De:Bug 157
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“Manchmal brauche ich meinen Assi-Kaffee“,<br />
wird Till von Sein sagen, als er sich nach unserem<br />
Interview im Park seine dritte Koffeinbombe in<br />
anderthalb Stunden in den Rachen kippt und mit<br />
seinen Birkenstocks Richtung Sonnenuntergang<br />
davon radelt. Unsere B-Boy-Erwartungen<br />
hat er ein bisschen naiv aussehen lassen. Keine<br />
Jordans. Kein New-Era-Kopfschmuck. Kein<br />
dubioser Selbstdreh-Stängel im Mundwinkel.<br />
Als wir Till im Herzen der Berliner Kaffeehaus-<br />
Gegend um den Rosenthaler Platz treffen, sieht<br />
er aus wie Jeffrey Lebowski, der in abgelatschten<br />
Sandalen die Tür zum Spätkauf aufreißt. Über<br />
den richtigen Kaffee lässt er sich von den aufgesetzt<br />
lachenden Chai-Latte-Schlürfern genauso<br />
wenig belehren, wie über den musikalischen<br />
Status Quo oder irgendein nächstes großes Ding.<br />
Als er uns seine Geschichte erzählt, erzählt er sie<br />
auch in seinem Ton: alter Falter, Funkschmarotzer,<br />
Ketamintechno und los geht’s.<br />
Bubble Boy<br />
Flensburg, Kiel, Neumünster, das hört sich schon<br />
irgendwie holperig an. Alles andere als eine<br />
Blueprint-Karriere hat der 34-Jährige hinter<br />
sich, der sich selbst als notorischen Spätzünder<br />
beschreibt. Zwischen kleinen Warmup-Sessions<br />
für die maritime Drum-and-Bass-Meute bis zu<br />
einem eigenen Skater-Laden in der grauen Pampa,<br />
der als finanzielles Fiasko endet, hat es den<br />
gemütlichen Riesen ganz schön herumgewirbelt,<br />
bevor er 2006 bei einer Berliner Booking-<br />
Agentur geregelte Bahnen erreicht und mit zarten<br />
30 Jahren im Erwachsenenleben ankommt:<br />
“Wenn du einen riesigen Haufen Schulden hast<br />
mit Anfang 30, dann gibt‘s bestimmt Leute, die<br />
sagen, geil Alter, ich geh jetzt erstmal in die Bar<br />
25 abrocken. Aber das war nicht mein Style, ich<br />
wollte da so schnell wie möglich raus und habe<br />
den Office-Hengst raushängen lassen.“ Dass er<br />
während der neuen Schreibtisch-Periode seine<br />
Finger trotzdem nicht von den Reglern lässt und<br />
in Berlin endlich am richtigen Ort zur richtigen<br />
Zeit ist, zeigt die wachsende Zahl seiner Auftritte.<br />
Was bleibt ist Till und seine musikalische<br />
Vergangenheit. Oder Zukunft.<br />
Till von Sein ist vielleicht ein bisschen hängen<br />
geblieben. Unserer bratztechnoiden Gegenwart<br />
setzt er jedenfalls ein nostalgisches 90er-Jahre-<br />
Paralleluniversum entgegen, das ihm seine eingefleischten<br />
HipHop- und Soul-Erinnerungen<br />
am Mainstream-Bassfetisch vorbei konserviert.<br />
Till hat eine Reise hinter sich, von Flensburg bis<br />
Amerika, von Marvin Gaye bis French House -<br />
und ist doch da geblieben, wo er immer war, nickt<br />
immer noch zum gleichen Beat. Auf die Meinung<br />
der ständig wechselnden House-Avantgarden,<br />
die sich alle paar Jahre die Klinke in die Hand<br />
geben, kann er da getrost verzichten. Seit zwei<br />
<strong>De</strong>kaden findet er seinen Vibe, egal ob Justin<br />
Timberlake oder Aretha Franklin im Hintergrund<br />
flötet. Vielleicht ist das so, wenn man vom<br />
Meer kommt: Till von Sein redet, als könnten<br />
ihn die Gezeiten des Mode-Techno nicht aus der<br />
Bahn werfen. Er hat seine Welle vor langer Zeit<br />
gefunden und die trägt ihn durch jeden Hype-Orkan,<br />
so dass er weiter seine eigenwillige Chronologie<br />
verfolgen kann, abgekoppelt vom sowieso<br />
viel zu sehr gehypten Raum-Zeit-Kontinuum.<br />
Play that Funky Music White Boy<br />
Wer irgendwann mal ein Skateboard unter den<br />
Sneakern schleift, landet schnurstracks beim<br />
HipHop und wer irgendwann mal eine Tanzfläche<br />
beschallt, weiß, dass man mit 95 BPM niemandem<br />
ausgelassene Dancemoves abknüpfen<br />
kann. <strong>De</strong>r Weg von 90er-Jahre-Rap-Tracks mit<br />
Funk-Jazz-Beatmechanik und souligen Vocal-<br />
Einlagen führt für Sein genauso zwangsläufig<br />
zum nostalgisch gesampleten House-Groove<br />
wie der erste Kickflip zur blutigen Lippe. “Und<br />
dann kommst du von Pharcyde ganz schnell zu<br />
Nightmares on Wax und von dort vielleicht weiter<br />
bis Motorbass und Daft Punk“. Mit <strong>De</strong>troit oder<br />
Frankie Knuckles braucht man ihm jedenfalls<br />
nicht kommen: “Ich hab ja auch überhaupt keine<br />
Techno-Vergangenheit. Du könntest mir jetzt<br />
