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De:Bug 157

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Bilderkritiken<br />

krisenwahrnehmung<br />

Text Stefan Heidenreich<br />

Weitgehend bilderlos vollzieht sich die Finanzkrise.<br />

Was gibt es dabei schon zu filmen und zu<br />

fotografieren? Oder anders gefragt: Was passt in<br />

die Bildlogik, an die wir gewöhnt sind? YouTube<br />

hat den Hang noch verstärkt, nur Bilder zu zeigen,<br />

auf denen sich etwas ereignet: am besten<br />

eine kurze, seltsame, schockierende oder absurde<br />

Geste. Aber solche Szenen gewähren bestenfalls<br />

ein paar Sekunden zusammenhangsloser<br />

Sichtbarkeit. Ein Parlamentarier in Athen blutet<br />

aus der Nase. Ein Polizist in New York sprüht<br />

Pfefferspray auf eine Frau. Ein Weltbanker wird<br />

in Handschellen abgeführt.<br />

Bilder dieser Art verfehlen, was die Krise ausmacht.<br />

Stattdessen lenken sie unseren Blick auf<br />

ein einzelnes Ereignis am Rand des gesamten<br />

Vorgangs. <strong>De</strong>n großen Zusammenhang vernebeln<br />

sie. Aber damit sind wir geradewegs bei dem<br />

Problem. Mangels visuellem Zusammenhang<br />

wird die Krise als etwas Zerstreutes, Unfassbares<br />

wahrgenommen. Zwar breitet sie sich aus<br />

wie eine Welle, die eine Weltgegend nach der anderen<br />

in Mitleidenschaft zieht. Aber sie ist eben<br />

kein Tsunami, dessen Zerstörung sich filmisch<br />

und bildhaft vor unseren Augen entfaltet hat.<br />

Heideggers Annahme, dass wir uns künftig ein<br />

Bild von der Welt machen werden, ist mit all den<br />

negativen Effekten eingetreten. Wovon wir uns<br />

kein Bild machen, findet sich in unserem Weltbild<br />

nicht wieder.<br />

Wenn die Bundeskanzlerin, die Chefin des<br />

Währungsfonds und der Chef der Weltbank sich<br />

nach ihrem Treffen der Öffentlichkeit zeigen,<br />

sitzen drei Figuren hinter einem blauen Block,<br />

oben und unten von Adlern behütet. <strong>De</strong>r Raubvogel<br />

sollte einst den wehrhaften Staat darstellen.<br />

Aber die Symbolik hat sich mittlerweile gewendet.<br />

Plötzlich sehen wir eine Versammlung von<br />

Herrschenden, die sich zum Raubzug an der eigenen<br />

Bevölkerung zusammentut.<br />

Auf der anderen Seite gewinnen die Proteste<br />

an Fahrt, aber auch sie liefern keine Bilder,<br />

solange nicht die Polizei hilfreich einschreitet,<br />

indem sie <strong>De</strong>monstranten vertreibt, verprügelt,<br />

besprüht, bespritzt oder verhaftet. <strong>De</strong>r Philosoph<br />

Slavoj Žižek ließ sich letztens an der Wall<br />

Street blicken und erklärte den Anwesenden,<br />

dass er mit Kommunismus nicht das untergegangene<br />

Weltreich des Bösen meint, sondern die<br />

gemeinschaftliche Verfügung über die Güter, die<br />

jedem zustehen. In der laufenden Werbesendung<br />

für das Individuelle und den Wettbewerb entfaltet<br />

diese Botschaft kaum visuelle Präsenz. <strong>De</strong>r<br />

Leidensdruck wird noch etwas ansteigen müssen,<br />

bevor die visuelle Mauer, die unser Weltbild<br />

umschließt, einer anderen Flut nachgibt.<br />

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