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Alpsommer & Viehscheid 2017

Das Magazin zu Allgäuer Lebensart, Tradition und Freizeit

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BRAUCHTUM<br />

ALLGÄUER SAGENWELT<br />

DIE VENEDIGERMÄNNLE<br />

Das Allgäu birgt eine ganze Reihe uralter Sagen und Legenden.<br />

Dinge, die man sich früher kaum erklären konnte, gaben häufig<br />

Anlass dazu, sich eine Geschichte als Begründung auszudenken.<br />

Besonders viele Erzählungen ranken sich um die geheimnisvollen<br />

»Venedigermännle«, die kamen, um nach Schätzen zu suchen…<br />

Im Wirtshaus auf dem Auerberg im<br />

Ostallgäu erzählte man sich die Sage<br />

von Fremden, die ins Auerberg-Land<br />

gekommen seien – von den Venedigermännle,<br />

die ganz klein wie Kobolde gewesen<br />

seien, nur ein paar Spannen (Handbreit)<br />

hoch. Sie hätten auf dem Kopf einen großen<br />

Hut gehabt und wären in einen Kittel gekleidet,<br />

der bis zum Boden reicht. Dem, der gut<br />

war, hätten sie geholfen, die anderen hätten<br />

sie bestraft. Sie sollen unterirdische Gänge<br />

gegraben und nach Gold und Silber gesucht<br />

haben.<br />

Im Alpenraum gibt es Hunderte von verschiedenen,<br />

wundersamen Sagen, Legenden<br />

und Märchen über die »Venediger« oder die<br />

»Venedigermännle«, wie sie im Allgäu noch<br />

heute genannt werden: geheimnisvolle,<br />

kleinwüchsige Schatzsucher, die im Mittelalter<br />

nicht nur die deutschen Mittelgebirge<br />

sondern vornehmlich auch das Allgäu in geheimer<br />

Mission durchwanderten.<br />

DIE VENEDIGER GAB ES WIRKLICH<br />

Fakt ist: Die Venezianer, die Venediger, waren<br />

da. Entgegen der Überlieferungen suchten<br />

sie aber nicht nach Goldklumpen. Für<br />

die gab und gibt es im Allgäu leider keinen<br />

Nachweis. Zwar wurden in der Iller einst<br />

Goldpartikel gefunden, die Vorkommen waren<br />

jedoch so gering, dass es sich kaum lohnte,<br />

sie auszuwaschen.<br />

Nein, tatsächlich suchten die Italiener, die<br />

wohl nicht von stattlicher Größe, aber sicherlich<br />

nicht alle kleinwüchsig waren, nach<br />

Zutaten für die Herstellung und Veredelung<br />

von Glas. In Venedig, genauer der Insel Murano,<br />

war der Handel mit sogenannten »Zuschlagstoffen«<br />

zur Glasherstellung ein rentables<br />

Geschäft. In erster Linie haben die Venediger<br />

Kobalt gesammelt. Damit lässt sich<br />

Glas blau färben: ein gern verwendeter Farbton<br />

bei Kirchenfenstern. Ein weiteres wichtiges<br />

Metall, auf das die »Schatzsucher« es<br />

abgesehen hatten, war Mangan, auch als<br />

»Braunstein« bekannt. Handwerker bezeichnen<br />

es als »Glasmacherseife«, denn es ist ein<br />

wichtiger Stoff bei der Fertigung von farblosem<br />

Glas.<br />

Selbstverständlich war es den Venedigern<br />

streng verboten, über die geheimen Zutaten<br />

für die Glasveredelung zu sprechen. Dumm<br />

wären sie auch gewesen, ihre Einnahmequellen<br />

preiszugeben. So gingen die fremdartig<br />

und wohlhabend gekleideten Gesellen oft<br />

schweigsam ihren Geschäften nach und ließen<br />

die Allgäuer Bewohner über ihr Tun rätseln.<br />

GEHEIMNISVOLLE SPIEGEL<br />

Viele der überlieferten Legenden drehen<br />

sich um die magischen »Venedigerspiegel«,<br />

mit denen die eigenartigen<br />

»Männle« tief in die Bergwelt<br />

blicken und Gold und Edelsteine<br />

entdecken konnten.<br />

Es hat sich vor sehr langer Zeit begeben: Ein<br />

Mann aus Obermaiselstein fand unweit des<br />

»Hirschsprungs« einen sonderbaren, ja außergewöhnlichen<br />

Spiegel. Als er ihn aufhob<br />

und hineinblickte, sah er zu seiner Verwunderung<br />

nicht sich, sondern erblickte einen<br />

Bergabhang und eine Felswand, wie sie heute<br />

vor uns aufragt.<br />

Doch merkwürdigerweise hing die Wand<br />

voller goldener und silberner Zapfen. Sie<br />

schimmerten und funkelten noch viel prächtiger<br />

als Eiszapfen im Winter. Hoch oben in<br />

der steilen Wand zwischen Bäumen und Büschen<br />

bewegte sich etwas, ein kleines Männlein<br />

war emsig beschäftigt, solch goldene<br />

Zapfen einzustecken. Das Männlein bemerkte,<br />

dass es durch den Spiegel beobachtet<br />

wurde, und wurde nun ganz aufgeregt, jammerte<br />

und flehte, den Spiegel wegzuwerfen.<br />

Denn sonst müsste es herabstürzen und zu<br />

Tode kommen.<br />

Der Obermaiselsteiner hatte Mitleid mit dem<br />

sonderbaren Wicht, warf den Spiegel weg<br />

und sogleich war alle Pracht verschwunden.<br />

Nun hätte er alles für einen Traum halten<br />

können, wäre da nicht die fürstliche Belohnung<br />

in seiner Tasche gewesen. Das Venedigermännle<br />

hatte den Mann mit einem zapfenförmigen<br />

Goldklumpen reich beschenkt.<br />

Illustrationen: Dominik Ultes<br />

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ALPSOMMER & <strong>Viehscheid</strong> <strong>2017</strong>

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