo,<br />
ein hervorragender Posaunist, Giovanni,<br />
Venturin, Silvestro in der Mitte<br />
und sein Sohn Battista, ein Zinkvirtuose,<br />
zu seiner Linken. Auf dem Titelblatt der<br />
Regola Rubertina erscheinen die selben<br />
Spieler mit Ausnahme des Bruders Girolamo,<br />
der zu dieser Zeit bereits gestorben<br />
war. Mit grosser Wahrscheinlichkeit erhielt<br />
er die erste musikalische Erziehung<br />
in seiner Familie, aber man sollte nicht die<br />
Musikschulen 14 vergessen, die in hoher<br />
Dichte im Bezirk zwischen San Marco und<br />
Rialto angesiedelt waren, wo auch die Ganassi<br />
wohnten.<br />
1517, als Melchiorre, genannt Signori<br />
verstarb, ernannte der Doge Leonardo<br />
Loredan Silvestro Ganassi, wohnhaft<br />
am „Fontego della farina“ am Rialto im<br />
Barbierladen „alle tre teste“ ('zu den drei<br />
Köpfen'), zum „Suonatore del Doge“. Dieses<br />
renommierte Amt setzte ihn ins Zentrum<br />
des venezianischen Musiklebens und<br />
13<br />
Der Komponist Girolamo Parabosco (1527-1557), der u.a. 1546 eine Madrigalsammlung<br />
an Ruberto Strozzi (ca. 1512-1566), dem Widmungsträger und Namensgeber von Ganassis<br />
Regula Rubertina, dezidierte. – Der Literat Pietro Aretino (1492-1556) zählt zu den besonders<br />
illustren Intellektuellen und lebte seit 1527 in Venedig.<br />
14<br />
Diese Scuole di musica sind nicht zu verwechseln mit den Scuole, den geistlichen Laienbruderschaften<br />
in Venedig, die für ihre Aktivitäten (wie Gottesdienste und Prozessionen)<br />
häufig Musiker beschäftigten, darunter auch die unten genannten quei del fontego.
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 49<br />
vita musicale veneziana e nel<br />
contempo offriva parecchi privilegi<br />
tra cui il diritto alla cittadinanza<br />
„de intus et de extra“, condizione<br />
sociale che permetterà al<br />
figlio Antonio di sposare una nobildonna<br />
padovana.<br />
Protagonista della vita musicale<br />
veneziana, negli anni venti<br />
del ‘500, viene celebrato da Teofilo<br />
Folengo nel poema Orlandino<br />
lì dove descrive il ballo dato da<br />
Re Carlo e cita quelli che allora<br />
erano considerati i maggiori virtuosi<br />
di Venezia ovvero Zan Maria<br />
dal cornetto, anche lui suonatore<br />
del Doge, Silvestro Ganassi<br />
con il fratello Girolamo e Alvise<br />
Bassano: „Quivi ben convenia<br />
quel sí nomato / cornetto padoano,<br />
Zan Maria: [...] Silvestro vagli<br />
appresso e 'n suo germano / e<br />
quel trombon venuto di Bassano.“<br />
bot ihm zugleich einige Privilegien, darunter<br />
das Bürgerrecht „de intus et de extra“<br />
('nach innen und aussen'); diese Erhöhung<br />
seines sozialen Standes wird seinem<br />
Sohn Antonio erlauben, eine Paduaner<br />
Adlige zu heiraten.<br />
Als Protagonist des venezianischen<br />
Musiklebens in den 1520er Jahren wird er<br />
gefeiert von Teofilo Folengo im Gedicht<br />
Orlandino, wo dieser einen Ball zu Ehren<br />
von König Karl beschreibt und dabei diejenigen<br />
nennt, die als die grössten Virtuosen<br />
von Venedig gelten, neben Zan Maria<br />
dal cornetto, auch er „Suonatore del<br />
Doge“, Silvestro Ganassi und sein Bruder<br />
Girolamo und Alvise Bassano: „Quivi<br />
ben convenia quel sí nomato / cornetto<br />
padoano, Zan Maria: [...] Silvestro vagli<br />
appresso e 'n suo germano / e quel trombon<br />
venuto di Bassano“ ('sehr angemessen an<br />
diesem Ort war die Anwesenheit jenes<br />
Zink-Spielers Zan Maria aus Padua [...]<br />
ihn begleiteten Silvestro und sein Bruder,<br />
und der Posaunist kam aus Bassano').<br />
15<br />
15<br />
Teofilo Folengo (1491-1544), Orlandino, Venedig: Gregorio de Gregori 1526, 4. Kap., Strophe<br />
27 (mit den Marginalien „Zan Maria dal Cornetto“ respektive „Silvestre, Girolamo e<br />
Aloviggi“).
50 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Nonostante fosse al servizio<br />
del Doge gestiva anche un suo<br />
gruppo musicale e si riscontrano<br />
pagamenti effettuati da vari enti<br />
a „quei del fontego“ per il servizio<br />
prestato.<br />
Nel 1535 il Senato concede a<br />
Silvestro Ganassi il privilegio di<br />
„conseguire il meritevole fructo<br />
de le fatiche sue“ ed è il privilegio<br />
di poter stampare in proprio<br />
l'opera denominata La Fontegara.<br />
Qui Ganassi ci offre una rassegna<br />
della produzione di strumenti<br />
reperibili a Venezia fornendo<br />
i marchi di tre costruttori<br />
operanti a Venezia, il trifoglio di<br />
Von Schratt, il monogramma A<br />
di Schnitzer (trovo comunque nei<br />
necrologi segnalata la morte di<br />
un Antonio che faceva flauti) e la<br />
lettera B che è il marchio di Hieronimo<br />
Bassano. Erroneamente si<br />
crede che il marchio HIER.S sia di<br />
Obgleich er in Diensten des Dogen<br />
war, leitete er auch sein eigenes Musikensemble,<br />
wie dies durch verschiedene<br />
Gruppen vorgenommene Bezahlungen für<br />
geleistete Dienste an „quei del fontego“<br />
('die vom Fontego') belegen.<br />
1535 gewährt der Senat an Silvestro<br />
Ganassi das Privileg „[di] conseguire il<br />
meritevole fructo de le fatiche sue“ (die verdienten<br />
Früchte seiner Mühen zu erlangen),<br />
also das Privileg, sein eigenes Werk<br />
mit dem Titel La Fontegara zu drucken. 16<br />
Darin bietet Ganassi eine Übersicht über<br />
die in Venedig erhältlichen Instrumente<br />
[Blockflöten], indem er die Stempel von<br />
drei in Venedig tätigen Herstellern zeigt:<br />
das 'Kleeblatt' von Schratt, das Monogramm<br />
'A' von Schnitzer (jedenfalls wird<br />
in den 'Necrologi' – dem Sterberegister –<br />
der Tod eines Antonio vermerkt, der Flöten<br />
baute) und den Buchstaben 'B' von<br />
Hieronimo Bassano. 17 Irrtümlicherweise<br />
glaubt man, dass der Stempel 'HIER.S' derjenige<br />
von Hieronimo Bassano sei, aber<br />
16<br />
So findet sich in der Fontegara am Schluss des Widmungsschreibens der übliche Privileg-Vermerk<br />
(mit Nachdruckverbot unter Strafandrohung während 20 Jahren).<br />
17<br />
Das Zeichen eines nach rechts gestielten Kleeblatts kann den in Schrattenbach, einem<br />
kleinen Ort in der Nähe Kemptens, nachweisbaren Holzblasinstrumentenmachern mit Namen<br />
Rauch zugeordnet werden, das Zeichen eines charakteristischen 'A' dem Hans (I)<br />
Schnitzer aus Nürnberg; das auf mehreren Krummhörnern des 16. Jahrhunderts belegte<br />
Zeichen 'B' hingegen konnte bislang keiner Werkstatt zugeordnet werden. Für entsprechende<br />
Instrumente siehe etwa Martin Kirnbauer, Verzeichnis der Europäischen Musikinstrumente<br />
im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Band 2: Flöten- und Rohrblattinstrumente<br />
bis 1750, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1994 (Quellenkataloge zur Musikgeschichte<br />
24)
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 51<br />
Hieronimo Bassano, ma potrebbe<br />
anche trattarsi del il marchio di<br />
Hieronimo Salombron operante a<br />
Venezia verso la fine del ‘500.<br />
Per quanto riguarda ancora i<br />
costruttori di strumenti a fiato<br />
bisogna ricordare che era proibito<br />
dalla Serenissima l'importazione<br />
di oggetti torniti (questo a difesa<br />
della corporazione dei tornitori),<br />
per cui i costruttori di flauti (che<br />
sono oggetti torniti) di altre nazionalità,<br />
se volevano entrare nel<br />
mercato veneziano dovevano<br />
aprire bottega a Venezia. Una di<br />
queste botteghe era situata nella<br />
parrocchia di San Luca ai piedi<br />
del ponte dei Fuseri.<br />
Oltre che frequentare le botteghe<br />
di costruttori di strumenti<br />
a fiato Ganassi frequentava anche<br />
le liuterie ed è nella bottega<br />
del liutaio Zuan Maria de Micolinis<br />
a San Basso che viene stipulato<br />
il contratto di matrimonio tra<br />
suo figlio Antonio, dottor di legge,<br />
e la nobildonna Camilla<br />
Calza padovana.<br />
Un anno prima della pubblicazione<br />
della Fontegara moriva a<br />
Venezia il fratello Girolamo virtuoso<br />
di trombone. Nel 1540 Antonio<br />
Ganassi, il barbiere padre<br />
es könnte sich um den Stempel von Hieronimo<br />
Salombron handeln, der Ende<br />
des 16. Jahrhunderts in Venedig tätig war.<br />
Hinsichtlich der Blasinstrumentenmacher<br />
ist zu erinnern, dass der Import von<br />
gedrechselten Gegenständen von der Serenissima<br />
verboten war (dies, um das Gewerbe<br />
der Drechsler zu schützen), und da<br />
Flöten ja gedrechselte Gegenstände sind,<br />
mussten ausländische Hersteller von Flöten,<br />
die sich auf dem venezianischen<br />
Markt etablieren wollten, einen Laden in<br />
Venedig eröffnen. Einer dieser Läden lag<br />
im Pfarrbezirk von San Luca am Fusse der<br />
„ponte dei Fuseri“.<br />
Neben dem Besuch der Werkstätten<br />
von Blasinstrumentenmachern besuchte<br />
Ganassi auch die von Saiteninstrumentenmachern;<br />
in der Werkstatt des Lautenmachers<br />
Zuan Maria de Nicolinis in San<br />
Basso wird der Ehevertrag zwischen seinem<br />
Sohn Antonio, Doktor beider Rechte,<br />
und der Paduaner Adligen Camilla<br />
Calza abgeschlossen.<br />
Ein Jahr vor der Publikation der Fontegara<br />
starb in Venedig sein Bruder Girolamo,<br />
ein Virtuose auf der Posaune. 1540<br />
verfasste Antonio Ganassi, der Barbier<br />
und Vater von Silvestro, sein Testament.
