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ZAP-16-17

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

<strong>16</strong> 20<strong>17</strong><br />

9. August<br />

29. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />

• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />

Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />

Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />

Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />

} Mit dem <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Vermüllte Mietwohnung – Kündigung als Ultima Ratio (S. 829)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im August (S. 830) • BGH bestätigt Zulässigkeit kostenloser Erstberatung (S. 832) •<br />

„Einkaufszettel“ für das Anwaltspostfach (S. 834)<br />

Aufsätze<br />

Börstinghaus, Rechtsprechungsübersicht zum Wohnraummietrecht (S. 859)<br />

Müller, Grundzüge des Urlaubsrechts (S. 873)<br />

Volkmer‐Jäger, Kanzlei‐Leitbild: Erfolgreiche Weiterentwicklung und Marktpositionierung<br />

der Sozietät (S. 885)<br />

Eilnachrichten<br />

EuGH: Preistransparenz bei der Angabe von Flugpreisen (S. 852)<br />

BVerwG: Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach einmaliger Trunkenheitsfahrt (S. 853)<br />

BGH: Vertrauen auf die Gewährung einer Fristverlängerung bei der Berufungsbegründung (S. 854)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 829–830<br />

Anwaltsmagazin – – 830–836<br />

Berufsrechtsreport – – 837–850<br />

Eilnachrichten 1 137–144 851–858<br />

Börstinghaus, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />

zum Wohnraummietrecht – 1. Halbjahr 20<strong>17</strong> 4 R 891–904 859–872<br />

Müller, Grundzüge des Urlaubsrechts <strong>17</strong> 1255–1266 873–884<br />

Volkmer‐Jäger, Kanzlei‐Leitbild: Erfolgreiche Weiterentwicklung<br />

und Marktpositionierung der Sozietät 23 1113–1120 885–892<br />

Nutzen Sie die <strong>ZAP</strong> auch digital: mit der <strong>ZAP</strong> App für PC, Smartphone und Tablet. Sie finden<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F <strong>17</strong>, <strong>17</strong>R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F <strong>16</strong>) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />

• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />

RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />

Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />

Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />

Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />

Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />

Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />

Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />

RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />

Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 241,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Vermüllte Mietwohnung – Kündigung als Ultima Ratio<br />

Wenn ein Vermieter an einen Mieter mit einem<br />

ausgeprägten „Messie-Syndrom“ gerät, so kann<br />

er etwas erleben. Häufig entdeckt der Vermieter<br />

erst nach Jahren und mit Schrecken, in welchem<br />

Zustand sich seine Wohnung befindet, und<br />

möchte den Mieter gerne im Wege der Kündigung<br />

loswerden. Der Mieter wiederum will nicht<br />

ausziehen und widerspricht der Kündigung.<br />

Die einschlägigen Gerichtsentscheidungen im Rahmen<br />

von Räumungsklagen vermitteln einen Eindruck,<br />

was Vermieter und Nachbarn hier erwartet.<br />

Zudem wird deutlich, dass es dabei nicht um die<br />

harmlosen Fälle von Wohnungen geht, in denen<br />

Mieter zahlreiche Antiquitäten oder alte Zeitungen<br />

horten.<br />

In einer mittlerweile rechtskräftigen Entscheidung<br />

des Amtsgerichts Neustadt/Aisch (Urt. v. 25.8.20<strong>16</strong><br />

– 1 C 321/15) ging es um einen Mieter, der seit<br />

vielen Jahren in einer Dreizimmerwohnung lebte.<br />

Anlässlich einer Wohnungsbesichtigung bemerkte<br />

der Vermieter, dass sich die Wohnung in einem<br />

heruntergekommenen Zustand befand. Nachdem<br />

eine Abmahnung des Mieters erfolglos war, sprach<br />

er unter anderem deshalb eine fristlose sowie eine<br />

ordentliche Kündigung aus.<br />

Das Amtsgericht Neustadt/Aisch entschied, dass<br />

die ordentliche Kündigung wegen des Zustands<br />

der Mietwohnung rechtmäßig ist. Denn der Mieter<br />

hatte durch die Vermüllung der Wohnung die<br />

Mietsache gefährdet und dadurch seine vertraglichen<br />

Pflichten i.S.v. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB erheblich<br />

verletzt. Hierzu führte das Gericht in seiner sorgfältigen<br />

Begründung aus, dass sich in der gesamten<br />

Wohnung Unrat stapelte. Die gesamte Wohnung<br />

war verdreckt und stank unerträglich. Küche und<br />

Bad konnten nicht benutzt werden, weil sie mit<br />

Gegenständen vollgestellt waren. Überdies zeigte<br />

sich der Mieter uneinsichtig und verweigerte eine<br />

Zusammenarbeit mit Ämtern. Das Vorliegen einer<br />

unzumutbaren Härte i.S.d. § 574 BGB verneinte das<br />

Gericht mit dem Argument, dass hier das Interesse<br />

des Vermieters an seinem unversehrten Eigentum<br />

Vorrang hat. Das Landgericht Nürnberg-Fürth wies<br />

die Berufung des Mieters mit einstimmigem Beschluss<br />

vom 23.2.20<strong>17</strong> (7 S 7084/<strong>16</strong>) zurück, die<br />

Entscheidung ist rechtskräftig.<br />

In einem anderen Fall hatte das Amtsgericht<br />

Hamburg-Harburg (Urt. v. 18.3.2011 – 641 C 363/10)<br />

die fristlose Kündigung eines „beratungs- und<br />

hilferesistenten“ Mieters gem. § 543 BGB als<br />

gerechtfertigt angesehen. Dessen Wohnung war<br />

nur über „Kriechgänge“ zugänglich. Im Übrigen<br />

war sie mit Unrat, Kartons, abgelaufenen und<br />

offen herumstehenden verschimmelten Lebensmitteln<br />

vollgestellt. In der Wohnung stank es<br />

infolgedessen „bestialisch“. Auch für die anderen<br />

Mieter bestand die Gefahr, dass ihre Wohnungen<br />

von Ungeziefer befallen werden könnten.<br />

Das Amtsgericht Saarbrücken bejahte die Rechtmäßigkeit<br />

einer fristlosen Kündigung gem. § 543<br />

BGB in einem Fall, in dem es im Treppenhaus nach<br />

verdorbenen Speiseresten und Lebensmitteln stank<br />

und die Gefahr bestand, dass Ungeziefer angelockt<br />

und die Substanz der Mietsache gefährdet würde<br />

(AG Saarbrücken, Urt. v. 29.10.1993 – 37 C 267/93).<br />

Das Amtsgericht Hoyerswerda sah eine fristgemäße<br />

Kündigung eines körperbehinderten Mieters<br />

nach § 573 BGB als zulässig an, der seine<br />

Inkontinenzmaterialien nicht ordnungsgemäß entsorgt<br />

hatte. Dadurch stank es auch im Treppenhaus<br />

nach Urin und Fäkalien bzw. nach „Verwesung“.<br />

Mehrere Nachbarn beschrieben die<br />

„Geruchsbelästigung“ als derart massiv, dass sie<br />

es beim Vorbeigehen an der Wohnung kaum<br />

aushalten konnten und deshalb die „Luft anhielten“<br />

(AG Hoyerswerda, Urt. v. 3.2.2015 – 1 C 88/14).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 829


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Schließlich befand das Amtsgericht Menden die<br />

fristlose Kündigung einer Mieterin nach § 543 BGB<br />

für rechtmäßig, die in einem Raum ihrer Mietwohnung<br />

ca. 80 Vögel gehalten hatte. Der Vermieter<br />

war ihr auf die Schliche gekommen, nachdem<br />

sich Nachbarn über den Lärm beschwert hatten (vgl.<br />

AG Menden, Urt. v. 5.2.2014 – 4 C 286/13). Anlässlich<br />

einer Ortsbegehung stellte sich heraus, dass die<br />

Vögel in einem Raum „unkontrolliert nisteten,<br />

brüteten und sich vermehrten.“ Dass hierin eine<br />

vertragswidrige Nutzung einer Mietwohnung liegt,<br />

bedarf keiner weiteren Ausführungen.<br />

Demgegenüber führt das Landgericht Siegen (LG<br />

Siegen, Urt. v. 10.1.2006 – 1 S 1<strong>17</strong>/05) aus, dass sich<br />

allein aus einem „muffigen Geruch“ in einer mit alten<br />

Haushaltsgegenständen, Zeitungen oder Zeitschriften<br />

vollgestellten Mietwohnung noch keine Gefährdung<br />

der Mietsache ergebe. Die Hausgemeinschaft<br />

müsse „gewisse Beeinträchtigungen“ hinnehmen,<br />

„die aus dem Wohnverhalten und persönlichen<br />

Befinden eines hochbetagten langjährigen Mieters<br />

und Hausnachbarn erwachsen können“.<br />

Aus dieser „Messie-Rechtsprechung“ ergibt sich,<br />

dass die Gerichte eine Kündigung wegen Vermüllung<br />

einer Mietwohnung nur unter strengen Voraussetzungen<br />

als rechtmäßig ansehen. Zwar räumt der<br />

BGH dem Vermieter aus § 242 BGB ein Besichtigungsrecht<br />

ein, da der Mieter die Nebenpflicht habe,<br />

dem Vermieter – nach entsprechender Vorankündigung<br />

– ein Zutrittsrecht zu der Wohnung zu<br />

gewähren. Allerdings ist hierfür das Vorliegen eines<br />

konkreten sachlichen Grundes unabdingbar. Ein<br />

anlassloses Besichtigungsrecht steht dem Vermieter<br />

nicht ständig zu – auch nicht aus formularvertraglich<br />

vereinbarter Klausel im Mietvertrag, die wegen unangemessener<br />

Benachteiligung des Mieters nach<br />

§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam wäre (BGH, Urt. v.<br />

4.6.2014 – VIII ZR 289/13).<br />

Der Vermieter muss die Richter also davon überzeugen,<br />

dass es sich nicht um ein harmloses Chaos<br />

handelt. Vielmehr muss es sich um organischen Müll<br />

handeln, durch den die Mietsache konkret gefährdet<br />

wird bzw. durch dessen Gestank Nachbarn unzumutbar<br />

belästigt werden (so z.B. in dem Fall des AG<br />

München, Urt. v. 8.1.20<strong>16</strong> – 461 C 19626/15).<br />

Nur: Ist die Geruchsbelästigung erst einmal wahrnehmbar,<br />

ist es in der Regel bereits zu spät.<br />

Fakt ist: Für den Vermieter ist es ein zeit- und<br />

kostenintensives Unterfangen, gegen einen „Messie-<br />

Mieter“ vorzugehen. In der Regel wird er – nach<br />

erfolgreicher Kündigung und Räumungsklage – die<br />

Kosten der Zwangsräumung nicht eintreiben können.<br />

Selbst bei einer kleinen Wohnung, die völlig vermüllt<br />

ist, kommen hier schnell 10.000 € zusammen.<br />

Wer regelmäßig Vermieter in derartigen Fällen<br />

berät, weiß, dass dies nicht nur an die finanzielle<br />

Substanz geht.<br />

Ass. jur. HARALD BÜRING, Düsseldorf<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im August<br />

Im Juli und August sind wieder zahlreiche Neuregelungen<br />

in Kraft getreten. Sie betreffen vorwiegend<br />

die Bereiche Arbeit, Gesundheit und<br />

Justiz. Die wichtigsten hiervon sind:<br />

• Gleichbehandlung beim Arbeitslohn<br />

Am 6. Juli in Kraft getreten ist das neue Gesetz zur<br />

Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen,<br />

das künftig geschlechtsspezifische Diskriminierungen<br />

bei der Entlohnung verhindern soll. Insbesondere<br />

müssen Arbeitgeber mit mehr als 200 Beschäftigten<br />

830 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

auf Anfrage eines Arbeitnehmers erläutern, nach<br />

welchen Kriterien im Betrieb entlohnt wird.<br />

• Berufskrankheiten<br />

Seit dem 5. August enthält die Liste der Berufskrankheiten<br />

fünf weitere Erkrankungen, darunter<br />

Fokale Dystonie (Muskelkrämpfe) bei Instrumentalmusikern,<br />

Eierstockkrebs durch Asbest oder<br />

Leukämie durch das Gas 1,3-Butadien.<br />

• Übertragbare Krankheiten<br />

Seit dem 25. Juli in Kraft ist ein Gesetz, das u.a.<br />

durch verstärkte Meldepflichten und bessere<br />

Zusammenarbeit der Gesundheitsbehörden den<br />

Schutz vor Infektionen verbessern soll. Es regelt<br />

zudem, dass künftig in Krankenhäusern Personaluntergrenzen<br />

in der Pflege bestehen.<br />

• Schutz vor Legionellen<br />

Am 19. August in Kraft tritt die 42. Verordnung zum<br />

Bundesimmissionsschutzgesetz, die den hygienisch<br />

einwandfreien Betrieb von Kühlanlagen und<br />

ähnlichen Einrichtungen gewährleisten soll. Sie<br />

zielt vor allem auf den Schutz vor Legionellen, die<br />

sich oft aus diesen Anlagen über Wassertropfen<br />

verbreiten und Lungenentzündungen verursachen.<br />

• Kriegsopferfürsorge<br />

Kriegsgeschädigte und ihre Hinterbliebenen können<br />

seit dem 25. Juli höhere Vermögensschonbeträge<br />

geltend machen, wenn sie Leistungen der<br />

Kriegsopferfürsorge erhalten.<br />

• Beschäftigte der Fleischindustrie<br />

Seit dem 25. Juli in Kraft ist ein neues Gesetz, das<br />

sich gegen ausbeuterische Verhältnisse in der<br />

Fleischindustrie wendet. Firmen dürfen ihre Pflicht<br />

zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen jetzt<br />

nicht mehr dadurch umgehen, dass sie Subunternehmer<br />

beauftragen, die wiederum „selbstständige“<br />

Schlachter und Zerleger über Werkverträge zu<br />

prekären Bedingungen beschäftigen. Arbeitgeber<br />

müssen kostenlos Arbeitsmittel, Werkzeuge und<br />

Schutzkleidung zur Verfügung stellen.<br />

• Elektronischer Personalausweis<br />

Seit dem 15. Juli in Kraft ist das Gesetz zur Förderung<br />

des elektronischen Identitätsnachweises, das den<br />

Online-Einsatz des elektronischen Personalausweises<br />

attraktiver machen soll. Insbesondere wird die<br />

Nutzung von dessen eID-Funktion erleichtert.<br />

• Neues Waffenrecht<br />

Seit dem 6. Juli in Kraft ist eine Änderung des<br />

Waffenrechts, wonach Besitzer bislang nicht eingetragene<br />

Waffen straffrei bei Polizei und Behörden<br />

abgeben können. Die Bundesregierung hofft, damit<br />

die Zahl illegaler Waffen und Munition zu reduzieren.<br />

• Entschädigung für seelisches Leid<br />

Seit dem 22. Juli in Kraft ist eine Neuregelung, die<br />

Hinterbliebenen im Sinne einer Anerkennung ihres<br />

seelischen Leids wegen des Verlustes eines ihnen<br />

besonders nahestehenden Menschen gegenüber<br />

dem hierfür Verantwortlichen eine Entschädigung<br />

zuspricht. Das Gesetz gilt für fremdverursachte<br />

Tötungen wie etwa Mord, Verkehrsunfall, ärztlichem<br />

Behandlungsfehler oder Terror.<br />

• Betreuungsrecht<br />

Das Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts<br />

von Betreuten ist seit dem 22. Juli in Kraft.<br />

Damit sind ärztliche Zwangsbehandlungen von<br />

Betreuten künftig auch außerhalb geschlossener<br />

Einrichtungen, wie beispielsweise in normalen<br />

Krankenhäusern, möglich.<br />

• Ehemündigkeit<br />

Ebenfalls seit dem 22. Juli in Kraft ist ein Gesetz<br />

gegen Kinderehen. Künftig ist eine Eheschließung<br />

nur noch möglich, wenn beide Heiratswillige<br />

volljährig sind.<br />

• Samenspenderregister<br />

Wer durch eine Samenspende gezeugt wurde, hat<br />

seit dem 25. Juli das Recht zu erfahren, wer der<br />

leibliche Vater ist. Dafür wird ein zentrales Samenspenderregister<br />

eingerichtet.<br />

• Mindeststrafe bei Wohnungseinbruch<br />

Einbrecher werden künftig härter bestraft: Für<br />

den Einbruch in eine Privatwohnung gilt seit dem<br />

22. Juli eine Mindeststrafe von einem Jahr Haft.<br />

• Rehabilitierung von Homosexuellen<br />

Männer, die strafrechtlich nach dem früheren § <strong>17</strong>5<br />

StGB verurteilt wurden, werden rehabilitiert. Das<br />

Gesetz, das seit dem 22. Juli in Kraft ist, spricht<br />

ihnen zudem einen Entschädigungsanspruch zu.<br />

Ausgenommen von der Rehabilitierung bleiben<br />

Verurteilungen wegen sexueller Handlungen, die<br />

auch unter Heterosexuellen strafbar waren.<br />

• Photovoltaikanlagen auf Mietgebäuden<br />

Seit dem 25. Juli in Kraft ist eine Neuregelung,<br />

wonach künftig auch Mieter von Solarstrom<br />

auf ihrem Hausdach profitieren können. Dies soll<br />

Anreize für den Ausbau von Photovoltaikanlagen<br />

auf Wohngebäuden schaffen.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 831


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

BGH bestätigt Zulässigkeit<br />

kostenloser Erstberatung<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat auf ein<br />

kürzlich ergangenes Urteil des BGH-Anwaltssenats<br />

hingewiesen, das die kostenlose Erstberatung<br />

durch einen Rechtsanwalt für zulässig<br />

erklärt hat (Urt. v. 3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 42/<strong>16</strong>).<br />

In dem zugrunde liegenden Fall, der das Verkehrsrecht<br />

betraf, war die Rechtsanwaltskammer Brandenburg<br />

gegen einen Kollegen vorgegangen, dessen<br />

Kanzlei in einer Regional-Zeitung wie folgt<br />

geworben hatte:<br />

„Verkehrsunfall – kostenlose Erstberatung. Kennen Sie<br />

Ihre Rechte nach einem Verkehrsunfall? Unsere Kanzlei<br />

bietet Ihnen ab sofort nach einem Verkehrsunfall eine<br />

kostenlose Erstberatung an. Sichern Sie Ihre Rechte<br />

und vereinbaren Sie sofort nach einem Verkehrsunfall<br />

einen Termin mit unserer Kanzlei für eine kostenlose<br />

Erstberatung. M. & D. Rechtsanwälte (…)“<br />

Die aufsichtführende Rechtsanwaltskammer sah<br />

darin einen klaren Verstoß gegen das anwaltliche<br />

Gebührenrecht. Eine kostenlose Rechtsberatung<br />

ohne inhaltliche Qualifizierung anhand von Besonderheiten<br />

des Falls oder der den Rechtsrat<br />

suchenden Person sei unzulässig. Zur Begründung<br />

verwies die Kammer auf § 49b BRAO sowie §§ 34,<br />

4 RVG. Der Anwaltsgerichtshof Brandenburg hob<br />

die belehrende Ermahnung der Kammer zwar<br />

wieder auf, ließ die Berufung zum BGH aber zu.<br />

Dieser wies die Berufung der Rechtsanwaltskammer<br />

nun zurück. Die Voraussetzungen des<br />

§ 49b Abs. 1 S. 1 BRAO seien nicht erfüllt. Auch<br />

die Ausnahmevorschrift des § 49b Abs. 1 S. 2<br />

BRAO, nach welcher der Rechtsanwalt die Gebühren<br />

und Auslagen nach Erledigung des Auftrags<br />

unter bestimmten Voraussetzungen erlassen<br />

oder ermäßigen darf, greife ersichtlich nicht<br />

ein, weil die kostenlose Erstberatung vorab und<br />

unabhängig von der Bedürftigkeit des Auftraggebers<br />

angeboten wurde. Wenn für die Erstberatung<br />

im RVG keine bestimmte Gebühr vorgesehen<br />

sei, gebe es auch keine Mindestgebühr,<br />

die unter Verstoß gegen § 49b BRAO unterschritten<br />

werden könnte.<br />

Eine Absage erteilte der Anwaltssenat des BGH<br />

auch der Auffassung der Anwaltskammer, dass die<br />

Vorschrift des § 34 Abs. 1 S. 1 RVG durch die in §4<br />

Abs. 1 RVG enthaltenen Regelungen dahingehend<br />

modifiziert werde, dass die vereinbarte Vergütung<br />

in einem angemessenen Verhältnis zu Leistung,<br />

Verantwortung und Haftungsrisiko der anwaltlichen<br />

Leistung stehen müsse. § 4 RVG sei hier gar<br />

nicht anwendbar, denn er setze eine gesetzlich<br />

vorgeschriebene Gebühr voraus. Schon aus dem<br />

Wortlaut der Vorschrift und ihrer Position im<br />

Gesetz ergebe sich, dass der Gesetzgeber damit<br />

gänzlich andere Konstellationen gemeint habe.<br />

Nach Auffassung des DAV ist dies eine erfreuliche<br />

Klarstellung, dass kostenlose Erstberatungen zulässig<br />

sind. Das sei bisher schon herrschende<br />

Meinung in der Literatur gewesen; die Mindermeinung,<br />

der zufolge ein vollständiger Verzicht<br />

auf Gebühren für anwaltliche Leistungen niemals<br />

angemessen und deshalb unzulässig sei, sei damit<br />

überholt. Die Anwaltschaft könne in Zukunft<br />

problemlos kostenlose Erstberatungen anbieten,<br />

was nicht-anwaltliche Rechtsdienstleister schon<br />

längst täten. Diese hätten ab sofort keinen<br />

Wettbewerbsvorteil mehr vor Anwaltskanzleien.<br />

[Quellen: BGH/DAV]<br />

Anlassunabhängige Geldwäscheaufsicht<br />

der Anwaltskammern<br />

Bislang übten die Rechtsanwaltskammern die<br />

Geldwäscheaufsicht nur auf Beschwerden hin<br />

oder bei Kenntnis von entsprechenden Anhaltspunkten<br />

aus. Mit dem am 26.6.20<strong>17</strong> in Kraft<br />

getretenen Gesetz zur Umsetzung der Vierten<br />

EU-Geldwäscherichtlinie (BGBl 20<strong>17</strong> I, S. 1822) hat<br />

sich das geändert: Nunmehr üben die Kammern<br />

nach § 51 GwG eine anlassunabhängige Geldwäscheaufsicht<br />

über Rechtsanwältinnen und<br />

Rechtsanwälte aus.<br />

Die Kammern müssen zur anlassunabhängigen<br />

Geldwäscheaufsicht gem. § 51 Abs. 9 GwG eine<br />

Jahresstatistik erstellen. Die Durchführung der<br />

Prüfungen kann auf andere Personen oder Einrichtungen<br />

übertragen werden (§ 51 Abs. 3 S. 3<br />

GwG). Den nach GwG verpflichteten Rechtsanwältinnen<br />

und Rechtsanwälten müssen die<br />

Kammern regelmäßig aktualisierte Auslegungsund<br />

Anwendungshinweise für die Umsetzung<br />

der Sorgfaltspflichten und der internen Sicherungsmaßnahmen<br />

zur Verfügung stellen (§ 51<br />

Abs. 8 GwG).<br />

[Quelle: BRAK]<br />

832 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Scheinvaterschaften zur<br />

Aufenthaltsrechtserlangung<br />

Mit der Begründung von Scheinvaterschaften zur<br />

Aufenthaltsrechtserlangung hat sich kürzlich eine<br />

Bundestagsanfrage befasst. Wie die Bundesregierung<br />

in ihrer Antwort ausführt, liegt eine missbräuchliche<br />

Anerkennung der Vaterschaft dann<br />

vor, wenn diese gezielt gerade dem Zweck dient,<br />

die rechtlichen Voraussetzungen für die erlaubte<br />

Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des Kindes,<br />

des Anerkennenden oder der Mutter zu schaffen.<br />

Dies gelte auch für den Fall, dass mittels der<br />

Anerkennung die rechtlichen Voraussetzungen für<br />

die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt<br />

des Kindes durch den Erwerb der deutschen<br />

Staatsangehörigkeit des Kindes geschaffen werden<br />

sollen (vgl. BT-Drucks 18/13097).<br />

Zur Verhinderung dieser missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennungen<br />

habe der Gesetzgeber im<br />

Jahr 2008 ein behördliches Anfechtungsrecht<br />

eingeführt, schreibt die Bundesregierung weiter.<br />

Das Bundesverfassungsgericht habe diese Regelung<br />

jedoch mit Beschluss vom <strong>17</strong>.12.2013 (1 BvL<br />

6/10) für verfassungswidrig und nichtig erklärt.<br />

Damit sei die rechtliche Handhabe entfallen, um<br />

mutmaßlich missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen<br />

behördlich zu überprüfen und dagegen<br />

vorzugehen.<br />

Wie die Regierung ferner darlegt, haben sowohl<br />

Vertreter der das Ausländerrecht vollziehenden<br />

Länder als auch der Ausländerbehörden aufgrund<br />

steigender Verdachtszahlen wiederholt und<br />

nachdrücklich eine Neuregelung zur Verhinderung<br />

missbräuchlicher Vaterschaftsanerkennungen gefordert.<br />

Jetzt sei mit dem vom Bundestag kürzlich<br />

gebilligten Gesetz zur besseren Durchsetzung der<br />

Ausreisepflicht ein präventives Prüfverfahren beschlossen,<br />

um missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen<br />

zukünftig bereits im Vorfeld zu verhindern.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Evaluationsbericht zur Mediation<br />

in Deutschland<br />

Die Bundesregierung hat Mitte Juli den nach § 8<br />

Abs. 1 des Mediationsgesetzes vorgeschriebenen<br />

Evaluationsbericht zur Entwicklung der Mediation<br />

in Deutschland und über die Aus- und Fortbildung<br />

der Mediatorinnen und Mediatoren vorgelegt. Mit<br />

dieser Pflicht zur Evaluierung wollte der Gesetzgeber<br />

des im Jahr 2012 in Kraft getretenen Gesetzes<br />

sicherstellen, dass nach rund vier Jahren überprüft<br />

wird, ob weiterer gesetzgeberischer Handlungsbedarf<br />

hinsichtlich der in Deutschland neuen außergerichtlichen<br />

Konfliktlösungsmöglichkeit besteht.<br />

Der Bericht kommt nun zu dem Ergebnis, dass die<br />

Mediation als alternatives Instrument der Konfliktbeilegung<br />

in Deutschland einen festen Platz in<br />

der Streitbeilegungslandschaft einnimmt, allerdings<br />

noch nicht in einem Maße genutzt wird, wie es<br />

wünschenswert wäre. Das Potential der Mediation<br />

sei, so das Fazit, noch nicht voll entfaltet.<br />

Beauftragt mit der Erstellung der rechtstatsächlichen<br />

Studie war das Deutsche Forschungsinstitut<br />

für die öffentliche Verwaltung in Speyer. Dieses hat<br />

seit 2014 bundesweit mehr als 1.000 Mediatorinnen<br />

und Mediatoren befragt. Zudem wurde u.a. umfangreich<br />

Literatur ausgewertet, und es wurden<br />

Workshops mit den Mediatoren durchgeführt. Das<br />

Institut kommt zu folgenden Feststellungen:<br />

• Die Zahl der durchgeführten Mediationen ist<br />

auf einem gleichbleibenden niedrigen Niveau.<br />

Die Mediationen konzentrieren sich dabei<br />

überwiegend auf einige wenige Mediatoren.<br />

• Die Mediationstätigkeit bietet nur geringe Verdienstmöglichkeiten.<br />

Viele Mediatoren sind in<br />

der Ausbildung tätig.<br />

• Während die Mediationskostenhilfe von den<br />

Mediatoren für das beste Instrument zur Förderung<br />

der Mediation gehalten wird, rät der<br />

Bericht jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />

von einer allgemeinen, bereichsunabhängigen<br />

Regelung zur Mediationskostenhilfe ab.<br />

• Die Vollstreckbarkeit von Mediationsvereinbarungen<br />

wird von den Mediatoren im geringsten<br />

Maße als weiterführendes Instrument zur<br />

Förderung der Mediation erachtet. Für eine<br />

Sonderregelung zur Vollstreckbarmachung von<br />

Mediations(ergebnis)vereinbarungen gebe es<br />

keinen Bedarf.<br />

• Die Zertifizierung von Mediatoren, wie sie<br />

derzeit ausgestaltet ist, hat für die Nutzer wenig<br />

Relevanz. Inwieweit ein einheitliches öffentlichrechtliches<br />

Zertifizierungssystem dies zu ändern<br />

vermag, ist empirisch nicht belegbar.<br />

Einen unmittelbaren gesetzgeberischen Handlungsbedarf,<br />

insbesondere auf dem Gebiet der<br />

Aus- und Fortbildung von Mediatoren, sieht der<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 833


