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Der Zürcher an sich<br />
Bescheidenheit galt noch nie als Zürcher Tugend.<br />
Da ist etwas dran, aber anders als man denkt.<br />
Sich als Zürcher zu fühlen ist ein Gemütszustand,<br />
der nichts mit der Herkunft zu tun hat und jedem<br />
Neuzuzüger offensteht.<br />
«Wir Zürcher sind nicht arrogant», pfl egte meine Urgrossmutter zu<br />
sagen, «wir sind bloss besser». Sie sagte das jeweils todernst, und<br />
wer den Witz nicht verstand und die Selbstironie nicht erkannte, der<br />
war ihrer Meinung nach selber schuld. Insofern war sie natürlich<br />
schon etwas arrogant. Meine Urgrossmutter witzelte auch gerne<br />
über meine Grossmutter, die in Luzern lebte und ihr so schrecklich<br />
altmodisch provinziell vorkam. Meine Urgrossmutter war halt eine<br />
typische Zürcherin.<br />
Zwar war meine Urgrossmutter (im Gegensatz zu meiner Grossmutter)<br />
gar nicht in Zürich geboren und aufgewachsen, sondern im<br />
Aargau. Doch der typische Zürcher – und das war offenbar schon vor<br />
hundert Jahren so – muss nicht ein Eingeborener sein. Woraus wir<br />
lernen: Das zürcherische Wesen ist nicht eine Frage der Herkunft<br />
oder gar der Geburt. Es handelt sich vielmehr um eine Geisteshaltung,<br />
die man sich aneignen und, wie das Beispiel meiner Grossmutter<br />
zeigt, auch wieder verlernen kann.<br />
Den typischen Zürcher erkennt man erst einmal an seinem Dialekt<br />
(vulgo «Züri-Schnurre»). Es gibt diesen Dialekt in verschiedenen<br />
Varianten. Die Winterthurer reden etwas gespreizter, die Oberländer<br />
eine Spur bedächtiger, an der «Goldküste» oder oben am «Züriberg»<br />
parliert man distinguierter als im «Chreis Cheib» entlang der Langstrasse.<br />
Die Restschweizer nehmen diese feinen Unterschiede aber<br />
kaum zur Kenntnis, viele misstrauen den Zürchern einfach prinzipiell.<br />
Ich selber zum Beispiel bin als Landei im Aargau aufgewachsen.<br />
Wenn ich als Kind meine Verwandten in Zürich besuchte, war es mir<br />
stets etwas unheimlich. Die Zürcher nahm ich als unfreundlich war,<br />
und es schien mir, dass sie schneller «schnurren», als ich Denken<br />
konnte. Später zog ich nach Zürich, nach ein paar Jahren fühlte ich<br />
mich als Zürcher, und ich kann Ihnen versichern: Alles nur ein Missverständnis!<br />
Die Zürcher sind bloss etwas direkter als in der Schweiz<br />
üblich. Ja, vielleicht auch etwas schneller als die Berner. Aber das ist<br />
bloss eine Frage der Übung.<br />
Die prägnanteste «Züri-Schnurre» zelebriert heute zweifellos der<br />
Musik-Kabarettist Blues-Max – und der stammt bezeichnenderweise<br />
aus dem Thurgau und redete als Kind mal ganz anders. Oder denken<br />
wir doch etwa an die legendäre «Kleine Niederdorfoper», wo der gebürtige<br />
Solothurner Ruedi Walter und die St. Gallerin Ines Torelli als<br />
erste die Hauptrollen bekleideten. Sogar die Zürcher Stadtpräsidentin<br />
stammt bekanntlich aus dem Aargau (ihre Vorgänger waren Innerschweizer).<br />
Namentlich in der Stadt Zürich sind die alteingesessenen Geschlechter<br />
eher rar geworden, sie haben nicht mehr viel zu vermelden. Das<br />
sieht man am deutlichsten beim Sechseläuten, dem geschichts- und<br />
prestigeträchtigen, über die Landesgrenzen hinweg bekannten Fest<br />
der Zünfte. Schaut man sich die Zunftleute (recto: Zoifter) etwas<br />
genauer an, wird man schnell feststellen, dass die meisten von ihnen<br />
sich längst in eine steuergünstige Vorortgemeinde verzogen haben.<br />
Den meisten Stadtzürchern bedeutet das Sechseläuten daher nicht<br />
Der typische Zürcher, auf dem Land wie in der<br />
Stadt, sieht sich selber kolossal international –<br />
sozusagen auf einer Linie, die über Tokyo,<br />
New York und Paris direkt via Zürich rund um<br />
den Erdball führt.<br />
viel, den Züribietern, die traditionell eh eine gewisse Distanz zur<br />
Stadt wahren, erst recht nicht (sofern sie keine Zoifter sind). Das<br />
Sechseläuten wird deshalb vor allem für die Fremden gefeiert, aber<br />
man feiert gerne mit. Weil wir Zürcher eben gerne feiern (und mag<br />
sich Zwingli im Grabe wälzen).<br />
Der typische Zürcher, auf dem Land wie in der Stadt, sieht sich<br />
selber kolossal international – sozusagen auf einer Linie, die über<br />
Tokyo, New York und Paris direkt via Zürich rund um den Erdball<br />
führt. Es ist sicher kein Zufall, dass der wichtigste internationale<br />
Flughafen der Schweiz nicht in Bern, Basel oder Genf liegt, sondern<br />
eben in Zürich.<br />
Vor allem die Basler regen sich immer wieder über die Zürcher auf,<br />
die sich in ihren Augen aufführen, als würden sie am Nabel der Welt<br />
zu leben. Die Abneigung ist allerdings einseitig, in Zürcher spürt man<br />
keinerlei Ressentiments gegenüber den Baslern, man nimmt sie gar<br />
nicht wahr (was diese natürlich erst recht erzürnt). «Basel», hätte<br />
meine Urgrossmutter vielleicht gespottet, «das ist doch dieser beschauliche<br />
Flecken an der Birs, da wo sie die feinen Basel-Tirggel<br />
machen.»<br />
Ja, die Zürcher wirken manchmal tatsächlich etwas arrogant. Doch<br />
der Anschein täuscht und ist zumindest übertrieben. Denn die Hälfte<br />
der Arroganz ist (selbst)ironisch gemeint – und die andere Hälfte ist<br />
zugewandert, aus dem Aargau, aus Basel, Bern, Istanbul oder<br />
Buenos Aires. Und immerhin hat jeder, dem die Zürcher überheblich<br />
vorkommen, die Möglichkeit, selber einer zu werden.<br />
*Alex Baur, 54, langjähriger Redaktor bei der Weltwoche, ist in Luzern<br />
geboren, im Tessin und im Aargau aufgewachsen, seit 30 Jahren lebt<br />
er in Zürich. Seine journalistische Laufbahn erstreckt sich von der<br />
NZZ (Gerichtsberichterstatter) über die SonntagsZeitung (Redaktor)<br />
bis zu den deutschen Magazinen Stern und Geo, für die er zahlreiche<br />
Reportagen aus aller Welt verfasste.<br />
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