52 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
di Silvestro, stilerà il suo testamento.<br />
In esso si definisce „Antonius<br />
quondam Antonij de Bergamo,<br />
barbitonsor et abitor Venetijs<br />
in confinio Sancti Silvestri“. Desidera<br />
essere sepolto „in le arche de<br />
Santo Silvestro“ e lascia i suoi<br />
beni, anche quelli posseduti nel<br />
bergamasco, „alli amatissimi fioli<br />
Giovanni, Silvestro e Venturin“,<br />
nomina inoltre Silvestro suo commissario<br />
esecutivo. Anche Giovanni<br />
Ganassi nel 1544 nominerà<br />
nel suo testamento il fratello<br />
amatissimo Silvestro commissario<br />
esecutivo ed erede universale<br />
dei suoi beni. Riguardo all'altro<br />
fratello Venturino non ho trovato<br />
notizie.<br />
Dei due figli di Silvestro Ganassi<br />
sappiamo che il maggiore si<br />
era laureato all'Università di Padova<br />
"Utroque Jure" e aveva sposato<br />
la nobildonna padovana Camilla<br />
Calza; morirà nel 1554 lasciando<br />
due figli, Silvestro e Marco.<br />
Il figlio minore Battista<br />
(Zuanbattista) seguirà la carriera<br />
del padre divenendo a sua volta<br />
suonatore del Doge. È’ ricordato<br />
da Antonfrancesco Doni nel suo<br />
Dialogo della musica „Mess.<br />
Battista dal fondaco con il suo<br />
cornetto ancora, che lo suona mi-<br />
Darin bezeichnet er sich als „Antonius<br />
quondam Antonij de Bergamo, barbitonsor<br />
et abitor Venetijs in confinio Sancti Silvestri.“<br />
('Antonius oder Antonius aus Bergamo,<br />
Barbier und wohnhaft in Venedig<br />
im Bezirk von San Silvestro'). Er wünscht<br />
„in le arche de Santo Silvestro“ ('in den Bögen<br />
von San Silvestro') bestattet zu werden.<br />
Seine Güter und auch seine Besitztümer<br />
in Bergamo hinterlässt er „alli amatissimi<br />
fioli Giovanni, Silvestro e Venturin“<br />
('den geliebten Söhnen Giovanni, Silvestro<br />
und Venturin'), zudem bestimmt<br />
er Silvestro als Testamentsvollstrecker.<br />
Auch Giovanni Ganassi benennt 1544 in<br />
seinem Testament seinen geliebten Bruder<br />
Silvestro als Testamentsvollstrecker und<br />
Universalerben seiner Güter. Hinsichtlich<br />
des anderen Bruders Venturino habe ich<br />
keine Nachrichten gefunden.<br />
Über die beiden Söhne Silvestro Ganassis<br />
wissen wir, dass der ältere, Antonio,<br />
an der Universität in Padua „Utroque<br />
Jure“ ['in beiden Rechten', also dem zivilen<br />
und kanonischen] abschloss und die Paduaer<br />
Adlige Camilla Calza heiratete. Er<br />
starb 1554 und hinterliess zwei Söhne, Silvestro<br />
und Marco. Der jüngere Sohn<br />
Battista (Zuanbattista) folgte der<br />
Laufbahn seines Vaters und wurde selber<br />
„suonatore del Doge“. Er wird von Antonfrancesco<br />
Doni im Dialogo della<br />
musica erwähnt: „Mess. Battista dal<br />
fondaco con il suo cornetto ancora, che lo<br />
suona miracolosamente.“ 18 ('Herr Battista
Armando Fiabanes lettera su Ganassi 53<br />
racolosamente“. Per questa sua<br />
virtù nel suonare il cornetto verrà<br />
richiesto nel 1548 dalla regina di<br />
Polonia e il Doge concederà<br />
„bona licentia al fidel Battista<br />
dal cornetto figliolo de Silvestro<br />
di potersi condur in Polonia al<br />
servitio di Sua Maestà“<br />
La data di morte di Silvestro<br />
Ganassi non ci è nota ma sappiamo<br />
che era sicuramente in vita<br />
nel 1555. I „Necrologi“ successivi<br />
a quell'anno non registrano la<br />
sua morte. Segnalo tuttavia che<br />
all'epoca delle mie ricerche risultava<br />
irreperibile il registro „Necrologi“<br />
del 1557, credo quindi<br />
possibile che quello sia l'anno<br />
della morte. Con questo credo di<br />
aver concluso soddisfacendo le<br />
vostre richieste.<br />
Distintamente<br />
ARMANDO FIABANE<br />
28 febbraio <strong>2012</strong><br />
dal Fondaco mit seinem Zink, der bewunderungswürdig<br />
spielt'). Wegen seiner<br />
Künste als Zinkspieler wurde er 1548 von<br />
der Königin von Polen angefragt und der<br />
Doge erteilt „bona licentia al fidel Battista<br />
dal cornetto figliolo de Silvestro di potersi<br />
condur in Polonia al servitio di Sua<br />
Maestà“ ('die Genehmigung, dem getreuen<br />
Battista da cornetto, Sohn des Silvestro,<br />
nach Polen in die Dienste seiner Hoheit<br />
zu gehen').<br />
Das Todesdatum von Silvestro Ganassi<br />
ist nicht bekannt, aber wir wissen,<br />
dass er 1555 noch am Leben war. Die 'Necrologi'<br />
in den darauffolgenden Jahren<br />
verzeichnen nicht seinen Tod. Allerdings<br />
zeige ich an, dass zur Zeit meiner Forschungen<br />
das Register der 'Necrologi' von<br />
1557 unauffindbar war, weswegen ich<br />
glaube, dass dies wahrscheinlich das Jahr<br />
seines Todes war. Damit hoffe ich das<br />
Thema „Silvestro Ganassi“ und Ihre Anfrage<br />
erschöpfend behandelt zu haben.<br />
Distintamente<br />
ARMANDO FIABANE<br />
28. Februar <strong>2012</strong><br />
18<br />
Antonfrancesco Doni (1513-1574), Dialogo della musica, Venedig: Giolamo Scotto 1544,<br />
fol. 42v (nach Canto XXIIII).