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Bericht daher nicht. Die Bundesregierung will die<br />

Ergebnisse jedoch zum Anlass nehmen, um im<br />

Austausch mit den betroffenen Kreisen auf der<br />

Grundlage der Erkenntnisse des Berichts zu überlegen,<br />

wie das mit dem Mediationsgesetz verfolgte<br />

Ziel der Förderung von Mediation langfristig noch<br />

besser verwirklicht werden kann.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Bericht zu Diskriminierungen<br />

in der Arbeitswelt<br />

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat<br />

kürzlich ihren Bericht zur Arbeitssituation lesbischer,<br />

schwuler, bisexueller und transgeschlechtlicher<br />

Menschen präsentiert. Daraus geht<br />

hervor, dass rund drei Viertel der Betroffenen<br />

Diskriminierung in mindestens einer Form erlebt<br />

haben. 39 % von ihnen berichteten sogar von<br />

sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.<br />

Knapp zwei Drittel der berichteten Diskriminierungen<br />

seien „AGG-nahe Diskriminierungen“, so<br />

die Studie. Ein Fünftel weise sogar strafrechtliche<br />

Relevanz auf.<br />

Mehr als jeder Zehnte (11,5 %) Befragte hat direkt<br />

arbeitsplatzrelevante Diskriminierung erlebt.<br />

Diese Zahl liegt speziell bei Transsexuellen noch<br />

deutlich höher (25,5 %). 2,5 % der Befragten<br />

berichteten, dass sie wegen ihrer sexuellen Identität<br />

eine Versetzung und 3,4 %, dass sie eine<br />

Kündigung erlebt haben, 7,9 % berichteten, dass sie<br />

einen Arbeitsplatz nicht bekommen haben.<br />

Die Antidiskriminierungsstelle hebt aber auch den<br />

Umstand hervor, dass die Zahl der lesbischen und<br />

schwulen Beschäftigten, die am Arbeitsplatz offen<br />

mit ihrer sexuellen Identität umgehen, sich in den<br />

vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.<br />

Knapp ein Drittel (28,9 %) der Befragten spricht mit<br />

allen Kolleginnen und Kollegen offen über dieses<br />

Thema. Das gewandelte gesellschaftliche Klima<br />

schlage sich in den Unternehmen nieder, so die<br />

Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, CHRISTINE<br />

LÜDERS, bei der Vorstellung der Studie. Viele<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können<br />

heute offener mit ihrer sexuellen Orientierung<br />

umgehen als noch vor zehn Jahren.<br />

Die Antidiskriminierungsstelle stellt seit 2012 jedes<br />

Jahr eine spezielle Form der Diskriminierung in den<br />

Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Die bisherigen Themenschwerpunkte<br />

waren 2012: Alter, 2013: Behinderung,<br />

2014: Rassismus, 2015: Geschlecht, 20<strong>16</strong>:<br />

Religion und in diesem Jahr eben die sexuelle<br />

Vielfalt. Über die Berichte hinaus wird von der<br />

Antidiskriminierungsstelle eine juristische Erstberatung<br />

angeboten bzw. an andere Beratungsstellen<br />

weitervermittelt. Zudem versucht sie, zwischen<br />

den Parteien zu schlichten.<br />

[Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes]<br />

„Einkaufszettel“ für das Anwaltspostfach<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat angesichts<br />

der näher rückenden Nutzungspflicht für<br />

das besondere elektronische Anwaltspostfach (vgl.<br />

dazu zuletzt auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 15/20<strong>17</strong>,<br />

S. 779) kürzlich noch einmal auf die für den Zugang<br />

zum beA mindestens benötigte Computer-Hardund<br />

-Software hingewiesen. Was sich hinter den<br />

„erforderlichen technischen Einrichtungen“, von<br />

denen das Gesetz spricht, verbirgt, soll nachstehend<br />

noch einmal kurz aufgelistet werden:<br />

• PC (auch Laptop) mit USB-Anschluss;<br />

• Betriebssystem und Internetbrowser: Für<br />

die gängigen Betriebssysteme (Windows: ab<br />

Windows 7; Apple: ab OS X 10.9; Linux:<br />

openSUSE 13.2) und Internetbrowser (neuere<br />

Versionen von Internet Explorer, Firefox,<br />

Chrome und Safari) wird die Funktionsfähigkeit<br />

getestet; weitere kompatible Software<br />

wird auf der Webseite der BRAK beschrieben;<br />

• Internetverbindung: Empfohlen werden mindestens<br />

2 Mbit/s;<br />

• Virenschutz: Mittlerweile bringen zwar schon<br />

einige Betriebssysteme einen Virenschutz mit.<br />

Idealerweise sollte aber eine gesonderte Software<br />

zusätzlich installiert werden, die ständig<br />

aktuell zu halten ist;<br />

• die Software „beA Client Security“ muss auf<br />

dem PC installiert werden;<br />

• beA-Karte(n): Zu bestellen über die Bundesnotarkammer.<br />

Mitarbeiter sollten jeweils eine<br />

eigene Karte erhalten;<br />

• Kartenlesegerät: Benötigt wird ein Chipkartenleser,<br />

der an den PC angeschlossen und<br />

dort installiert wird. Es gibt verschiedene Sicherheitsklassen;<br />

für Mitarbeiter reicht ein<br />

Gerät der Klasse 1, für Anwälte wird ein Gerät<br />

834 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

der Klasse 3 empfohlen, mit dem auch die PIN<br />

der beA-Karte geändert und das Signaturzertifikat<br />

aufgeladen werden kann.<br />

Die BRAK verweist darauf, dass neben diesen<br />

notwendigen Komponenten eventuell noch weitere<br />

sinnvolle Hardware zur Verfügung stehen<br />

sollte, etwa ein Drucker und ein Scanner, der für<br />

die Digitalisierung von Papierdokumenten benötigt<br />

wird. Die ausführlichen Tipps der BRAK zu den<br />

technischen Vorgaben für das beA finden sich auf<br />

der Homepage der Kammer unter http://bea.brak.de/<br />

. [Quelle: BRAK]<br />

Personalia<br />

Ende Juni gab es am Bundesgerichtshof mehrere<br />

Ernennungen. Neu zu Richtern am BGH ernannt<br />

wurden die Vorsitzende Richterin am OLG Dr. UTE<br />

BRENNEISEN und die Richterin am OLG Dr. NINA MARX.<br />

Frau Dr. BRENNEISEN kommt vom Thüringer Oberlandesgericht,<br />

wo sie einen Zivilsenat und zudem<br />

den Senat für Notarsachen leitete. Sie ist nun dem<br />

vornehmlich für das Werkvertrags-, Handelsvertreter-<br />

und Zwangsvollstreckungsrecht zuständigen<br />

VII. Zivilsenat des BGH zugewiesen worden.<br />

Frau Dr. MARX war zuletzt als Richterin am<br />

Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen tätig.<br />

Das Präsidium des BGH hat sie mit jeweils hälftiger<br />

Arbeitskraft dem vornehmlich für den gewerblichen<br />

Rechtsschutz, das Urheberrecht und das<br />

Wettbewerbsrecht zuständigen I. Zivilsenat sowie<br />

dem X. Zivilsenat zugewiesen, der schwerpunktmäßig<br />

für Patent- und Gebrauchsmusterstreitsachen<br />

sowie darüber hinaus für das Personenbeförderungs-<br />

und Reisevertragsrecht zuständig ist.<br />

Zum Vorsitzenden Richter am BGH wurde der<br />

bisherige Richter am BGH Prof. Dr. INGO DRESCHER<br />

ernannt. Prof. DRESCHER kam 2007 an den BGH, wo<br />

er seither und zuletzt als stellvertretender Vorsitzender<br />

dem für das Gesellschaftsrecht und für<br />

Teilbereiche des Kapitalmarktrechts zuständigen<br />

II. Zivilsenat angehörte. Ihm wurde nun der<br />

Vorsitz dieses Senats übertragen.<br />

Zum neuen Richter am Bundesverwaltungsgericht<br />

wurde der bisherige Vorsitzende Richter am OVG<br />

Münster HANS-JÖRG HOLTBRÜGGE ernannt. Herr HOLT-<br />

BRÜGGE war langjährig am VG Gelsenkirchen tätig,<br />

im Jahr 2005 wurde er zum Richter am nordrheinwestfälischen<br />

OVG ernannt. Im Januar 2012 folgte<br />

seine Ernennung zum Vorsitzenden Richter. Beim<br />

BVerwG ist er künftig im für das Fürsorgerecht<br />

einschließlich des Asylbewerberleistungsrechts, das<br />

Schwerbehinderten-, Mutterschutz-, Jugendhilfe-,<br />

Jugendschutz- und Ausbildungsförderungsrecht<br />

sowie das Personalvertretungsrecht zuständigen<br />

5. Revisionssenat tätig. [Quellen: BGH/BVerwG]<br />

Herbstveranstaltung des Deutschen<br />

Mietgerichtstags<br />

Die Herbstveranstaltung des Deutschen Mietgerichtstags<br />

findet in diesem Jahr am 15. September<br />

in Hamburg statt. Angekündigt sind Vorträge zu<br />

den Themen „Nutzungsentschädigung nach Beendigung<br />

des Mietverhältnisses“ (Referent: Vors.<br />

Richter am LG HUBERT FLEINDL, München) und<br />

„Kündigungsfolgeschaden des Mieters“ (Referentin:<br />

Vors. Richterin am LG ASTRID SIEGMUND, Berlin).<br />

Interessenten können sich per E-Mail unter<br />

anmeldung@mietgerichtstag.de oder auf der<br />

Webseite der Uni Bielefeld (www.jura.uni-bielefeld.<br />

de/lehrstuehle/artz/startseite) anmelden. Die Teilnahme<br />

ist für Mitglieder des Mietgerichtstags<br />

kostenlos, für Nichtmitglieder beträgt die Teilnahmegebühr<br />

50 €. [Quelle: Mietgerichtstag]<br />

Neuer <strong>ZAP</strong> Report zum Berufsrecht<br />

Das Berufsbild des Rechtsanwalts hat sich in den<br />

letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Der Trend<br />

von der individualistischen Berufsausübung in einer<br />

örtlichen Kanzlei hin zur beruflichen Zusammenarbeit<br />

in grenzüberschreitend tätigen Sozietäten,<br />

die immer stärkere Spezialisierung und die fortschreitende<br />

Digitalisierung sind nur ein paar Beispiele<br />

für die erheblichen Umwälzungen auf dem<br />

Anwaltsmarkt.<br />

Grund genug, dem anwaltlichen Berufsrecht mit<br />

einem eigenen <strong>ZAP</strong> Report einen festen Stellenwert<br />

in der <strong>ZAP</strong> einzuräumen. Der <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport<br />

soll Ihnen einen Überblick über<br />

wesentliche Gesetzesänderungen und die wichtigste<br />

Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht<br />

geben. Den ersten Report lesen Sie in dieser<br />

Ausgabe direkt im Anschluss an das Anwaltsmagazin.<br />

[Red.]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 835


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Wichtige Gesetzesverkündungen im Überblick<br />

Bundesgesetzblatt Teil I 20<strong>17</strong><br />

Gesetz vom Inkrafttreten BGBl, S. Anmerkung<br />

Gesetz zur Durchführung der<br />

Verordnung (EU) 2015/848 über<br />

Insolvenzverfahren<br />

Gesetz zur Ergänzung des Finanzdienstleistungsaufsichtsrechts<br />

im<br />

Bereich der Maßnahmen bei Gefahren<br />

für die Stabilität des Finanzsystems<br />

und zur Änderung<br />

der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie<br />

(Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz)<br />

Dreiundfünfzigstes Gesetz zur<br />

Änderung des Strafgesetzbuches<br />

– Ausweitung des Maßregelrechts<br />

bei extremistischen Straftätern<br />

Achtes Gesetz zur Änderung des<br />

Straßenverkehrsgesetzes<br />

Gesetz zur Bekämpfung der<br />

Steuerumgehung und zur Änderung<br />

weiterer steuerlicher Vorschriften<br />

(Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz<br />

– StUmgBG)<br />

Zweites Gesetz zur Novellierung<br />

von Finanzmarktvorschriften aufgrund<br />

europäischer Rechtsakte<br />

(Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz<br />

– 2. FiMaNoG)<br />

Gesetz zur Umsetzung der Vierten<br />

EU-Geldwäscherichtlinie, zur<br />

Ausführung der EU-Geldtransferverordnung<br />

und zur Neuorganisation<br />

der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen<br />

5.6.20<strong>17</strong> 26.7.20<strong>17</strong><br />

21.4.2018<br />

6.6.20<strong>17</strong> 10.6.20<strong>17</strong><br />

1.7.2018<br />

1476 u.a. örtliche Zuständigkeit bei sog.<br />

Annexklagen, Abwicklung von<br />

Sekundärinsolvenzverfahren<br />

(s. VALLENDER <strong>ZAP</strong> F 14, S. 789 ff.)<br />

1495 u.a. Mindeststandards für die Vergabe<br />

von Neukrediten, neue Verbraucherinformationspflichten<br />

11.6.20<strong>17</strong> 1.7.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>12 Elektronische Aufenthaltsüberwachung;<br />

fakultative Sicherungsverwahrung<br />

<strong>16</strong>.6.20<strong>17</strong> 21.6.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>48 Schaffung von Rahmenbedigungen<br />

für das automatisierte Fahren<br />

23.6.20<strong>17</strong> 25.6.20<strong>17</strong><br />

1.1.2018<br />

23.6.20<strong>17</strong> 25.6.20<strong>17</strong><br />

26.6.20<strong>17</strong><br />

1.1.2018<br />

3.1.2018<br />

1.7.2018<br />

23.6.20<strong>17</strong> 26.6.20<strong>17</strong><br />

25.5.2018<br />

<strong>16</strong>82 u.a. Maßnahmen gegen Steuerbetrug<br />

und -umgehung; Kindergeld<br />

rückwirkend nur für sechs Monate;<br />

Eheleute erhalten automatisch<br />

Steuerklasse IV (vgl. auch <strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin 13/20<strong>17</strong>, S. 664)<br />

<strong>16</strong>93 u.a. Stärkung des Anlegerschutzes<br />

durch Ausweitung von Verhaltens-<br />

und Organisationspflichten<br />

für Wertpapierdienstleistungsunternehmen<br />

1822 u.a. Prüfung des jeweiligen Risikos<br />

von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung<br />

Verordnung vom Inkrafttreten BGBl, S. Anmerkung<br />

Zweite Verordnung zur Änderung<br />

der Sportanlagenlärmschutzverordnung<br />

Verordnung zur Änderung der<br />

Telekommunikations-Überwachungsverordnung<br />

Verordnung über das automatisierte<br />

Verfahren zur Auskunft<br />

über Kundendaten nach § 112 des<br />

Telekommunikationsgesetzes<br />

1.6.20<strong>17</strong> 8.9.20<strong>17</strong> 1468 Neuregelung der Ruhezeiten für<br />

wohnortnahe Sportausübung<br />

14.6.20<strong>17</strong> 21.6.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>57 u.a. Festlegung technischer/organisatorischer<br />

Details zur neuen<br />

Vorratsdatenspeicherung<br />

14.6.20<strong>17</strong> 21.6.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>67 Regelung, wann der Fahrer die<br />

Steuerung über den Wagen beim<br />

Einsatz hoch- oder vollautomatisierter<br />

Systeme übernehmen<br />

muss; Einsatz eines Datenspeichers<br />

in Form einer Blackbox<br />

836 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

Berufsrechtsreport<br />

Von Akad. Rat Dr. CHRISTIAN DECKENBROCK und Akad. Rat Dr. DAVID MARKWORTH, Universität zu Köln<br />

I. Einleitung<br />

Das Berufsbild des Rechtsanwalts hat sich in den<br />

letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Der Trend<br />

von der individualistischen Berufsausübung in<br />

einer örtlichen Kanzlei hin zur beruflichen Zusammenarbeit<br />

in grenzüberschreitend tätigen Sozietäten,<br />

die immer stärkere Spezialisierung und die<br />

fortschreitende Digitalisierung sind nur ein paar<br />

Beispiele für die erheblichen Umwälzungen auf<br />

dem Anwaltsmarkt. Der Gesetzgeber kommt<br />

kaum hinterher, diesen Entwicklungen durch Reformen<br />

des anwaltlichen Berufsrechts Rechnung<br />

zu tragen. Oft genug bedarf es erst Entscheidungen<br />

des BVerfG, um Neuregelungen anzustoßen.<br />

Das anwaltliche Berufsrecht entwickelt sich dabei<br />

nicht immer linear und konsistent, weil es kein<br />

geschlossenes System darstellt. Vielmehr handelt<br />

es sich um eine in zahlreiche autonome Entwicklungsstränge<br />

aufgespaltene Querschnittsmaterie.<br />

Nicht einmal innerhalb der einzelnen Teilstränge<br />

findet seitens der Rechtsprechung eine einheitliche<br />

Ausdifferenzierung statt, die sowohl der<br />

Rechtspraxis als auch dem Normgeber Anhaltspunkte<br />

zur weiteren Verhaltenssteuerung liefern<br />

könnte. Die Auslegung des anwaltlichen Berufsrechts<br />

ist auch davon abhängig, in welchem<br />

Rechtsweg eine Berufspflicht Bedeutung erlangt.<br />

Die Justiz kann nämlich aus ganz unterschiedlichen<br />

Gründen berufen sein, über die Reichweite berufsrechtlicher<br />

Regelungen zu befinden.<br />

Dies lässt sich am besten am Beispiel des Verbots<br />

der Vertretung widerstreitender Interessen verdeutlichen:<br />

So kann das Vorliegen eines Interessenkonflikts<br />

i.S.d. § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3<br />

BORA in einem berufsgerichtlichen Verfahren<br />

nach den §§ 113 ff. BRAO von Bedeutung sein.<br />

Zuständig hierfür ist die Anwaltsgerichtsbarkeit mit<br />

dem Anwaltsgericht (AnwG) als Eingangs-, dem<br />

Anwaltsgerichtshof (AGH) als Berufungs- und dem<br />

Senat für Anwaltssachen beim BGH als Revisionsinstanz.<br />

Oft führen Interessenkonflikte nur zu<br />

einem belehrenden Hinweis der Rechtsanwaltskammer,<br />

in dem diese den betroffenen Anwalt auf<br />

einen vermeintlichen Verstoß gegen das Verbot der<br />

Vertretung widerstreitender Interessen hinweist<br />

und die Fortführung des Mandats untersagen will.<br />

Insoweit handelt es sich um eine verwaltungsrechtliche<br />

Anwaltssache (§§ 112a ff. BRAO), für die,<br />

wie für das berufsgerichtliche Verfahren, die Anwaltsgerichtsbarkeit<br />

zuständig ist. Eingangsinstanz<br />

ist hier allerdings der AGH. Die Berufungsinstanz<br />

bildet (systemwidrig) der Senat für Anwaltssachen<br />

des BGH, und das einschlägige Verfahrensrecht ist<br />

der VwGO zu entnehmen (vgl. die Überlegungen<br />

zur Neuausrichtung der Anwaltsgerichtsbarkeit bei<br />

DECKENBROCK AnwBl 2015, 365; KILIAN NJW 20<strong>16</strong>, 137).<br />

Der Beschluss des BGH vom 2.6.20<strong>17</strong> (Az. AnwZ<br />

[Brfg] 26/<strong>16</strong>) zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten,<br />

die selbst Anwälte mit dieser ungewöhnlichen<br />

Struktur haben. Wird dem Anwalt demgegenüber<br />

vorsätzliches Fehlverhalten zur Last<br />

gelegt, droht ihm sogar eine strafgerichtliche<br />

Verurteilung wegen Parteiverrats nach § 356 StGB.<br />

Immer wieder kommt es daher vor, dass die<br />

Strafsenate des BGH in letzter Instanz über die<br />

Reichweite eines Tätigkeitsverbots entscheiden.<br />

Schließlich können Interessenkonflikte in zivilrechtlichen<br />

Rechtsstreitigkeiten eine Rolle spielen:<br />

Ein Anwalt kann etwa versuchen, den gegnerischen<br />

Prozessbevollmächtigten im Wege einer<br />

wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage zur<br />

Mandatsniederlegung zu zwingen. Weitere Beispiele<br />

sind Streitigkeiten über die Wirksamkeit<br />

eines Anwaltsvertrags (§ 134 BGB) und über die<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 837


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Folgen einer Kündigung wegen eines Interessengegensatzes<br />