die zehn besten Underground-Resistance-Tracks<br />
vorspielen und ich würde sagen: cool, ok, ich hol<br />
mir mal einen Kaffee.“ Tills Weggefährten sind<br />
viel jünger und haben statt Vinyls zu betatschen<br />
meist glänzende Mikros besäuselt. Die Schnulzen<br />
eines R.Kelly und seichte Nummern von Alicia<br />
Keys finden sich da ganz selbstverständlich<br />
neben den Ninja-Tune-Platten. “Wenn es wer<br />
schafft, mir zu erzählen, wie er die Freundin vom<br />
besten Freund auf dem Küchentisch vögeln kann<br />
und das so erzählt, dass ich wüsste, ich kann das<br />
auch meiner Oma vorspielen, der es dann auch<br />
noch gefällt ... das ist eine Kunst für sich“. Wen<br />
R.Kelly noch so gevögelt hat, darüber haben wir<br />
lieber nicht gesprochen.<br />
MacGyver 0.5<br />
Produzieren ist für ihn kein moderner Schwanzlängenvergleich,<br />
Till ist kein Beat-Diktator, kein<br />
Teacher, der seine abstrakte Ästhetiklehre aus<br />
den Boxen schallen lässt. Wenig nervt ihn mehr<br />
an, als das unnötige Rumgepose übertrieben vertrackter<br />
Tracks, die einem von einem sublimen<br />
elektronischen Klanguniversum erzählen wollen.<br />
So eine nerdige Innovationsgier, die immer<br />
on top bleiben will, endet schnell in einer seelenlosen<br />
Sample-Schneiderei nach dem Motto “OK,<br />
ich lad mir einfach mal ein paar R'n'B-Acapellas<br />
runter und das hört sich dann schon cool an“.<br />
Vielleicht die Willkürlichkeit einer eitlen Newschool<br />
aus abgehobenen Wohlstandskindern,<br />
die dem ewigen Koze-Fan Sein ein unverständliches<br />
Augenrollen unter die Brauen malt: “Das<br />
sind irgendwelche Hanseln, die sich einen Daniel-<br />
Bortz-Edit für 170 Euro bei Discogs kaufen, weil<br />
sie denken, die anderen spielen das auch überall<br />
und am Ende noch begeistert fragen, ob er die (Cobain-)Vocals<br />
vielleicht selbst eingesungen hätte.“<br />
Unterwegs im <strong>De</strong>lorean<br />
Ob der friedfertige Sunshine-B-Boy seiner Zeit<br />
voraus oder hinterher ist, weiß er manchmal<br />
selbst nicht. Die Soul-Samples von Soul Clap,<br />
Wenn Till im Club vor<br />
dreihundert verpillten<br />
Belgiern einen R.Kelly-<br />
Edit rausholt, muss man<br />
neu verhandeln, wer<br />
hier hängengeblieben<br />
ist.<br />
Jaar und Co. hat er vor 15 Jahren schon gehört<br />
und auf die Plattenteller geknallt, aber um Ableton<br />
zu installieren braucht er anderthalb Jahre,<br />
selbst für die 90er noch anachronistisch: “Ich<br />
komm aus einem Elternhaus, wo so etwas grundsätzlich<br />
Gift war, mir wurde ein Walkman verboten,<br />
Fernseher verboten, Computer verboten, ich<br />
hab meinen ersten Computer mit 25 gehabt. Verdammt,<br />
ich hab von '98 bis 2010 mit den Boxen<br />
gearbeitet, die ich zur Konfirmation bekommen<br />
habe!“ Im Suol-Headquarter sorgt Till damit<br />
auch alle Nase lang wieder für Lacher. Wenn der<br />
gebürtige Flensburger vor seinem Bildschirm im<br />
Studio sitzt und die mickrigen iPod-Kopfhörer<br />
im Ohr stecken hat, dann verabschiedet er sich<br />
aus der Gegenwart. Und für diese träumerischen<br />
Zeitreisen, aus denen er seine Feel-Good-Kompositionen<br />
importiert, braucht er halt keine extravaganten<br />
Gerätschaften.<br />
Wie bezeichnend, dass sein <strong>De</strong>bütalbum,<br />
#LTD, erst im Alter von 34 erscheint. Sein erster<br />
Longplayer guckt wie erwartet als smoothes<br />
Soul-Sample-Pasticcio mit etlichen 90er-<br />
Fußnoten unter der Nadel hervor. Eine Platte,<br />
die schwebend-groovige Loops auf den Flügeln<br />
längst vergangener Soul-Orchester durch den<br />
Raum schickt und dabei nicht nervös wird, wenn<br />
bei der Zirkulation mal irgendwo fünf BPM liegen<br />
bleiben. #LTD ist keine Dancefloor-Tirade,<br />
die die Kacheln der Panoramabar in ekstatische<br />
Vibration versetzen soll, nein, das <strong>De</strong>büt des<br />
gebürtigen Flensburgers soll, wenn überhaupt,<br />
zeitgeistermüdete Zuhörer mit Good Vibrations<br />
aufladen. Till ist sicherlich kein Prophet, vielleicht<br />
ist er ja genau das Gegenteil, ein Geschichtenerzähler,<br />
der ganz ohne Worte auskommt und<br />
bei #LTD hört man ihm gern dabei zu. Und wenn<br />
er im Club vor dreihundert verpillten Belgiern<br />
mal einen R.Kelly-Edit rausholt, dann kann man<br />
ja neu verhandeln, wer hier hängengeblieben ist.<br />
Till von Sein, #LTD,<br />
ist auf Suol/Rough Trade<br />
erschienen.<br />
www.suol.hk <strong>157</strong>–23