54 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Abb. 2: Regola Rubertina - Titelblat<br />
Abb. 3: Rio Terà del Fontego
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung 55<br />
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung<br />
von Georg Senn<br />
Viele Objekte, die zu einer ganz spezifischen Verwendung hergestellt wurden,<br />
können im Laufe der Zeit erstaunliche Veränderungen erfahren. Zu diesem<br />
Thema habe ich mir Gedanken gemacht im Zusammenhang mit dem Ankauf<br />
eines Möbelstücks, von dem im Weiteren die Rede sein soll. Gegenstände verlieren<br />
oft ihren Sinn und Zweck aufgrund von Alterserscheinungen, Unbrauchbarkeit<br />
durch irreparable Schäden oder auch schlicht, weil sie aus der<br />
Mode gekommen sind. Werden sie nicht sogleich entsorgt, dem Müll oder der<br />
Wiederverwertung in anderer Form übergeben (Rezyklat), können dieselben<br />
auch zur Seite gestellt werden in der Hoffnung auf „bessere“ Zeiten, wovon<br />
unzählige überfüllte Keller oder Dachböden zeugen. Im besten Fall werden<br />
sie eines Tages von Liebhabern entdeckt, vor dem Verrotten bewahrt und<br />
konserviert. So vermögen sie dann unter Umständen Geschichte in gegenständlicher<br />
Weise darzustellen oder Lebensumstände und –gefühle früherer<br />
Zeiten wach zu rufen. Selbst als Forschungsobjekte können sie in vielfältiger<br />
Weise den verschiedensten Wissenschaftszweigen dienen.<br />
Es ist freilich nur einem kleinen Teil menschlicher Produktion beschieden,<br />
in solche Umstände zu geraten. Das Meiste ist, oft zu Recht, dem Untergang<br />
geweiht. Es besteht aber auch die Möglichkeit des Umbaus oder der Umnutzung<br />
veralteter Objekte. Der menschlichen Phantasie und Geschicklichkeit<br />
bieten sich dabei fast grenzenlose Möglichkeiten dar. Als eine der ersten Erinnerungen<br />
dieser Art kommt mir die<br />
Umnutzung eines ausrangierten Eisenbahnwaggons<br />
in einen gemütlichen<br />
Wohnraum in den Sinn, so beschrieben<br />
in Erich Kästners Kinderbuch „Das<br />
fliegende Klassenzimmer“. Der „Nichtraucher“<br />
genannte, Pfeife rauchende<br />
und höchst originelle Bewohner weckte<br />
damals in mir ein neugieriges Verständnis<br />
und nicht geringen Neid für<br />
diese individuelle Wohnform. Auch
56 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Seilbahnkabinen kann man da und<br />
dort entdecken, umgebaut zu kleinen<br />
Gartenhäusern, meist weit entfernt<br />
von ihrem eigentlichen Einsatzort.<br />
Haushalts- oder Landwirtschaftliche<br />
Geräte werden nicht selten zu dekorativen<br />
Blumenkisten umfunktioniert<br />
(vorige Seite unten).<br />
Dasselbe passiert sogar Pissoirschalen<br />
(linke Seite, oben)<br />
und ähnlichen Sanitäreinrich-
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung 57<br />
tungen. Selbst Kirchen (s. linke Seite unten), Militärbunker und noch vieles<br />
mehr wird heutzutage umgenutzt und zu zweckentfremdeter Verwendung<br />
missbraucht.<br />
Doch ich komme auf Abwege, befinden wir uns doch hier in einem Bulletin,<br />
in dem alte Musikinstrumente die erste Geige spielen. Aber auch diese<br />
sind eben, wie wir alle nur zu gut wissen, einem Alterungsprozess ausgesetzt,<br />
der oft die Frage nach der weiteren Verwendbarkeit aufwirft.<br />
Bestehende Sammlungen tun natürlich in aller Regel das Beste für ihre<br />
Objekte, konservieren, dokumentieren oder restaurieren gar.<br />
Davon sei hier nicht die Rede. Mich beschäftigt der Blick um Jahrhunderte<br />
zurück; zurück in die Zeit, in der ein zum Teil rasanter Wandel im musikalisch-stilistischen<br />
Bereich einerseits und damit zusammenhängend eine Entwicklung<br />
im Instrumentenbau stattgefunden hat, welche gewisse Instrumententypen<br />
nach relativ kurzer Zeit im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen<br />
liessen.<br />
Was war also zu tun? Neben den stetigen „Verbesserungen“ im Neubau<br />
wurden auch Umbauten im 18. und 19. Jahrhundert wohl in den meisten Instrumentenfamilien<br />
mit mehr oder weniger Erfolg durchgeführt. Wir kennen<br />
die modernisierten Barock-Streichinstrumente, wo man mittels Veränderungen<br />
an der alten Substanz neuen Klangvorstellungen nachzukommen versuchte.<br />
War Geld vorhanden, boten sich höchst beliebte Um-Baustellen an<br />
wie Orgeln, die à jour zu halten oder bei ohnehin anfallenden Reparaturen<br />
gleich auf einen zeitgemässen Stand zu bringen waren. Alte, aus ihrer Entstehungszeit<br />
original erhaltene Orgeln finden sich deshalb heute vor allem in<br />
ehemals armen Landstrichen. Sie sind heute relativ rar.<br />
Prächtige Beispiele der Umbaukunst zeigen die in Frankreich ravallierten,<br />
d.h. im Umfang erweiterten flämischen Cembali, welche gleichzeitig auch die<br />
dem Geschmack entsprechende Dekoration verpasst bekamen. Aber auch<br />
erste Hammerklaviere kann man sich durchaus zunächst als Cembali oder<br />
Clavichorde mit mehr oder weniger passender Hammermechanik vorstellen.<br />
Auch davon zeugen etliche Umbauten. Als Beispiel sei das Peter F. Brosy zugeschriebene<br />
Querspinett im Basler Musikmuseum genannt, das nachträglich<br />
mit einer einfachen Stossmechanik versehen wurde (Iv. Nr. 1878.75.).<br />
Selbst Hammerklaviere aus dem fortschreitenden 19. Jahrhundert konnten<br />
bis zu einem gewissen Grad den neuen Anforderungen angepasst werden. So
58 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
zu beobachten an einem Flügel der Pariser Firma Erard mit Baujahr 1832. In<br />
der „Wartezeit“ bis zum endgültigen Verkauf an eine Basler Familie im Jahr<br />
1848 wurde die Klaviatur, Mechanik und Besaitung im Diskant um zwei Töne<br />
erweitert und auch gewisse Veränderungen in der statischen Anlage vorgenommen.<br />
Zudem wurde die gesamte Mechanik auf den neuesten Stand gebracht.<br />
Diese interessante Geschichte liess sich an diversen Dokumenten<br />
akribisch verfolgen. Sie ist im Jahresbericht 2007 des Basler Historischen Museums<br />
publiziert, in dessen Sammlung der Flügel steht (Inv.Nr. 1970.3265.).<br />
Solche Fälle sind aber eher selten. Zumeist stand man wohl im 19. Jahrhundert<br />
veralteten, durch hohen Saitenzug und technische Eskapaden von<br />
Klaviervirtuosen oft ernsthaft beschädigten Klavieren eher hilflos gegenüber.<br />
Das führte zumeist zu deren Entsorgung, was ja auch dem Verkauf der neuesten<br />
Produkte zu Gute kommen sollte. Die endgültige Trennung von einem<br />
liebgewordenen, hübsch verfertigten Klaviermöbel mit nicht geringem Erinnerungswert<br />
(äusserst praktisch zudem als grosszügige Ablagefläche!) mag<br />
jedoch für manche Dame ein Sakrileg gewesen sein. Der Schritt zur Zweckentfremdung<br />
war in diesem Fall ein kleiner und vermochte vielleicht die betreffende<br />
Person über den Verlust des Musikinstrumentes hinweg zu trösten -<br />
sofern sie des Trostes nicht durch den Erwerb eines noch schöneren Klaviers<br />
schon teilhaftig geworden war...<br />
Um es kurz zu machen: ich spreche von dem zu Beginn erwähnten Möbelstück,<br />
das mich zu all den vorangehenden Überlegungen angeregt hat. Es<br />