(§§ 627 f. BGB). Bisweilen spielt die<br />

Reichweite des Verbots der Vertretung widerstreitender<br />

Interessen auch in Kostenfestsetzungsverfahren<br />

eine Rolle. Es hängt mithin vom<br />

Einzelfall ab, welchem Zivilsenat des BGH die<br />

letztinstanzliche Zuständigkeit zukommt.<br />

Bereits diese nicht abschließende Aufzählung zeigt,<br />

dass über anwaltliches Berufsrecht – entgegen<br />

einem weit verbreiteten Trugschluss – nicht allein<br />

die Anwaltsgerichtsbarkeit, in der auch Rechtsanwälte<br />

als Richter fungieren, entscheidet. Nicht<br />

nur in der Frage der Interessenkonflikte offenbart<br />

eine Analyse der Rechtsprechung des BGH dabei,<br />

dass die Wertungen der Senate alles andere als<br />

deckungsgleich sind. Dies wird insbesondere auch<br />

bei der Frage der Spezialistenbezeichnungen, zu<br />

der der I. Zivilsenat und der Anwaltssenat unterschiedliche<br />

Standpunkte vertreten (s. dazu unten<br />

V. 2.), und im anwaltlichen Gesellschaftsrecht, wo<br />

insbesondere der II. Senat die vorhandenen Beschränkungen<br />

viel weitgehender als der Anwaltssenat<br />

verfassungsrechtlich hinterfragt hat (s. dazu<br />

unten III. 1.), deutlich.<br />

Der folgende Report soll einen Überblick über<br />

wesentliche Gesetzesänderungen und die wichtigste<br />

Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht<br />

geben. In diesem Rahmen werden auch<br />

verborgene Zusammenhänge und etwaige Widersprüche<br />

aufgezeigt und rechtspolitische Versäumnisse<br />

angesprochen. Die folgenden Ausführungen,<br />

die aus Platzgründen (dieses Mal) das<br />

anwaltliche Vergütungsrecht noch weitgehend<br />

außer Acht lassen, widmen sich im Wesentlichen<br />

den Entwicklungen des vergangenen Jahres.<br />

Ihnen sollen von nun an regelmäßig weitere<br />

Berufsrechtsreporte folgen.<br />

II.<br />

Aktuelle Gesetzesänderungen<br />

1. „Kleine“ BRAO-Novelle<br />

Zahlreiche Änderungen im Berufsrecht hat das<br />

Gesetz zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie<br />

und zur Änderung weiterer Vorschriften<br />

im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom<br />

12.5.20<strong>17</strong> (BGBl I, S. 1121) mit sich gebracht. Von<br />

einem großen Wurf kann gleichwohl nicht die<br />

Rede sein. Der Gesetzgeber hat nicht nur das<br />

anwaltliche Gesellschaftsrecht (dazu III.) von vornherein<br />

ausgeklammert, sondern auch nicht den<br />

Mut gehabt, die ursprünglichen Pläne zur anwaltlichen<br />

Fortbildungspflicht umzusetzen. So fehlt<br />

der Satzungsversammlung der BRAK künftig weiterhin<br />

die Kompetenz, die allgemeine anwaltliche<br />

Fortbildungspflicht (§ 43a Abs. 6 BRAO) zu konkretisieren.<br />

Ebenfalls nicht Gesetz geworden ist<br />

das Vorhaben, alle neu zugelassenen Rechtsanwälte<br />

zu verpflichten, innerhalb eines Jahres<br />

nach ihrer Zulassung eine zehnstündige Fortbildung<br />

im anwaltlichen Berufsrecht nachzuweisen.<br />

Vielmehr beschränkt sich das in Kraft getretene<br />

Gesetz auf die Regelung einer Vielzahl minderbedeutender<br />

Einzelfragen und wird daher nicht zu<br />

Unrecht zum „Reförmchen“ herabgewürdigt (vgl.<br />

zum Ganzen näher DECKENBROCK NJW 20<strong>17</strong>, 1425;<br />

OFFERMANN-BURCKART AnwBl 20<strong>17</strong>, 513).<br />

Nunmehr können Rechtsanwälte neben ihrer (Zulassungs-)Kanzlei<br />

nicht nur Zweigstellen, sondern<br />

auch sog. weitere Kanzleien unterhalten (§ 27 Abs. 2<br />

BRAO n.F.). Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass<br />

sie gegenüber der Zulassungskanzlei eigenständig<br />

sind, während eine Zweigstelle von ihr abhängig und<br />

an diese angegliedert ist. Von dieser Änderung<br />

erhofft sich der Gesetzgeber eine höhere Transparenz<br />

der anwaltlichen Berufsausübung. Die<br />

Handakte, die jetzt elektronisch geführt werden<br />

kann, muss künftig grundsätzlich für sechs Jahre<br />

aufbewahrt werden, wobei die Frist erst mit Ablauf<br />

des Kalenderjahres beginnt, in dem der Auftrag<br />

beendet wurde (vgl. § 50 BRAO n.F.). Zudem<br />

ermächtigt § 59b Abs. 2 Nr. 8 BRAO n.F. die<br />

Satzungsversammlung der BRAK zu einer näheren<br />

Regelung der Zustellung von Anwalt zu Anwalt; die<br />

Satzungsversammlung hat diese Kompetenz bereits<br />

am 19.5.20<strong>17</strong> genutzt und eine Anpassung des § 14<br />

BORA verabschiedet, die noch in diesem Jahr in<br />

Kraft treten dürfte. § 64 Abs. 1 BRAO n.F. ermöglicht<br />

erstmalig eine Briefwahl des Kammervorstands,<br />

wohingegen § 46a Abs. 4 BRAO n.F. die Befreiung<br />

von der Rentenversicherungspflicht für Syndikusanwälte<br />

auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf<br />

Zulassung bei der Rechtsanwaltskammer vorverlegt.<br />

Das RDG enthält seit der Novelle eine Definition<br />

seines räumlichen Anwendungsbereichs;<br />

wird eine Rechtsdienstleistung ausschließlich aus<br />

einem anderen Staat heraus erbracht, gilt dieses<br />

Gesetz nur, wenn ihr Gegenstand deutsches Recht<br />

ist (§ 1 Abs. 2 RDG n.F.). Inkassodienstleister,<br />

Rentenberater und Rechtsdienstleister in einem<br />

ausländischen Recht haben von nun an die Möglichkeit,<br />

sich auch nur für einen Teilbereich registrieren<br />

zu lassen (§ 10 Abs. 1 S. 2 RDG n.F.; z.B. Rentenberater<br />

für betriebliche Altersvorsorge).<br />

838 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

2. Schutz von Geheimnissen bei Outsourcing<br />

In Kürze wird das Gesetz zur Neuregelung des<br />

Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung<br />

Dritter an der Berufsausübung schweigepflichtiger<br />

Personen (BT-Drucks 18/11936 i.V.m. 18/12940)<br />

in Kraft treten. Es hat als eines der letzten<br />

Gesetzesvorhaben der laufenden Legislaturperiode<br />

den Bundestag am 29.6.20<strong>17</strong> erfolgreich<br />

passiert, muss aber am 22.9.20<strong>17</strong> noch den<br />

Bundesrat durchlaufen. Mit dem Gesetz wird der<br />

straf- und berufsrechtliche Schutz von Geheimnissen,<br />

die im Rahmen des Outsourcing bestimmter<br />

Dienstleistungen dritten Personen anvertraut<br />

oder sonst beruflich bekannt geworden<br />

sind (etwa bei der Einrichtung, dem Betrieb, der<br />

Wartung und der Anpassung der informationstechnischen<br />

Anlagen, Anwendungen und Systeme),<br />

eindeutig verankert. Das Gesetz stellt durch<br />

eine Ergänzung des § 203 StGB sicher, dass<br />

künftig das Offenbaren von geschützten Geheimnissen<br />

gegenüber Personen, die an der beruflichen<br />

oder dienstlichen Tätigkeit des Berufsgeheimnisträgers<br />

mitwirken, nicht als strafbares<br />

Handeln zu qualifizieren ist, soweit dies für die<br />

Inanspruchnahme der Tätigkeit der mitwirkenden<br />

Personen erforderlich ist. Die damit verbundene<br />

Verringerung des Geheimnisschutzes wird<br />

dadurch kompensiert, dass die mitwirkenden<br />

Personen im Gegenzug in die Strafbarkeit nach<br />

§ 203 StGB einbezogen werden. Flankierend dazu<br />

wurden die strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte<br />

erweitert (vgl. zu Einzelheiten GRUPP<br />

AnwBl 20<strong>17</strong>, 507).<br />

III. Anwaltliches Gesellschaftsrecht<br />

1. Beschränkung des Kreises der sozietätsfähigen<br />

Berufe<br />

Anfang 20<strong>16</strong> befasste sich das BVerfG auf Vorlage<br />

des BGH mit der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung<br />

des Kreises der sozietätsfähigen Berufe<br />

auf Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in § 59a<br />

Abs. 1 BRAO. Wie angesichts der „Vorarbeiten“ des<br />

BGH (Beschl. v. <strong>16</strong>.5.2013 – II ZB 7/11) zu erwarten<br />

war, sah der I. Senat das berufsrechtliche Verbot<br />

eines interprofessionellen Zusammenschlusses<br />

eines Rechtsanwalts mit einer gutachterlich tätigen<br />

Ärztin und Apothekerin in einer Partnerschaftsgesellschaft<br />

als nicht gerechtfertigten<br />

Eingriff in die durch Art. 12 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit<br />

an. Der Senat stellt insoweit vor<br />

allem darauf ab, dass das berufsrechtliche Schutzniveau<br />

von Ärzten und Apothekern nicht hinter<br />

dem von Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern,<br />

die in § 59a BRAO als sozietätsfähige Berufe<br />

anerkannt sind, zurückbleibt (BVerfG, Beschl. v.<br />

12.1.20<strong>16</strong> – 1 BvL 6/13; BGH, Beschl. v. 12.4.20<strong>16</strong> – II<br />

ZB 7/11; s. ausführlich HENSSLER/DECKENBROCK AnwBl<br />

20<strong>16</strong>, 211; KILIAN/GLINDEMANN BRAK-Mitt. 20<strong>16</strong>, 102;<br />

RÖMERMANN NJW 20<strong>16</strong>, 682).<br />

Relevant sind allerdings nicht so sehr die unmittelbaren<br />

Beschlussfolgen. So ging es vordergründig<br />

allein um gutachterliche Tätigkeiten von Ärzten und<br />

Apothekern, also insbesondere nicht um die Ausübung<br />

des Heilberufs oder den Betrieb einer Apotheke,<br />

und damit um ein schmales Feld der<br />

Beratungsbranche. Die Entscheidung zeigt jedoch<br />

– insbesondere im Zusammenspiel mit dem bereits<br />

Anfang 2014 ergangenen Beschluss zur Verfassungswidrigkeit<br />

von Mehrheitserfordernissen in der<br />

interprofessionellen Sozietät (BVerfG, Beschl. v.<br />

14.1.2014 – 1 BvR 2998/11, 1 BvR 236/12) – eindrucksvoll,<br />

dass die derzeitige Architektur des anwaltlichen<br />

Gesellschaftsrechts verfassungsrechtlich<br />

nicht haltbar ist. Insoweit bleibt zu hoffen, dass<br />

der Gesetzgeber das anwaltliche Gesellschaftsrecht<br />

nicht nur im Sinne der BVerfG-Rechtsprechung<br />

repariert, sondern sich zu einer vollständigen Reform<br />

durchringt. Zu den Eckpunkten dieser Neuordnung<br />

sollten insbesondere die Ermöglichung der<br />

beruflichen Zusammenarbeit von Anwälten mit<br />

allen, zumindest aber mit allen verkammerten Berufsgruppen,<br />

die vollständige berufsrechtliche Anerkennung<br />

der Berufsausübungsgemeinschaft mit<br />

rechtsformneutralen Regelungen zur Zulassung, zur<br />

Postulationsfähigkeit und zur berufsrechtlichen Verantwortlichkeit<br />

sowie die Aufnahme von Gesellschaften<br />

in ein erweitertes Rechtsanwaltsverzeichnis<br />

zählen (zum Reformbedarf s. DECKENBROCK AnwBl<br />

2014, 118; HENSSLER AnwBl 20<strong>17</strong>, 378). Immerhin hat<br />

das BMWi in dem am 12.4.20<strong>17</strong> verabschiedeten<br />

nationalen Reformprogramm 20<strong>17</strong> verlautbart, die<br />

längst überfällige Reform des anwaltlichen Gesellschaftsrechts<br />

in der kommenden Legislaturperiode<br />

endlich anzugehen.<br />

Solange es nicht zur Reform des anwaltlichen<br />

Berufsrechts kommt, werden die Möglichkeiten<br />

beruflicher Zusammenarbeit durch die Gerichte<br />

auch weiterhin eng begrenzt werden. So hat<br />

etwa der AGH Niedersachsen nunmehr entschieden,<br />

dass eine Bürogemeinschaft zwischen einem<br />

Rechtsanwalt und einem Mediator/Berufsbetreuer<br />

verboten bleibt (AGH Niedersachsen,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 839


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Urt. v. 22.5.20<strong>17</strong> – AGH <strong>16</strong>/<strong>16</strong> [I 9]). Kurios war<br />

dabei, dass der Mediator/Berufsbetreuer bis zur<br />

freiwilligen Rückgabe seiner Zulassung ebenfalls<br />

Rechtsanwalt und in dieser Funktion sogar Sozius<br />

seines nunmehrigen Bürokollegen gewesen ist.<br />

Davon unbeeindruckt stellte der AGH maßgeblich<br />

darauf ab, dass Mediatoren bzw. Berufsbetreuer,<br />

anders als Ärzte und Apotheker, keiner den Rechtsanwälten<br />

vergleichbaren strafrechtlich und prozessual<br />

abgesicherten Verschwiegenheitspflicht<br />

unterliegen. Trotz der Vorgaben des BVerfG sei<br />

daher nicht davon auszugehen, dass bei einer<br />

solchen Zusammenarbeit die Einschränkung des<br />

§ 59a Abs. 1 BRAO, die nach § 59a Abs. 3 BRAO für<br />

die Bürogemeinschaft entsprechend gilt, verfassungswidrig<br />

ist.<br />

2. Verbot von Anwaltskonzernen<br />

Anschauungsmaterial für den Gesetzgeber liefert<br />

auch das Urteil des Anwaltssenats vom 20.3.20<strong>17</strong><br />

(Az. AnwZ [Brfg] 33/<strong>16</strong>). Nach dem Willen des<br />

historischen Gesetzgebers sollte die BRAO die<br />

Gesellschafterstruktur anwaltlicher Berufsausübungsgesellschaften<br />

nicht nur hinsichtlich einer<br />

interprofessionellen Zusammenarbeit, sondern<br />

darüber hinaus gem. § 59e Abs. 1 S. 1 BRAO<br />

auf natürliche Personen beschränken. Letzteres<br />

schließt Konzernierungen aus und verhindert insbesondere,<br />

dass moderne, international tätige größere<br />

Berufsträgerzusammenschlüsse besonders<br />

haftungsträchtige Mandate in eigene Gesellschaften<br />

auslagern können. Der Anwaltssenat hat in seinem<br />

Urteil am überkommenen gesetzgeberischen Willen<br />

festgehalten und die Alleingesellschafterstellung<br />

einer Partnerschaftsgesellschaft an einer Rechtsanwaltsgesellschaft<br />

als unzulässig angesehen. Insoweit<br />

versuchte der Senat eine Abgrenzung zu<br />

einer Entscheidung des Senats für Patentanwaltssachen<br />

aus dem Jahr 2001 (Beschl. v. 9.7.2001 –<br />

PatAnwZ 1/00), wonach der Wortlaut des § 59e<br />

Abs. 1 S. 1 BRAO bei zeitgemäßer Auslegung es nicht<br />

ausschließt, dass eine GbR Gesellschafterin einer<br />

Berufsträgergesellschaft wird. Auch wenn seitdem<br />

der pauschale Ausschluss einer Konzernierung als<br />

unzulässig galt, machte der BGH in dem Umstand,<br />

dass nun eine Partnerschaftsgesellschaft anstelle<br />

einer GbR die Gesellschafterstellung innehatte,<br />

einen entscheidenden Unterschied aus. Diesen<br />

Unterschied sah der Senat in seiner rückwärtsgewandten<br />

Entscheidung wenig überzeugend darin,<br />

dass die Partnerschaftsgesellschaft rechtlich deutlich<br />

stärker verselbstständigt sei als die GbR (s. die<br />

ausführliche Kritik bei MARKWORTH WuB 20<strong>17</strong>, 427;<br />

HENSSLER NJW 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>44; GRUNEWALD BB 20<strong>17</strong>, 1<strong>16</strong>3;<br />

RÖMERMANN EWiR 20<strong>17</strong>, 261).<br />

3. Eintragungsfähigkeit des Firmennamens<br />

einer Partnerschaft<br />

In letzter Zeit haben sich die Gerichte verstärkt<br />

damit zu befassen, inwiefern Partnerschaftsgesellschaften<br />

den Namen eines Partners auch nach<br />

dessen Ausscheiden fortführen dürfen. § 2 Abs. 1<br />

PartGG ist zu entnehmen, dass die Partnerschaftsgesellschaft<br />

den Namen mindestens eines Gesellschafters<br />

tragen muss. Scheidet dieser aus, setzt<br />

die Beibehaltung seines Namens die im Kern<br />

unveränderte Fortführung der Firma im Übrigen<br />

voraus. Der Grundsatz der Firmenwahrheit wird<br />

dann durch den Grundsatz der Firmenkontinuität<br />

überlagert (§ 2 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 24 Abs. 1<br />

HGB). Die Firmenkontinuität ist nach dem OLG<br />

Hamm allerdings nicht mehr gewährleistet, wenn<br />

die Gesellschaft zusätzlich den Zusatz „X-Treuhand“<br />

aus ihrem Namen entfernt, da ihm Kennzeichnungskraft<br />

für eine Wirtschaftsprüfungsund<br />

Steuerberatungsgesellschaft zugesprochen<br />

wird (OLG Hamm, Beschl. v. 5.10.20<strong>16</strong> – 27 W<br />

107/<strong>16</strong>; zustimmend JURETZEK DStR 20<strong>17</strong>, 352).<br />

Außer bei Ausscheiden des namensgebenden Gesellschafters<br />

ist die Fortführung eines Namens<br />

gem. § 2 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 22 Abs. 1 HGB<br />

grundsätzlich auch dann zulässig, wenn der Namensgeber<br />

das Anwaltsunternehmen an einen<br />

neuen Unternehmensträger veräußert. Insoweit<br />

hat nun ebenfalls das OLG Hamm entschieden,<br />

dass die Vorschriften analog anzuwenden sind,<br />

sofern sich eine deutsche Partnerschaftsgesellschaft<br />

von einer internationalen ausländischen<br />

Sozietät abspaltet, um deren Geschäftsbetrieb in<br />

Deutschland als rechtlich selbstständige Niederlassung<br />

zu führen. Voraussetzung der Fortführung<br />

der international eingeführten Kanzleibezeichnung<br />

durch die deutsche Partnerschaftsgesellschaft soll<br />

lediglich die Zustimmung sämtlicher Partner der<br />

ausländischen Sozietät sein, nicht hingegen diejenige<br />

ihrer längst ausgeschiedenen ursprünglichen<br />

Namensgeber (OLG Hamm, Beschl. v. 5.7.20<strong>16</strong> –<br />

27 W 42/<strong>16</strong>; v. 3.11.20<strong>16</strong> – 27 W 130/<strong>16</strong>; im Einzelnen<br />

JURETZEK DStR 20<strong>17</strong>, 1231). Die Entscheidungen zeigen<br />

einmal mehr, wie sehr die partnerschaftsgesellschaftliche<br />

Praxis angesichts häufiger Kanzleiwechsel,<br />

-fusionen und altersbedingter Austritte<br />

mit dem Zwang zur Namensfirma hadert. Insbesondere<br />

vor dem Hintergrund, dass Berufsgesellschaften<br />

in Form der GmbH keinem ähnlichen<br />

840 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

Zwang unterliegen, ist dies ohne Weiteres nachvollziehbar<br />

(zum Reformbedarf des § 2 PartGG<br />

HENSSLER, in: FS Baums, 20<strong>17</strong>, S. 579).<br />

Das starre Firmenrecht der Partnerschaftsgesellschaft<br />

war auch Gegenstand des Beschlusses des<br />

OLG München vom 1.12.20<strong>16</strong> (Az. 31 Wx 281/<strong>16</strong>). Im<br />

Gegensatz zum OLG Hamm kam das Münchener<br />

OLG den Interessen der Berufsträger an größerer<br />

Freiheit bei der Namensgebung jedoch insofern<br />

entgegen, als es entschied, dass eine in Form der<br />

Partnerschaftsgesellschaft geführte Steuerberatungsgesellschaft<br />

bei Eintritt eines Rechtsanwalts<br />

generell nicht zur Angabe seines Berufs in ihrem<br />

Namen verpflichtet ist (s. auch eine weitere<br />

Entscheidung unter IV. 3).<br />

IV. Werberecht<br />

1. Streit um Kaffeetassen, Anwaltsroben<br />

und Kalender<br />

Ein Brühler Rechtsanwalt (Rechtsanwalt Dr. R.)<br />

streitet seit einigen Jahren mit der für ihn zuständigen<br />

Rechtsanwaltskammer und versucht permanent,<br />

die Grenzen des anwaltlichen Berufsrechts<br />

und hier vor allem des Werberechts auszutesten.<br />

Besonders prominent war der Streit um die Zulässigkeit<br />

von kammerseits untersagter Schockwerbung<br />

auf Kaffeetassen. Das gegen die Untersagung<br />

gerichtete Klageverfahren sowie die sich<br />

daran anschließende Verfassungsbeschwerde hatten<br />

keinen Erfolg (vgl. BGH, Urt. v. 27.10.2014 –<br />

AnwZ [Brfg] 67/13 m. Anm. TERRIUOLO <strong>ZAP</strong> F. 23,<br />

S. 1001; BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 5.3.2015 –<br />

1 BvR 3362/14). Die werberechtlichen Vorschriften<br />

des anwaltlichen Berufsrechts dienten dem Zweck,<br />

die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ<br />

der Rechtspflege (§ 1 BRAO) zu sichern; mit der<br />

Stellung eines Rechtsanwalts sei im Interesse des<br />

rechtsuchenden Bürgers eine Werbung unvereinbar,<br />

die ein reklamehaftes Anpreisen in den Vordergrund<br />

stelle und mit der eigentlichen Leistung des Anwalts<br />

sowie dem unabdingbaren Vertrauensverhältnis im<br />

Rahmen eines Mandats nichts mehr zu tun habe.<br />

In Fortführung der geschilderten Auseinandersetzung<br />

fragte Dr. R. dann bei der Rechtsanwaltskammer<br />

an, ob denn die Verwendung der<br />

fraglichen Tassen durch die „Dr. R. Rechtswissenschaftliche<br />

Dienstleistungen UG (haftungsbeschränkt)“,<br />

deren Geschäftsführer er ist, erfolgen könne. Nachdem<br />

die Kammer die Zulässigkeit dieser Art der<br />

Werbung unter Hinweis auf das in § 6 Abs. 3 BORA<br />

normierte Umgehungsverbot ebenfalls verneint<br />

hatte, hat Dr. R. wiederum Klage erhoben. Der<br />

Anwaltssenat (Urt. v. 3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 45/15)<br />

hielt diese – wie schon die Vorinstanz – für<br />

unzulässig, weil es sich bei dem Schreiben der<br />

Kammer nicht um einen mit der Anfechtungsklage<br />

angreifbaren belehrenden Hinweis (Verwaltungsakt),<br />

sondern um eine bloß präventive Auskunft<br />

ohne Regelungscharakter handele. Zwar bringe das<br />

Schreiben zum Ausdruck, dass die Kammer ein<br />

bestimmtes Verhalten des Klägers für berufsrechtswidrig<br />

erachte, es werde in ihm allerdings weder<br />

in einer Entscheidungsformel festgestellt, dass ein<br />

bestimmtes Verhalten rechtswidrig sei, noch werde<br />

ein konkretes Verbot oder Unterlassungsgebot<br />

ausgesprochen. Zugleich sei eine auf die Feststellung<br />

der Rechtmäßigkeit des beabsichtigten<br />

Verhaltens gerichtete (vorbeugende) Feststellungsklage<br />

des Rechtsanwalts grundsätzlich nur<br />

dann zulässig, wenn ein spezielles, besonders<br />

schützenswertes, gerade auf die lnanspruchnahme<br />

vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Interesse<br />

bestehe und die Verweisung des Rechtsanwalts<br />

auf den nachträglichen Rechtsschutz für<br />

ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden sei.<br />

Ein solches Feststellungsinteresse fehle vorliegend,<br />

weil es dem Kläger etwa zuzumuten gewesen sei,<br />

die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft<br />

zur Frage einer möglichen anwaltsgerichtlichen<br />

Anschuldigung abzuwarten. Dieser Ansatz ist fragwürdig,<br />

führt er doch dazu, dass die gerichtliche<br />

Überprüfbarkeit von der durch die Rechtsanwaltskammer<br />

gewählten Entscheidungsform abhängt<br />

und – wenn es an einem belehrenden Hinweis<br />

mit Verwaltungsaktqualität fehlt – der betroffene<br />

Anwalt, der unsicher über die Berufsrechtskonformität<br />

seines Handelns ist, zunächst den Berufsrechtsverstoß<br />

begehen und möglicherweise erhebliche<br />

Sanktionen in Kauf nehmen muss (vgl. bereits<br />

DECKENBROCK AnwBl 2015, 365, 370 ff.). Obwohl der<br />

Senat die Klage für unzulässig hielt, hat er doch in<br />

der Sache die Berufsrechtswidrigkeit auch des<br />

neuen Werbemodells von Dr. R. herausgestellt. Sei<br />

eine Werbung in eigener Person unzulässig, so<br />

könne der Rechtsanwalt dieses Verbot nicht dadurch<br />

umgehen, dass er auf Vornahme der Werbung<br />

durch eine Gesellschaft hinwirke.<br />

Ein weiterer aktueller Streit dreht sich um die berufsrechtliche<br />

Zulässigkeit einer mit Werbung auf<br />

dem oberen Rückenbereich bedruckten bzw. bestickten<br />

(„Dr. R.“ und Internetadresse „www.dr-r.de“)<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 841


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

und im Gerichtssaal getragenen Anwaltsrobe<br />

(BGH, Urt. v. 7.11.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg] 47/15, <strong>ZAP</strong> EN-<br />

Nr. 31/20<strong>17</strong>). Der Anwaltssenat entschied, dass die in<br />

§ 20 BORA bestimmte Pflicht zum Tragen einer<br />

Robe voraussetze, dass die Robe nicht mit werbenden<br />

Aufbringungen versehen sei, weil andernfalls<br />

ihre Funktion, Aussage und Wirkung gestört würde.<br />

In der Literatur ist diese Entscheidung auf ein<br />

geteiltes Echo gestoßen (zustimmend etwa HÄRTING<br />

NJW 20<strong>17</strong>, 410; ablehnend RÖMERMANN BB 20<strong>17</strong>, 19).<br />

Insgesamt bleibt fragwürdig, ob infolge eines Abdrucks<br />

des eigenen Namens auf einer selbst getragenen<br />

Robe tatsächlich eine Beeinträchtigung der<br />

Rechtspflege zu befürchten ist. Möglicherweise wird<br />

das unter dem Az. 1 BvR 54/<strong>17</strong> anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

hier mehr Klarheit<br />

bringen.<br />

20<strong>17</strong> ging schließlich der „Kalenderstreit“ in eine<br />

neue Runde. Bereits 2013 hatte Rechtsanwalt Dr. R.<br />

Kalender mit Bildern nackter oder spärlich bekleideter<br />

Frauen und einem Verweis auf seine Kanzlei<br />

zu Werbezwecken an Autowerkstätten verteilt.<br />

Hierfür wurde er von der Anwaltskammer wegen<br />

eines Verstoßes gegen das Gebot sachlicher Werbung<br />

(§ 43b BRAO) gerügt. 2015, d.h. nach der<br />

Entscheidung zur Schockwerbung auf Kaffeetassen,<br />

wiederholte er diesen Vorgang, mit dem Hauptunterschied,<br />

dass die nunmehr verwendeten Bilder<br />

schwarz-weiß waren. Einen Deckungsschutz seiner<br />

Versicherung zur Anfechtung des gegen ihn daraufhin<br />

verhängten Bußgelds konnte er sich jedoch vor<br />

dem LG Köln nicht erstreiten (vgl. LG Köln, Urt. v.<br />

23.3.20<strong>17</strong> – 24 S 22/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 350/20<strong>17</strong>).<br />

