Flip_Aug_Joker2016
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THEATER KULTUR JOKER 3<br />
Endstation Grenze<br />
Ödön von Horváths Posse „Hin und Her“ beim Sommer-Open-Air der Immoralisten<br />
„Wenn nicht jetzt, wann<br />
dann?“, dürfte sich der Regisseur<br />
Manuel Kreitmeier gedacht<br />
haben, als er Ödön von Horváths<br />
1933 verfasstes und seitdem selten<br />
gespieltes Stück „Hin und<br />
Her“ zum Sommer-Open-Air<br />
bestimmte. Ist doch der Stoff<br />
heute, da täglich Tausende ohne<br />
die Möglichkeit einer Rückkehr<br />
in ihre verlassene Heimat vor<br />
Europas Grenzen zurückprallen,<br />
aktueller denn je.<br />
Wer aber denkt, es handle sich<br />
hierbei um eine Tragödie, der<br />
irrt gewaltig. Für den in Ungarn<br />
geborenen und aus Deutschland<br />
verwiesenen Horváth war es<br />
vielmehr die Gelegenheit, sich<br />
über das Erlebte lustig zu machen,<br />
nachdem er fast so endete<br />
wie sein Protagonist Ferdinand<br />
Havlicek.<br />
Auch Havlicek (Jochen Kruß)<br />
wird des Landes verwiesen, weil<br />
er pleiteging und dem Staat als<br />
Ausländer nicht auf der Tasche<br />
liegen soll. Als er vom Gendarmen<br />
Mrschitzka (Antonio<br />
Denscheilmann) zur Grenze<br />
geführt wird, glaubt er noch<br />
an einen Irrtum. Dort wacht<br />
Grenzorgan Thomas Szamek<br />
(Daniel Leers) auch über sein<br />
Töchterchen Eva (Soramonich<br />
Sam), die ein <strong>Aug</strong>e auf Grenzorgan<br />
Konstantin (Sebastian<br />
Ridder) auf der Gegenseite geworfen<br />
hat. Nachdem auch der<br />
wegen irgendwelcher bürokratischer<br />
Details nicht bereit ist,<br />
für Havlicek den Schlagbaum<br />
zu heben, dämmert jenem, in<br />
welch verzwickter Lage er sich<br />
befindet: Gefangen zwischen<br />
zwei Ländern und deren irrwitzigen<br />
Gesetzen bleibt ihm nur<br />
mehr die einfache Holzbrücke<br />
über dem Grenzfluss, auf der er<br />
fortan hin und her geht. Bemüht,<br />
wechselnd die Grenzorgane zu<br />
überzeugen gerät er in die Mühlen<br />
deren eigener Interessen und<br />
fungiert als Bote zwischen den<br />
Fronten.<br />
Klingt dramatisch – und leider<br />
irgendwie bekannt. Gerät aber<br />
bei den Immoralisten, nicht zuletzt<br />
durch das hervorragende<br />
Spiel sämtlicher Akteure und<br />
ganz im Zeichen ihres Namens,<br />
zum Generalangriff auf die<br />
Lachmuskeln. Wie heißt es doch<br />
so schön: Humor ist die höchste<br />
Form der Erkenntnis… Horváth<br />
schrieb für das Stück eine Drehbühne<br />
vor, die im Freien schwerlich<br />
realisierbar ist. Die Immoralisten<br />
lösten das Problem durch<br />
Rollen unterm Schlagbaum, dem<br />
einzigen Versatzstück der Bühne.<br />
Zum „Running Gag“ wird<br />
nun das rockende Kreisen dieser<br />
Grenze, von den Akteuren<br />
immer wieder angeschoben zur<br />
Musik aus dem Off. Unglaublich<br />
komisch, diese einzigartigen<br />
Bewegungen der Darsteller, die<br />
sich durch das ganze Stück ziehen<br />
und das ohnehin schon Bizarre<br />
noch mehr ad absurdum<br />
führen.<br />
Hin und her gehen auf der<br />
Brücke noch allerlei andere Gestalten,<br />
der kleine Grenzverkehr<br />
sollte für Havlicek bald alles<br />
andere als eintönig werden: Da<br />
wären der Privatpädagoge mit<br />
Frau (Uli Winterhager und Florian<br />
Wetter), der Oberschmuggler<br />
und seine Muse (dieselben),<br />
von der einen Seite taucht immer<br />
wieder Frau Hanusch (Anna Tomicsek)<br />
auf, einmal treffen sich<br />
sogar die beiden Regierungschefs<br />
zu Verhandlungen auf<br />
der Brücke… – ein wahrer Mikrokosmos<br />
des Absurden. Ein<br />
Alptraum. Wie lange dauert es<br />
eigentlich, bis Enttäuschung in<br />
Wut umschlägt? Neben aller Komik<br />
wirft das Stück ein Schlaglicht<br />
auf den psychologischen<br />
Prozess solcher Gestrandeten:<br />
Vom willfährigen Lächeln, der<br />
strategischen Anbiederung an<br />
beiden Grenzen und den darauffolgenden<br />
Frust bis hin zum<br />
heiligen Zorn ob der Selbsterniedrigung.<br />
Mit der Drehung<br />
der Szene wird der Zuschauer<br />
nicht nur Zeuge der äußeren Geschehnisse,<br />
sondern eben jenes<br />
psychischen Hin- und Her-Geworfen-Seins<br />
eines Menschen,<br />
der im Niemandsland gestrandet<br />
ist. Im Stück findet das ein gutes<br />
Ende, im wahren Leben leider<br />
meistens nicht.<br />
Noch bis 10. September.<br />
Termine: www.immoralisten.<br />
de oder T.: 0761/1556022 +<br />