handelt sich dabei tatsächlich um ein äusserlich fast original erhaltenes Tafelklavier<br />
aus dem frühen 19. Jahrhundert (s. Bild rechte Seite), ausgestattet mit<br />
allen architektonischen Feinheiten eines Englischen Square-Pianos: Ein wohlproportioniertes<br />
Tischmöbel aus poliertem Mahagoniholz liegt lose auf dem<br />
damals üblichen, eleganten vierbeinigen Gestell mit zusätzlichem Ablagebrett<br />
zwischen den Beinen.<br />
Der Deckel, über der vermeintlichen Klaviatur liegend, an weiter nach<br />
hinten versetzten Scharnieren gebandet, gibt geöffnet den Blick frei auf eine<br />
grosszügige Schreibfläche über die ganze Breite der ehemaligen Klaviatur<br />
(grosse Leere, ohne Tasten, Mechanik, Signatur-Vorsatzbrett etc.!)<br />
Das Breitenmass der Öffnung spricht von einem gewesenen Klaviaturumfang<br />
von 5½ Oktaven (FF – c 4 ). Die Schreibfläche besteht aus einem auf der<br />
originalen Bodenplatte liegenden Brett, das, leicht herausziehbar, eine respek-
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung 59<br />
table Arbeitsfläche von 93.5 x 46.5 cm bietet (s. oben). Eine angenehme und<br />
elegante Schreibunterlage bereitet dort die mit seitlicher Goldprägung verzierte<br />
Ledereinlage (rechts).<br />
An der hinteren Wand sind zweistöckig angelegt sehr zweckmässige offene<br />
Fächer und 6 Schubladen in verschiedenen Breiten angeordnet. Die ehe-
60 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
malige Klanganlage<br />
rechts mit Resonanzboden,<br />
Stimmstock<br />
und inneren Verstrebungen<br />
ist komplett<br />
ausgeräumt. Ausgekleidet<br />
mit einem geschmackvollen<br />
Dekorationsstoff<br />
findet sich<br />
nun eine mit separatem<br />
Deckel verschlossene<br />
Schatulle (Bild<br />
unten).<br />
Die sorgfältige<br />
Machart der Schubladen und die Analyse der verwendeten Holzschrauben<br />
bzw. deren handgeschnittener Gewinde (links) zeugen vom hohen Stand des<br />
Englischen Möbelbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Abbau, Umbau, Umnutzung oder Zweckentfremdung <strong>61</strong><br />
Die im ehemaligen Stimmutensilienfach<br />
links eingestanzte<br />
Produktionsnummer<br />
„1320“ könnte (bei einiger<br />
Phantasie des Besitzers) hinweisen<br />
auf die Edinburger Firma<br />
Muir, Wood & Cie, von der<br />
ein Instrument mit der Nummer<br />
1312 bekannt ist, hergestellt<br />
um 1813. Erstaunlicherweise<br />
entsprechen sich die<br />
Korpusmasse der beiden fast auf den Millimeter genau. Das will aber nichts<br />
heissen, angesichts der massenhaften Produktion sehr ähnlicher Instrumente<br />
in ganz England. Ein kleines Anhängsel für eine Hypothese macht jedoch<br />
den Kenner irgendwie froh.<br />
Diese mit äusserster Sorgfalt durchgeführte Zweckentfremdung eines<br />
Musikmöbels zu einem attraktiven Schreibsekretär darf meiner Meinung<br />
nach durchaus geduldet werden. Sie zeigt den respektvollen Umgang mit einem<br />
gepflegten Objekt, dessen ursprüngliche Bestimmung, aus welchen<br />
Gründen auch immer, zwar nicht mehr möglich oder erwünscht war, das so<br />
jedoch einem neuen, kreativen Gebrauch zugeführt werden konnte. Es gibt<br />
Schlimmeres auf diesem Gebiet (s. folgende Seite) ...
62 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“? 63<br />
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“?<br />
Peter Prelleur: The Art of Playing on the Violin (in: The Modern Musick-Master,<br />
London 1731, Facs. Kassel usw. 1965)<br />
von Jörg Fiedler<br />
Das dumpfe Gefühl lässt sich auch durch langes, sorgfältigstes Studium nicht<br />
vollständig beseitigen: verstehen wir unsere historischen Gewährsleute tatsächlich<br />
immer so, wie sie ihre Texte gemeint haben? Immerhin: sie schrieben<br />
für ihresgleichen, nicht für uns! Und wie oft erschliesst sich eine ungewohnte<br />
Wendung erst im Zusammenhang – erschliesst sie sich aber immer richtig?<br />
Zudem: die Autoren beschreiben – und wir machen uns unser Bild dazu: mit<br />
unseren Mitteln, mit unseren Köpfen, mit unseren Konnotationen.<br />
Ich erinnere mich, wie ich als kleiner Junge das Wort „Zielscheibe“ das erste<br />
Mal hörte. Auf meine Frage, was das für ein Ding sei, setzte meine Mutter<br />
ihre ganze Beredsamkeit in Betrieb, um mir dieses seltsame Gerät zu beschreiben:<br />
bunte Kreise seien das, auf einer Holzplatte, zunächst grosse, dann werden<br />
sie immer kleiner und schliesslich sind sie ganz klein – und eben diese<br />
gilt es zu treffen. Derart informiert, malte ich also als Ziel für meinen Indianerbogen<br />
meine erste – und bislang einzige – Zielscheibe:<br />
Meine Ausbildung zum Scharfschützen verlief in der Folge offenbar im<br />
Sande. Geblieben ist mir jedoch eine gewisse Skepsis gegenüber der Unschärfe,<br />
die Texten als alleinigem Transportmittel komplexer Sachverhalte unausweichlich<br />
eigen ist, und eine grosse Affinität zu „handfesten“ historischen<br />
Zeugnissen, die weniger Interpretationsspielraum lassen als Texte.
64 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Im Zusammenhang mit dem Thema Intonation ist<br />
die Situation in dieser Hinsicht eher prekärer als auf<br />
anderen musik-historischen Gebieten: Da gibt es zwar<br />
neben den oft nahezu unverdaulichen Texten zwar mit<br />
viel mathematischem Fleiss zusammengestellte Systeme<br />
zur Beschreibung dessen, was man jeweils als<br />
„gute Intonation“ empfand. Aber bereits die nackte<br />
Vielzahl und buntscheckige Vielgestaltigkeit dieser so<br />
hochpräzise daherkommenden Tabellen und Systeme<br />
lässt den Verdacht aufkommen, zumindest einem Teil<br />
der Autoren gehe es hier eher um die Darstellung der<br />
eigenen Gelehrsamkeit und die Etablierung eines neuen/eigenen<br />
Systems, als dass sie gesichertes Wissen<br />
weitergeben oder real existierende Verhältnisse beschreiben.<br />
Was also verstand man im Detail darunter, wenn<br />
man urteilt, jemand spiele „sauber“, „reynlich“, „in<br />
tune“, „avec grande justesse“?<br />
Einen besonderen Glücksfall in diesem Umfeld<br />
stellt Peter Prelleurs kleine Geigenschule „The Art of<br />
Playing on the Violin“ dar. Die zeittypisch äusserst<br />
kurzgefasste Schule (eine von vielen „plain and easy<br />
introductions“) bietet in geigerischer Hinsicht wenig<br />
Spektakuläres. Von besonderem Interesse ist allerdings<br />
die beigeheftete Grafik, die einen in natürlicher Grösse<br />
dargestellten Geigenhals zeigt (Abb. links). Darauf sind<br />
mit Linien, die ähnlich wie Bünde das Griffbrett überqueren,<br />
die genauen Punkte aufgetragen, an denen die<br />
Saite abzugreifen ist, um die entsprechenden Töne zu<br />
erzielen. Diese Grafik soll dem Schüler, der auf normalem<br />
Wege nicht in der Lage ist, sauber zu spielen, als<br />
letzte Rettung dienen:<br />
„If you cannot readily attain to stop in Tune you<br />
may then have recourse to the ensuing Example
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“? 65<br />
wherein the strings of the violin are represented and divided into several<br />
frets“ (Wenn es dir nicht vollständig gelingt, sauber zu spielen, kannst<br />
du deine Zuflucht zu dem folgenden Beispiel nehmen, auf dem die Saiten<br />
