06.06.2016 Aufrufe

De:Bug 166

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

»Es ist so, als würde man bei<br />

jemandem ins Haus gehen und<br />

etwas die Möbel verrücken. Ich<br />

wollte herausfinden, welche<br />

neuen Formen und Patterns<br />

sich mit dem Material entwickeln<br />

lassen.«<br />

"Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons"<br />

ist bei <strong>De</strong>utsche Grammophon/Universal Music erschienen.<br />

www.deutschegrammophon.com<br />

Statt mit Remixen Reklame für alte <strong>De</strong>utsche-Grammophon-<br />

Scheiben zu bieten, betreibt Richter lediglich Werbung in<br />

eigener Sache – und für Vivaldis Musik. Und sich selbst<br />

machte er damit neue Lust auf ein Stück, das er seit seiner<br />

Kindheit kennt. <strong>De</strong>r Jahreszeiten-Zyklus von Vivaldi, eigentlich<br />

eine Sammlung von vier Violin-Konzerten, die durch<br />

ihre thematische Klammer verbunden sind, ist ein frühes<br />

Beispiel für Programmmusik, also ein Stück, das mit instrumentalen<br />

Mitteln eine (außermusikalische) Geschichte<br />

erzählt. Vivaldi hatte dazu kleine Texte in die Partitur eingefügt,<br />

die beschreiben, was man sich im Einzelnen beim<br />

Hören vorstellen soll.<br />

Keine Angst vor Gassenhauern<br />

"Die Musik ist illustrativ und hat lauter wunderbare<br />

Eigenschaften", so Richter. Warum dann überhaupt noch<br />

daran herumarbeiten? Richter ging es darum, einen neuen<br />

Zugang zu Vivaldi zu finden, sich das Werk neu anzueignen.<br />

<strong>De</strong>nn nach seiner ersten Bekanntschaft mit der Musik begegnete<br />

