Flip_Aug_Joker2016
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
4 KULTUR JOKER THEATER<br />
Künstlerische Eroberung des öffentlichen Raums<br />
Stationen ‐ Performance mit der Tanzcompany urbanReflects im Botansichen Garten Freiburg<br />
Aus zwei mächtigen Boxen<br />
auf Fahrradanhängern wabert<br />
sphärischer Synthesizer-<br />
Sound.Weit voneinander entfernt<br />
leuchten vier Tänzerinnen<br />
in knallroten Jumpsuits zwischen<br />
den sattgrünen Hügeln,<br />
ihre fließenden, synchronen<br />
Bewegungen erinnern an eine<br />
Tai Chi-Übungsreihe. In großen<br />
Schritten nähern sie sich<br />
aus unterschiedlichen Richtungen<br />
der buntgemischten<br />
Zuschauerschar, die an diesem<br />
Sonntagnachmittag erstaunlich<br />
zahlreich in den Botanischen<br />
Garten gekommen ist. Im<br />
Laufe der rund einstündigen<br />
Stationen-Performance werden<br />
sich ihr noch viele Spaziergänger<br />
spontan anschließen: Tanz<br />
im öffentlichen Raum – das ist<br />
interessant und in Freiburg viel<br />
zu selten zu sehen.<br />
„Auf das wir werden, was wir<br />
sind“, so der Titel des Bühnenstücks<br />
der Tanzcompany<br />
urbanReflects, das 2013 in<br />
Mannheim Premiere feierte<br />
und im darauffolgenden Jahr<br />
auch im E-Werk zu sehen war.<br />
Um Kommunikation geht es,<br />
um Machtverhältnisse, Annäherung<br />
und Unterdrückung,<br />
Solidarität und Ausschluss.<br />
Jetzt hat Choreografin Dorothea<br />
Eitel die Bühnenversion<br />
noch einmal überarbeitet und<br />
reiste mit ihrem Ensemble per<br />
Wohnmobil auf einer dreiwöchigen,<br />
vom Innovationsfond<br />
Kunst geförderten Tour durch<br />
Baden Württemberg: Eine<br />
künstlerische Eroberung<br />
des öffentlichen Raumes<br />
mit 14 Vorstellungen in<br />
zehn Städten, bespielt<br />
wurden in unterschiedlichen<br />
Formaten vor allem<br />
Parks, Fußgängerzonen<br />
und Plätze. Ihre letzte Station<br />
war die Rieselfelder<br />
Maria Magdalena Kirche.<br />
Als teilnehmende Beobachterin<br />
war Linnet Oster<br />
dabei: Sie studierte die<br />
Publikumsreaktionen und<br />
führte viele Gespräche,<br />
entstehen soll aus dieser<br />
Rezeptionsanalyse eine<br />
Dokumentation.<br />
Doch so intellektuell geht es<br />
bei diesem künstlerischen<br />
Spaziergang nicht zu, im<br />
Gegenteil. Die zauberhafte<br />
Einstiegsszene wird jäh unterbrochen,<br />
als Stephanie<br />
Roser, Katrine Kroløkke<br />
Allibert, Almudena Ballesteros<br />
Parejo und Verena<br />
Steffen blitzschnell losrennen<br />
und hinter der nächsten<br />
Wegbiegung verschwinden.<br />
Dicht gefolgt von den beiden<br />
Boxenwägen. ‐ Nichts<br />
wie hinterher! Kreuz und<br />
quer geht es durch die Parkanlage.<br />
So unterschiedlich<br />
wie die von Flo Huth eigens<br />
komponierte Musik,<br />
so vielseitig sind auch die<br />
Einzelsequenzen dieser<br />
Performance: Akrobatische<br />
Zweierfiguren zwischen<br />
Zärtlichkeit und Aggression,<br />
ein verzweifeltes Solo<br />
Je höher, desto inniger<br />
Das 28. Internationale Musikfestival Colmar beschäftigte sich mit dem Erbe von Jascha Heifetz<br />
„Ich rate Ihnen dringend,<br />
jeden Abend, bevor Sie mit<br />
solch übermenschlicher Vollkommenheit<br />
spielen, ein paar<br />
falsche Töne zu spielen, statt zu<br />
beten. Kein Sterblicher sollte es<br />
wagen, so makellos zu spielen“,<br />
schrieb George Bernard Shaw<br />
an Jascha Heifetz. Das 28. internationale<br />
Musikfestival Colmar<br />
widmete sich dieses Jahr dem<br />
1900 in Vilnius/Litauen geborenen,<br />
1987 in Los Angeles verstorbenen<br />
Wundergeiger. Und<br />
präsentierte an den zehn Festivaltagen<br />
knapp zwanzig Geigerinnen<br />
und Geiger mit Violinkonzerten<br />
und Kammermusik.<br />
Auch Wladimir Spivakov, der<br />
seit 1989 das beliebte Festival<br />
in der Colmarer Altstadt leitet<br />
und an sechs Abenden die Russische<br />
Nationalphilharmonie<br />
dirigierte, griff für Karl Amadeus<br />
Hartmanns „Concerto<br />
funebre“ und Mozarts D-Dur-<br />
Konzert selbst zur Violine.<br />
Ein großes Geigentalent ist die<br />
Moldawierin Alexandra Conunova,<br />
die an einem Abend in<br />
der Kirche St. Matthieu gleich<br />
drei Solowerke für Violine<br />
und Orchester interpretierte.<br />