der Violine dargestellt sind und durch eine Anzahl von Bünden abgeteilt<br />
werden).<br />
Prelleur fordert den Learner auf, zunächst den Steg so zu verschieben,<br />
dass die Saitenmensur seines Instrumentes der mitgeteilten Grafik entspricht<br />
(sic!). Dann soll er die angegebenen Griffpositionen vermittels eines Stechzirkels<br />
auf das Griffbrett übertragen und dort mit Tinte oder kleinen Papierstückchen<br />
markieren, um so with a little practice zu lernen, to stop in Tune to a<br />
very great Nicety.<br />
Ein „eingefangenes Stück musikalischer Wirklichkeit“ also – eine Art Eisbohrkern,<br />
in dem Intonations-Daten der 1730er Jahre unangetastet konserviert<br />
sind? Abgesehen von einem farbigen Beispiel für den unbefangenen<br />
Umgang mit dem Instrument haben wir hier für den Indizienprozess um die<br />
Intonation im 18. Jahrhundert zumindest den unschätzbaren Fall eines Zeugen<br />
vor uns, der jeder Korruption unverdächtig ist UND gleichzeitig Klartext<br />
spricht. Peter Prelleur will in keiner Weise in die Kontroverse der Theoretikerzunft<br />
á la Marpurg, Mattheson, Kirnberger oder Euler eingreifen, ja,<br />
vielleicht kennt er ihre Überlegungen nicht einmal. Er instruiert vielmehr als<br />
schlichter Praktiker seine Schüler in den „Anfangsgründen der Musik“ - und<br />
zeigt nolens volens auf, welches Spannungsverhältnis zwischen theoretischem<br />
Postulat und gelebter Praxis anno 1731 bestand. Das allein schon rechtfertigt<br />
den Aufwand, das „historische Lehrmittel“ einer detaillierteren Untersuchung<br />
zu unterziehen.<br />
Eine praktische Realisation der Grafik ist des spektakulären Moments wegen<br />
natürlich nicht unterlassen worden, sie ist jedoch aufgrund der vielfältigen<br />
Fehlerquellen nur bedingt aussagefähig (dass bei diesem Test übrigens ein<br />
sanfterer Weg als der von Prelleur vorgeschlagene beschritten wurde, versteht<br />
sich von selbst).<br />
Um es kurz zusammenzufassen: anstatt den Steg der Geige zu verschieben,<br />
wurde die Grafik fotomechanisch den Dimensionen des betreffenden Test-<br />
Instrumentes angepasst. Es wurden die für das betreffende Violinstück benö-
66 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
tigten Bünde ausgewählt und an den betreffenden Stellen Drahtstücke mit einer<br />
dünnen Klebefolie auf dem Geigenhals befestigt.<br />
Die wesentliche Aussage dieser praktischen Realisisierung ist vor allem: es<br />
funktioniert – ohne Intonationsprobleme, aber mit dem schneidenden Timbre<br />
einer mit Bünden gespielten Violine. Die mathematische Auswertung jedoch<br />
ergab eine Reihe aufschlussreicher Hinweise.<br />
Die folgende Tabelle stellt die aus der Grafik gewonnenen Daten zusammen:<br />
Ton<br />
Klingende<br />
Länge (mm)<br />
Effektiver<br />
Centwert<br />
G 318,50 0,00<br />
#G 306,00 69,95<br />
bA 298,25 114,76<br />
A 283,50 203,32<br />
#A 273,25 267,60<br />
b 265,50 317,81<br />
H 255,50 384,79<br />
bC 248,00 436,76<br />
C 239,75 495,75<br />
#C 228,50 579,53<br />
bD 223,50 <strong>61</strong>8,09<br />
D 212,50 706,03<br />
#D 205,50 764,38<br />
bE 200,00 811,63<br />
E 192,00 882,71<br />
bF 186,50 933,31<br />
#E 182,25 973,43<br />
F 177,00 1024,31<br />
#F 170,00 1094,52<br />
bG 166,25 1133,33<br />
G' 160,00 1200,00<br />
Grösse der<br />
Dësis (ct)<br />
} 44,81<br />
} 50,21<br />
} 51,97<br />
} 38,56<br />
} 47,38<br />
} 50,60<br />
} 50,88<br />
} 38,81<br />
Wie beim Monochord ist es ohne Schwierigkeiten möglich, die angegebenen<br />
Griffpunkte auf der Saite (Spalte „klingende Länge“) in konkrete Tonhö-
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“? 67<br />
hen umzurechnen. Dabei ergibt sich zunächst irritierenderweise eine merklich<br />
„fehlerhafte“ Lage des Oktavpunktes der abgebildeten Saiten: die klingende<br />
Saitenlänge des dargestellten Oktavtones ist knapp 1 Millimeter länger als<br />
die Hälfte der gesamten Saitenlänge, so dass die sich rechnerisch ergebende<br />
Oktave nur 1191,86 ct betragen würde (anstatt 1200). Da, wie sich später zeigen<br />
wird, Prelleur (bzw. sein geigespielender Co-Autor) ansonsten mit beträchtlicher<br />
Genauigkeit vorgeht, ist offenkundig, dass die Lage der Griffpunkte<br />
dem Umstand Rechnung trägt, dass die Saite um so weiter vom Griffbrett<br />
entfernt ist, je näher am Steg sie abgegriffen wird. Durch diese grössere<br />
Auslenkung erhöht sich beim Niederdrücken die Spannung der Saite, damit<br />
der tatsächlich erklingende Ton – aller Wahrscheinlichkeit nach auf die korrekte<br />
Tonhöhe der Oktave.<br />
Wollen wir nun diesen Korrekturwert in die übrigen Positionen einrechnen,<br />
so ist zu beachten, dass er nicht überall die gleiche Grösse haben darf:<br />
Zum Sattel hin sinkt er gegen 0 (da der Abstand zum Griffbrett minimal ist),<br />
in Richtung Steg steigt er proportional zur Lage auf der Saite bis zum Maximalwert<br />
an 1 . Die betreffenden Werte finden sich in der Spalte „effektiver<br />
Centwert“.<br />
Nun wäre die schlichte Auflistung von 20 Cent-Werten pro Oktave wenig<br />
aufschlussreich, wenn unklar bliebe, was für eine Intonationsweise sich daraus<br />
ergibt – und mit welcher Präzision sie realisiert ist.<br />
Es bietet sich an, das Daten-Material in Form eines „Tonnetzes“ zusammenzustellen.<br />
Hier sind alle Töne, die (unter Vernachlässigung ihrer Oktavlage)<br />
in Quint-Beziehung stehen, auf horizontalen Achsen aufgeführt; Töne<br />
im Gross-Terz-Verhältnis hingegen finden sich auf vertikalen Achsen. Zwischen<br />
den betreffenden Tönen ist (in ct) die Abweichung von der reinen<br />
Grossterz bzw. der reinen Quinte aufgetragen, die leere G-Saite ist als Ausgangspunkt<br />
grau hinterlegt:<br />
1<br />
Setzen wir also voraus, dass der Korrekturwert für die leere Saite 0 ist und für den Oktavpunkt<br />
8,13 ct beträgt, so ergibt sich vom Sattel ausgehend ein Korrekturwert von<br />
0,0513 ct/mm (bei einer Gesamt-Saitenlänge von 318,5 mm).
68 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
cis? -11,35 gis -7,25 dis +1,27 ais +3,87 eis<br />
+0.92<br />
-6,72<br />
-13,23<br />
+7,58<br />
e -0,12 h -0,12 fis -16,94 cis?<br />
+0,64<br />
-1,51<br />
+2,17<br />
-10,10<br />
c +2,28 G +4,07 d -4,65 a<br />
-5,32<br />
+2,05<br />
+1,90<br />
-7,29<br />
des -5,28 as -5,08 es +4,23 b +4,53 f<br />
-4,86<br />
-11,44<br />
-1,38<br />
fes +1,49 ces .5,37 ges<br />
Bedingt durch mögliche Ungenauigkeiten bei der fotomechanischen Reproduktion<br />
und durch die relativ kräftigen Linien des Druckes (etwa 0,25 mm)<br />
sind unserer möglichen Genauigkeit Grenzen gesetzt. Zum Vergleich: Die<br />
Verschiebung eines Bundes in der Nähe des Sattels um etwa 1 mm (in der<br />
Nähe des Oktavpunktes 0,5 mm) entspräche bereits einer Tonhöhenveränderung<br />
von ca. 6 ct, wobei die Tonhöhenunterschieds-Schwelle 2 mit 2 – 5 ct angenommen<br />
wird. Die errechneten Tonpositionen und Intervalle können somit<br />
nicht als „harte“ Werte angesehen werden, sie können lediglich eine statistische<br />
Tendenz aufzeigen.<br />
2<br />
Der Minimalabstand, ab dem zwei Töne als unterschiedlich wahrgenommen werden.