2. Wettbewerbswidrige Herabwürdigung<br />

eines Mitbewerbers<br />

Auch das anwaltliche Werberecht wird nicht ausschließlich<br />

durch die Anwaltsgerichtsbarkeit fortentwickelt.<br />

So hat der I. Zivilsenat (Urt. v. 31.3.20<strong>16</strong> –<br />

I ZR <strong>16</strong>0/14) klargestellt, dass die überspitzten<br />

Äußerungen eines Rechtsanwalts zu einer fragwürdigen<br />

beruflichen Praxis eines anderen am gleichen<br />

Ort ansässigen Anwalts in einem überregionalen<br />

Medium nicht nur eine Meinungsäußerung darstellen,<br />

sofern der Äußernde nicht nur als „neutraler<br />

Experte“ auftreten, sondern zugleich Mandanten auf<br />

sein eigenes Beratungsangebot aufmerksam machen<br />

wolle. Vielmehr handele es sich um eine<br />

geschäftliche Handlung, die als wettbewerbswidrige<br />

Herabwürdigung eines Mitbewerbers verboten werden<br />

könne. Die Entscheidung wird in der Literatur<br />

(HIMMELSBACH GRUR-Prax 20<strong>16</strong>, 290; HUFF K&R 20<strong>16</strong>,<br />

496; GEISLER jurisPR-BGHZivilR 12/20<strong>16</strong> Anm. 2; a.A.<br />

GRUNEWALD NJW 20<strong>16</strong>, 3694, 3695) zu Recht als zu<br />

weitgehend kritisiert: Anwälte, die durch Medien zu<br />

einer Stellungnahme zu einem aktuellen rechtlichen<br />

Missstand aufgefordert werden, weil sie hierzu<br />

aufgrund ihres eigenen beruflichen Schwerpunkts<br />

besonders qualifiziert sind, müssen angesichts der<br />

Meinungsfreiheit sicher sein können, hierfür nicht<br />

wettbewerbsrechtlich belangt zu werden.<br />

3. Bezeichnung mehrerer Kanzleien als<br />

„Rechtsanwalts- und Steuerkanzlei“<br />

Nach dem OLG Brandenburg (Beschl. v. 26.2.20<strong>16</strong> –<br />

7 W 129/15) dürfen sich zwei Rechtsanwälte, die in<br />

unterschiedlichen Orten ihren Kanzleisitz haben<br />

sowie an noch anderen Orten Zweigstellen unterhalten,<br />

nicht als „Rechtsanwalts- und Steuerkanzlei<br />

Partnerschaftsgesellschaft“ in das Partnerschaftsregister<br />

eintragen lassen. Wettbewerbsrechtlich sei<br />

dies irreführend, da es suggeriere, dass es sich nicht<br />

um zwei Kanzleien, sondern um eine Kanzlei handele<br />

(zum Firmenrecht der Partnerschaftsgesellschaft<br />

im engeren Sinne s. bereits oben III. 3.).<br />

Inwiefern man die Entscheidung des OLG Brandenburg<br />

für richtig hält, hängt maßgeblich vom eigenen<br />

Verständnis des in § 5 BORA erwähnten Begriffs<br />

der „Kanzlei“ ab. In der Literatur wird sowohl<br />

vertreten, er beziehe sich einzig auf die Räumlichkeiten<br />

der beruflichen Niederlassung, als auch<br />

weitergehend, dass er ein gesamtes „Anwaltsunternehmen“<br />

beschreiben könne. Dementsprechend<br />

halten sich Zustimmung und Ablehnung zu der<br />

Entscheidung die Waage (zustimmend SCARAGGI-<br />

KREITMAYER DStR 20<strong>16</strong>, 1392; ablehnend RÖMERMANN<br />

GRUR-Prax 20<strong>16</strong>, 208). Nachdem es einem Anwalt<br />

infolge des Inkrafttretens der BRAO-Novelle (dazu<br />

II. 1.) nun gestattet ist, auch „weitere Kanzleien“ zu<br />

unterhalten, erscheint es allerdings fraglich, ob sich<br />

die Restriktionen des OLG Brandenburg heute noch<br />

rechtfertigen lassen.<br />

4. Irreführende Werbung eines Einzelanwalts<br />

mit Angabe von zwei Büros<br />

Ebenfalls als irreführend sah der AGH NRW (Urt.<br />

v. 30.9.20<strong>16</strong> – 1 AGH 49/15) die Außendarstellung<br />

eines Rechtsanwalts an, die zwei „Büros“ aufführte,<br />

obwohl das eine „Büro“ insofern nur virtuell<br />

bestand, als dem Rechtsanwalt von dritter Seite<br />

die Nutzung der Anschrift sowie der angegebenen<br />

Telefon- und Telefaxnummern überlassen worden<br />

war. Die Entscheidung entspricht dem höchstrichterlich<br />

verfestigten Grundsatz, dass ein Wettbewerbsverstoß<br />

bei Übertreibungen in rechts-<br />

842 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

anwaltlichen Außendarstellungen nur dann zu<br />

verneinen ist, wenn hieraus keine Nachteile für<br />

die Mandanten entstehen können, was hier aber<br />

gerade nicht der Fall war (im Ergebnis ebenso<br />

WILLERSCHEID DStR 20<strong>17</strong>, 960). Immerhin mussten die<br />

Mandanten davon ausgehen, auch unter der virtuellen<br />

Büroadresse vollwertig beraten zu werden.<br />

V. Fachanwälte<br />

1. Fachanwalt werden – wichtige Präzisierungen<br />

durch die Rechtsprechung<br />

Fachanwaltschaften erfreuen sich einer immer<br />

größeren Beliebtheit. Es ist daher nicht verwunderlich,<br />

dass sich der Anwaltssenat häufig mit den<br />

Voraussetzungen für die Verleihung eines Fachanwaltstitels<br />

befassen muss. Zudem wurden zum<br />

1.7.20<strong>17</strong> die Anforderungen für Fachanwälte im<br />

Insolvenz- und Vergaberecht leicht geändert<br />

(Grundlage war der Beschl. der Satzungsversammlung<br />

v. 21.11.20<strong>16</strong>, vgl. BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 81).<br />

Außerdem soll künftig im Rahmen der Fortbildungspflicht<br />

nach § 15 FAO bei dozierender<br />

Teilnahme die Vorbereitungszeit in angemessenem<br />

Umfang zu berücksichtigen sein (vgl. den<br />

Beschl. der Satzungsversammlung v. 19.5.20<strong>17</strong>).<br />

Wer Fachanwalt werden oder bleiben will, sollte<br />

die Rechtsentwicklung zu dem von ihm favorisierten<br />

Titel daher gut im Auge behalten. So entschied<br />

der Anwaltssenat in Präzisierung von § 5 FAO, dass<br />

bei Zählung der für die Fachanwaltszulassung<br />

erforderlichen Fälle Mandate weder doppelt zählen,<br />

nur weil sie sich auf mehrere gerichtliche<br />

Instanzen erstrecken, noch allein aus diesem<br />

Grund höher zu gewichten sind (BGH, Beschl. v.<br />

27.4.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg] 3/<strong>16</strong>). Der Senat hielt es<br />

zudem für verfassungsrechtlich unbedenklich, dass<br />

die Frage, was überhaupt als Fallbearbeitung<br />

anzusehen ist, bei den einzelnen Fachanwaltschaften<br />

gravierend unterschiedlich beurteilt wird<br />

(BGH, Beschl. v. 26.1.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 49/<strong>16</strong>).<br />

Zulässig sei es daher, im Fachgebiet Strafrecht erst<br />

bei 40 Hauptverhandlungstagen vor dem Schöffengericht<br />

oder einem höheren Gericht innerhalb<br />

eines Dreijahreszeitraums von der notwendigen<br />

Anzahl von Fallbearbeitungen auszugehen, obwohl<br />

die FAO für andere Fachanwaltsbezeichnungen<br />

keine oder weniger Gerichtstage voraussetzt.<br />

Des Weiteren entschied der Anwaltssenat –<br />

zutreffend –, dass das Einstellen von Beiträgen<br />

auf einer eigenen Homepage keine zum Erhalt<br />

des Fachanwaltstitels berechtigende wissenschaftliche<br />

Publikation i.S.v. § 15 FAO sei, da ein<br />

derartiger Beitrag im freien Belieben des Homepageinhabers<br />

verändert oder ganz entfernt werden<br />

könne und daher weder eine nachhaltige<br />

Verfügbarkeit noch eine externe Absicherung des<br />

inhaltlichen Niveaus gewährleistet werde (BGH,<br />

Urt. v. 20.6.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg] 10/15, zustimmend<br />

HUFF K&R 20<strong>16</strong>, 606). Dieselbe Entscheidung zeigt<br />

zugleich interessante Möglichkeiten des Pflichtigen<br />

auf, eine einmal versäumte Fortbildung<br />

nachzuholen (dazu WACKER DStR 20<strong>17</strong>, <strong>17</strong>6). Um<br />

das verwaltungsrechtliche Verfahren der Fachanwaltszulassung<br />

ging es auch in der Entscheidung<br />

des Anwaltssenats vom 28.11.20<strong>16</strong> (Az. AnwZ<br />

[Brfg] 53/15): Nach ihr kann ein Anwärter auf<br />

einen Fachanwaltstitel die erforderlichen Fortbildungsnachweise<br />

noch im gerichtlichen Verfahren<br />

nach Erhalt eines Ablehnungsbescheids<br />

nachreichen; diese sollen dann einer eigenständigen<br />

gerichtlichen Prüfung zu unterziehen sein.<br />

2. Spezialistenbezeichnungen<br />

Trotz der immer größeren Möglichkeiten, einen<br />

Fachanwaltstitel zu erwerben, sind einige<br />

Rechtsanwälte weiterhin versucht, ihre Briefbögen<br />

mit selbst kreierten Fantasiebezeichnungen<br />

anzureichern, die sie als besonders qualifiziert<br />

für bestimmte Rechtsbereiche ausweisen sollen.<br />

Besonders beliebt scheint insofern die Selbstbezeichnung<br />

„Spezialist für … “ zu sein. Insoweit<br />

legen die Vorgaben des § 7 BORA, die auf eine<br />

Entscheidung des BVerfG zurückgehen (Beschl. v.<br />

28.7.2004 – 1 BvR 159/04), fest, dass Teilbereiche<br />

der Berufstätigkeit unabhängig von Fachanwaltsbezeichnungen<br />

nur benannt werden dürfen,<br />

wenn sowohl den Angaben entsprechende theoretische<br />

Kenntnisse und praktische Tätigkeiten<br />

nachgewiesen werden als auch die Gefahr einer<br />

Verwechslung mit Fachanwaltschaften oder<br />

sonstigen Irreführung ausgeschlossen ist.<br />

Entsprechen die Fähigkeiten eines Rechtsanwalts,<br />

der sich als Spezialist auf einem Rechtsgebiet<br />

bezeichnet, für das eine Fachanwaltschaft besteht,<br />

den an einen Fachanwalt zu stellenden<br />

Anforderungen, sollte nach einer Entscheidung<br />

des I. Zivilsenats gleichwohl keine Veranlassung<br />

bestehen, dem Rechtsanwalt die Führung einer<br />

entsprechenden Bezeichnung zu untersagen,<br />

selbst wenn beim rechtsuchenden Publikum die<br />

Gefahr einer Verwechslung mit der Bezeichnung<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 843


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

„Fachanwalt für Familienrecht“ gegeben sei (BGH,<br />

Urt. v. 24.7.2014 – I ZR 53/13 m. krit. Anm.<br />

DECKENBROCK BerlAnwBl 2015, 124). Nunmehr hatte<br />

der Anwaltssenat über den ungewöhnlichen Fall<br />

zu entscheiden, dass sich ein „Fachanwalt für<br />

Erbrecht“ zusätzlich auch als „Spezialist für<br />

Erbrecht“ darstellen wollte (Urt. v. 5.12.20<strong>16</strong> –<br />

AnwZ [Brfg] 31/14, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 236/20<strong>17</strong>). Der<br />

Senat vertrat die Auffassung, dass insofern keine<br />

synonyme Verwendung der beiden Bezeichnungen<br />

vorliege. Vielmehr bringe derjenige, der<br />

bereits Fachanwalt sei, zum Ausdruck, dass er<br />

über Kenntnisse und praktische Erfahrungen<br />

verfüge, die diejenigen eines „Nur-Fachanwalts“<br />

nicht nur unerheblich überschreiten.<br />

Beide Entscheidungen stehen zueinander in einem<br />

nur schwer auflösbaren Spannungsverhältnis<br />

(zust. zu der Entscheidung des Anwaltssenats<br />

aber QUAAS BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 2, 9 f.): Es ist widersprüchlich,<br />

gerade für „echte“ Fachanwälte<br />

höhere Anforderungen an die Nutzung einer<br />

Spezialistenbezeichnung zu statuieren als für<br />

Nichtfachanwälte (vgl. DECKENBROCK <strong>ZAP</strong> F. 23,<br />

S. 1099, 1101; REMMERTZ NJW 2015, 707, 708;<br />

SAENGER/SCHEUCH BRAK-Mitt. 20<strong>16</strong>, 157, <strong>16</strong>4). Unklar<br />

bleibt zudem, wie ein Anwalt, der bereits als<br />

Fachanwalt für ein bestimmtes Gebiet theoretische<br />

Leistungsnachweise erbracht und erhebliche<br />

praktische Erfahrungen nachgewiesen hat,<br />

überhaupt noch dieses Niveau erheblich übersteigende<br />

Kenntnisse und Erfahrungen darlegen<br />

kann und in welchem Umfang dies erfolgen soll<br />

(OFFERMANN-BURCKART BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 10, 12 f.).<br />

Unabhängig davon steht auch nach der Entscheidung<br />

nicht rechtssicher fest, inwiefern sich Fachanwaltstitel<br />

und Spezialistenbezeichnung überhaupt<br />

vertragen oder ob sich nicht vielmehr aus<br />

§ 7 Abs. 2 BORA ein Abstandsgebot bzw. sogar ein<br />

Verbot der Doppelbezeichnung ableiten lässt<br />

(näher DECKENBROCK <strong>ZAP</strong> F. 23, S. 1099, 1102).<br />

VI. Anwaltshaftung<br />

1. Anwaltshaftung zugunsten von<br />

Vertretungsorganen des Mandanten<br />

Große Anwaltskanzleien sehen sich verstärkt Ermittlungsverfahren<br />

und Ansprüchen von Nichtmandanten<br />

ausgesetzt. Es bedarf daher klarer<br />

Abgrenzungskriterien, inwiefern ein Rechtsberater<br />

über die unmittelbare Anwalt-Mandanten-Beziehung<br />

hinaus für die Richtigkeit seiner Beratungsleistungen<br />

einzustehen hat. Eine Entscheidung des<br />

IX. Zivilsenats (Urt. v. 21.7.20<strong>16</strong> – IX ZR 252/15) bieet<br />

hierfür nunmehr eine wichtige Hilfestellung.<br />

Vertretungsbefugte Organwalter des Mandanten<br />

könnten, wie der BGH in konsequenter Fortführung<br />

seiner bisherigen restriktiven Rechtsprechung (vgl.<br />

BGH, Urt. v. 10.12.2015 – IX ZR 56/15; Urt. v. 18.2.20<strong>16</strong><br />

– IX ZR 191/13) zutreffend (näher DECKENBROCK EWiR<br />

20<strong>16</strong>, 663) ausführt, nur in eng begrenzten Fällen<br />

eigene Ansprüche gegen den Rechtsberater des<br />

Mandanten aufgrund einer pflichtwidrigen anwaltlichen<br />

Beratung herleiten. Insbesondere folgten<br />

solche Ansprüche regelmäßig nicht aus einer<br />

Qualifikation des Anwaltsvertrags als Vertrag mit<br />

Schutzwirkung zugunsten Dritter, da es am hierfür<br />

erforderlichen Näheverhältnis fehle. Ein Näheverhältnis<br />

bestehe nur, wenn die pflichtwidrige Beratung<br />

unmittelbar zu einer Haftung des auf sie<br />

fälschlich vertrauenden Vertreters im Innenverhältnis<br />

zum Mandanten führen könnte. Dies sei<br />

aber nicht der Fall, weil der Vertreter erst hafte,<br />

wenn ihm eine eigene Pflichtverletzung vorzuwerfen<br />

sei, er also insbesondere gar nicht auf die<br />

Richtigkeit der Beratung hätte vertrauen dürfen. In<br />

der Konsequenz wurde die Klage des ehemaligen<br />

baden-württembergischen Ministerpräsidenten<br />

MAPPUS gegen die Kanzlei, die das Bundesland<br />

im Zusammenhang mit dem geplanten Erwerb von<br />

EnBW-Aktien beraten hatte, abgewiesen. Nachdem<br />

der Aktienkauf sich als verfassungswidrig<br />

herausgestellt hatte, weil er ohne vorherige Genehmigung<br />

des Landtags von Baden-Württemberg<br />

durchgeführt worden war, war gegen den ehemaligen<br />

Ministerpräsidenten ein später eingestelltes<br />

staatsanwaltliches Verfahren wegen Untreue eingeleitet<br />

worden. Der Ministerpräsident hatte der<br />

Kanzlei vorgeworfen, durch eine Falschberatung<br />

einen Vermögensschaden (u.a. in Form der Prozesskosten<br />

für die Verteidigung im strafrechtlichen<br />

Ermittlungsverfahren) erlitten zu haben.<br />

2. Anwaltliche Sorgfaltspflichten<br />

Daneben hat der BGH sich mehrmals mit den<br />

haftungsrechtlichen Konsequenzen einer Versäumung<br />

der Berufungsbegründungsfrist beschäftigt.<br />

Der VII. Zivilsenat bekräftigte seine Rechtsprechung,<br />

dass derjenige, der gerichtliche Fristen bis<br />

zum letzten Tag ausschöpft, wegen des damit<br />

erfahrungsgemäß verbundenen Risikos eine erhöhte<br />

Sorgfalt aufwenden muss, um die Einhaltung<br />

der Frist sicherzustellen. Dieses Pflichtenprogramm<br />

führe aber nicht so weit, dass ein Rechtsanwalt<br />

auch in solchen Fällen eine anlasslose Funktions-<br />

844 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

prüfung seines privaten Faxgeräts durchführen<br />

müsse, sofern dieses nur wenige Tage vor dem<br />

Fristablauf noch funktioniert hat (vgl. BGH, Beschl.<br />

v. <strong>16</strong>.11.20<strong>16</strong> – VII ZB 35/14). Demgegenüber hatte<br />

sich der I. Zivilsenat mit einem defekten Gerichtsfax<br />

zu befassen; er stellte klar, dass ein Anwalt, dem es<br />

infolge eines Defekts nicht gelingt, die Berufungsbegründung<br />

per Telefax zu übermitteln, nicht gehalten<br />

ist, eine dem Pressesprecher des Gerichts<br />

zugewiesene Telefaxnummer ausfindig zu machen<br />

und den Schriftsatz zur Fristwahrung an diese<br />

Nummer zu versenden (vgl. BGH, Beschl. v. 26.1.20<strong>17</strong><br />

– I ZB 43/<strong>16</strong>). Nach einer Entscheidung des IX. Zivilsenats<br />

darf ein Anwalt grundsätzlich darauf vertrauen,<br />

dass einem ersten Antrag auf Fristverlängerung<br />

stattgegeben wird, sofern er erhebliche<br />

Gründe wie Arbeitsüberlastung oder Urlaubsabwesenheit<br />

dargelegt hat; er sei nicht verpflichtet, sich<br />

darüber zu vergewissern, ob dem Antrag stattgegeben<br />

worden ist (BGH, Beschl. v. 26.1.20<strong>17</strong> – IX<br />

ZB 34/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 227/20<strong>17</strong>; näher dazu KLOSE NJ<br />

20<strong>17</strong>, 15). Schließlich setzte sich der VI. Zivilsenat mit<br />

den Anforderungen an die Berufungsschrift auseinander.<br />

Diese müsse zwar durch den Prozessbevollmächtigten<br />

unterschrieben sein, auf die Lesbarkeit<br />

der Unterschrift komme es jedoch nicht an.<br />

Vielmehr sei nur die Abgrenzbarkeit von einer<br />

reinen Paraphe oder Abkürzung maßgeblich (BGH,<br />

Beschl. v. 29.11.20<strong>16</strong> – VI ZB <strong>16</strong>/<strong>16</strong>).<br />

VII. Rechtsdienstleistungsrecht<br />

In einer Entscheidung von Anfang 20<strong>16</strong> hatte sich<br />

der BGH mit der Reichweite des RDG zu beschäftigen<br />

(Urt. v. 14.1.20<strong>16</strong> u. Beschl. v. 3.11.20<strong>16</strong> – IZR<br />

107/14; näher hierzu HENSSLER/MARKWORTH <strong>ZAP</strong> F. 23,<br />

S. 1067; s. zur vorinstanzlichen Entscheidung<br />

HENSSLER/DECKENBROCK DB 2014, 2150). Der I. Zivilsenat<br />

hat dabei auf einer ersten Stufe den<br />

Anwendungsbereich des RDG geprüft und insoweit<br />

eine weite Auslegung des Begriffs der Rechtsdienstleistung<br />

(§ 2 Abs. 1 RDG) vertreten. Erfasst<br />

sei jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts<br />

unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen,<br />

die über eine bloß schematische Anwendung<br />

von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung<br />

hinausgeht; ob es sich um eine einfache oder<br />

schwierige Rechtsfrage handelt, sei dabei unerheblich.<br />

Auf der zweiten Stufe sei dann zu erörtern,<br />

inwieweit sich der Dienstleister auf einen Erlaubnistatbestand<br />

berufen könne. Zu denken ist dabei<br />

vor allem an § 5 RDG, der Unternehmern in<br />

größerem Umfang als noch unter dem früheren<br />

RBerG die Möglichkeit bietet, Rechtsdienstleistungen<br />

im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit<br />

zu erbringen, wenn sie als Nebenleistung zum<br />

Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. Der BGH hat<br />

nunmehr aber zu Recht klargestellt, dass insbesondere<br />

die Schadensregulierung im Auftrag<br />

des Versicherers im Regelfall nicht als Nebenleistung<br />

zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des<br />

Versicherungsmaklers gehört. Denn ein Versicherungsmakler<br />

übernimmt nach § 59 Abs. 3 VVG<br />

gewerbsmäßig für den Auftraggeber die Vermittlung<br />

oder den Abschluss von Versicherungsverträgen,<br />

ohne von einem Versicherer oder Versicherungsvertreter<br />

damit betraut zu sein. Der<br />

Versicherungsmakler ist danach Sachwalter des<br />

(zukünftigen) Versicherungsnehmers und steht „im<br />

Lager des Kunden“, eine Doppeltätigkeit des Versicherungsmaklers<br />

sowohl für den Versicherer als<br />

auch für den Versicherungsnehmer bei der Vermittlung<br />

von Versicherungsverträgen ist mit diesem<br />

gesetzlichen Leitbild unvereinbar.<br />

Zudem begründe die Schadensregulierung im<br />

Auftrag des Versicherers einen unzulässigen<br />

Interessenkonflikt i.S.d. § 4 RDG. Während der<br />

Versicherer eine möglichst niedrige Schadenssumme<br />

zahlen möchte, könne das vom Versicherungsmakler<br />

aufgrund seiner Haupttätigkeit zu<br />

wahrende Interesse des Versicherungsnehmers,<br />

etwa an der Vermeidung eines Rechtsstreits oder<br />

einer weiteren Belastung der Kundenbeziehung<br />

mit dem Anspruchsteller, darauf gerichtet sein,<br />

dass der Versicherer schnell eine deutlich höhere<br />

Schadenssumme leistet. Zudem sei es Teil<br />

des Pflichtenkatalogs des Versicherungsmaklers,<br />

dem Versicherungsnehmer ggf. wegen einer unbefriedigenden<br />

Schadensregulierung zu einem<br />

Wechsel des Versicherers (Umdeckung) zu raten.<br />

VIII. Berufsrechte und -pflichten<br />

1. Unzulässige Gebührenteilung – Vorfinanzierung<br />

von Reparaturkosten<br />

Der Gesetzgeber will vor dem Hintergrund, dass die<br />

Anwaltschaft kein Gewerbe ist, in dem Mandate<br />

„gekauft“ und „verkauft“ werden, vermeiden, dass<br />

Rechtsanwälte in einen Wettbewerb um den<br />

Ankauf von Mandaten treten. § 49b Abs. 3 S. 1<br />

BRAO untersagt dem Rechtsanwalt dementsprechend,<br />

für die Vermittlung von Aufträgen einen Teil<br />

der Gebühren zu zahlen oder sonstige Vorteile zu<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 845


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

gewähren. Dass dieses Verbot vielen vermeintlich<br />

cleveren neuen Geschäftsideen von Rechtsanwälten<br />

entgegensteht, zeigt ein aktuelles Urteil des Anwaltssenats<br />

(Urt. v. 20.6.20<strong>16</strong> u. Beschl. v. 25.8.20<strong>16</strong><br />

– AnwZ [Brfg] 26/14). Danach darf ein Rechtsanwalt<br />

Kfz-Werkstätten, Sachverständigen und Abschleppunternehmern<br />

nicht ihre Kosten in Höhe der<br />

geschätzten Haftungsquote verauslagen. Mit dieser<br />

Vorgehensweise strebe der Rechtsanwalt gerade<br />

unzulässigerweise an, dass die Dienstleister, die den<br />

ersten Kontakt mit Verkehrsunfallopfern mit spezifischem<br />

Beratungsbedarf haben, seine Kanzlei<br />

empfehlen, weshalb jeweils in einem konkreten Fall,<br />

in dem die Empfehlung zur Mandatierung des<br />

Anwalts führt, ein „sonstiger Vorteil“ gewährt werde<br />

(i.E., nicht aber in der Begründung zustimmend HUFF<br />

BRAK-Mitt. 20<strong>16</strong>, 237).<br />

2. Werbung für kostenlose Erstberatung<br />

In einem weiteren, in jeder Hinsicht begrüßenswerten<br />

Urteil zum anwaltlichen Gebührenrecht<br />

entschied der Anwaltssenat des BGH jüngst (Urt. v.<br />

3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 42/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5<strong>17</strong>/20<strong>17</strong>),<br />

dass das Angebot einer kostenlosen Erstberatung<br />

(im Verkehrsrecht) durch eine Rechtsanwaltskanzlei<br />

berufsrechtlich zulässig ist (s. auch <strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin <strong>16</strong>/20<strong>17</strong>, S. 832). Damit hat der<br />

