De:Bug 166
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»Es ist so, als würde man bei<br />
jemandem ins Haus gehen und<br />
etwas die Möbel verrücken. Ich<br />
wollte herausfinden, welche<br />
neuen Formen und Patterns<br />
sich mit dem Material entwickeln<br />
lassen.«<br />
"Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons"<br />
ist bei <strong>De</strong>utsche Grammophon/Universal Music erschienen.<br />
www.deutschegrammophon.com<br />
Statt mit Remixen Reklame für alte <strong>De</strong>utsche-Grammophon-<br />
Scheiben zu bieten, betreibt Richter lediglich Werbung in<br />
eigener Sache – und für Vivaldis Musik. Und sich selbst<br />
machte er damit neue Lust auf ein Stück, das er seit seiner<br />
Kindheit kennt. <strong>De</strong>r Jahreszeiten-Zyklus von Vivaldi, eigentlich<br />
eine Sammlung von vier Violin-Konzerten, die durch<br />
ihre thematische Klammer verbunden sind, ist ein frühes<br />
Beispiel für Programmmusik, also ein Stück, das mit instrumentalen<br />
Mitteln eine (außermusikalische) Geschichte<br />
erzählt. Vivaldi hatte dazu kleine Texte in die Partitur eingefügt,<br />
die beschreiben, was man sich im Einzelnen beim<br />
Hören vorstellen soll.<br />
Keine Angst vor Gassenhauern<br />
"Die Musik ist illustrativ und hat lauter wunderbare<br />
Eigenschaften", so Richter. Warum dann überhaupt noch<br />
daran herumarbeiten? Richter ging es darum, einen neuen<br />
Zugang zu Vivaldi zu finden, sich das Werk neu anzueignen.<br />
<strong>De</strong>nn nach seiner ersten Bekanntschaft mit der Musik begegnete<br />
sie ihm ein paar Mal zu oft: "Später dann hörst du<br />
es die ganze Zeit um dich herum. Und wenn du ein Stück<br />
zu häufig hörst, nimmt das einiges vom Zauber der Musik,<br />
ganz gleich, was es ist. Du wirst die Sache ein bisschen leid,<br />
und es fällt dir schwer, Neues darin zu entdecken, das dir<br />
gefällt. Vielleicht besteht dieses Projekt ja darin, dass ich<br />
neue Dinge in dem Stück finde, die mir gefallen."<br />
Dazu hat Richter keine Mühen gescheut. Rund 8<br />
Prozent des Originals mussten seinen eigenen Ideen Platz<br />
machen, der größte Ohrwurm des ganzen Zyklus, der erste<br />
Satz des "Frühling", ist nur noch als kurzes Zitat in einer<br />
Ambient-Collage zu hören, die als Ouvertüre "den Vorhang<br />
aufgehen lässt". In den anderen Sätzen dienen einzelne<br />
Vivaldi-Motive und Figuren bei ihm als Grundlage für neue,<br />
in der Regel weit ausgedehntere Patterns, die oft mehr<br />
nach Richters melancholisch-reduzierter Expressivität als<br />
nach Vivaldi klingen.<br />
Immer wieder verdoppelt er die Orchesterbässe mit<br />
den Basstönen seines Minimoog Voyager. "Ich liebe<br />
Bassmusik. Es ist eines der Wunder unseres Zeitalters,<br />
diese Fähigkeit, mit Material ganz tief am unteren Ende<br />
des Spektrums arbeiten zu können. Das war immer schon<br />
Teil dessen, was ich mache, es kommt praktisch auf jeder<br />
meiner Platten vor. Also musste das mit dabei sein."<br />
<strong>De</strong>nn seine "Four Seasons" sind nicht einfach eine neue<br />
Orchesterversion, die Postproduktion nimmt bei ihm eine<br />
zentrale Stellung ein. "<strong>De</strong>n Großteil der Elektronik hört<br />
man gar nicht so sehr, wie etwa die Verzerrung, die ich hier<br />
und da hinzugefügt habe. Eine Klassik-Aufnahme geht normalerweise<br />
so: Aufnehmen, Fader runterziehen, CD pressen.<br />