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“? 69<br />
G<br />
#G<br />
bA<br />
A<br />
#A<br />
b<br />
H<br />
bC<br />
C<br />
#C<br />
bD<br />
D<br />
#D<br />
bE<br />
E<br />
bF<br />
#E<br />
F<br />
#F<br />
bG<br />
G'<br />
Grafik Prelleur<br />
Theor. Bundlage<br />
Diësen<br />
Eine Bemerkung ist noch notwendig zu den „derb verstimmten“<br />
Intervallen der Grafik (vergl. etwa die undiskutabel<br />
zu kleinen Grossterzen a – cis mit -10,10 ct, fis –<br />
ais mit -13,23 ct, oder gar die Quinte fis – cis mit -16,94<br />
ct). Merkwürdig mutet zunächst an, dass Prelleur mit<br />
ansonsten geradezu klavierstimmerhafter Genauigkeit<br />
arbeitet (die meisten Fehler bleiben im Rahmen<br />
von 5 ct), bei einigen wenigen Intervallen jedoch grotesk<br />
falsch liegt. Des Rätsels Lösung liegt darin, dass<br />
die betreffenden Intervalle offenbar nicht als Intervalle<br />
auf der gleichen Saite intendiert sind, sondern<br />
zwischen Nachbarsaiten zustande kommen (und dort<br />
problemlose Intonationen ergeben).<br />
Auffällig erscheint bereits bei oberflächlicher Betrachtung<br />
die Verwandtschaft der Darstellung Prelleurs<br />
mit den „Komma“-Systemen des 18. Jahrhunderts,<br />
die irrtümlich behaupten, enharmonische Varianten<br />
lägen um 1 „Komma“ auseinander. Deutlich ist<br />
bei Prelleur das Auseinandertreten dieser enharmonischen<br />
Varianten zu sehen: b und ais sind eben keineswegs<br />
der gleiche Ton, sondern ein kräftiges Stück<br />
auseinander gerückt.<br />
Dieser Unterschied zwischen „enharmonisch verwechselten“<br />
Tönen ist allerdings korrekterweise eine<br />
„kleine Diësis“ – und diese kleine Diësis ergibt denn<br />
auch einen ersten deutlichen Hinweis auf die „intonatorische<br />
Grundidee“, die Prelleurs Grafik zugrunde<br />
liegt:<br />
Die korrekte kleine Diësis beträgt 41,06 ct, sie entsteht<br />
beispielsweise bei der Aufeinanderschichtung<br />
dreier reiner Grossterzen: C → E → Gis → His ≠ C<br />
(die Distanz zwischen His und C ist in diesem Falle<br />
die kleine Diësis). Drei Grossterzen erreichen also<br />
nicht ganz die Oktave des Ausgangstones, sondern<br />
bilden eine übermässige Septim, die gegenüber der
70 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Oktave um 41,06 ct zu klein ist. Werden die Grossterzen nun gegenüber ihrer<br />
reinen Intonation gedehnt, so wird die kleine Diësis entsprechend kleiner (bis<br />
sie im Falle der recht grobschlächtig vergrösserten „gleichschwebenden Terz“<br />
gleich 0 ist).<br />
Prelleurs Diësen liegen nun, auch bei allergrösster Vorsicht in der Interpretation<br />
des Datenmaterials, recht genau im Bereich der kleinen Diësis, ihr<br />
Mittelwert beträgt 46,65 ct.<br />
Es mag verwundern, dass die Terzen der Grafik tendenziell eher zu klein<br />
sind - wo sie doch in der Praxis eher eine Vergrösserung ertragen würden.<br />
Stellt man der Grafik eine Bundteilung gegenüber, die die korrekten reinharmonischen<br />
Bundpositionen darstellt (siehe Grafik auf der folgenden Seite), so<br />
zeigt sich Prelleurs Bemühen, den Abstand zwischen den betreffenden Bünden<br />
möglichst weit zu nehmen, um unpraktikable Abstände zu vermeiden.<br />
Wenn er die Griffpunkte also vorsichtig so weit auseinanderrückt, wie eine<br />
„gerade eben noch saubere“ Intonation es gestattet, werden die #-Töne etwas<br />
tiefer werden, die b-Töne etwas höher, die Diësen etwas zu gross - was der<br />
diagnostizierten Situation entspricht.<br />
Eine statistische Analyse der Fehlerbeträge ergibt Werte, die durchaus im<br />
Rahmen dessen liegen, was auch ein Klavierstimmer an Genauigkeit zustande<br />
bringt (Quinten: durchschnittliche Abweichung von der reinen Quinte -0,69 ct<br />
/ Terzen: durchschnittliche Abweichung von der reinen grossen Terz -2,95 ct -<br />
die „nicht gemeinten“ Quinten und Terzen wurden selbstverständlich nicht in<br />
die Rechnung einbezogen!).<br />
Bevor nun die Geigenpädagogen unter den Lesern über Prelleurs mit<br />
Bünden versehenes Instrument als ein probates Mittel zur intonatorischen Ertüchtigung<br />
ihrer Schützlinge nachzudenken beginnen, muss allerdings ein<br />
Wort zur praktischen Verwendbarkeit des Systems gesagt werden:<br />
Prelleur erweist sich umso mehr als „unbedarfter“, ergo unverdächtiger<br />
Praktiker, als ihm die naturgegebenen Tücken und Fallstricke seines (heute<br />
würden wir sagen: reinharmonischen) Systems nicht bewusst sind. So ist bei<br />
ihm natürlich (in Anlehnung an die Notenschrift) jede Tonposition nur einmal<br />
vorhanden. Das aber hat unweigerlich zur Folge, dass bereits in einem<br />
Stück in C-Dur kein sauber intonierter d-moll-Dreiklang möglich wäre - ein
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“? 71<br />
zweites, um unüberhörbare 21,5 ct tieferes d, ist notwendig 3 . Das wäre in jeder<br />
beliebigen Tonart so. Insofern dürfte eine im Sinne Prelleurs präparierte<br />
Violine lediglich für die allerersten Versuche ausreichen. Alle Ausflüge in die<br />
„freie Wildbahn“ würden in unangenehm rascher Folge an derartige schmerzhaft<br />
fehlintonierte Töne geraten.<br />
Aber es ist wohl zu unterstellen, dass ein Schüler, der über diese ersten<br />
Gehversuche hinaus ist, bald ohnehin auf die Hilfe von Stechzirkel, Klebezetteln<br />
und Tinte verzichten kann, um selbst „das rechte Fleckgen“ zu finden<br />
(Mattheson – vergl. S. 73).<br />
* *<br />
*<br />
Welche Schlüsse lässt nun unser kleiner „Eisbohrkern“ aus der ersten Hälfte<br />
des 18. Jahrhunderts zu? Welche unmissverständlichen Informationen enthält<br />
die kleine Zeitkapsel?<br />
Zunächst einmal handelt es sich – um im Bilde der eingangs mitgeteilten<br />
kleinen „Zielscheiben-Geschichte“ zu bleiben – um das zwar unscharfe, aber<br />
immerhin doch klar erkennbare Bild einer „tatsächlichen Zielscheibe“. Wenn<br />
auch die Informationsdichte vielleicht diskutierbar ist, die Details nicht übermässig<br />
präzise, die ganze didaktische Idee eher lustig-spektakulär als praxistauglich<br />
– unwidersprochen bleibt, dass es sich hier um eine mit keiner theoretischen<br />
Lehrmeinung kontaminierte Niederschrift dessen handelt, was ein<br />
immerhin-Fachmann als „gute Intonation“ an seine Schüler weitergeben<br />
möchte. Die Intonationsvorstellung Prelleurs ist in der kleinen Grafik eingefroren<br />
wie prähistorische Luftbläschen in den Eisbohrkernen, die die Klimaforschung<br />
in den Polregionen zutage fördert. Und diese Intonationsvorstellung,<br />
soviel ist erkennbar, zielt unmissverständlich ab auf die schwebungsfreie<br />
Intonation ohne jede Temperatur.<br />
In dieser Hinsicht müssen wir heute beschämt den Blick senken und eingestehen,<br />
dass die Situation sich im Vergleich mit anno 1731 entscheidend verschlechtert<br />
hat:<br />
Der aus dem 19. Jahrhundert tradierte Schlendrian, die 12 gleichschwebend<br />
temperierten Klaviertasten misszuverstehen als das „Tonsystem schlechthin“,<br />
3<br />
Dieser Umstand, bis ins 19. Jahrhundert hinein noch Bestandteil musikalischer Grundbildung,<br />
verhalf im Übrigen den Tastenstimmungen, die für diese „gespaltene“ Stufe<br />
eine Kompromiss-Position wählten, zu ihrem Namen: „mitteltönig“.