Senat die schon bislang unter den Instanzgerichten<br />

und im Schrifttum vorherrschende Ansicht höchstrichterlich<br />

abgesichert und Rechtssicherheit geschaffen.<br />

Ein Verstoß gegen das Verbot der<br />

Gebührenunterschreitung nach § 49b Abs. 1 S. 1<br />

BRAO sei nicht gegeben, weil das RVG in § 34<br />

Abs. 1 keine bestimmte Gebühr und damit auch<br />

keine Mindestgebühr für eine Erstberatung in<br />

außergerichtlichen Angelegenheiten vorsehe. Ein<br />

anderes Ergebnis folge auch nicht aus § 4 Abs. 1<br />

S. 1 u. 2 RVG, wonach eine in außergerichtlichen<br />

Angelegenheiten vereinbarte Gebühr in einem<br />

angemessenen Verhältnis zu Leistung, Verantwortung<br />

und Haftungsrisiko des Rechtsanwalts stehen<br />

muss. Die Norm setze eine gesetzlich vorgeschriebene<br />

Vergütung voraus und sei daher nicht auf den<br />

Bereich außergerichtlicher Beratung anwendbar.<br />

Sie bezwecke gerade nicht, vollständige Gebührenverzichte<br />

zugunsten einer allgemeinen Äquivalenzkontrolle<br />

außerhalb konkreter gesetzlicher<br />

Vergütungsvorgaben auszuschließen.<br />

3. Verstoß gegen das Verbot der Vertretung<br />

widerstreitender Interessen<br />

Nach einer Entscheidung des IX. Senats (Urt. v.<br />

12.5.20<strong>16</strong> – IX ZR 241/14) steht endlich fest, dass ein<br />

Verstoß gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender<br />

Interessen gem. § 43a Abs. 4 BRAO<br />

i.V.m. § 3 BORA zur Nichtigkeit des Anwaltsvertrags<br />

gem. § 134 BGB und damit auch zu einem<br />

Erlöschen der vertraglichen Erfüllungsansprüche<br />

führt. Diese Frage hatte der Senat in mehreren<br />

Entscheidungen zuvor immer wieder offengelassen.<br />

Es verbleiben jedoch Unsicherheiten. So ist<br />

weiterhin unklar, inwiefern die Nichtigkeitsfolge<br />

voraussetzt, dass der Berufspflichtverstoß schuldhaft<br />

erfolgte, und ob der Berufsträger trotz<br />

Nichtigkeit einen bereicherungsrechtlichen Wertersatzanspruch<br />

hat (vgl. dazu DECKENBROCK AnwBl<br />

20<strong>16</strong>, 595, 596; DERS. AnwBl 2010, 221 sowie LG<br />

Karlsruhe, Urt. v. 6.10.20<strong>16</strong>, dazu unten VIII. 4.).<br />

Darüber hinaus gilt es zu klären, inwieweit § 134<br />

BGB auch in Sozietätskonstellationen eingreift.<br />

Insoweit ist zu bedenken, dass der Senat seine<br />

Entscheidung maßgeblich damit begründet hat,<br />

dass das Verbot der Vertretung widerstreitender<br />

Interessen nicht dispositiv ist. Während dies für den<br />

Einzelanwalt, der in seiner Person auf beiden Seiten<br />

kollidierende Interessen vertritt, ausnahmslos gilt,<br />

können die betroffenen Parteien unter Beachtung<br />

der Voraussetzungen grundsätzlich gem. § 3 Abs. 2<br />

S. 2 BORA darin einwilligen, dass zwei personenverschiedene<br />

Rechtsanwälte der gleichen Sozietät<br />

widerstreitende Interessen vertreten (vgl. dazu<br />

DECKENBROCK AnwBl 20<strong>16</strong>, 595, 596).<br />

4. Interessenkollision nach Kanzleiwechsel:<br />

Keine Nachforschungspflicht<br />

Eine Entscheidung des LG Karlsruhe (Urt. v.<br />

6.10.20<strong>16</strong> – 10 O 219/<strong>16</strong> m. Anm. DECKENBROCK<br />

BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 35) offenbart, vor welchen<br />

tatsächlichen Schwierigkeiten Berufsausübungsgemeinschaften<br />

bei conflict checks stehen können.<br />

Eine Rechtsanwältin hatte ein Mandat<br />

übernommen, obwohl ihre frühere Sozietät –<br />

ohne ihre Kenntnis und ohne dass sich dies<br />

aus den Akten ergab oder sonst offengelegt war<br />

– den Gegner in derselben Rechtssache beraten<br />

hatte. Zu Recht verzichtet das LG hier darauf,<br />

die Hürden für eine sorgfältige Konfliktprüfung<br />

zu hoch zu setzen und von dem Sozietätswechsler<br />

ohne Anlass zu verlangen, Nachforschungen<br />

anzustellen. Eine verfassungskonforme<br />

Auslegung des § 43a Abs. 4 BRAO müsse zur<br />

Verneinung eines Tätigkeitsverbots führen, wenn<br />

den Rechtsanwalt kein Verschulden treffe und<br />

keine Interessenkollision und kein Nachteil für<br />

den Mandanten im konkreten Einzelfall entstanden<br />

sei. Möglich erscheint es in diesen Fällen<br />

846 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

zwar, zulasten der den Anwalt abgebenden<br />

Sozietät eine Informationspflicht zu begründen<br />

und diese dazu zu verpflichten, ihren Mandanten<br />

darüber zu informieren, dass einer ihrer Berufsträger<br />

zur Kanzlei des Gegners wechselt; er<br />

könnte dann darüber entscheiden, ob die Vorbefassung<br />

offengelegt wird (SV-Mat. 12/2006,<br />

BRAK-Mitt. 2006, 213, 2<strong>16</strong>). Allerdings stößt man<br />

in Fällen wie in dem vom LG Karlsruhe entschiedenen,<br />

in denen die abgebende Kanzlei das<br />

Kollisionsmandat längst niedergelegt hat, auch<br />

insofern an Grenzen.<br />

IX. Zulassungsrecht<br />

1. Versagung der Zulassung wegen<br />

strafrechtlicher Verurteilungen<br />

Großes mediales Interesse rief der Fall einer<br />

Bewerberin um eine Rechtsanwaltszulassung<br />

hervor. Diese wurde 2011 wegen Beleidigung zu<br />

einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt,<br />

nachdem sie während ihres Referendariats im<br />

Anschluss an eine vermeintlich unfaire Behandlung<br />

ihren ausbildenden Staatsanwalt mit drastischen<br />

Worten angegangen hatte (u.a. hieß es in<br />

der an den Staatsanwalt gerichteten E-Mail: „Sie<br />

sind ein provinzieller Staatsanwalt, der nie aus dem<br />

Kaff rausgekommen ist, in dem er versauert. Ihr<br />

Weltbild entspricht dem des typischen deutschen<br />

Staatsbürgers von 1940. Mit Ihrem Leben und Ihrer<br />

Person sind Sie so zufrieden wie das Loch vom<br />

Plumpsklo. Als Sie mich vor sich hatten, sind Sie vor<br />

Neid fast erblasst, ich konnte Ihren Hass geradezu<br />

sinnlich wahrnehmen. Am liebsten hätten Sie mich<br />

vergast, aber das ist ja heute out.“). Unter Berufung<br />

auf die Verurteilung wurde im Jahr 2015 der<br />

Zulassungsantrag der Bewerberin, die auch im<br />

weiteren Verlauf nicht von ihren Äußerungen<br />

abrückte, wegen Unwürdigkeit (§ 7 Nr. 5 BRAO)<br />

abgelehnt. Der BGH (Beschl. v. 27.6.20<strong>16</strong> – AnwZ<br />

[Brfg] 10/<strong>16</strong>) bestätigte die Entscheidung des AGH<br />

NRW, wonach die Versagung der Zulassung zwar<br />

die Berufswahlfreiheit erheblich einschränke, in<br />

diesem Fall aber gerechtfertigt sei, da die Bewerberin<br />

ihrer Gesamtpersönlichkeit nach für den<br />

Anwaltsberuf nicht tragbar sei (AGH NRW, Urt. v.<br />

30.10.2015 – 1 AGH 25/15).<br />

Auch wenn der Inhalt der E-Mail der Assessorin in<br />

keiner Weise gutgeheißen werden kann und ihrer<br />

späteren Rolle als Organ der Rechtspflege nicht<br />

einmal ansatzweise gerecht wird, die Verurteilung<br />

wegen Beleidigung also völlig zu Recht<br />

erfolgt ist, spricht doch viel dafür, dass die zzt.<br />

anhängige Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR<br />

1822/<strong>16</strong>) Erfolg haben wird. Denn die oben dargestellten<br />

Entscheidungen berücksichtigen die<br />

hohe Ausstrahlungswirkung des Grundrechts auf<br />

freie Berufswahl (Art. 12 GG) nicht hinreichend.<br />

Es erscheint unverhältnismäßig, ein langjähriges<br />

faktisches Berufsverbot allein mit einer einmaligen,<br />

bereits einige Jahre zurückliegenden Verurteilung<br />

zu rechtfertigen, von der die Kammer<br />

ohne das in § 41 Abs. 1 Nr. 9 BZRG vorgesehene<br />

Recht auf umfassende Auskunft überhaupt keine<br />

Kenntnis erlangt hätte. Zudem hätten sich<br />

Kammer und Gerichte damit auseinandersetzen<br />

müssen, welche Konsequenzen die Bewerberin zu<br />

erwarten gehabt hätte, wenn sie zum Zeitpunkt<br />

der Beleidigung schon als Rechtsanwältin zugelassen<br />

gewesen wäre. Denn jedenfalls lässt sich<br />

der jüngeren Gerichtspraxis nicht eine einzige<br />

Entscheidung entnehmen, in der eine einfache<br />

Beleidigung mit einer Strafe in dieser Höhe zum<br />

Verlust der Zulassung geführt hat (für eine<br />

Unverhältnismäßigkeit der Zulassungsversagung<br />

plädieren auch die BRAK [Stellungnahme Nr. 1/<br />

20<strong>17</strong> v. Januar 20<strong>17</strong>] und der DAV [Stellungnahme<br />

Nr. 8/20<strong>17</strong> v. Februar 20<strong>17</strong>]).<br />

Die verfassungsrechtlichen Zweifel an den Entscheidungen<br />

werden auch deutlich, wenn man<br />

diesen Fall mit dem Sachverhalt vergleicht, der<br />

dem Urteil des AGH NRW vom 7.10.20<strong>16</strong> (Az. 1<br />

AGH 23/<strong>16</strong>) zugrunde gelegen hat: Zwar wurde<br />

auch hier die Zulassung eines (ausländischen)<br />

Rechtsanwalts wegen Unwürdigkeit abgelehnt,<br />

in Rede standen jedoch sehr gravierende strafrechtliche<br />

Verurteilungen, die auf ein „massiv<br />

gestörtes Verhältnis zu Recht und Gesetz“ hindeuten.<br />

2. Widerruf der Zulassung<br />

Auch mit den Gründen für einen Widerruf der<br />

Anwaltszulassung musste sich der Anwaltssenat<br />

befassen (BGH, Urt. v. 7.11.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg]<br />

58/14). Dem Senat zufolge gefährdet eine dienstabhängige<br />

Teilzeitbeschäftigung von 20 Stunden<br />

pro Woche nicht die gleichzeitige Zulassung als<br />

Rechtsanwalt, wenn aufgrund der Vereinbarungen<br />

mit dem Arbeitgeber eine ausreichend flexible<br />

Einteilung der Arbeitszeit möglich ist, die es<br />

bei Bedarf erlaubt, sowohl vormittags als auch<br />

nachmittags anwaltliche Termine wahrzunehmen.<br />

Eine zusätzliche, nicht einseitig wider-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 847


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

rufliche Freistellungserklärung des Arbeitgebers<br />

setzt der Anwaltssenat bei einer Teilzeitbeschäftigung<br />

nicht voraus. Bei einer erstberuflichen,<br />

nichtanwaltlichen Vollzeitbeschäftigung hatte es<br />

diesbezüglich immer wieder Streit gegeben (vgl.<br />

nur BGH, Beschl. v. 9.11.2009 – AnwZ [B] 83/08).<br />

Nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO ist die Zulassung<br />

eines Anwalts, der in Vermögensverfall geraten<br />

ist, zu widerrufen, es sei denn, dass dadurch die<br />

Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet<br />

sind; der Vermögensverfall wird insbesondere<br />

vermutet, wenn über das Vermögen des Anwalts<br />

ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Nach<br />

ständiger Rechtsprechung konnten die Vermögensverhältnisse<br />

erst dann wieder als geordnet<br />

angesehen werden, wenn dem Schuldner entweder<br />

durch Beschluss des Insolvenzgerichts die<br />

Restschuldbefreiung angekündigt wurde (§ 291<br />

InsO a.F.) oder ein vom Insolvenzgericht bestätigter<br />

Insolvenzplan (§ 248 InsO) oder angenommener<br />

Schuldenbereinigungsplan (§ 308 InsO)<br />

vorlag, bei dessen Erfüllung der Schuldner von<br />

seinen übrigen Forderungen gegenüber den Gläubigern<br />

befreit wird. Der Anwaltssenat hat nunmehr<br />

zu Recht klargestellt, dass die neue, bei Insolvenzeröffnung<br />

im Beschlusswege ergehende<br />

Eingangsentscheidung zur Restschuldbefreiung<br />

nach § 287a Abs. 1 S. 1 InsO die zum Zulassungswiderruf<br />

berechtigende gesetzliche Vermutung<br />

des Vermögensverfalls (vgl. § 14 Abs. 2 Nr. 7<br />

BRAO) nicht widerlegt; zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung<br />

könne von geordneten Vermögensverhältnissen<br />

eben noch keine Rede sein<br />

(Beschl. v. 29.12.20<strong>16</strong> und v. 9.3.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg]<br />

53/<strong>16</strong>; zustimmend AHRENS NJW 20<strong>17</strong>, 1183, 1184;<br />

KALLENBACH AnwBl 20<strong>17</strong>, 327). Der durch missverständliche<br />

Klammerzusätze in früheren Entscheidungen<br />

mehrmals erweckte Eindruck, die zu § 291<br />

InsO a.F. (Ankündigung der Restschuldbefreiung<br />

nach Beendigung des Insolvenzfahrens) ergangene<br />

Rechtsprechung werde auf die neue<br />

Rechtslage übertragen, kann sich daher nicht<br />

mehr weiter verfestigen.<br />

3. Zulassung zur BGH-Anwaltschaft<br />

Schließlich stand in den letzten Jahren einmal<br />

mehr das komplizierte Zulassungsverfahren<br />

(§§ <strong>16</strong>4 ff. BRAO; dazu DECKENBROCK AnwBl 2015,<br />

654) für Rechtsanwälte beim BGH auf dem<br />

Prüfstand des Anwaltssenats und anschließend<br />

des BVerfG. Der Kläger war zwar von der BRAK<br />

dem Wahlausschuss vorgeschlagen worden,<br />

wurde jedoch nicht auf der Vorschlagsliste für<br />

das BMJV berücksichtigt und dementsprechend<br />

auch nicht als BGH-Anwalt zugelassen.<br />

In dem facettenreichen Verfahren rügte der Kläger<br />

die Verfassungsmäßigkeit der nur noch beim BGH<br />

für Zivilsachen fortbestehenden Singularzulassung<br />

und kritisierte darüber hinaus, dass der Bedarf an<br />

neu zuzulassenden Anwälten vom Wahlausschuss<br />

zu knapp bemessen worden, die Kandidatenauswahl<br />

fehlerhaft erfolgt und das Verfahren mangels<br />

vollständiger Akteneinsicht (wegen diverser<br />

Schwärzungen) intransparent sei. Diesen Einwänden<br />

folgte der Anwaltssenat indes nicht (BGH, Urt.<br />

v. 2.5.20<strong>16</strong> – AnwZ 1/14), die gegen das Urteil<br />

eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde ebenfalls<br />

nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG,<br />

Beschl. v. 13.6.20<strong>17</strong> – 1 BvR 1370/15). Vielmehr<br />

betonten BGH und BVerfG, dass dem Wahlausschuss<br />

bei der Festlegung, wie viele Kandidaten die<br />

Vorschlagsliste zu enthalten habe, ein der gerichtlichen<br />

Kontrolle entzogener Ermessensspielraum<br />

zukomme. Im Übrigen sei zu bedenken, dass auch<br />

dem Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung<br />

des Wahlverfahrens ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum<br />

zukomme.<br />

X. Syndikusrechtsanwälte –<br />

Auswirkungen der gesetzlichen<br />

Neuregelung<br />

Zum 1.1.20<strong>16</strong> wurden die Zulassung von Unternehmensjuristen<br />

als Syndikusrechtsanwälte in<br />

§§ 46 ff. BRAO und die sich daran anschließende<br />

Befreiung von der Rentenversicherungspflicht<br />

neu geordnet (vgl. näher HENSSLER/DECKENBROCK DB<br />

20<strong>16</strong>, 215; OFFERMANN-BUCKART AnwBl 20<strong>16</strong>, 125;<br />

HUFF <strong>ZAP</strong> F. 23, 1045). Die zuvor angestrengten<br />

Verfassungsbeschwerden gegen die Syndikusurteile<br />

des BSG aus dem Jahr 2014 (Urt. v. 3.4.2014<br />

– B 5 RE 3/14 R; v. 3.4.2014 – B 5 RE 9/14 R; v.<br />

3.4.2014 – B 5 RE 13/14 R), die das Gesetzgebungsverfahren<br />

erst ins Rollen gebracht hatten, konnten<br />

dadurch nur noch für Altfälle Bedeutung<br />

erlangen. Immerhin ist der am 22.7.20<strong>16</strong> hierzu<br />

ergangenen Entscheidung des BVerfG (Az. 1 BvR<br />

2534/14) aber als wichtige Klarstellung zu entnehmen,<br />

dass unter die „einkommensbezogenen<br />

Beiträge“, deren Zahlung gemäß der Übergangsregelung<br />

in § 231 Abs. 4b S. 4 SGB VI als einzige zu<br />

einer rückwirkenden Befreiung von der Versiche-<br />

848 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Berufsrechtsreport<br />

rungspflicht für die Zeit auch vor dem 1.4.2014<br />

berechtigen soll, Mindest- und Pflichtbeiträge<br />

nach den jeweiligen Satzungen der Versorgungswerke<br />

fallen (für die Zeit danach wird dies im<br />

Gesetz ausdrücklich festgestellt). Auch Unternehmensjuristen,<br />

die bereits vor dem 1.4.2014<br />

Mitglied in Kammer und Versorgungswerk waren,<br />

können daher auf eine Rückzahlung ihrer an die<br />

DRV gezahlten Beiträge hoffen.<br />

Durchaus bemerkenswert ist daneben eine erst<br />

im Mai 20<strong>17</strong> bekannt gewordene Entscheidung<br />

des BSG vom Dezember 20<strong>16</strong> (Urt. v. 15.12.20<strong>16</strong> –<br />

B 5 RE 7/<strong>16</strong> R). Anwälte, die bei Steuerberatungsund<br />

Wirtschaftsprüfungsgesellschaften angestellt<br />

sind, können von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht<br />

selbst ohne gesonderte Zulassung<br />

als Syndikusrechtsanwalt befreit werden (s. hierzu<br />

POSEGGA NJW 20<strong>16</strong>, 1911). Das BSG wendet damit<br />

seine im April 2014 entwickelte Rechtsprechung auf<br />

diese Fallkonstellation nicht an, sondern geht davon<br />

aus, dass ein Rechtsanwalt, der als Angestellter bei<br />

einer Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />

für deren Mandanten tätig wird, anwaltliche<br />

Tätigkeiten erbringt, sofern die Rechtsberatung<br />

im Wesentlichen weisungsfrei erfolgt.<br />

Hinzuweisen ist zudem auf drei Entscheidungen des<br />

AGH NRW aus dem Jahr 20<strong>16</strong>, in denen der Senat die<br />

Voraussetzungen der §§ 46 ff. BRAO zu präzisieren<br />

versucht hat. Der AGH wies in zwei Fällen die gegen<br />

die Zulassung sog. Schadenanwälte als Syndikusrechtsanwälte<br />

gerichteten Klagen der Deutschen<br />

Rentenversicherung Bund zurück (Urt. v. 28.10.20<strong>16</strong><br />

– 1 AGH 33/<strong>16</strong>; v. 28.10.20<strong>16</strong> – 1 AGH 34/<strong>16</strong>, dazu<br />

THEUS BB 20<strong>17</strong>, 73). Ein Unternehmensjurist, der im<br />

Rahmen seiner eigentlichen Tätigkeit die gesetzlichen<br />

Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, jedoch<br />

seit geraumer Zeit als Betriebsrat freigestellt ist,<br />

kann nach dem AGH NRW hingegen nicht als<br />

Syndikusrechtsanwalt zugelassen werden (Urt. v.<br />

25.11.20<strong>16</strong> – 1 AGH 50/<strong>16</strong>; Revision anhängig unter<br />

Az. AnwZ [Brfg] 12/<strong>17</strong>). Das sich aus dem Betriebsverfassungsrecht<br />

ergebende Benachteiligungsverbot<br />

des Betriebsratsmitglieds vermittle lediglich<br />

einen Schutzanspruch gegenüber dem Arbeitgeber<br />

und nicht gegenüber der Rechtsanwaltskammer als<br />

Zulassungs- und Aufsichtsbehörde.<br />

Alle drei Entscheidungen bezogen sich auf Personen,<br />

die nicht unmittelbar in der Rechtsabteilung<br />

ihres Unternehmens beschäftigt sind. Hier<br />

bereitet die Abgrenzung, ob eine rein sachbearbeitende<br />

Tätigkeit vorliegt oder tatsächlich i.S.d.<br />

§ 46 Abs. 3 Nr. 1, 2 BRAO Rechtsfragen geprüft<br />

werden und Rechtsrat erteilt wird, fortwährend<br />

Schwierigkeiten, so dass weitere gerichtliche Streitigkeiten<br />

zu erwarten sind, bis sich eine einheitliche<br />

Rechtsprechungslinie herausgebildet hat. Insbesondere<br />

die letzte Entscheidung verdeutlicht,<br />

dass die Obergerichte sich nicht auf eine Prüfung<br />

dessen beschränken, was Arbeitsvertrag und innerbetriebliche<br />

Weisungen als Tätigkeitsbereich<br />

der fraglichen Person definieren, sondern allein<br />

die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit für maßgeblich<br />

erachten. Dies gilt auch für die seitens des<br />

Arbeitgebers zu gewährleistende Weisungsfreiheit<br />

des Syndikus als Ausdruck seiner fachlichen Unabhängigkeit<br />

(vgl. insofern AGH NRW, Urt. v.<br />

7.10.20<strong>16</strong> – 1 AGH 22/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 78/20<strong>17</strong>; v.<br />

10.2.20<strong>17</strong> – 1 AGH 20/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 306/20<strong>17</strong>).<br />

XI. Verschiedenes<br />

1. Erhöhtes Mitgliederinteresse an Belangen<br />

der Rechtsanwaltskammern<br />

Auf den Rechtsanwaltskammern lastet in letzter<br />

Zeit ein erhöhter Rechtfertigungsdruck gegenüber<br />

ihren Mitgliedern. Auffallend ist zunächst eine<br />

schwindende Akzeptanz gegenüber vermeintlich<br />

überhöhten und intransparenten Kammerausgaben.<br />

So musste die Zulässigkeit der durch die BRAK<br />

erhobenen Umlage für das 20<strong>16</strong> eingeführte elektronische<br />

Anwaltspostfach sogar höchstrichterlich<br />

geklärt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.20<strong>16</strong> –<br />

AnwZ [Brfg] 52/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. <strong>16</strong>7/20<strong>17</strong>). Ebenso<br />

verlangen die Mitglieder aber, dass einzelne Vorstandsentscheidungen<br />

gerechtfertigt werden: Generell<br />

kann über die Verwaltungstätigkeit der<br />

Rechtsanwaltskammern, unabhängig von einer<br />

eigenen Kammermitgliedschaft, jedermann Auskunft<br />

nach dem jeweils einschlägigen Landesinformationsfreiheitsgesetz<br />

(IFG) verlangen, weil es sich<br />

um juristische Personen des öffentlichen Rechts<br />

handelt (vgl. bereits AGH NRW, Beschl. v. 12.4.2013<br />

– 2 AGH 13/12). Für die BRAK gilt hingegen das IFG<br />

des Bundes (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl.<br />

v. 23.5.20<strong>17</strong> – OVG 12 N 72.<strong>16</strong>).<br />

Der BGH (Urt. v. 20.3.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 46/15) hat<br />

auf die Klage eines Rechtsanwalts hin nunmehr<br />

entschieden, dass sich der aus dem IFG NRW<br />

resultierende Anspruch auf Akteneinsicht auch<br />

auf die protokollierten Ausführungen zum Beschlussgegenstand<br />

und abschließenden Beschluss-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 849


Berufsrechtsreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

ergebnis einer Kammervorstandssitzung bezieht,<br />

ohne dass dem die in § 76 BRAO enthaltene<br />

Verschwiegenheitsverpflichtung der Vorstandsmitglieder<br />

entgegensteht. Dabei spielt der zum<br />

Teil erhebliche Umfang der Protokolle im Einzelfall<br />

(streitgegenständlich ging es um 646 Seiten)<br />

grundsätzlich keine Rolle. Demgegenüber bleiben<br />

die Vorstandsberatungen, d.h. der eigentliche Austausch<br />

von Argumenten, Kammermitgliedern weiterhin<br />

verschlossen, da andernfalls keine unbelastete<br />

Auseinandersetzung mehr möglich wäre.<br />

2. Äußerungen eines Rechtsanwalts<br />

als Schmähkritik<br />

Wie schon einige Male in der jüngeren Vergangenheit<br />

– man denke nur an die Entscheidung<br />

zum „Winkeladvokaten“ (BVerfG, Beschl. v.<br />

2.7.2013 – 1 BvR <strong>17</strong>51/12) – musste sich das BVerfG<br />

mit der Abgrenzung von zulässiger Meinungsfreiheit<br />

und unzulässiger, weil beleidigender<br />

(und nach § 185 StGB strafbewehrter sowie<br />

nach § 43a Abs. 3 BRAO berufsrechtswidriger)<br />

Schmähkritik auseinandersetzen (Beschl. v.<br />

29.6.20<strong>16</strong> – 1 BvR 2646/15).<br />

Der Beschwerdeführer vertrat als Strafverteidiger<br />

einen Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren<br />

wegen Veruntreuung von Spendengeldern. Nachdem<br />

gegen den Beschuldigten auf Antrag der<br />

Staatsanwaltschaft Haftbefehl erlassen worden<br />

war, kam es bei der Haftbefehlsverkündung zu<br />

einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der<br />

mit dem Verfahren betrauten Staatsanwältin und<br />

dem Beschwerdeführer, der seinen Mandanten als<br />

zu Unrecht verfolgt ansah. Am Abend desselben<br />

Tages meldete sich ein Journalist, der eine Reportage<br />

über den Beschuldigten plante, telefonisch<br />

beim Beschwerdeführer. Dieser wollte mit dem ihm<br />

unbekannten Journalisten zwar eigentlich nicht<br />

sprechen, äußerte sich dann aber doch auf dessen<br />

hartnäckiges Nachfragen hin und aus Verärgerung<br />

über den Verlauf der Ermittlungen zum Verfahren<br />

und bezeichnete im Laufe des Telefonats die mit<br />

dem Verfahren betraute Staatsanwältin als „dahergelaufene<br />

Staatsanwältin“, „durchgeknallte Staatsanwältin“,<br />

„widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“<br />

und „geisteskranke Staatsanwältin“.<br />

Das BVerfG hat die Entscheidungen, mit denen der<br />

Anwalt wegen Beleidigung verurteilt wurde,<br />

aufgehoben. Äußerungen könnten nur dann<br />

als Schmähkritik eingeordnet und so bereits<br />

per se dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit<br />

entzogen werden, wenn sie „von vornherein<br />

außerhalb jedes in einer Sachauseinandersetzung<br />

wurzelnden Verwendungskontextes“ erfolgten.<br />

Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit sei hingegen<br />

eröffnet, sofern sich ein Strafverteidiger im<br />

Zusammenhang mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung<br />

diffamierend über eine Staatsanwältin<br />

äußere. In der Folge setze die Bejahung des<br />

Straftatbestands der Beleidigung in diesem Fall<br />

eine grundrechtliche Abwägung voraus. Es bedürfe<br />

daher in Auseinandersetzung mit der Situation<br />

näherer Darlegungen, dass sich die Äußerungen<br />

von dem Ermittlungsverfahren völlig gelöst hatten<br />

oder der Verfahrensbezug nur als mutwillig gesuchter<br />

Anlass oder Vorwand genutzt wurde, um<br />

die Staatsanwältin als solche zu diffamieren.<br />

In der Literatur wurde die Entscheidung zum<br />

Teil als zu weitgehend kritisiert, da sich der für<br />

die Schutzbereichseröffnung erforderliche Sachzusammenhang<br />

fast immer konstruieren lasse<br />

(GOSTOMZYK NJW 20<strong>16</strong>, 2871, 2872). Gleichzeitig<br />

wird vor einer zu starken Marginalisierung diffamierender<br />

Äußerungen gegenüber Staatsbediensteten<br />

gewarnt (vgl. HUFEN JuS 20<strong>17</strong>, 181,<br />

183; METZ NStZ-RR 20<strong>16</strong>, 309, 310). Es lassen sich<br />

jedoch auch Stimmen finden, die den durch das<br />

BVerfG postulierten Vorrang der Einzelabwägung<br />

befürworten (MUCKEL JA 20<strong>16</strong>, 797).<br />

850 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 137<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

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Allgemeines Zivilrecht<br />

Arzthaftung: Wahl einer nicht allgemein anerkannten Therapieform<br />

(BGH, Urt. v. 30.5.20<strong>17</strong> – VI ZR 203/<strong>16</strong>) • Die Anwendung von nicht allgemein anerkannten Therapieformen<br />

ist rechtlich grds. erlaubt. Die Entscheidung des Arztes für die Wahl einer nicht allgemein anerkannten<br />

Therapieform setzt allerdings eine sorgfältige und gewissenhafte medizinische Abwägung von Vor- und<br />

Nachteilen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und des Wohls des konkreten Patienten<br />

voraus. Bei dieser Abwägung dürfen auch die Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten der<br />

Schulmedizin nicht aus dem Blick verloren werden. Je schwerer und radikaler der Eingriff in die körperliche<br />

Unversehrtheit des Patienten ist, desto höher sind die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit<br />

der gewählten Behandlungsmethode. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 494/20<strong>17</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Rücktritt vom Autokauf: Fehlende Neuwageneigenschaft<br />

(OLG Hamm, Urt. v. 18.5.20<strong>17</strong> – 28 U 134/<strong>16</strong>) • Wird in der Auftragsbestätigung zu einem Autokauf als<br />

Erstzulassung „Neu/Tageszulassung“ und als Kilometerstand „Werkskilometer“ festgehalten, so darf der<br />

Käufer davon ausgehen, dass der Wagen bis dahin nur auf einen Handelsbetrieb zugelassen war und die<br />

Zulassungsdauer bei max. 30 Tagen lag. Sind diese Eigenschaften nicht gegeben, kann der Käufer vom<br />

Vertrag zurücktreten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 495/20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Modernisierungsvereinbarung: Widerruf<br />

(BGH, Urt. <strong>17</strong>.5.20<strong>17</strong> – VIII ZR 29/<strong>16</strong>) • Wird die zwischen einem Vermieter und einem Mieter in einer<br />

Haustürsituation geschlossene Modernisierungsvereinbarung von dem Mieter wirksam widerrufen,<br />

schuldet der Mieter nicht allein schon wegen der durch die nachfolgende Modernisierungsmaßnahme<br />

eingetretenen Steigerung des bisherigen Wohnwerts einen Wertersatz in Gestalt einer nunmehr höheren<br />

Miete. Dazu bedarf es vielmehr einer – lediglich für die Zukunft wirkenden – Nachholung des gesetzlichen<br />

Verfahrens zur Mieterhöhung bei Modernisierung. Die in § 357 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. enthaltene allgemeine<br />

Verweisung auf die entsprechende Anwendung der „Vorschriften über den gesetzlichen Rücktritt“ ist<br />

einschränkend dahin auszulegen, dass eine Anwendung dieser Vorschriften nicht zu Lasten des Verbrauchers<br />

und des ihm vom Gesetzgeber zugebilligten Schutzes gehen darf. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 496/20<strong>17</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 851


Fach 1, Seite 138 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />

Gewerberaummiete: Schriftformerfordernis bei Mieterhöhung<br />

(OLG Dresden, Urt. v. 22.2.20<strong>17</strong> – 5 U 961/<strong>16</strong>) • Ist ein Mietvertrag befristet worden, so führt eine<br />

einseitige, auf die Erhöhung der Miete oder die Ausübung eines Optionsrechtes gerichtete<br />

Willenserklärung nicht zu einem Schriftformverstoß. Es bleibt damit bei der Wirksamkeit der Befristung.<br />

Hinweis: Befristete Mietverträge können auch mit einem Optionsrecht auf Verlängerung des<br />

Mietvertrags oder mit der Möglichkeit der Erhöhung der Miete versehen werden. Die Ausübung einer<br />

solchen Möglichkeit führt nicht zu einem Schriftformverstoß mit der Folge, dass die Befristung entfiele<br />

und damit das Kündigungsrecht auflebt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 497/20<strong>17</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Mängelbeseitigung: Anspruch des Auftraggebers auf Kostenerstattung<br />

(OLG Brandenburg, Urt. v. 30.3.20<strong>17</strong> – 12 U 71/<strong>16</strong>) • Dem Auftraggeber steht bei einem Bauvertrag bis<br />

zur vollständigen Mängelbeseitigung ein Leistungsverweigerungsrecht hinsichtlich noch zu zahlenden<br />

Restwerklohns zu. Der Auftragnehmer ist daher nicht berechtigt, die Mängelbeseitigung von der Zahlung<br />

des Restwerklohns abhängig zu machen. Für eine Mängelrüge ist es ausreichend, dass die jeweiligen<br />

Mangelerscheinungen (Symptome) hinreichend genau bezeichnet werden. Damit sind zugleich auch alle<br />

Ursachen für die bezeichneten Symptome erfasst. Dies gilt selbst dann, wenn die angegebenen Symptome<br />

des Mangels nur an einigen Stellen aufgetreten sind, während ihre Ursache und damit der Mangel des<br />

Werks das gesamte Gebäude erfasst (sog. Symptomtheorie). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 498/20<strong>17</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Flugbeförderung: Preistransparenz bei der Angabe von Flugpreisen<br />

(EuGH, Urt. v. 6.7.20<strong>17</strong> – C-290/<strong>16</strong>) • Zur Preistransparenz, wie sie nach der EU-Verordnung über die<br />

Durchführung von Luftverkehrsdiensten verlangt wird, zählt, dass Luftfahrtunternehmen die von den<br />

Kunden für die Steuern, die Flughafengebühren und die sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte<br />

geschuldeten Beträge bei der Veröffentlichung ihrer Flugpreise gesondert ausweisen müssen. Sie dürfen<br />

sie daher nicht – auch nicht teilweise – in den Flugpreis einbeziehen. Hinweis: Gescheitert ist damit Air<br />

Berlin mit einer Klausel in seinen AGB, wonach das Unternehmen nach Stornierung oder Nichtantritt<br />

eines Fluges durch den Reiseteilnehmer vom rückzuerstattenden Betrag ein Bearbeitungsentgelt von<br />

25 € einbehalten darf. Die EU-Verordnung über die Durchführung von Luftverkehrsdiensten, welche den<br />

Luftfahrtunternehmen Preisfreiheit einräumt, stehe, so der EuGH, dieser Verbraucherschutzregelung<br />

nicht entgegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 499/20<strong>17</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Veräußerung von Wohnungseigentum: Widerruf einer vom Verwalter erteilten Zustimmung<br />

(OLG München, Beschl. v. 31.5.20<strong>17</strong> – 34 Wx 386/<strong>16</strong>) • Ist in der Teilungserklärung vereinbart, dass die<br />

Zustimmung des Verwalters zur Übertragung von Wohnungseigentum erforderlich ist, so kann dieser<br />

seine Zustimmungserklärung bis zum Eingang des Umschreibungsantrags beim Grundbuchamt<br />

widerrufen. Unerheblich hierfür ist, ob die Zustimmung zum schuldrechtlichen Vertrag bereits wirksam<br />

erteilt war. Hinweis: Ist in der Teilungserklärung geregelt, dass eine Veräußerung von Wohnungseigentum<br />

der Zustimmung des Verwalters bedarf, so ist zu beachten, dass nach der hier vom OLG<br />

München vertretenen Auffassung die Zustimmung des Verwalters noch bis zum Eingang des<br />

Umschreibungsantrags beim Grundbuchamt widerrufen werden kann. Das gilt auch dann, wenn die<br />

Zustimmung zum schuldrechtlichen Vertrag bereits wirksam erteilt war. Diese Rechtsprechung ist<br />

allerdings nicht unumstritten, so dass man gespannt sein darf, wann der BGH sich mit der Angelegenheit<br />

befassen wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 500/20<strong>17</strong><br />

852 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 139<br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Darlehensvertrag: Unwirksamkeit einer Kontogebühr-Klausel<br />

(BGH, Urt. v. 9.5.20<strong>17</strong> – XI ZR 308/15) • Die in den von einer Bausparkasse für eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen<br />

vorformulierten Darlehensverträgen enthaltene Bestimmung „Kontogebühr: derzeit je<br />

Konto 9,48 € jährlich (gemäß ABB)“ sowie die in den von der Bausparkasse regelmäßig verwendeten und in<br />

die Darlehensverträge einbezogenen Allgemeinen Bausparbedingungen (ABB) enthaltene Bestimmung<br />

„Für ein Konto in der Darlehensphase beträgt die Kontogebühr 9,48 €.“ sind im Verkehr mit Verbrauchern<br />

gem. § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Die Klauseln weichen durch die Vereinbarung einer<br />

Kontogebühr für die „bauspartechnische Verwaltung, Kollektivsteuerung und Führung einer Zuteilungsmasse“<br />

in der Darlehensphase von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung ab. Dadurch<br />

werden die Bausparkunden auch unangemessen benachteiligt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 501/20<strong>17</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Fahrerlaubnis: Neuerteilung nach einmaliger Trunkenheitsfahrt mit BAK von weniger als 1,6 ‰<br />

(BVerwG, Urt. v. 6.4.20<strong>17</strong> – 3 C 24.15) • Ist nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration<br />

von weniger als 1,6 ‰ die Fahrerlaubnis durch das Strafgericht entzogen worden, darf<br />

die Fahrerlaubnisbehörde die Neuerteilung nicht allein wegen dieser Fahrerlaubnisentziehung von der<br />

Beibringung eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig machen. Anders liegt es,<br />

wenn zusätzliche Tatsachen die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründen. Hinweis: Klar statuiert<br />

das BVerwG hier, dass, wenn ein Strafgericht die Fahrerlaubnis unter Anwendung des § 3<strong>16</strong> StGB entzieht, der<br />

BAK-Wert jedoch unter 1,6 ‰ liegt, im Regelfall keine MPU im Neuerteilungsverfahren verlangt werden kann.<br />

Dies gilt jedenfalls bei Ersttätern und bei Fehlen weiterer konkreter Tatsachen für künftigen, verkehrsrechtlich<br />

relevanten Alkoholmissbrauch. Abweichungen im Einzelfall kann es bei Vorliegen konkreter Tatsachen<br />

aber geben. Von besonderem Interesse mit Blick auf die Fahrerlaubnis ist hier also das Strafbefehlsverfahren,<br />

da dieses regelmäßig keine solchen konkreten Tatsachenfeststellungen enthält, die später verwendet werden<br />

könnten. Darauf sollte insb. die Verteidigung ein Auge haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 502/20<strong>17</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Reiserücktrittsversicherung: Einordnung einzeln gebuchter Transport- oder Mietleistungen<br />

(BGH, Urt. v. 14.6.20<strong>17</strong> – IV ZR <strong>16</strong>1/<strong>16</strong>) • In Versicherungsbedingungen enthaltene Klauseln, bei denen<br />

mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen vertretbar sind, sind unklar gem. § 305c Abs. 2 BGB und<br />

daher unwirksam. Der Begriff „Mietleistungen“ in einer Reiserücktrittsversicherung ist so zu verstehen, dass<br />

er nur Nutzungsüberlassungen aufgrund eines Mietvertrags i.S.d. §§ 535 ff. BGB erfasst. Auch ein<br />

durchschnittlicher Versicherungsnehmer der Reiserücktrittsversicherung erkennt, dass der in diesem<br />

Begriff enthaltene Wortbestandteil der „Miete“ auf rechtliche Kategorien verweist und in Abgrenzung zu<br />

anderen Vertragstypen die vorübergehende Gebrauchsüberlassung einer Sache gegen Entgelt voraussetzt.<br />

Allerdings wird die Klausel durch die Aufnahme eines Klammerzusatzes, in dem u.a. eine Ferienwohnung<br />

beispielhaft genannt wird, unklar. Der Versicherungsnehmer kann den Klammerzusatz so verstehen, dass<br />

die Buchung des Aufenthalts in einer Ferienwohnung vom Begriff der versicherten Reise erfasst wird,<br />

unabhängig davon, auf welcher vertraglichen Grundlage sie erfolgt. Andererseits kann der Klammerzusatz<br />

aber auch so verstanden werden, dass die Buchung einer Ferienwohnung nur dann in den Versicherungsschutz<br />

einbezogen ist, wenn der ihr zugrunde liegende Vertrag ein miet- oder reiserechtliches Gepräge<br />

aufweist. Diese Unklarheit geht zu Lasten des Verwenders. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 503/20<strong>17</strong><br />

Familienrecht<br />

Betreuung: Sachverständigenbeweis zur Notwendigkeit und zum Umfang<br />

(BGH, Beschl. v. 10.5.20<strong>17</strong> – XII ZB 536/<strong>16</strong>) • Der Sachverständigenbeweis zur Notwendigkeit und zum<br />

Umfang der Betreuung ist verfahrensfehlerhaft erhoben, wenn der Sachverständige den Betroffenen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 853


Fach 1, Seite 140 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />

weder persönlich untersucht noch befragt hat. Ein ohne die erforderliche persönliche Untersuchung<br />

erstattetes Sachverständigengutachten ist grds. nicht verwertbar. Die Weigerung des Betroffenen,<br />

einen Kontakt mit dem Sachverständigen zuzulassen, ist kein hinreichender Grund, von einer<br />

persönlichen Untersuchung durch den Sachverständigen abzusehen. Wirkt der Betroffene an einer<br />

Begutachtung nicht mit, so kann das Gericht seine Vorführung anordnen. Wenn der Sachverständige<br />

seine Erkenntnisse nicht aus einer Befragung des Betroffenen schöpfen kann, setzt das Gesetz eine<br />

Untersuchung des Betroffenen zwingend voraus, die jedenfalls einen persönlichen Eindruck des<br />

Sachverständigen vom Betroffenen erfordert. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 504/20<strong>17</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Vorsorgevollmacht: Erledigung von Geldgeschäften durch Familienangehörige<br />

(OLG Karlsruhe, Urt. v. <strong>16</strong>.5.20<strong>17</strong>– 9 U <strong>16</strong>7/15) • Hebt eine Tochter aufgrund einer Generalvollmacht<br />

Bargeldbeträge vom Bankkonto der pflegebedürftigen Mutter ab, um diese Gelder für die Mutter zu<br />

verwenden, ist auf das Verhältnis zwischen der Tochter und der Mutter i.d.R. Auftragsrecht anwendbar.<br />

Verlangt der Erbe nach dem Tod der Mutter die Herausgabe der Bargeldbeträge, welche die Beklagte zu<br />

Lebzeiten vom Konto der Mutter abgehoben hat, muss die Tochter gem. § 670 BGB beweisen, dass sie die<br />

Gelder auftragsgemäß verwendet hat. Im Einzelfall kann dieser Beweis u.U. auch durch eine informatorische<br />

Anhörung der Beklagten erbracht werden. Hinweis: Wenn ein Familienangehöriger Geldgeschäfte für einen<br />

anderen Familienangehörigen im Rahmen einer Vorsorgevollmacht oder auch im Rahmen eines<br />

Einzelauftrags erledigt, wird man im Regelfall von einem Auftrag mit rechtlichen Verpflichtungen ausgehen<br />

müssen. Ein besonderes persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, wie<br />

zwischen Mutter und Tochter, spricht im Regelfall nicht gegen einen Auftrag i.S.v. § 662 BGB. Denn ein<br />

„besonderes Vertrauensverhältnis“ zwischen den Beteiligten ist der Regelfall eines Auftrags mit rechtlichen<br />

Verpflichtungen. Eine abweichende Bewertung kann nur ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände<br />

des Einzelfalls in Betracht kommen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 505/20<strong>17</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Berufungsbegründung: Vertrauen auf die Gewährung einer Fristverlängerung<br />

(BGH, Beschl. v. 1.6.20<strong>17</strong> – III ZB 77/<strong>16</strong>) • Reduziert der in erster Instanz voll unterlegene Kläger in seiner<br />

Berufung den Gesamtumfang der Klageforderung ohne anzugeben, wie sich der reduzierte Gesamtbetrag<br />

auf seine mehreren erstinstanzlich gestellten Klageanträge verteilt, so steht dies nicht der Zulässigkeit der<br />

Berufung, sondern allein der Zulässigkeit der Klage entgegen und betrifft somit einen Mangel, der auch<br />

noch nach dem Ablauf der Berufungsbegründungsfrist, nämlich bis zum Schluss der letzten mündlichen<br />

Verhandlung in der Berufungsinstanz, behoben werden kann. Dies steht in Einklang damit, dass der<br />

Berufungskläger sein Rechtsmittel noch bis zum Schluss der Berufungsverhandlung erweitern kann, soweit<br />

die fristgerecht vorgetragenen Berufungsgründe die Antragserweiterung decken. Die Verwerfung der<br />

Berufung als unzulässig kann auf einzelne Streitgenossen begrenzt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 506/20<strong>17</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Zwangsvollstreckung: Aufenthaltsermittlung des Schuldners<br />

(BGH, Beschl. v. 21.6.20<strong>17</strong> – VII ZB 5/14) • Voraussetzung für die Aufenthaltsermittlung des Schuldners nach<br />

§ 755 ZPO ist ein zugrunde liegender Vollstreckungsauftrag, der den Anforderungen des § 802a Abs. 2 ZPO<br />

genügen muss. Isolierte Aufenthaltsermittlungsaufträge sind unzulässig. Für dieses Verständnis spricht<br />

die dem Wortlaut in §§ 753, 754 ZPO entsprechende Formulierung in § 755 Abs. 1 ZPO, wonach der<br />

Gerichtsvollzieher „aufgrund des Vollstreckungsauftrags“ und unter „Übergabe der vollstreckbaren<br />

Ausfertigung“ Ermittlungen des Aufenthaltsorts des Schuldners vornehmen darf. Es handelt sich danach<br />

854 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 141<br />

nicht um ein separates und eigenständiges Verfahren, vielmehr steht die Aufenthaltsermittlung im<br />

Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung i.S.d. §§ 802a ff. ZPO und ist keine selbstständige<br />

Maßnahme der Zwangsvollstreckung, sondern nur eine den Gerichtsvollzieher bei den ihm zugewiesenen<br />

Vollstreckungsmaßnahmen unterstützende Hilfsbefugnis. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 507/20<strong>17</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

GmbH-Geschäftsführer: Missachtung der Kompetenzordnung der Gesellschaft<br />

(OLG München, Urt. v. 1.12.20<strong>16</strong> – 23 U 2755/13) • Bedarf die Komplementär-GmbH nach der Satzung der KG<br />

für Handlungen, die über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgeschäfts hinausgehen, in Übereinstimmung<br />

mit §§ 1<strong>16</strong> i.V.m <strong>16</strong>3, <strong>16</strong>1 Abs. 2 HGB der vorherigen Zustimmung der Gesellschafterversammlung,<br />

dann können, da hierunter grds. solche Geschäfte mit Ausnahmecharakter hinsichtlich ihrer Art und ihres<br />

Inhalt zu verstehen sind, auch einschneidende Änderungen von Organisation oder Vertrieb hierunter fallen,<br />

mithin also auch solche Änderungen, durch die eine weitere Ebene in der Vertriebsstruktur eingefügt wird.<br />

Hinweis: Der Senat sieht grds. den Abschluss von (einzelnen) Vertriebsvereinbarungen als vom<br />

Gesellschaftszweck gedeckt an, so dass in deren Abschluss allein zumindest solange keine Kompetenzverletzung<br />

des Geschäftsführers gesehen werden kann, wie es hierdurch nicht zur Einfügung einer (die<br />

Gewinnmarge reduzierenden) weiteren Vertriebsstufe kommt, selbst wenn mit dieser letztlich nicht die<br />

„Aufgabe des Eigenvertriebs“ verbunden sein sollte. Anhaltspunkte dafür, dass der (ehemalige) Geschäftsführer<br />

der beklagten Gesellschaft, eines weltweit agierenden Automobilzulieferers, beim Abschluss des<br />

alleinigen Vertriebsrechts für den „Independent Aftermarket“ bewusst zum Nachteil der Gesellschaft<br />

gehandelt oder sich über die Kompetenzordnung in einem Rechtsirrtum befunden hatte, lagen im Streitfall,<br />

der in einem prozessualen Punkt bereits den BGH in seinem Urteil vom 21.6.20<strong>16</strong> (Az. II ZR 305/14, NZG<br />

20<strong>16</strong>, 1032) sowie in kartellrechtlicher Hinsicht auch das OLG München in seinem Urteil vom 30.7.2015<br />

(Az. U 3028/14 Kart) beschäftigt hatte, nicht vor bzw. wurden nicht vorgetragen, so dass sein Handeln trotz<br />

fehlenden Gesellschafterbeschlusses nur noch dann hätte unschädlich für seine Haftungsinanspruchnahme<br />

sein können, wenn die Gesellschafter ohnehin zur Zustimmung verpflichtet gewesen wären (vgl. JICKELI,<br />

MüKo-HGB, 4. Aufl. 20<strong>16</strong>, § 1<strong>16</strong> Rn 41, § 115 Rn 39, 52). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 508/20<strong>17</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

E-Mail-Werbung: Wettbewerbsrechtliche Ansprüche bei unverlangter Zusendung<br />

(OLG Dresden, Urt. v. 20.6.20<strong>17</strong> – 14 U 50/<strong>17</strong>) • Es kann ein Unterlassungsanspruch bestehen, wenn eine<br />

Werbe-E-Mail ohne vorherige ausdrückliche Einwilligung des Empfängers versandt wurde und sie eine<br />

unzumutbar belästigende und damit unerlaubte Werbung darstellt. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG ist<br />

„Mitbewerber“ jeder Unternehmer, der mit einem oder mehreren Unternehmern als Anbieter oder<br />

Nachfrager von Waren oder Dienstleistungen in einem konkreten Wettbewerbsverhältnis steht. Ein<br />

Unternehmer kann sich einem konkreten Wettbewerbsverhältnis nicht dadurch entziehen, dass er<br />

gleichartige Ware als nicht beworbenen Teil eines Gesamtangebots innerhalb desselben Abnehmerkreises<br />

vertreibt. Bei unzulässiger E-Mail-Werbung nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG erstreckt sich der<br />

Auskunftsanspruch nicht darauf, ob der Verletzer andere Marktteilnehmer in deren geschäftlicher oder<br />

privater Sphäre durch ähnliche Handlungen beeinträchtigt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 509/20<strong>17</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Mitbestimmung: Ausschluss von im Ausland Beschäftigten (TUI)<br />

(EuGH, Urt. v. 18.7.20<strong>17</strong> – C-566/15) • Das deutsche Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist mit<br />

dem Unionsrecht vereinbar. Der Ausschluss der außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines<br />

Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 855


Fach 1, Seite 142 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />

der deutschen Muttergesellschaft verstößt nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Hinweis: Der Fall<br />

betrifft den Reisekonzern TUI AG. Vergeblich hatte sich ein Aktionär gerichtlich gegen die Zusammensetzung<br />

des Aufsichtsrats in Deutschland gewandt. Der EuGH argumentiert, dass der Bereich der kollektiven<br />

Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen<br />

Rechts bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene<br />

war. Ein Mitgliedstaat sei daher nicht gehindert vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf<br />

die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung finden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 510/20<strong>17</strong><br />

Urlaubsanspruch: Kein Schadensersatz in Geld wegen nicht gewährter Urlaubstage<br />

(BAG, Urt. v. <strong>16</strong>.5.20<strong>17</strong> – 9 AZR 572/<strong>16</strong>) • Hat der Arbeitgeber den vom Arbeitnehmer rechtzeitig<br />

verlangten Urlaub nicht gewährt, wandelt sich der im Verzugszeitraum verfallene Urlaubsanspruch<br />

in einen Schadensersatzanspruch um, der die Gewährung von Ersatzurlaub zum Inhalt hat. Der<br />

Ersatzurlaubsanspruch tritt als Schadensersatzanspruch an die Stelle des ursprünglichen Urlaubsanspruchs.<br />

Dies hat zur Folge, dass der Ersatzurlaubsanspruch den Modalitäten des verfallenen<br />

Urlaubsanspruchs unterliegt. Dies gilt sowohl für die Inanspruchnahme als auch für die Abgeltung des<br />

Ersatzurlaubs. Hinweis: Ob auch in der Freistellungsphase weitere Urlaubsansprüche entstehen und<br />

eine Kürzung des Urlaubsanspruchs im Jahr des Wechsels in die Freistellungsphase überhaupt zulässig<br />

gewesen ist, hat der 9. Senat offen gelassen. Hier sollte die weitere Rechtsprechung beobachtet und in<br />

jedem Fall geprüft werden, ob am Ende der Freistellungsphase möglicherweise noch Urlaubsabgeltungsansprüche<br />

bestehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 511/20<strong>17</strong><br />

Sozialrecht<br />

Merkzeichen „G“: Zuerkennung bei erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit<br />

(LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.5.20<strong>17</strong> – L 13 SB 261/14) • Schwerbehinderte Menschen, die infolge<br />

ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind,<br />

haben Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer<br />

Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortsverkehr<br />

zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche<br />

Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben<br />

Stunde zurückgelegt wird. Kann diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum zurückgelegt<br />

werden, so reicht dies per se allerdings nicht für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ aus.<br />

Erforderlich ist vielmehr, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung<br />

des schwerbehinderten Menschen ist und diese Behinderung das Gehvermögen einschränkt (sog.<br />

doppelte Kausalität). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 512/20<strong>17</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Informationsfreiheitsgesetz: Zugang zu Akten im Besitz Dritter<br />

(BVerfG, Beschl. v. 20.6.20<strong>17</strong> – 1 BvR 1978/13) • Sind Akten, deren Einsicht begehrt wird, nie an das<br />

Bundesarchiv gelangt, muss sich ein Beschwerdeführer, der sich auf das Informationsfreiheitsgesetz<br />

beruft, zunächst an die für die Aktenführung zuständige Behörde halten und ggf. dieser gegenüber den<br />

Rechtsweg erschöpfen – denn wichtige einfachrechtliche Fragen des Informationszugangsrechts sind<br />

bislang ungeklärt. Hinweis: Verworfen wurde damit die Verfassungsbeschwerde einer Journalistin, die<br />

sich gegen die Versagung der Bereitstellung von Akten richtete, die sich in Archiven der Stiftungen<br />

politischer Parteien befinden. Das BVerfG betont, dass das Informationsfreiheitsgesetz keinen allgemeinen<br />

Beschaffungsanspruch von Akten begründet, die nie in den Bestand der Behörden gelangt<br />

sind. Bislang ungeklärt sei indes, ob das auch für die Frage der Wiederbeschaffung von Akten gilt, die<br />

zunächst bei der Behörde angefallen waren und später in den Gewahrsam Privater gelangt sind.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 513/20<strong>17</strong><br />

856 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 143<br />

Steuerrecht<br />

Umsatzsteuer-Vergütungsverfahren: Kopie einer Rechnungskopie ausreichend<br />

(BFH, Urt. v. <strong>17</strong>.5.20<strong>17</strong> – V R 54/<strong>16</strong>) • Auch die Kopie einer Rechnungskopie ist eine Kopie der Rechnung<br />

i.S.v. § 61 Abs. 2 S. 3 UStDV a.F. Für den Antrag auf Vergütung von Vorsteuerbeträgen reicht es somit aus,<br />

die Kopie einer Kopie des Originals auf elektronischem Weg zu übermitteln. Hinweis: Im Hinblick darauf,<br />

dass die Übermittlung eines Rechnungsdokuments auf elektronischem Weg gestattet wird, stellte sich<br />

ein Erfordernis, wonach die zu übersendende elektronische Kopie von dem Originaldokument<br />

vorgenommen werden muss, als völlig überflüssig dar, zumal praktisch kaum nachprüfbar sein dürfte,<br />

ob das Original oder die Kopie des Originals eingescannt wurde. Im vorliegenden Fall konnte dies nur<br />

deshalb festgestellt werden, weil die eingescannte Kopie als solche bezeichnet war (COPY1).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 514/20<strong>17</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Verabredung zum Verbrechen: Strafbarkeit des Sichbereiterklärens zu einem Verbrechen<br />

(BGH, Beschl. v. 23.3.20<strong>17</strong> – 3 StR 260/<strong>16</strong>) • Die Verabredung eines Verbrechens (§ 30 Abs. 2 Fall 3 StGB)<br />

setzt die Willenseinigung von mindestens zwei tatsächlich zur Tatbegehung Entschlossenen voraus,<br />

an der Verwirklichung eines hinreichend konkretisierten Verbrechens mittäterschaftlich mitzuwirken.<br />

Auch der selbst fest Entschlossene ist daher nicht der Verbrechensverabredung schuldig, wenn der<br />

oder die anderen den inneren Vorbehalt haben, sich tatsächlich nicht als Mittäter an der vereinbarten<br />

Tat beteiligen zu wollen. Das Sichbereiterklären zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Fall 1 StGB) ist<br />

hingegen unabhängig von der subjektiven Einstellung des Erklärungsempfängers, so dass dessen<br />

innerer Vorbehalt, die Tat nicht zu wollen, eine Strafbarkeit nach dieser Tatbestandsvariante nicht<br />

hindert. Hinweis: Der BGH stellt klar, dass ein Sichbereiterklären immer vorliegt, wenn eine Person<br />

verkündet, ein Verbrechen zu begehen, eine Verabredung hingegen nur dann, wenn die anderen die<br />

Tatbestandsverwirklichung auch wirklich wollen. Da die Feststellung der subjektiven Tatseite nun<br />

immer ein Fall für sich ist, ließe sich hier sicherlich die Verteidigung durchaus gestalten – unter dem<br />

Strich ist das Ergebnis aber auch nicht besser. Immerhin: Eine zusätzliche Strafbarkeit wegen<br />

Anstiftung gibt es laut BGH nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 515/20<strong>17</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Akteneinsicht: Neue Ermittlungsergebnisse während laufender Hauptverhandlung<br />

(BGH, Beschl. v. 10.5.20<strong>17</strong> – 1 StR 145/<strong>17</strong>) • Dem Tatgericht, dem zwischen Eröffnungsbeschluss und<br />

Hauptverhandlung oder während der laufenden Hauptverhandlung durch Polizei oder Staatsanwaltschaft<br />

neue verfahrensbezogene Ermittlungsergebnisse zugänglich gemacht werden, erwächst aus dem<br />

Gebot der Verfahrensfairness (Art. 6 MRK i.V.m. § 147 StPO) die Pflicht, dem Angeklagten und seinem<br />

Verteidiger durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den<br />

Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen. Der Pflicht zur Erteilung eines solchen Hinweises ist das<br />

Tatgericht auch dann nicht enthoben, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen selbst nicht für<br />

entscheidungserheblich hält. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5<strong>16</strong>/20<strong>17</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Rechtsanwaltsberatung: Kostenlose Erstberatung zulässig<br />

(BGH, Urt. v. 3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ (Brfg) 42/<strong>16</strong>) • Es ist unzulässig, geringere Gebühren und Auslagen zu<br />

vereinbaren oder zu fordern, als das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vorsieht, soweit dieses nichts<br />

anderes bestimmt. Allerdings sieht das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz keine bestimmte Gebühr für<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 857


Fach 1, Seite 144 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />

eine Erstberatung vor. Für einen mündlichen oder schriftlichen Rat oder eine Auskunft, die nicht<br />

mit einer anderen gebührenpflichtigen Tätigkeit zusammenhängen, soll der Rechtsanwalt auf eine<br />

Gebührenvereinbarung hinwirken, soweit im Vergütungsverzeichnis keine Gebühren bestimmt sind.<br />

Wenn keine Vereinbarung getroffen worden ist, erhält der Rechtsanwalt Gebühren nach den<br />

Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Schreibt das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz keine bestimmte<br />

Gebühr für eine Erstberatung vor, gibt es keine Mindestgebühr, die unterschritten werden könnte. Ein<br />

Rechtsanwalt darf daher kostenlose Erstberatungen für Personen anbieten, die einen Verkehrsunfall<br />

erlitten haben. Hinweis: Vgl. hierzu auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin <strong>16</strong>/20<strong>17</strong>, S. 832 und DECKENBROCK/<br />

MARKWORTH <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport, S. 846 (jeweils in diesem Heft). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5<strong>17</strong>/20<strong>17</strong><br />

Berufungsbegründungsfrist: Rechtsanwalt kann beim ersten Antrag auf Verlängerung vertrauen<br />

(BGH, Beschl. v. 30.5.20<strong>17</strong> – VI ZB 54/<strong>16</strong>) • Ein Rechtsanwalt darf regelmäßig erwarten, dass einem<br />

ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn er einen<br />

erheblichen Grund (hier: Arbeitsüberlastung des sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten wegen<br />

vorrangiger Fristsachen) vorträgt. Deshalb ist er grds. auch nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs<br />

der Berufungsbegründungsfrist beim Gericht zu erkundigen, ob der Verlängerungsantrag rechtzeitig<br />

eingegangen ist und ob ihm stattgegeben werde. Hinweis: Zu einer wirksamen Fristenkontrolle<br />

gehört die Anordnung, dass die Erledigung von fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden<br />

Arbeitstages durch eine dazu beauftragte Bürokraft anhand des Fristenkalenders nochmals<br />

selbstständig überprüft wird. Dabei ist, ggf. anhand der Akten, auch zu prüfen, ob die im<br />

Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Schriftsätze tatsächlich abgesandt worden sind (vgl.<br />

BGH, Beschl. v. 15.12.2015 – VI ZB 15/15). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 518/20<strong>17</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Terminsgebühr: Besprechung zur Erledigung eines Verfahrens<br />

(BGH, Beschl. v. 9.5.20<strong>17</strong> – VIII ZB 55/<strong>16</strong>) • Ein Rechtsanwalt wirkt an einer „auf die Erledigung des<br />

Verfahrens gerichteten Besprechung ohne Beteiligung des Gerichts“ nur mit und verdient damit eine<br />

Terminsgebühr nach § 2 Abs. 2 RVG, wenn bei Beginn des Gesprächs eine Einigung der Parteien noch<br />

nicht erzielt worden war. Hinweis: Durch eine Einigung der Parteien erledigt sich noch nicht zwingend<br />

der Rechtsstreit, da das Verfahren auch u.U. mit den bisher gestellten Anträgen anhängig bleibt – auch<br />

wenn die Parteien untereinander eine Einigung treffen. Es muss dann noch geklärt werden, wie das<br />

Verfahren beendet werden soll, also ob auch das gesamte Verfahren durch einen Vergleich oder die<br />

Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt werden soll oder ob man über die Frage der<br />

Erledigung streiten will. Die bloße Einigung der Parteien steht einer nachfolgenden Erledigungsbesprechung<br />

der Anwälte nicht zwingend entgegensteht (s. N. SCHNEIDER AGS Spezial 20<strong>17</strong>, 267).<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 519/20<strong>17</strong><br />

Pauschgebühr: Kommunikation in fremder Sprache<br />

(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.6.20<strong>17</strong> – P 302 AR <strong>17</strong>/<strong>17</strong>) • Die Bewilligung einer Pauschgebühr (§ 51 RVG)<br />

lässt sich nicht allein damit begründen, dass Verteidiger und Mandant in einer gemeinsamen<br />

nichtdeutschen Sprache kommunizieren können. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 520/20<strong>17</strong><br />

<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können und sollen nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein.<br />

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858 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 891<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Wohnraummietrecht –<br />

1. Halbjahr 20<strong>17</strong><br />

Von RiAG Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Mietvertragsabschluss<br />

1. Schriftform<br />

2. Voraussetzungen für Vorkaufsrecht<br />

des Mieters<br />

III. Mietsicherheit<br />

1. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />

2. Vermieterpfandrecht<br />

IV. Betriebskosten<br />

1. Betriebskostenabrechnung<br />

2. Heizkostenabrechnung<br />

3. Gewährleistungsrechte<br />

V. Mieterhöhung<br />

1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />

2. Widerruf einer Zustimmung zu einer<br />

Modernisierungsmieterhöhung<br />

VI. Kündigung<br />

1. Kündigung wegen Eigenbedarfs durch<br />

eine GbR<br />

2. Kündigung wegen Berufs- oder<br />

Geschäftsbedarfs<br />

3. Schadensersatz wegen vorgetäuschten<br />

Eigenbedarfs<br />

4. Fortsetzung des Mietverhältnisses nach<br />

der Sozialklausel<br />

5. Kündigung wegen Zahlungsverzugs<br />

VII. Räumung/Nutzungsentschädigung<br />

VIII. Schadensersatzansprüche<br />

1. Verantwortlichkeit des Mieters für Wohnungsschäden<br />

nach Polizeieinsatz<br />

2. Regressverzicht in der Gebäudeversicherung<br />

IX. Prozessrecht<br />

1. Streitwerte<br />

2. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

3. Nachbesserung der Vermögensauskunft<br />

I. Einleitung<br />

Im Berichtszeitraum fanden die beiden großen mietrechtlichen Veranstaltungen des Jahres statt,<br />

nämlich der Deutsche Mietgerichtstag und die Fachgespräche des Evangelischen Bundesverbands<br />

für Immobilienwesen in Wissenschaft und Praxis (ESWiD). Der Mietgerichtstag begann aus Anlass des<br />

20-jährigen Bestehens des Vereins mit einem Symposium zu den Grundfragen der Mietpreisbildung.<br />

Literaturhinweis:<br />

Die beiden Fachvorträge GSELL „Die gerechte Miete“ und VOIGTLÄNDER „Effizienz staatlicher Wohnraumförderungsmodelle<br />

und ihr Einfluss aus das Mietpreisniveau“ sind in NZM 20<strong>17</strong>, 305 = WuM 20<strong>17</strong>, 305 und<br />

NZM 20<strong>17</strong>, 312 veröffentlicht; die übrigen Vorträge des Deutschen Mietgerichtstages können aus der<br />

neuen und umfangreichen Mietrechtsdatenbank des Deutschen Mietgerichtstages unter www.mietgerichtstag.de<br />

heruntergeladen werden.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 859


Fach 4 R, Seite 892<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Bundespolitisch hat es mietrechtlich keine erwähnenswerten Entscheidungen gegeben. In NRW hat die<br />

neue CDU/FDP-Koalition ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Danach sollen in NRW sowohl die<br />

Mietpreisbremsen-VO, die Kappungsgrenzensenkungs-VO als auch die Zweckentfremdungs-VO<br />

aufgehoben werden. Ähnliches hat die sog. Jamaika-Koalition auch für Schleswig-Holstein vereinbart. In<br />

München und Hamburg wäre das – teilweise – gar nicht notwendig gewesen. Sowohl eine Abteilung<br />

des AG München (Urt. v. 21.6.20<strong>17</strong> – 414 C 26570/<strong>16</strong>) als auch eine des AG Hamburg-Altona (Urt. v.<br />

23.5.20<strong>17</strong> – 3<strong>16</strong> C 380/<strong>16</strong>) haben mit sehr ähnlichen Begründungen die jeweilige Landesverordnung für<br />

nichtig erklärt. Hintergrund ist, dass § 556d Abs. 2 BGB vorschreibt, dass die Verordnung begründet<br />

werden muss. In Hamburg hat der Senat versucht, mit dem Satz „Nach Feststellung des Senats liegt in<br />

Hamburg ein angespannter Wohnungsmarkt vor“ eine Begründung zu liefern, und im Übrigen allenfalls in<br />

nicht veröffentlichten Unterlagen weitere Daten geliefert. Beides reichte dem AG Hamburg-Altona<br />

nicht. In Bayern hat man zwar sehr sorgfältig offengelegt, was untersucht wurde oder werden sollte<br />

und wie das bewertet werden soll, nur ist dieser Methodenbericht abstrakt und enthält keinerlei Daten.<br />

Es soll aber auch Abteilungen am AG München geben, denen diese Angaben genügten und die deshalb<br />

davon ausgehen, dass in München die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete gelte. Weitere<br />

Verfahren sind in München anhängig. Der BayVerfGH (WuM 20<strong>17</strong>, 385) hatte zuvor in einem<br />

Popularklageverfahren einen Verstoß gegen die bayerische Verfassung verneint und „den Ball“ den<br />

Zivilgerichten zugespielt. Auch in Hamburg gibt es eine abweichende Meinung beim AG Hamburg-<br />

St. Georg (Urt. v. 22.6.20<strong>17</strong> – 913 C 2/<strong>17</strong>). Noch dreister ist die hessische Landesregierung mit ihren<br />

Bürgern und den Gerichten umgegangen: Sie hat gar keine Begründung veröffentlicht und ist der<br />

Auffassung, das auch nicht zu müssen, obwohl das Gesetz in § 556d Abs. 2 BGB genau das vorschreibt.<br />

Eigentlich können sich die hessischen Gerichte nur den Entscheidungen aus Bayern und Hamburg<br />

anschließen. Für Baden-Württemberg wurden in der Literatur schon Zweifel an der Stichhaltigkeit der<br />

Verordnungsbegründung geäußert (ZUCK NZM 20<strong>16</strong>, 657).<br />

II.<br />

Mietvertragsabschluss<br />

1. Schriftform<br />

Die Einhaltung der Schriftform ist für Vermieter zum Teil von existentieller Bedeutung. Auf die<br />

Einhaltung wird deshalb bei Abschluss des Vertrags großen Wert gelegt. Dies ist bei späteren<br />

Vertragsänderungen nicht immer der Fall. Auch sie unterliegen – selbst wenn sie nur geringfügig sind –<br />

der Schriftform (BGH WuM 20<strong>16</strong>, 28 = NJW 20<strong>16</strong>, 311 = MDR 20<strong>16</strong>, 146 = NZM 20<strong>16</strong>, 98 = GE 20<strong>16</strong>, 189 =<br />

MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 42 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 1/20<strong>16</strong> Anm.1; BIEBER<br />

jurisPR-MietR 8/20<strong>16</strong> Anm. 2; BURBULLA MietRB 20<strong>16</strong>, 35; SCHWEITZER NZM 20<strong>16</strong>, 101; DRASDO NJW-Spezial<br />

20<strong>16</strong>, <strong>16</strong>2). Damit es hier nicht zu bösen Überraschungen kommt, werden in der Praxis sog. doppelte<br />

Schriftformklauseln (oder auch: qualifizierte Schriftformklausel) vereinbart. Nach ihnen bedürfen nicht<br />

nur alle Änderungen oder Ergänzungen des Vertrags der Schriftform, es wird zusätzlich ausdrücklich<br />

vereinbart, dass dies auch für eine Änderung der Schriftformklausel selbst gelten soll. Der Schutz ist aber<br />

eher lückenhaft, wie der XII. Senat jetzt entschieden hat. Eine solche Klausel kann nämlich im Falle ihrer<br />

formularmäßigen Vereinbarung wegen des Vorrangs der Individualvereinbarung nach § 305b BGB eine<br />

mündliche oder auch konkludente Änderung der Vertragsabreden nicht ausschließen (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />

131 = GE 20<strong>17</strong>, 289 = NJW 20<strong>17</strong>, 107 = NZM 20<strong>17</strong>, 189 = MDR 20<strong>17</strong>, 386 = ZfIR 20<strong>17</strong>, 272 = MietPrax-AK<br />

§ 550 BGB Nr. 43 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 5/20<strong>17</strong> Anm. 1; SCHNEEHAIN MietRB<br />

20<strong>17</strong>, 96; BUEB jurisPR-MietR 8/20<strong>17</strong> Anm. 4).<br />

2. Voraussetzungen für Vorkaufsrecht des Mieters<br />

Ein Vorkaufsrecht des Mieters entsteht nach § 577 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB, wenn nach der Überlassung der<br />

vermieteten Wohnräume an den Mieter Wohnungseigentum begründet worden ist und dieses dann an<br />

einen Dritten verkauft wird. Dass vor der Überlassung der Mietsache an den Mieter die für die<br />

Aufteilung in Wohnungseigentum erforderliche Teilungserklärung (§ 8 WEG) bereits notariell beurkundet<br />

worden ist, hindert das Entstehen des Vorkaufsrechts nach dieser Alternative nicht, weil die<br />

Teilung erst mit der Anlegung der Wohnungsgrundbücher wirksam wird. Die Entstehung eines<br />

Vorkaufsrechts nach § 577 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB ist davon abhängig, dass nach der Überlassung der<br />

860 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 893<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

vermieteten Wohnräume an den Mieter Wohnungseigentum begründet werden soll und das zukünftige<br />

Wohnungseigentum an einen Dritten verkauft wird. Ein Vorkaufsrecht besteht daher nach dieser<br />

Alternative nicht, wenn die Absicht, Wohnungseigentum zu begründen, schon vor der Überlassung der<br />

vermieteten Wohnräume an den Mieter gefasst worden ist und sich nach außen hinreichend<br />

manifestiert hat, etwa durch die notarielle Beurkundung einer Teilungserklärung (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />

36 = GE 20<strong>17</strong>, 222 = NZM 20<strong>17</strong>, 146 = ZMR 20<strong>17</strong>, 302 = MietPrax-AK § 577 BGB Nr. 12 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS; BECKER MietRB 20<strong>17</strong>, 126).<br />

III.<br />

Mietsicherheit<br />

1. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />

Ungeklärt war bisher die Frage, wem die Mietsicherheit nach Ende des Mietverhältnisses zusteht, wenn<br />

zuvor über das Vermögen des Mieters das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet worden war, der<br />

Insolvenzverwalter die Wohnung aber gem. § 109 InsO freigegeben hatte. Der Gesetzgeber hatte die<br />

Freigabe- oder Enthaftungserklärung eingeführt, um dem Mieter im Fall der Insolvenz die Wohnung<br />

zu erhalten. Es gab damals keine Fälle, in denen die Insolvenzverwalter das Mietverhältnis nur deshalb<br />

gekündigt hatten, um die Mietsicherheit zur Masse ausgezahlt zu bekommen. Unklar war seit der<br />

Neuregelung, ob der Gesetzgeber mit Schaffung des Rechtsinstituts der Freigabeerklärung die<br />

Mietsicherheit nunmehr aus der Massezugehörigkeit gelöst hatte, so dass diese an den Mieter<br />

ausgezahlt werden konnte.<br />

Nach Ansicht des Insolvenzsenats des BGH scheidet der Anspruch des Schuldners auf Rückzahlung<br />

einer Mietkaution mit dem Wirksamwerden der Enthaftungserklärung aus der Insolvenzmasse aus. Die<br />

mit der Erklärung nach § 109 Abs. 1 S. 2 InsO verbundene Freigabe erstrecke sich auf dasjenige<br />

Vermögen des Schuldners, das der weiteren Durchführung des Mietvertrags zuzuordnen sei. Der<br />

Anspruch des Schuldners auf Rückzahlung einer geleisteten Mietkaution entstehe zwar aufschiebend<br />

bedingt bereits mit der Leistung der Kaution, nach Sinn und Zweck der Mietkaution sei der Anspruch auf<br />

Rückzahlung jedoch der Fortsetzung des Mietverhältnisses nach dem Wirksamwerden der Enthaftungserklärung<br />

zuzuordnen. Die Kaution diene nach Maßgabe der getroffenen Sicherungsabrede bis zur<br />

Beendigung des Mietverhältnisses und der Rückgabe der Mietsache dazu, die mietvertraglichen<br />

Ansprüche des Vermieters zu sichern. Ein Anspruch auf Rückzahlung der Kaution bestehe nur, wenn der<br />

Schuldner auch nach der Freigabe des Mietverhältnisses seine mietvertraglichen Pflichten erfülle,<br />

insbesondere die geschuldete Miete samt Nebenkosten zahlt und die Mietsache nach der Beendigung<br />

des Mietverhältnisses in vertragsgemäßem Zustand zurückgibt. Erst dadurch erlangt das Recht des<br />

Mieters an der Kaution seinen endgültigen Wert. Das rechtfertige es, die Kaution dem Mieter<br />

zuzusprechen (BGH NZM 20<strong>17</strong>, 437 = WuM 20<strong>17</strong>, 296 = ZInsO 20<strong>17</strong>, 875 = WM 20<strong>17</strong>, 872 = ZIP 20<strong>17</strong>, 884 =<br />

GE 20<strong>17</strong>, 587 = NJW <strong>17</strong>47 = DWW 20<strong>17</strong>, 180 = ZMR 20<strong>17</strong>, 528 = MDR 20<strong>17</strong>, 728 = MietPrax-AK § 109 InsO<br />

Nr. 7 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 10/20<strong>17</strong> Anm. 1; BÖRSTINGHAUS NJW 20<strong>17</strong>, <strong>17</strong>48;<br />

FLATOW NZM 20<strong>17</strong>, 438; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 386; CYMUTTA/SCHÄDLICH NZI 20<strong>17</strong>, 445; HAIN jurisPR-InsR<br />

11/20<strong>17</strong> Anm. 2).<br />

2. Vermieterpfandrecht<br />

Das Vermieterpfandrecht spielt in der Wohnraummiete so gut wie keine Rolle, in der Gewerberaummiete<br />

manchmal. Es setzt u.a. voraus, dass die eingebrachten Sachen im Eigentum des Mieters<br />

stehen. Das kann man den Sachen i.d.R. nicht ansehen, so dass sich die Frage stellt, ob die gesetzliche<br />

