s'Positive Magazin 09.2016
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Lang anhaltende Regenfälle und Kälteperioden sorgten im Jahr 1816<br />
für schlechte Ernten in weiten Teilen Europas.<br />
feindlichen politischen Umwälzungen, die<br />
schliesslich zur Absetzung der «gnädigen<br />
Herren» von Bern, der Trennung von Kirche<br />
und Staat, dem Ende der «alten Zeit» und<br />
1848 zur Gründung des Bundesstaates<br />
Schweiz führen würden. Zudem tat die Regierung<br />
alles, was in ihren begrenzten Möglichkeiten<br />
lag, um das Los der Landbevölkerung<br />
zu erleichtern.<br />
STAATLICHE HILFE<br />
Die Religion spielte eine viel stärkere Rolle<br />
als heute. Die Gotteshäuser füllten sich und<br />
die Verzagten wurden von der Kanzel herab<br />
ermahnt, mit Standhaftigkeit das Schicksal<br />
zu ertragen. Nebst diesem seelischen Zuspruch<br />
half die Obrigkeit auch materiell. Sie<br />
liess in den Ortschaften fremdes Getreide<br />
verteilen und regte die Gemeinden und die<br />
Wohlhabenden zu wohltätiger Unterstützung<br />
an. In vielen Gemeinden wurden Suppenanstalten<br />
eingerichtet, «wo man den Armen<br />
entweder umsonst oder um billigen Preis Mues<br />
aus Erbsen und Haberkern kochte» (nach<br />
Dittlinger). In Lotzwil wurden vom 29. Januar<br />
bis zum 10. August 1817 22’100 Portionen<br />
unter die Armen verteilt, was die Gemeinde<br />
damals 511 Franken und 3 Batzen kostete.<br />
Die Obrigkeit kämpfte aber auch gegen<br />
Müssiggang und empfahl die vermehrte Anpflanzung<br />
von Kartoffeln, Gemüse und Sommerfrüchten.<br />
Damit konnte indes nur die<br />
äusserste Not gelindert werden. Viele Leute<br />
starben den Hungertod. Andere verloren<br />
Haus und Hof. Damals begann, von Regierung<br />
und Gemeinden angeregt und unterstützt,<br />
die Auswanderung in die USA, nach<br />
Kanada und Südamerika. Zeitweise bezahlten<br />
die Gemeinden den jungen Leuten ein einfaches<br />
Ticket für eine Schiffsreise nach Argentinien<br />
oder New York. In der Hoffnung, niemand<br />
möge wiederkehren. Die Oberaargauer<br />
wurden also zu Wirtschaftsflüchtlingen.<br />
Die «Gotthelf-Romantik» täuscht darüber<br />
hinweg, dass die Lebensverhältnisse im<br />
Oberaargau in diesen schwierigen Zeiten<br />
eher jenen in der heutigen Dritten als der<br />
Ersten Welt ähnelten. Die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung lag in der ersten Hälfte des<br />
19. Jahrhunderts bis zur einsetzenden Industrialisierung<br />
bei rund 40 Jahren. Natürlich<br />
ging es den Reichen besser als den<br />
Armen. So erreichten etwa im Stadtstaat<br />
Genf im 17. Jahrhundert von 1000 Personen<br />
aus der Oberschicht (höhere Amtsträger,<br />
Bürgertum) 305 das 60. Lebensjahr. Bei der<br />
Mittelschicht (Handwerker, reiche Bauern)<br />
waren es 171 und bei der Unterschicht (Taglöhner,<br />
arme Bauern) nur noch 106. Die<br />
Verhältnisse dürften im 19. Jahrhundert, zur<br />
Zeit der grossen Not, noch nicht viel besser<br />
gewesen sein.<br />
ENWICKLUNGSHILFE AUS RUSSLAND<br />
Ein mit heute vergleichbares Sozialsystem<br />
gab es damals nicht. Der Staat war im Vergleich<br />
zu heute schwach. Die Regierung verfügte<br />
damals bei weitem nicht über die gleichen<br />
finanziellen Mittel wie heute. Eine<br />
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