72 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
wird heute in der sogenannten „historisch informierten“ oder gar „-kritischen“<br />
Aufführungspraxis kritiklos weitergeführt bzw. potenziert, indem<br />
schlicht statt der gleichschwebenden Temperatur eine der Tasten-Temperaturen<br />
des 18. Jahrhunderts adoptiert wird. Weniger schlimm, dass sich vermeintlich<br />
seriöse Geiger, Flötisten, Zinkenisten etc. der so nutz- wie grundlosen<br />
Übung unterziehen, mittels des Stimmgerätes historische Tastentemperaturen<br />
„einzuüben“ - derlei kostet nur Zeit und Kraft. Wenn hingegen z.B.<br />
Holzblasinstrumentenbauer in Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse ihre<br />
Produkte „historisch“ auf „Kirnberger III“ oder „mitteltönig“ zu trimmen versuchen,<br />
so verdreht das die historischen Verhältnisse und verstümmelt die<br />
subtile Aussage, die diese Instrumente machen könnten.<br />
So ehrbar es ist, Cembali, Orgeln oder Hammerklaviere den Temperatursystemen<br />
Werckmeisters, Kirnbergers, Valottis oder Youngs entsprechend<br />
zu stimmen – für Geiger, Sänger, Flötisten, Oboisten, Trompeter etc. ist diese<br />
Übung ohne jede Bedeutung (abgesehen davon vielleicht, dass es sich als Flötist,<br />
Oboist oder Geiger vielleicht mit der einen oder anderen Temperatur<br />
einen Hauch bequemer zusammenspielt).<br />
Der „intonatorische Polarstern“, der dem beweglich intonierenden Musiker<br />
noch in Prelleurs Tagen den Kurs wies, war die reine, schwebungsfreie Intonation<br />
der konsonanten Intervalle, eine Intonationsweise, die heute unter<br />
dem Namen „reinharmonische Intonation“ leider fast ausschliesslich in Theoretikerkreisen<br />
bekannt ist.<br />
Prelleur bezieht sich denn auch logischerweise auf keinerlei Tastentemperatur<br />
als missverstandenes „Tonsystem“ - das wäre einem durchschnittlich<br />
gebildeten Musiker dieser Zeit ohnehin nicht in den Sinn gekommen. Er zeigt<br />
ohne Zweifel ein reinharmonisches Tonmaterial. Vordergründigster und<br />
schlagendster Beleg dafür ist die Scheidung der #- und b-Töne. Aber auch die<br />
Grösse der Terzen wie die unüberhörbare Reinheit der Quinten schliessen<br />
jede Temperatur von vornherein aus.<br />
Prelleur weiss, so dürfen wir unterstellen, dass die ganze bunte Vielfalt<br />
der Stimm-Methoden ausschliesslich zweierlei Zwecken dient: zum einen den<br />
in intonatorischer Hinsicht beschränkten Tasten- und Bundinstrumenten zu<br />
grösstmöglicher Praxistauglichkeit zu verhelfen, zum anderen ihren Spielern /<br />
Stimmern in dem mühseligen und fehlerträchtigen Geschäft des Stimmens zu<br />
Erleichterung und grösstmöglicher Sicherheit zu verhelfen.
Ein „Eisbohrkern“ in Sachen „historische Intonation“? 73<br />
In Reinkultur liest sich das in Johann Matthesons vollkommenem Capellmeister<br />
(Hamburg 1739, VII. Hptst., S. 41ff: Vom mathematischen Verhalt aller<br />
klingenden Intervalle) wie folgt – und wir dürfen dabei nicht aus dem Blick<br />
verlieren, dass Mattheson in seinem Werk eine Art „Curriculum“ der Musikerausbildung<br />
seiner Tage aufzustellen versucht:<br />
(§86) „Die Temperatur ist demnach eine solche Abmessung der Intervalle<br />
auf dem Clavier [Hervorhebung in der Quelle], dadurch dem<br />
einen von seiner Richtigkeit was abgenommen, dem andern aber was<br />
zugeleget wird, damit sie alle zusammen in möglichster Eintracht bleiben<br />
mögen. Man nimmt also die Temperatur des Claviers aus Noth zur<br />
Hand, weil sich auf diesem Instrument weder mit dem Athem, noch<br />
mit den Fingern die geringste Mäßigung treffen läßt; welches hingegen<br />
die menschliche Stimme und alle andre klingende Werckzeuge, nach<br />
ihrer Art, gar wol zulassen.<br />
(§87) (.) Nur bloß die Claviere und Harffen allein, als abgetheilte und<br />
abgemessene Spiel=Zeuge, sind dieser Schwierigkeit unterworffen, daß<br />
man bey ihrer Stimmung seine Zuflucht zur Temperatur nehmen muß,<br />
wovon in vielen Büchern ein solches Wesen gemacht wird, als ob der<br />
gantzen Welt Wolfahrt am eintzigen Clavier läge. Denn die menschlichen<br />
Stimmen, die geblasene, gestrichene etc. brauchen dieses<br />
Flickwercks so wenig, daß sie durch den Athem, oder durch die Finger<br />
und andre natürliche Hülffs=Mittel, ohne den geringsten künstlichen<br />
Circkel=Stich, das rechte Fleckgen treffen können.“<br />
Georg Andreas Sorge 4 (1703-1778), Hof- und Stadtorganist zu Lobenstein,<br />
bringt die Verhältnisse noch eine Spur deutlicher auf den Punkt, indem er<br />
sagt, wer denn nun eigentlich bei dem alten Machtspiel zwischen Solist und<br />
Tasteninstrumentler Ross und wer Reiter ist:<br />
„Will nun ein Clavierstimmer einem Flötenisten zu gefallen seyn, so<br />
muß er die Temperatur bey einer jeden Tonart also einrichten können,<br />
daß sein Clavier nicht allzu weit von der Flöte abweichet.“<br />
4<br />
Georg Andreas Sorge: Anmerkungen über Herr Quanzens . #D und bE,- Klappe auf<br />
der Querflöte, in: Fr.W. Marpurg, Historisch- kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik,<br />
Berlin 1758, Bd. IV, S. 1 ff
74 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
Ein P.S. kann ich mir zu guter Letzt nicht verkneifen – der notwendigen<br />
Abrundung des Sujets wegen:<br />
Wie auch immer Peter Prelleur seine Bünde konkret eingerichtet hat, ob<br />
mit Doppelgriffen oder mit einer korrespondierenden zweiten Violine oder<br />
vermittels einer anderen Methode: es kann als sicher gelten, dass er die Positionen<br />
mittels einzelner, lang und konzentriert gespielter Zweiklänge eingerichtet<br />
haben wird. Und für eben diese – und nur diese Situation taugt das<br />
System perfekt: für statische, ausschliesslich „vertikal“ bestimmte Intervalle.<br />
Sobald ein nennenswerter melodisch-horizontaler Bezugsrahmen in Form einer<br />
Melodie dazukommt, stösst das System abermals an eine Grenze: nun ergeben<br />
die sorgsam „ausgestimmten“ Töne eine merklich unebene, holperige<br />
Melodik mit „unlogisch“ gespreizten Leittonschritten und „merkwürdig“ abgesenkten<br />
Stufen. Nun wünscht das Ohr sich mehr und mehr die pythagoreische<br />
Intonation der Einstimmigkeit. Spätestens dann ist es an der Zeit, dass<br />
der Schüler mit einem gewagten Wisch des Terpentinläppchens sein Griffbrett<br />
von Zettelchen, Tintenmarken und eventuell aufgeklebten Bünden säubert<br />
und sich hinausbegibt in die freie Wildbahn beweglicher Intonation, um<br />
sich dem subtilen freien Spiel der melodischen und harmonischen Kräfte zu<br />
überlassen.