Henryk Wieniawskis zweites<br />
Violinkonzert, das Heifetz als<br />
erste Aufnahme überhaupt Mitte<br />
der 1930-er Jahre einspielte,<br />
ist mit Höchstschwierigkeiten<br />
gespickt. Conunova lässt sich<br />
auch von den vertracktesten<br />
Doppelgriffen und rasantesten<br />
Läufen nicht beeindrucken.<br />
Eine Assoziationsreise mit starken Bildern<br />
Nur ihr schnelles Vibrato wird<br />
auf Dauer zu eintönig. Auch<br />
bei Ernest Chaussons „Pòeme“<br />
setzt Conunova auf kräftige<br />
Farben und einen dicken Pinsel,<br />
ehe sie das Publikum mit einer<br />
vollendeten, ganz frei gespielten<br />
Interpretation von Maurice<br />
Ravels gefürchteter Rhapsodie<br />
„Tzigane“ beschenkt.<br />
Kammermusik ist in Colmar<br />
fester Bestandteil des Festivalprogramms<br />
wie in den Konzerten<br />
am frühen Abend in der<br />
Barockkirche St. Pierre. Mit<br />
Vadim Gluzmans Stradivari,<br />
die einst Leopold Auer spielte,<br />
ist sogar die Violine von Heifetz‘<br />
St. Petersburger Lehrer<br />
zu hören. Mehr als eine solide,<br />
intonatorisch leicht eingetrübte<br />
Interpretation gelingt dem russischen<br />
Ensemble um den israelischen<br />
Primarius bei Mozarts<br />
Streichquintett in g-Moll KV<br />
516 allerdings nicht. Tschaikowskys<br />
Streichsextett „Souvenir<br />
de Florence“ gelingt aufregender.<br />
Das Ensemble entwickelt<br />
einen orchestralen Klang,<br />
der auch mal zum Elfentanz<br />
werden kann wie im Mittelteil<br />
des „Adagio cantabile“. Mit<br />
dem Trio Atanassov verzaubert<br />
ein ganz junges französisches<br />
Ensemble im Mittagskonzert<br />
das Publikum im Koifhus. Hier<br />
steht auch Mozart (Klaviertrio<br />
in B-Dur KV 502) auf dem<br />
Programm – aber wie subtiler<br />
ist hier der Zugang, wie differenzierter<br />
die Tongebung. Franz<br />
Schuberts g-Moll Klaviertrio<br />
verlässt trotz der Dramatik<br />
nie den gesanglichen Tonfall.<br />
Vollendet im Zusammenspiel,<br />
hinhörend, ausgleichend, tief<br />
schürfend – das Trio Atanassov<br />
setzt Maßstäbe.<br />
Felix Mendelssohns Violinkonzert<br />
in e-Moll war das Konzert,<br />
mit dem Jascha Heifetz im<br />
in Moosmulden, flirrende<br />
Gruppenchoreografien<br />
zwischen Licht und Schatten<br />
einer kleinen Lichtung.<br />
Auf einem Mammutbaumstamm<br />
birgt eine der Tänzerinnen<br />
immer wieder fürsorglich<br />
in ihrer Hand den<br />
Kopf der anderen, die weg<br />
zu kippen droht, ein Stück<br />
weiter gibt es eine Reanimation<br />
mit Headbanging<br />
und wilder Herz-Lungen-<br />
Massage. Die Grenzen zwischen<br />
Gewalt und Lebensrettung<br />
verschwimmen.<br />
Was eben noch Harmonie<br />
und Anhänglichkeit war,<br />
kippt in bedürftiges Geklammer,<br />
in Abwehr und<br />
Verfolgung. Am Ende hängen<br />
sie dann wie exotische<br />
Fledermäuse selbstvergessen<br />
in den Ästen eines Tulpenbaumes.<br />
Es ist eine Assoziationsreise<br />
mit starken, mal zarten,<br />
mal dynamischen und<br />
immer wieder sehr ästhetischen<br />
Momenten, die<br />
sich verwandeln, auflösen,<br />
ins Gegenteil umschlagen.<br />
Manches ist aber auch zu<br />
plakativ: Dieses bedeutungschwangere<br />
Halten<br />
und Stützen, die großen<br />
Gesten – sie mögen berühren,<br />
originell sind sie<br />
nicht. Ein Erlebnis in wunderschöner<br />
Kulisse war<br />
diese „Garten‐Kunst“ aber<br />
unbedingt.<br />
Marion Klötzer<br />
Alter von sieben Jahren erstmals<br />
öffentlich auftrat. Wenn<br />
sich nun in Colmar der hochmusikalische<br />
Renaud Capuçon<br />
dem vielgespielten Werk in der<br />
St-Mattieu-Kirche widmet, so<br />
ist das auch eine der Spuren,<br />
die im Festivalprogramm zu<br />
dem jüdischen Geiger führen.<br />
Capuçon geht bei den vielen<br />
Sprüngen volles Risiko. Je höher<br />
er auf dem Griffbrett seiner<br />
Violine steigt, desto inniger,<br />
leuchtender wird sein Ton wie<br />
im berührenden Andante. Das<br />
Tempo im Finale nimmt er fast<br />
so schnell wie Heifetz, ohne<br />
dabei an Differenzierungskunst<br />
einzubüßen. Ein großer,<br />
umjubelter Auftritt, den der<br />
französische Geiger mit einer<br />
persönlichen Hommage – Heifetz‘<br />
„Melodie“ aus Glucks<br />
„Orpheus und Eurydike“ – innig<br />
beschließt.<br />
Georg Rudiger