sie ihm ein paar Mal zu oft: "Später dann hörst du<br />

es die ganze Zeit um dich herum. Und wenn du ein Stück<br />

zu häufig hörst, nimmt das einiges vom Zauber der Musik,<br />

ganz gleich, was es ist. Du wirst die Sache ein bisschen leid,<br />

und es fällt dir schwer, Neues darin zu entdecken, das dir<br />

gefällt. Vielleicht besteht dieses Projekt ja darin, dass ich<br />

neue Dinge in dem Stück finde, die mir gefallen."<br />

Dazu hat Richter keine Mühen gescheut. Rund 8<br />

Prozent des Originals mussten seinen eigenen Ideen Platz<br />

machen, der größte Ohrwurm des ganzen Zyklus, der erste<br />

Satz des "Frühling", ist nur noch als kurzes Zitat in einer<br />

Ambient-Collage zu hören, die als Ouvertüre "den Vorhang<br />

aufgehen lässt". In den anderen Sätzen dienen einzelne<br />

Vivaldi-Motive und Figuren bei ihm als Grundlage für neue,<br />

in der Regel weit ausgedehntere Patterns, die oft mehr<br />

nach Richters melancholisch-reduzierter Expressivität als<br />

nach Vivaldi klingen.<br />

Immer wieder verdoppelt er die Orchesterbässe mit<br />

den Basstönen seines Minimoog Voyager. "Ich liebe<br />

Bassmusik. Es ist eines der Wunder unseres Zeitalters,<br />

diese Fähigkeit, mit Material ganz tief am unteren Ende<br />

des Spektrums arbeiten zu können. Das war immer schon<br />

Teil dessen, was ich mache, es kommt praktisch auf jeder<br />

meiner Platten vor. Also musste das mit dabei sein."<br />

<strong>De</strong>nn seine "Four Seasons" sind nicht einfach eine neue<br />

Orchesterversion, die Postproduktion nimmt bei ihm eine<br />

zentrale Stellung ein. "<strong>De</strong>n Großteil der Elektronik hört<br />

man gar nicht so sehr, wie etwa die Verzerrung, die ich hier<br />

und da hinzugefügt habe. Eine Klassik-Aufnahme geht normalerweise<br />

so: Aufnehmen, Fader runterziehen, CD pressen.<br />

Das war's. Diese Aufnahme ist viel stärker produziert<br />

und gemischt, mehr wie bei einem Mix für elektronische<br />

Musik. Die Originalaufnahme ist für mich nur ein Teil der<br />

Geschichte, die Postproduktion und der Mix sind daher<br />

ebenso wichtig."<br />

Orchester-Groove<br />

Im Studio erstellte er mit dem Toningenieur alternative Mixe,<br />

um besser entscheiden zu können, was er wollte. Bei einer<br />

Session im Studio des Filmorchesters Babelsberg konnte<br />

man ihn mit dem Ingenieur beobachten, wie er zwischen<br />

drei verschiedenen Versionen von "Summer 2" auswählte,<br />

einem No-nonsense-Mix mit leicht hölzernen Violinen, einer<br />

gläsernen "Icelandic Version" und dem "Orkney Mix",<br />

der irgendwo zwischen den beiden anderen angesiedelt<br />

war. Im Interview ist Richter später nicht mehr ganz sicher,<br />

welche Version am Ende ausgewählt wurde, er hat jedoch<br />

so eine Ahnung: "Ich neige in der Regel dazu, den heftigsten<br />

Mix zu nehmen."<br />

Manche der Änderungen, die Richter im Notentext vorgenommen<br />

hat, sind äußerst subtil, aber nicht weniger effektiv.<br />

Im ersten Satz des "Winters" etwa, als nach einem<br />

längeren Violin-Solo das gesamte Orchester einsetzt, hört<br />

man statt des regelmäßigen Viervierteltakts eine Figur<br />

im Siebener-Metrum. "Ich wollte, dass es etwas schneller<br />

vorangeht und asymmetrischer ist. Vivaldis pulsierende<br />

Vierviertel sind sehr dynamisch, ich hingegen dachte,<br />

wenn man es asymmetrischer baut, dann hüpft es ein<br />

bisschen kräftiger. Für das Orchester ist das schwieriger<br />

und aufregender, sie müssen mehr bei der Sache sein."<br />

Richters Rekomposition war für den Violinisten<br />

Daniel Hope und das Konzerthaus Kammerorchester<br />

Berlin unter André de Ridder denn auch eine recht ungewohnte<br />

Aufgabe mit einigen Tücken. Die Musiker waren<br />

schließlich Vivaldi gewohnt. So brauchte es eine gewisse<br />

Eingewöhnungsphase, um mit dem neuen Material<br />

klarzukommen. "Als wir mit den Aufnahmen begannen,<br />

hatte das Orchester einen völlig anderen Klang, wenn sie<br />

Vivaldis Original spielten. Man hörte, dass sie es kannten<br />

und es war gut. Doch bei meinen Sachen klang es plötzlich<br />

ganz anders. Mit den Proben wuchs der Klang allmählich<br />

zusammen, bis es keinen Unterschied mehr gab. Es<br />

war faszinierend. <strong>De</strong>nn für einen Musiker ist es immens<br />

wichtig, dass man weiß, wo man steht und was man machen<br />

will. Und sie wussten erst nicht so richtig, wo sie mit<br />

meinen Sachen hinwollten. Es war unbekanntes, fremdes<br />

Gebiet, so als würde man sich plötzlich in einer Landschaft<br />

bewegen, die man nicht erkennt."<br />

Auf die Frage, ob er manchmal den Eindruck gehabt<br />

habe, Vivaldi zu verbessern, muss Richter lachen.<br />

"Nicht wirklich. Wenn man sich das Werk eines anderen<br />

ansieht, dann beginnt man am Anfang, kommt irgendwann<br />

ans Ende, und dazwischen gibt es eine Reihe von<br />

Entscheidungen. Vivaldi hat sich zum Beispiel entschieden,<br />

hier eine Pause zu setzen oder da mehr Tempo zu<br />

machen. Das Material hat jedoch Eigenschaften, mit denen<br />

sich auch andere Richtungen einschlagen lassen.<br />

Ich habe mir einfach gesagt: Vielen Dank für dieses fantastische<br />

Material! Wie wäre es, wenn wir damit mal so<br />

verfahren?"<br />

<strong>166</strong>–39

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!