CD-Neuheiten 75<br />
CD-Neuheiten<br />
von Georg Senn<br />
CD 1: « Jean-Louis Tulou et ses élèves; la flûte<br />
romantique à Paris », PAN CLASSICS PC 10270<br />
Sarah van Cornewal und Tomoko Mukoyama,<br />
Flöten; Thomas Leininger, Pianino<br />
Vor Kurzem sind zwei neue<br />
CD’s erschienen, welche bei<br />
den Freunden alter Musikinstrumente<br />
auf besonderes Interesse<br />
stossen dürften. Einerseits<br />
sind die Interpretinnen<br />
von diversen Anlässen her<br />
vielen GEFAM-Mitgliedern<br />
bekannt und andererseits sind<br />
Mitglieder der Gesellschaft<br />
als Leihgeber einzelner Instrumente<br />
direkt an einer der<br />
Produktionen beteiligt gewesen.<br />
Paris und Berlin sind die<br />
Zentren, deren musikalische<br />
Sprache und Tradition hier jeweils<br />
zu hören ist. Dass die Kompositionen zeitlich nicht weit auseinander<br />
liegen, ja zum Teil fast gleichzeitig entstanden sind, macht sich auch an den<br />
verwendeten Instrumenten bemerkbar, die alle der frühen Romantik entstammen.<br />
Hier zeigt sich also ein „CD-Duo“, das höchst spannende Vergleichsmöglichkeiten<br />
bietet.<br />
Unter dem Titel „Jean-Louis Tulou et ses élèves; la flûte romantique à Paris“<br />
stellt uns Sarah van Cornewal, begleitet von Thomas Leininger und Tomoko<br />
Mukoyama weitgehend unbekannte französische Flötenmusik vor. Es<br />
handelt sich dabei um Salonmusik im besten Sinne des Wortes, die einen<br />
ganz besonderen Reiz auszuüben vermag. Rund um die Musik von J.L.Tulou<br />
(1786-1865) werden Stücke seiner Schüler Jules Demerssemann (1833-1866)<br />
und Jean Donjon (1839-1912) gruppiert. Eine schöne Auswahl aus einer Fülle<br />
von Flötenkompositionen virtuosester Art, entstanden im romantischen Paris<br />
des 19. Jahrhunderts. Tulou war als hervorragender Flötist bekannt, spielte<br />
am Pariser Konservatorium als engagierter Pädagoge für sein Instrument
76 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
eine wichtige Rolle und publizierte 1851 eine Flötenschule. Darin hob er ganz<br />
explizit die Vorzüge seiner herkömmlichen, 1-klappigen und konisch gebohrten<br />
Holzflöte gegenüber der neuen, fortschrittlicheren Böhm-Flöte hervor.<br />
Der Reiz der Aufnahme besteht denn auch unter anderem darin, dass hier<br />
originale Instrumente zu hören sind, welche an der Schwelle zum Zeitalter<br />
stehen, das dann mit Neuerungen und klanglichen Erweiterungen im gesamten<br />
Instrumentarium Wege zum neuen Klangempfinden der Spätromantik eröffnet<br />
hat. Die originalen Flöten 1827/28 gebaut von Clair Godfroy l’Aîné,<br />
einem der bekanntesten französischen Flötenbauer in Paris, mischen sich in<br />
erstaunlicher Weise mit dem Klang des um 1840 in der Schweiz entstandenen<br />
Pianinos („Kunz, Facteur de Pianos à Neuchâtel“), das ganz in der Tradition<br />
der berühmten Pariser Firma von Ignaz Pleyel gebaut ist.<br />
CD 2: Fanny Hensel-Mendelssohn « Das Jahr » und<br />
weitere Klavierkompositionen<br />
GENUIN classics BbR in Koproduktion mit DRS2<br />
und Forum Alte Musik Zürich, GEN 12244<br />
Els Biesemans, Fortepiano<br />
Auf der zweiten CD spielt Els<br />
Biesemans, den Teilnehmern<br />
der diesjährigen Jahresversammlung<br />
in Bad Krozingen<br />
noch in bester Erinnerung,<br />
auf einem 1851 gebauten Flügel<br />
der genannten Firma<br />
Pleyel den Klavier-Zyklus<br />
„Das Jahr“ und weitere Kompositionen<br />
von Fanny Hensel-Mendelssohn.<br />
In dieser<br />
Musik sind Eindrücke verarbeitet<br />
aus der wohl glücklichsten<br />
Lebensphase der<br />
hochbegabten und geliebten<br />
Schwester von Felix Mendelssohn<br />
Bartoldy. Anlässlich<br />
eines einjährigen Aufenthaltes<br />
in Italien 1839/40 erlebte Fanny eine Wertschätzung ihrer musikalischen<br />
Tätigkeit, welche ihr in diesem Mass bisher unbekannt und im strengen<br />
Berliner Elternhaus nur in engen Grenzen und z.T. unter hemmenden<br />
Auflagen zuteil wurde. Dieser häuslichen Zurückgezogenheit entrückt, war
CD-Neuheiten 77<br />
Fanny in Rom von einem Künstlerkreis umgeben, in dem sie sich jenseits<br />
bürgerlicher Verhaltensregeln entfalten konnte. Den daraus resultierenden<br />
Klavierstücken ist eine teilweise fast ungestüme Lebenslust eigen, die der Interpretin<br />
eine sehr virtuose Technik abverlangt.<br />
Welch hervorragende Pianistin Fanny Hensel gewesen sein muss, kann<br />
man mit Bewunderung am brillanten Spiel von Els Biesemans nachvollziehen.<br />
Der von Christoph Kern restaurierte Pleyel-Flügel bietet trotz seiner<br />
noch einfach auslösenden Stosszungenmechanik, mit der entsprechend subtilen<br />
Spieltechnik behandelt, alle klanglichen Schattierungen, die den vielfältigen<br />
Charakterstücken innewohnen. Mit Bedacht wurde gerade dieses Instrument,<br />
welches wohl der Komponistin am meisten entsprochen hätte, für diese<br />
schöne Aufnahme ausgewählt.<br />
Anzumerken wäre noch, dass beide CD’s mit Booklets ausgestattet sind,<br />
denen sowohl zu den Umständen der Kompositionen als auch zu den Instrumenten<br />
höchst wertvolle Informationen zu entnehmen sind.<br />
Flöten und ihre Musik im Wandel der Zeit<br />
Flötenmusik in Geschichte und Aufführungspraxis zwischen 1650 und 1850.<br />
Michaelsteiner Konferenzberichte Bd. 73, Hsg. Boje E. Hans Schmuhl; Wissner-<br />
Verlag, Augsburg 2009. ISBN 978-3-89639-707-2<br />
von Ueli Halder<br />
Seit 1972 finden im ehemaligen Zisterzienserkloster Michaelstein in Sachsen<br />
musikhistorische Arbeitstagungen statt. Die 34. dieser Veranstaltungen war<br />
jenen 200 Jahren zwischen 1650 und 1850 gewidmet, in welchen die Flöteninstrumente<br />
– gemeint sind Querflöten ebenso wie Blockflöten und deren Abkömmlinge<br />
– und ihre Musik einen wahrhaft tiefgreifenden Wandel durchliefen:<br />
in der Kunstmusik die allmähliche Ablösung der Blockflöte durch die<br />
vielseitigere Traversflöte; deren beginnende Karriere als Solo- und Orchesterinstrument<br />
und der ihr zugehörigen Musik am französischen Hof; die Wertschätzung<br />
der Querflöte in weiten Adelskreisen und ihre Emanzipation zum
78 <strong>Glareana</strong> <strong>2012</strong> (Heft 2)<br />
populären Bürgerinstrument der (gehobenen) Gesellschaft in der zweiten<br />
Hälfte des 18. Jahrhunderts; die Ausbildung neuer Klangideale und ihre Umsetzung<br />
im „Dreiklang“ von Komponist, Interpret und Instrumentenbauer,<br />
welch letzterer den Herausforderungen mit immer neuen Konstruktionen begegnete;<br />
in der ersten Hälfte des 19. Jhdt eine Art Renaissance der Blockflöte<br />
in England, Frankreich und Oesterreich-Ungarn in Form des Flageolet und<br />
Csakan; schliesslich Mitte des 19. Jhdt die Revolutionierung des Querflötenbaus<br />
durch Theobald Boehm, dessen Instrumentenkonzept sich trotz erbitterter<br />
- und in mancher Hinsicht durchaus nachvollziehbarer - Gegenwehr der<br />
„Traditionalisten“ allmählich durchsetzte und bis heute gültig geblieben ist.<br />
Viel Stoff also für eine 3tägige Veranstaltung, dargeboten in15 Referaten<br />
und niedergelegt in einem Konferenzband von 350 Seiten. Für Flöten-Aficionados<br />
sind alle Beiträge lesenswert; für Instrumentenkundler besonders interessant<br />
sind die Beiträge von Nikolaj Tarasow über die Entwicklung der<br />
Blockflöte zum Flageolet und Csakan in ihren nationalen Ausprägungen; von<br />
Dieter Gutknecht über die Rolle der<br />
Flöte im Orchester bis um 1800; von<br />
Gisa Jähnichen über die Flötenmusik<br />
im interkontinentalen Kulturtransfer<br />
zwischen 1650 und 1800; von Ute<br />
Omonsky über die Flöte als Adelsinstrument<br />
am Schwarzburg-Rudolstadter<br />
Hof, und schliesslich von David Lasocki<br />
über die Flötenbauer und ihre<br />
Produkte im Spiegel historischer Inventare<br />
und Inserate (in englischer Sprache).<br />
Die Tagung fand 2006 statt, der Konferenzband<br />
erschien 2009; da durften<br />
wir uns mit der Besprechung in der<br />
<strong>Glareana</strong> wohl auch noch etwas Zeit<br />
lassen.
Verkauf einer Toggenburger Hausorgel 79<br />
Verkauf einer Toggenburger Hausorgel<br />
Aus Altersgründen möchten wir gerne unsere Toggenburger Orgel von Josef<br />
Looser aus dem Jahr 1791 verkaufen. Sie ist in einem sehr guten Zustand, hat<br />
4 ½ Register, ein Manual von vier vollständigen Oktaven und kein Pedal. Sie<br />
ist denkmalpflegerisch korrekt elektrifiziert. Interessenten können an folgender<br />
Adresse ein Gutachten zur Orgel bestellen, das die Einzelheiten beschreibt<br />
jbi@swissonline.ch<br />
Für eine Weitergabe dieser Informationen an andere Interessierte sind wir<br />
dankbar.<br />
Ursula und Johannes Bircher<br />
Reuelweg 20<br />
3045 Meikirch<br />
Tel.: 0041 - (0)31 829 25 54