0761/3181212. Theater der Immoralisten,<br />
Ferdinand-Weiß-<br />
Str. 9-11 (gegenüber E-Werk),<br />
Freiburg.<br />
Friederike Zimmermann<br />
Hautnahe und einzigartige Erlebnisse<br />
In diesem Sommer verwandelt sich Basel wieder in eine Theater-Tanz-Performance-Festival-Stadt<br />
Vom 30. <strong>Aug</strong>ust bis 11. September,<br />
präsentiert das Theaterfestival<br />
Basel 20 Produktionen<br />
aus 17 Ländern und insgesamt<br />
über 100 Veranstaltungen.<br />
Eröffnet wird das Festival in der<br />
Kaserne Basel mit dem bombastischen<br />
Musical „Sound of Music“<br />
von Yan Duyvendak, das uns mit<br />
Gold, Pailletten, Glanz und Glamour<br />
überschwemmt, während<br />
die Welt um uns herum in der<br />
Krise versinkt. Die Theatergruppe<br />
Stan´s Cafe zeigt ihre szenische<br />
Installation „Of All The People In<br />
All The World“ in der Turnhalle<br />
Klingental und in der sureal und<br />
absurd komischen Satire „The<br />
Cardinals“ müssen sich die Performer<br />
von Stan´s Cafe in 2.000<br />
Jahren Religionsgeschichte zurechtfinden.<br />
Die englische Performancegruppe<br />
Forced Entertainment<br />
zeigt in neun Tagen sämtliche<br />
Werke von Shakespeare,<br />
Tragödien, Komödien oder Königsdramen<br />
werden in höchstens<br />
60 Minuten nacherzählt.<br />
An zehn Tagen (je 14, 17 und<br />
Havlicek (Jochen Kruß)<br />
20 Uhr), lädt Xavier Bobés<br />
fünf Zuschauer_innen pro Vorstellung<br />
zu den „Things Easily<br />
Forgotten“, einer Reise in die<br />
spanische Vergangenheit während<br />
der Franco-Zeit, zeigen die<br />
Videoinstallation „Transforming<br />
Acts“ von Penelope Wehrli &<br />
Detlev Schneider.<br />
Theatrale Erzählungen gibt<br />
es u. a. mit den fantasievoll geknüpften<br />
Geschichten von Jan<br />
Lauwers & Needcompany in<br />
„The blind poet“. Oder das Publikum<br />
wird Zeuge der eindrücklichen<br />
Lebensschilderung von<br />
Sandokan, der auf der Straße Billigartikel<br />
verkauft und hofft, endlich<br />
„Acceso“, Zugang zu einem<br />
besseren Leben, zu erhalten (von<br />
Regisseur Pablo Larraín). Das<br />
Solo „MDLSX“ der Compagnie<br />
Motus mit der Performerin Silvia<br />
Calderoni entfacht eine Debatte<br />
über Geschlecht, Andersartigkeit<br />
und Unzulänglichkeiten<br />
unserer Sprache. Die ungewöhnlichen<br />
Kurzgeschichten in „Die<br />
Möglichkeit, die angesichts der<br />
© Manuel Kreitmeier<br />
Landschaft verschwindet“ von El<br />
Conde de Torrefiel kartografieren<br />
unsere kulturellen Fetische und<br />
die aktuellen Wirklichkeiten in<br />
zehn europäischen Großstädten.<br />
Wie wir in unserer Welt leben,<br />
leben sollten, wollen – damit beschäftigen<br />
sich Theatermacher,<br />
wie der junge Regisseur Michał<br />
Borczuch, der in „Die Apokalypse“<br />
das Bild eines zerrissenen<br />
Europa entwirft. Der syrische<br />
Theatermacher Omar Abusaada<br />
zeigt in „Während ich wartete“<br />
die Situation seines Landes am<br />
existentiellen Abgrund und in<br />
„Nightwalks with Teenagers“<br />
mit Mammalian Diving Reflex<br />
locken Jugendliche die Zuschauer_innen<br />
in ihre Gedanken- und<br />
Lebenswelt.<br />
In „Jaguar“ lässt Marlene Monteiro<br />
Freitas marionettenhafte<br />
Kreaturen die Bühne bevölkern<br />
und Paula Rosolen haucht „Aerobics!“<br />
neues Leben ein, während<br />
Doris Uhlich den Raum durch<br />
„Boom Bodies“ in Schwingungen<br />
versetzt. In „Sous leurs pieds, le<br />
paradis“ macht sich Radhouane<br />
El Meddeb mit einem Lied der<br />
Araberin Umm Kulthum auf die<br />
Suche nach Leidenschaft, Verletzlichkeit<br />
und seiner weiblichen<br />
Seite.<br />
Im Union Basel zeigt die<br />
Nouveau Cirque Compagnie<br />
Un Loup pour l’homme „Face<br />
Nord“, ein Spektakel für die<br />
ganze Familie. Und schließlich<br />
laden Jordi Galí und seine<br />
Tänzer_innen auf öffentlichen<br />
Plätzen dazu ein, ihre choreografische<br />
Zeremonie zur Errichtung<br />
einer riesigen Skulptur,<br />
dem Maibaum, zu begleiten.<br />
Das Theaterfestival Basel findet<br />
zum dritten Mal unter der<br />
Künstlerischen Leitung von Carena<br />
Schlewitt statt. Das Festivalzentrum<br />
auf dem Kasernenareal<br />
wird wieder von Studierenden<br />
des Instituts Innenarchitektur<br />
und Szenografie der HGK<br />
FHNW konzipiert und realisiert.<br />
Infos/ Tickets: www.theaterfestival.ch<br />
KUNST IN FREIBURGS<br />
OBERER ALTSTADT<br />
STRASSENAUSSTELLUNG<br />
1. – 3. SEPTEMBER 2016