Das war's. Diese Aufnahme ist viel stärker produziert<br />
und gemischt, mehr wie bei einem Mix für elektronische<br />
Musik. Die Originalaufnahme ist für mich nur ein Teil der<br />
Geschichte, die Postproduktion und der Mix sind daher<br />
ebenso wichtig."<br />
Orchester-Groove<br />
Im Studio erstellte er mit dem Toningenieur alternative Mixe,<br />
um besser entscheiden zu können, was er wollte. Bei einer<br />
Session im Studio des Filmorchesters Babelsberg konnte<br />
man ihn mit dem Ingenieur beobachten, wie er zwischen<br />
drei verschiedenen Versionen von "Summer 2" auswählte,<br />
einem No-nonsense-Mix mit leicht hölzernen Violinen, einer<br />
gläsernen "Icelandic Version" und dem "Orkney Mix",<br />
der irgendwo zwischen den beiden anderen angesiedelt<br />
war. Im Interview ist Richter später nicht mehr ganz sicher,<br />
welche Version am Ende ausgewählt wurde, er hat jedoch<br />
so eine Ahnung: "Ich neige in der Regel dazu, den heftigsten<br />
Mix zu nehmen."<br />
Manche der Änderungen, die Richter im Notentext vorgenommen<br />
hat, sind äußerst subtil, aber nicht weniger effektiv.<br />
Im ersten Satz des "Winters" etwa, als nach einem<br />
längeren Violin-Solo das gesamte Orchester einsetzt, hört<br />
man statt des regelmäßigen Viervierteltakts eine Figur<br />
im Siebener-Metrum. "Ich wollte, dass es etwas schneller<br />
vorangeht und asymmetrischer ist. Vivaldis pulsierende<br />
Vierviertel sind sehr dynamisch, ich hingegen dachte,<br />
wenn man es asymmetrischer baut, dann hüpft es ein<br />
bisschen kräftiger. Für das Orchester ist das schwieriger<br />
und aufregender, sie müssen mehr bei der Sache sein."<br />
Richters Rekomposition war für den Violinisten<br />
Daniel Hope und das Konzerthaus Kammerorchester<br />
Berlin unter André de Ridder denn auch eine recht ungewohnte<br />
Aufgabe mit einigen Tücken. Die Musiker waren<br />
schließlich Vivaldi gewohnt. So brauchte es eine gewisse<br />
Eingewöhnungsphase, um mit dem neuen Material<br />
klarzukommen. "Als wir mit den Aufnahmen begannen,<br />
hatte das Orchester einen völlig anderen Klang, wenn sie<br />
Vivaldis Original spielten. Man hörte, dass sie es kannten<br />
und es war gut. Doch bei meinen Sachen klang es plötzlich<br />
ganz anders. Mit den Proben wuchs der Klang allmählich<br />
zusammen, bis es keinen Unterschied mehr gab. Es<br />
war faszinierend. <strong>De</strong>nn für einen Musiker ist es immens<br />
wichtig, dass man weiß, wo man steht und was man machen<br />
will. Und sie wussten erst nicht so richtig, wo sie mit<br />
meinen Sachen hinwollten. Es war unbekanntes, fremdes<br />
Gebiet, so als würde man sich plötzlich in einer Landschaft<br />
bewegen, die man nicht erkennt."<br />
Auf die Frage, ob er manchmal den Eindruck gehabt<br />
habe, Vivaldi zu verbessern, muss Richter lachen.<br />
"Nicht wirklich. Wenn man sich das Werk eines anderen<br />
ansieht, dann beginnt man am Anfang, kommt irgendwann<br />
ans Ende, und dazwischen gibt es eine Reihe von<br />
Entscheidungen. Vivaldi hat sich zum Beispiel entschieden,<br />
hier eine Pause zu setzen oder da mehr Tempo zu<br />
machen. Das Material hat jedoch Eigenschaften, mit denen<br />
sich auch andere Richtungen einschlagen lassen.<br />
Ich habe mir einfach gesagt: Vielen Dank für dieses fantastische<br />
Material! Wie wäre es, wenn wir damit mal so<br />
verfahren?"<br />
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