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s'Positive Magazin 09.2016

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KLIMAKATASTROPHE<br />

stimmung durch eine Prophezeiung, die von<br />

einem Astronomen aus der päpstlichen Universität<br />

Bologna stammte und auch im<br />

Oberaargau für Unruhe sorgte. Die<br />

Sonne werde am 18. Juli 1816 ausbrennen.<br />

Dies sei das Ende der<br />

Welt – das war sozusagen das<br />

offizielle Datum des «jüngsten<br />

Tages». Die Legende geht, dass<br />

ein Kavallerie-Trupp während<br />

eines Gewitters durch Herzogenbuchsee<br />

geritten sei. Ihr Signal habe<br />

man für den Schall der «Siebten Trompete»<br />

aus der Apokalypse gehalten.<br />

Nun, die Sonne ist nicht ausgebrannt und<br />

die Welt nicht untergegangen. Aber die Zeiten<br />

waren hart. Der Theologe Peter Scheitlin<br />

notierte nach einer Reise durch das Mittelland:<br />

«Die Gartengemüse waren durch eine<br />

Unzahl von Schnecken grösstenteils gefressen<br />

worden. Das Heu und Emt war in immerwährender<br />

Nässe ausgewachsen und<br />

nur mit Mühe hatte man es an seltenen Sonnenblicken<br />

trocknen können. Wo man in<br />

trockenen Jahren dreissig bis vierzig Viertel<br />

Kartoffeln erntete, erntete man in diesem<br />

Jahr nur fünf bis zehn Viertel. An manchen<br />

Orten liess man sie den Mäusen im Boden,<br />

weil es den Bauern nicht einmal der Mühe<br />

lohnte, sie heraus zu graben. Die Kartoffeln<br />

waren meist erbärmlich schlecht, käsig, glasig,<br />

räudig. Obst war sehr wenig gewachsen.<br />

Das Gewachsene war kraftlos.» Bereits im<br />

Juli 1816 erliessen einige Kantone ein Ausfuhrverbot<br />

für Getreide. Die einsetzende<br />

Teuerung ruinierte Existenzen und führte zu<br />

einer steigenden Anzahl an Bettlern. Einzelne<br />

Gemeinden erliessen gar Bettelverbote.<br />

Der Winter 1816/17 kündigte sich früh<br />

an, mit Frost in den Niederungen schon im<br />

Oktober. Im November setzten Nebel, Regen,<br />

Stürme und Schneefall ein – nur gewaltigen<br />

Folgen. Als die Schneemassen im Frühling<br />

und Sommer 1817 schmolzen, kam es noch<br />

einmal zu Überschwemmungen. In verschiedenen<br />

Schweizer Seen wurden die höchsten<br />

Pegelstände aller Zeiten gemessen. Zu Beginn<br />

des Jahres 1817 schien sich das entsetzliche<br />

Wetter des Vorjahres fortzusetzen, die<br />

ersten Monate waren kalt, schneereich und<br />

stürmisch. Im Mai und Juni 1817 stiegen die<br />

Preise für Brotgetreide und die Hungersnot<br />

auf den Höchststand an.<br />

In Westeuropa<br />

litten die Bewohner<br />

stärker unter der<br />

Klimakatastrope<br />

als in Russland.<br />

So entsetzlich die Zeiten gewesen<br />

sein mögen – im Rückblick erkennen<br />

wir, dass die Not zu einem<br />

Moderniserungsschub geführt hat.<br />

1816: Temperaturabweichung im Vergleich<br />

zum langjährigen Mittel 1971–2000.<br />

3,5<br />

2,5<br />

1,5<br />

0,5<br />

−0,5<br />

−1,5<br />

−2,5<br />

−3,5<br />

Temperatur (°C)<br />

−2<br />

−3<br />

−2<br />

−2<br />

Doch bereits im Laufe des Junis wurde klar,<br />

dass die Ernte besser ausfallen würde als im<br />

Vorjahr – vielleicht sogar besser als in den<br />

letzten fünf Jahren. Im Mai hatte sich das<br />

Wetter gebessert und blieb bis in den Herbst<br />

hinein freundlich. Die Vegetation holte über<br />

den Sommer rasch auf und die Ernte fiel gut<br />

aus. So begannen die Preise zu sinken. Möglichst<br />

bald begann man mit dem Einbringen<br />

des Getreides. Und angesichts des Hungerjahres<br />

wurde diese Ernte gefeiert wie nie<br />

eine Ernte zuvor. Es war das Ende der Hungerkrise<br />

– und der<br />

Anfang einer besseren<br />

Zeit.<br />

Um künftig solche<br />

extremen Zeiten besser<br />

durchstehen zu<br />

können, kam es nun<br />

zu einer Modernisierung<br />

der Landwirtschaft<br />

auch im Oberaargau.<br />

Dazu gehörte unter anderem die Entdeckung<br />

des natürlichen Düngers, also der<br />

intensivere, gezieltere Einsatz von Gülle und<br />

Mist. Zur Verkürzung der Vegetationszeit<br />

wurden schneller wachsende Sorten gezüchtet.<br />

Die grosse Not beschleunigte auch den<br />

Aufbau des Versicherungs- und Bankenwesens.<br />

So entsetzlich die Zeiten in den Jahren<br />

1816 und 1817 auch gewesen sein mögen – im<br />

Rückblick erkennen wir, dass die Not zu einem<br />

Modernisierungsschub in den verschiedensten<br />

Bereichen geführt hat und fortan die<br />

−3<br />

0<br />

−1<br />

−2<br />

−2<br />

−1<br />

0 1<br />

−1<br />

Welt eine bessere war. Eine scheinbar sinnlose<br />

war letztlich eine sinnreiche Krise.<br />

Die Sensibilität für Klimakatastrophen ist<br />

heute wieder gross. Die Frage ist, was heute<br />

bei einem ähnlichen Vulkanausbruch passieren<br />

würde. Es hat seither nie mehr eine<br />

vergleichbare Katastrophe gegeben. Selbst<br />

die Explosion des Krakatau 1883 kommt bei<br />

weitem nicht an den Tambora von 1815 heran.<br />

Dank einer hoch entwickelten Landwirtschaft<br />

würden die Ernteausfälle wohl<br />

geringer ausfallen und aufgrund eines globalen<br />

Transportsystems wäre es heute eher<br />

möglich, Lebensmittel aus weniger betroffenen<br />

Gegenden in Notgebiete zu verteilen.<br />

FINANZKRISE STATT HUNGERSNOT<br />

Eine Hungersnot könnte im Oberaargau heute<br />

wohl vermieden werden. Aber eine solche<br />

Katastrophe hätte unabsehbare Folgen auf<br />

die Wirtschafts- und Finanzsysteme und<br />

könnte der Auslöser einer globalen Wirtschaftskrise<br />

sein – und die wiederum würde<br />

auch eine lokale Wirtschaftskrise nach sich<br />

ziehen. Wie die Explosion des Vulkans Tambora<br />

zeigt, kann unser Leben auch durch<br />

etwas beeinflusst werden, das am anderen<br />

Ende der Welt passiert.<br />

Literatur: Verschiedene Ausgaben des «Jahrbuch<br />

des Oberaargaus». «Tambora und das<br />

Jahr ohne Sommer» von Wolfgang Behringer.<br />

«Das Jahr ohne Sommer» von Jelle de Boer<br />

und Donald Sanders. «Berner Zeiten», Band 5.<br />

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Foto: wikimedia.org/Giorgiogp2<br />

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26 s’Positive 9 / 2016

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