Vermutung des § 1006 BGB hier helfen kann. Das hat der V. Senat des BGH als „Eigentumssenat“ jetzt<br />

bejaht (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 330 = GE 20<strong>17</strong>, 710 = DWW 20<strong>17</strong>, 227 = MDR 20<strong>17</strong>, 811 = MietPrax-AK § 1006<br />

BGB Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; LAMMEL jurisPR-MietR 11/20<strong>17</strong> Anm. 4; BURBULLA MietRB 20<strong>17</strong>, 188;<br />

DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 418). Im konkreten Fall wurde der Vermieter von einem Dritten, der sich des<br />

Eigentums der Einrichtungsgegenstände einer Pizzeria berühmte, auf Herausgabe von Einrichtungsgegenständen<br />

und Schadensersatz wegen der Verwertung einzelner Gegenstände in Anspruch<br />

genommen. Zwischen den Parteien war strittig, ob die Gegenstände im Eigentum des Mieters oder<br />

des klagenden Dritten standen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 861


Fach 4 R, Seite 894<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Anders als es noch das OLG vertreten hatte, hat der V. Senat angenommen, dass hier zunächst<br />

zugunsten des Mieters die Eigentumsvermutung des § 1006 BGB streitet. In einem zweiten Schritt hat<br />

der Senat dann gemeint, dass sich auch der Vermieter auf diese Vermutungswirkung, die zugunsten des<br />

Mieters streitet, berufen kann. Und schließlich hat der Senat dargelegt, dass diese gesetzliche<br />

Vermutung nicht nur entkräftet, sondern widerlegt werden muss.<br />

IV.<br />

Betriebskosten<br />

1. Betriebskostenabrechnung<br />

a) Vermietete Eigentumswohnung<br />

Die Vermietung einer Eigentumswohnung ist mietrechtlich eigentlich nichts Besonderes, trotzdem<br />

tauchen hier Probleme auf, die es ansonsten eher nicht gibt. Das betrifft bei der Betriebskostenabrechnung<br />

z.B. die Frage, welche Bedeutung der Beschluss der Wohnungseigentümergemeinschaft<br />

über die Jahresabrechnung für die Erstellung der mietrechtlichen Betriebskostenabrechnung hat. Hier<br />

stellt sich u.a. die Frage, ob der Vermieter bis zum Abrechnungsbeschluss eine verspätete Abrechnung<br />

nicht zu vertreten hat, mit der Folge, dass er bis zu drei Monate nach dem Beschluss noch die<br />

Betriebskostenabrechnung dem Mieter zukommen lassen könnte. Dies hat der VIII. Senat jetzt in<br />

zwei Entscheidungen aber anders gesehen. Danach hat der Vermieter einer Eigentumswohnung über<br />

die Betriebskostenvorauszahlungen des Mieters grundsätzlich auch dann innerhalb der Jahresfrist des<br />

§ 556 Abs. 3 S. 2 BGB abzurechnen, wenn zu diesem Zeitpunkt der Beschluss der Wohnungseigentümer<br />

gem. § 28 Abs. 5 WEG über die Jahresabrechnung (§ 28 Abs. 3 WEG) des Verwalters der<br />

Wohnungseigentümergemeinschaft noch nicht vorliegt. Ein solcher Beschluss ist nämlich keine<br />

(ungeschriebene) Voraussetzung für die Abrechnung der Betriebskosten gem. § 556 Abs. 3 BGB. Der<br />

Verwalter einer Wohnungseigentümergemeinschaft ist als solcher auch nicht Erfüllungsgehilfe des<br />

Wohnungseigentümers nach § 278 BGB in Bezug auf dessen mietvertragliche Pflichten hinsichtlich der<br />

Abrechnung der Betriebskosten. Der Vermieter muss sich im konkreten Einzelfall entschuldigen und<br />

darlegen, welche Bemühungen er unternommen hat, um eine rechtzeitige Abrechnung sicherzustellen<br />

(BGH WuM 20<strong>17</strong>, 138 = NZM 20<strong>17</strong>, 2<strong>16</strong> = GE 20<strong>17</strong>, 345 = MDR 20<strong>17</strong>, 385 = ZMR 20<strong>17</strong>, 303 = MietPrax-AK<br />

§ 556 BGB Nr. 123 m. Anm. EISENSCHMID; BEYER jurisPR-MietR 6/20<strong>17</strong> Anm. 1; BÖRSTINGHAUS jurisPR-<br />

BGHZivilR 6/20<strong>17</strong> Anm. 2; BÖRSTINGHAUS LMK 20<strong>17</strong>, 388495; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 290; BGH GE 20<strong>17</strong>,<br />

723 = MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 125 m. Anm. EISENSCHMID; BEYER jurisPR-MietR 13/20<strong>17</strong> Anm. 3).<br />

b) Zusammenfassung von Betriebskostenpositionen<br />

Eine Betriebskostenabrechnung, in der die Kostenposition Grundsteuer und Straßenreinigung<br />

zusammengefasst werden, ist formell nicht ordnungsgemäß (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 205 = GE 20<strong>17</strong>, 471 =<br />

MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 124 m. Anm. EISENSCHMID; DANIEL GE 20<strong>17</strong>, 456). Der Vermieter darf in einer<br />

Abrechnung nur die Positionen zusammenfassen, die auch in § 2 BetrKV unter einer Ziffer<br />

zusammengefasst sind. Das gilt z.B. für die verschiedenen Versicherungskosten (BGH GE 2009, 1428<br />

= WuM 2009, 669 = MM 2009, 369 = NJW 2009, 3575 = DWW 2009, 384 = NZM 2009, 906 = MDR<br />

2009, 1383 = ZMR 2010, 102 = MietPrax-AK § 5 556 BGB Nr. 42 m. Anm. EISENSCHMID; DERS. WuM 2010, 138;<br />

PFEIFER MietRB 2010, 5) sowie für Wasser und Schutzwasserkosten, wenn die Umlage dieser Kosten<br />

einheitlich nach dem durch Zähler erfassten Frischwasserverbrauch vorgenommen wird (BGH GE 2009,<br />

1037 = WuM 2009, 5<strong>16</strong> = NZM 2009, 698 = MDR 2009, 1098 = DWW 2009, 332 = ZMR 2009, 839 =<br />

MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 41 m. Anm. EISENSCHMID; DRASDO NJW-Spezial 2009, 657; PFEIFER MietRB 2009,<br />

313; SCHLÄGER ZMR 2010, 267).<br />

c) Vorwegabzug<br />

Nach bisheriger Rechtsauffassung muss bei der Betriebskostenabrechnung i.d.R. eine Kostentrennung<br />

zwischen den Betriebskosten, die auf die gewerblich genutzten Objekte entfallen, und denjenigen für<br />

den Wohnraum erfolgen, wenn sich die Wohnung in einem Gebäude befindet, das sowohl<br />

Gewerbeeinheiten wie auch Wohnungen enthält. Von diesem Grundsatz ist der BGH (WuM 20<strong>17</strong>, 399<br />

= MietPrax-AK § 556a BGB Nr. 13 m. Anm. EISENSCHMID) jetzt hinsichtlich der Umlage der Grundsteuer<br />

für ein gemischt genutztes Gebäude abgewichen. Es ging um ein Gebäude mit einer Wohn- und<br />

862 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 895<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Nutzfläche von rund 1.100 m 2 , wobei auf die gewerbliche Nutzung rund 56 % der Flächen und der Rest<br />

auf die Wohnnutzung entfielen. Im Mietvertag war die Umlage der Betriebskosten nach dem<br />

Wohnflächenschlüssel vereinbart. Die Grundsteuer war deshalb unstrittig höher als bei einer<br />

einheitlichen Wohnnutzung.<br />

Aus § 556a Abs. 1 S. 2 BGB lasse sich jedoch kein zwingender Vorwegabzug bei der Grundsteuer<br />

herleiten. Nach dieser Vorschrift sind Betriebskosten, die von einem erfassten Verbrauch oder von<br />

einer erfassten Verursachung durch die Mieter abhängen, nach einem Maßstab umzulegen, der dem<br />

unterschiedlichen Verbrauch oder der unterschiedlichen Verursachung Rechnung trägt. Diese<br />

Voraussetzungen seien aber bei der Grundsteuer gerade nicht gegeben. Ihre Höhe hänge nicht<br />

vom Nutzungsverhalten der Mieter ab. Grundsteuer werde aufgrund eines Grundsteuerbescheids<br />

erhoben, der wiederum auf dem Einheitswertbescheid zum letzten Feststellungsstichtag, dem<br />

1.1.1964, beruhe. Die Höhe der Grundsteuer werde also nie durch die Nutzung bestimmter Fläche<br />

zu gewerblichen Zwecken im Abrechnungszeitraum beeinflusst. Auch aus Billigkeitsgründen will<br />

der Senat keine Verpflichtung des Vermieters ableiten, einen Vorwegabzug für die Gewerbeeinheiten<br />

bei der Grundsteuer vorzunehmen. Eine solche Verpflichtung bestünde nur, wenn durch<br />

die gewerbliche Nutzung erhebliche Mehrkosten (pro m 2 ) entstünden. Das sei bei der Grundsteuer<br />

aber gerade nicht der Fall, da diese eine ertragsunabhängige Objektsteuer sei. Die in einem<br />

Abrechnungsjahr erhobene Steuer hänge grundsätzlich nicht von den in diesem Jahr erzielten<br />

Erträgen und ihrer Verteilung auf die Nutzung zu gewerblichen Zwecken einerseits und zu<br />

Wohnzwecken andererseits ab.<br />

2. Heizkostenabrechnung<br />

In Gebäuden, in denen die freiliegenden Leitungen der Wärmeverteilung überwiegend ungedämmt<br />

sind und deswegen ein wesentlicher Anteil des Wärmeverbrauchs nicht erfasst wird, kann der<br />

Wärmeverbrauch der Nutzer nach anerkannten Regeln der Technik bestimmt werden. Damit<br />

soll berücksichtigt werden, dass ein Großteil der Wärme genutzt wird, ohne dass eine messtechnische<br />

Erfassung erfolgt ist. Nach bestrittener Auffassung des BGH (WuM 20<strong>17</strong>, 320 = GE 20<strong>17</strong>, 709 =<br />

MietPrax-AK § 7 HeizKV Nr. 5 m. Anm. EISENSCHMID; PFEIFER jurisPR-MietR 12/20<strong>17</strong> Anm. 1; PFEIFER CuR<br />

20<strong>17</strong>, 11; WALL WuM 20<strong>17</strong>, 322) soll dies aber nicht gelten, wenn die Leitungen zwar ungedämmt<br />

sind, aber nicht freiliegen. Auf diesen Fall sei § 7 Abs. 1 S. 2 HeizkostenV auch nicht analog<br />

anwendbar.<br />

3. Gewährleistungsrechte<br />

Lärm ist der mit am schwierigsten darzulegende und auch zu beweisende Mangel der Mietsache.<br />

Häufig wird mit sog. Lärmprotokollen gearbeitet. Der BGH hatte schon 2012 (WuM 2012, 269 =<br />

GE 2012, 681 = NJW 2012, <strong>16</strong>45 = DWW 2012, <strong>17</strong>1 = GuT 2012, 125 = NZM 2012, 381 = ZMR 2012, 536 =<br />

MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 41 m. Anm. EISENSCHMID; JAHREIS jurisPR-MietR 9/2012 Anm. 1 = WuM 2012,<br />

309; KINNE GE 2012, 644; DRASDO NJW-Spezial 2012, 321; SCHMID MietRB 2012, <strong>16</strong>1 und <strong>16</strong>7; SCHRÖDER ZMR<br />

2012, 537; WETEKAMP NZM 2012, 441; BOOS LMK 8/2012 Anm. 2) entschieden, dass zur Darlegung<br />

wiederkehrender Beeinträchtigungen des Mietgebrauchs eine Beschreibung genügt, aus der sich<br />

ergibt, um welche Art von Beeinträchtigungen (Partygeräusche, Musik, Lärm durch Putzkolonnen auf<br />

dem Flur o.Ä.) es geht, zu welchen Tageszeiten, über welche Zeitdauer und in welcher Frequenz diese<br />

ungefähr auftreten; der Vorlage eines „Lärmprotokolls“ bedürfe es dafür aber nicht (dazu auch<br />

SCHNEIDER WuM 2013, 209). Daran hat der VIII. Senat jetzt noch einmal angeknüpft (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />

194 = MDR 20<strong>17</strong>, 448 = GE 20<strong>17</strong>, 413 = NZM 20<strong>17</strong>, 256 = ZMR 20<strong>17</strong>, 379 = NJW 20<strong>17</strong>, 1877 = MietPrax-AK<br />

§ 536 BGB Nr. 54 m. Anm. EISENSCHMID; BEYER jurisPR-MietR 11/20<strong>17</strong> Anm. 2; SUILMANN MietRB 20<strong>17</strong>, 154;<br />

BRUNS NJW 20<strong>17</strong>, 1879). Da die Minderung nach § 536 Abs. 1 BGB anders als im Kauf- oder<br />

Werkvertragsrecht kraft Gesetzes eintritt, genügt der Mieter seiner Darlegungslast schon mit der<br />

Darlegung eines konkreten Sachmangels, der die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen<br />

Gebrauch beeinträchtigt. Er muss weder das Maß der Gebrauchsbeeinträchtigung noch darüber<br />

hinaus die ihm häufig nicht bekannten Ursachen dieses Mangels darlegen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 863


Fach 4 R, Seite 896<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Hinweis:<br />

Das bedeutet, dass es in den Fällen, in denen sich ein Mieter in einem Mehrparteienhaus einer Lärmbelästigung<br />

durch Nachbarmieter ausgesetzt sieht, ausreicht, wenn er die Lärmbelastung (laute Klopfgeräusche,<br />

festes Getrampel, Möbelrücken usw.) ausreichend beschreibt. Er kann diese durch detaillierte<br />

„Lärmprotokolle“ konkretisieren, was aber bei ausreichender Beschreibung der wiederkehrenden Lärmbeeinträchtigungen<br />

noch nicht einmal zwingend erforderlich ist.<br />

V. Mieterhöhung<br />

1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />

a) Stichtagsdifferenz<br />

Dem Vermieter steht gegenüber dem Mieter ein Anspruch auf Zustimmung zu einer Mieterhöhung<br />

bis zur Höhe der ortsüblichen Vergleichsmiete, die zum Zeitpunkt des Zugangs des Mieterhöhungsverlangens<br />

gilt, zu. Da die ortsübliche Vergleichsmiete immer aus den Mieten der letzten<br />

vier Jahre, gerechnet vom Zugangszeitpunkt der Erklärung rückwärts, gebildet wird, ist sie nicht statisch,<br />

sondern vor allem in angespannten Wohnungsmärkten dynamisch. Deshalb können Mietspiegel<br />

bereits systemimmanent die ortsübliche Vergleichsmiete zum maßgeblichen Stichtag nicht<br />

angeben, da sie auf einer Datenerhebung zu einem anderen, mehr oder weniger weit, in der Vergangenheit<br />

liegenden Stichtag beruhen. Mietspiegel sind deshalb immer statisch. Im vorprozessualen<br />

Verfahren ist das unproblematisch, weil der Vermieter ggf. ein anderes Begründungsmittel verwenden<br />

kann.<br />

Dies gilt aber im Zustimmungsprozess nicht. Hier muss das Gericht die Höhe der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete zum Zeitpunkt des Zugangs des Erhöhungsverlangens mit den Beweismitteln der ZPO<br />

feststellen.<br />

Hinweis:<br />

Mietspiegel sind zwar keine Beweismittel im prozessualen Sinne, ihnen kommt aber entweder eine gesetzliche<br />

Vermutungswirkung (qualifizierte Mietspiegel) oder zumindest eine Indizwirkung (einfache<br />

Mietspiegel) zu.<br />

Hier kann es aber notwendig sein, die Werte eines älteren Mietspiegels zu „aktualisieren“ oder<br />

„fortzuschreiben“ (OLG Hamm, RE v. 30.8.1996, NJW-RR 1997, 142; OLG Stuttgart, RE v. 15.12.1993, NJW-<br />

RR 1994, 334 m. Anm. BLANK ZMR 1994, 137; LG Koblenz WuM 1998, 692; LG Berlin GE 1996, 1547;<br />

LG Hamburg WuM 1996, 45; LG München WuM 1992, 25; BÖRSTINGHAUS, in: SCHMIDT-FUTTERER, Mietrecht,<br />

12. Aufl., § 558 BGB Rn 67 m.w.N.). Dies kann im Prozess auf unterschiedliche Weise geschehen:<br />

• Gibt es zeitnah um den Zeitpunkt des Zugangs des Erhöhungsverlangens eine Datenerhebung für<br />

einen neuen Mietspiegel, bietet es sich an, bei der Beweiswürdigung im Zustimmungsprozess dessen<br />

Daten für die Ermittlung im Zustimmungsprozess zu verwenden (LG Berlin GE 2015, 126; GE 2010, 61;<br />

GE 2008, 1057; GE 2008, 334; GE 2006, 391; GE 2005, 1433; GE 2004, 483; GE 2003, 1022; ZMR 1998,<br />

<strong>16</strong>5; LG Dresden, Urt. v. 9.12.2014 – 4 S 53/14; LG Hamburg WuM 1991, 355; LG Bochum WuM 1982, 18;<br />

LG Wuppertal WuM 1982, 19; AG Charlottenburg GE 20<strong>16</strong>, 331; GE 2004, 52; AG Esslingen WuM 2015,<br />

<strong>16</strong>1, <strong>16</strong>3; AG Gelsenkirchen ZMR 2009, 129; AG Gelsenkirchen-Buer NZM 1998, 509; AG Dortmund<br />

NJW-RR 1995, 971; WuM 2003, 35; AG Frankfurt DWW 1993, 44). Es geht im Zustimmungsverfahren<br />

darum, die ortsübliche Vergleichsmiete möglichst auf den Tag genau festzustellen, und nicht darum,<br />

ob der Vermieter nach der Begründung des Mieterhöhungsverlangens einen Anspruch auf Zustimmung<br />

hatte.<br />

• Gibt es eine solche Datenerhebung zum maßgeblichen Stichtag nicht, kann man sich mit einer<br />

Interpolation der Mietspiegelwerte behelfen. Insofern hat der BGH die bisherige Handhabung in der<br />

Praxis gebilligt (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 208 = GE 20<strong>17</strong>, 472 = MDR 20<strong>17</strong>, 566 = NZM 20<strong>17</strong>, 321 = ZMR 20<strong>17</strong>,<br />

864 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 897<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

384 = MietPrax-AK § 558b BGB Nr. 4 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 8/20<strong>17</strong><br />

Anm. 2; FLEINDL NZM 20<strong>17</strong>, 325; SCHACH MietRB 20<strong>17</strong>, 155). Dabei sind wiederum zwei Fälle denkbar:<br />

• Gibt es einen neuen (ausgehandelten) Mietspiegel zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungsfindung,<br />

bietet sich die Interpolation der neuen und alten Mietspiegelwerte an. Dadurch<br />

kann ein Wert für den Zugangszeitpunkt des Erhöhungsverlangens ermittelt werden.<br />

• Gibt es keinen neuen Mietspiegel, dürfte eine Fortschreibung der alten Mietspiegelwerte mittels<br />

eines Index möglich sein. Selbst für qualifizierte Mietspiegel ist das Verfahren zur Fortschreibung<br />

gesetzlich in § 558d Abs. 2 BGB vorgesehen.<br />

Umstritten ist die Frage, ob der Vermieter zu den Mietspiegelwerten selbst einen solchen Zuschlag<br />

bereits im Erhöhungsverfahren hinzurechnen darf. Dies wurde bisher zu Recht verneint. Die einzelnen<br />

Begründungsmittel leiten ihre Überzeugungskraft aus unterschiedlichen Tatsachen ab. Beim Mietspiegel<br />

ist dies die Person des Mietspiegelerstellers. Dessen Autorität geht verloren, wenn der Vermieter den<br />

Mietspiegel eigenhändig fortschreibt. Allenfalls bei der Spanneneinordnung mag die Stichtagsdifferenz<br />

argumentativ genutzt werden. Diese bisher herrschende Auffassung ist aber neuerdings kritisiert worden<br />

(FLEINDL NZM 20<strong>17</strong>, 325). Nach dieser Auffassung kann der Vermieter mittels Stichtagsdifferenz auch die<br />

Mietspiegelwerte überschreiten und deshalb schon im Erhöhungsverlangen eine höhere Miete verlangen.<br />

b) Wohnfläche<br />

Die Miete für eine Wohnung wird errechnet aus der ortsüblichen Vergleichsmiete pro Quadratmeter<br />

multipliziert mit der Wohnfläche. Deshalb geht es im Zustimmungsverfahren gem. § 558b BGB immer<br />

auch um die Größe der Wohnung. Das bedeutet zunächst, dass der Vermieter in einem solchen<br />

Verfahren eine Wohnungsgröße vortragen muss. Dazu genügt es nach Ansicht des BGH (NZM 20<strong>17</strong>, 435<br />

= GE 20<strong>17</strong>, 774 = MietPrax-AK § 558b BGB Nr. 5 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 744; FLATOW<br />

jurisPR-MietR 14/20<strong>17</strong> Anm. 3; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 14/20<strong>17</strong>, Anm. 1), wenn der Vermieter eine<br />

konkrete Wohnfläche behauptet. Nun ist es Sache des Mieters, eine eigene Wohnfläche vorzutragen. Er<br />

darf sich nämlich nach Ansicht des BGH nicht auf ein Bestreiten mit Nichtwissen beschränken (so auch<br />

schon BGH WuM 2014, 744 = GE 2014, <strong>16</strong>49 = NZM 2015, 44 = NJW 2015, 475 = ZMR 2015, 205 =<br />

MietPrax-AK § 592 ZPO Nr. 7 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 24/2014 Anm. 1;<br />

LEHMANN-RICHTER MietRB 2015, 2; KINNE GE 2014, <strong>16</strong>19; BIEBER WuM 2015, 72; DRASDO NJW-Spezial 2015, 66;<br />

SCHMID ZMR 2015, 184). Nach § 138 Abs. 4 ZPO ist eine solche Erklärung mit Nichtwissen nur über<br />

Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen<br />

Wahrnehmung gewesen sind. Und genau das ist bei der Wohnfläche der Mieterwohnung der Fall.<br />

Der Mieter kann in aller Regel die Wohnfläche der gemieteten Wohnung überschlägig selbst vermessen<br />

und eine bestimmte abweichende Fläche vortragen. Das soll nach Ansicht des VIII. Senats selbst dann<br />

gelten, wenn die Wohnung Dachschrägen aufweist und eine Loggia hat. Die Berechnung mag in diesen<br />

Fällen kompliziert sein, der Mieter müsse aber das Ergebnis einer laienhaften, im Rahmen seiner<br />

Möglichkeiten liegenden Vermessung vortragen.<br />

Hinweise:<br />

1. Diese Substantiierungspflicht besteht zunächst einmal nur für die Wohnfläche der eigenen Wohnung.<br />

2. Bei der Betriebskostenabrechnung und der Modernisierungsmieterhöhung geht es aber immer auch<br />

um die Gesamtwohnfläche des Hauses. Hier sind die Anforderungen nicht so hoch. Aber auch hier muss<br />

der Mieter auf äußerlich erkennbare Flächenunterschiede hinweisen (Balkone, Loggien etc.).<br />

3. Die Entscheidung befasst sich nicht mit der umstrittenen Frage, wann der Mieter „Kenntnis“ von der<br />

Wohnfläche i.S.d. § 199 BGB hat, was für den Beginn der Verjährungsfrist des Rückforderungsanspruchs<br />

wegen Überzahlungen bei Flächenabweichungen bedeutsam ist.<br />

2. Widerruf einer Zustimmung zu einer Modernisierungsmieterhöhung<br />

Auch im Mietrecht sind die Vorschriften über den Widerruf von Verbraucherverträgen anwendbar. Das<br />

war schon zu Zeiten des Haustürwiderrufsgesetzes so und ergibt sich seit Inkrafttreten des Gesetzes zur<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 865


Fach 4 R, Seite 898<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie vom 20.9.2013 auch ganz deutlich aus § 312 Abs. 4 BGB, der<br />

für Mietverträge nur bestimmte Regelungen für anwendbar und für die Begründung von Mietverträgen<br />

nach Besichtigung davon wiederum weitere Regelungen für unanwendbar erklärt. Die Voraussetzungen<br />

und Rechtsfolgen eines Widerrufs haben sich aber über die Jahre mehrfach geändert.<br />

Zunächst bedeutet dies, dass der Mieter, wenn die situativen Voraussetzungen der §§ 312 ff. BGB<br />

vorliegen, seine Willenserklärung widerrufen kann. Voraussetzung ist hierfür:<br />

• der Vermieter muss Unternehmer sein,<br />

• der Mieter muss Verbraucher sein,<br />

• der Vertrag wurde „außer Haus“, früher: in einer Haustürsituation, geschlossen.<br />

Wenn eine wirksame Widerrufsbelehrung erfolgte, muss der Widerruf binnen 14 Tagen erfolgen,<br />

anderenfalls nach heutigem Recht binnen eines Jahres und 14 Tagen. Früher gab es im letzteren Fall<br />

keine Frist.<br />

Der BGH (WuM 20<strong>17</strong>, 406 = MietPrax-AK § 312 BGB Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS) musste sich in einem<br />

„Altfall“ (aus 2009) mit der Frage beschäftigen, ob der Mieter nach Ausübung des Widerrufs dem<br />

Vermieter Wertersatz in Höhe des objektiven Wertes der Modernisierung schuldet, wenn er nach<br />

Durchführung einer Modernisierungsmaßnahme die Modernisierungsmieterhöhungsvereinbarung<br />

widerruft. Heute ist dies in § 357 Abs. 8 BGB geregelt. Ein Anspruch besteht nur dann, wenn der Mieter<br />

die Leistung vor Ablauf der Widerrufsfrist verlangt und der Vermieter den Mieter auf die Verpflichtung<br />

zur Zahlung von Wertersatz in diesem Fall hingewiesen hat. Diese Verpflichtung gab es 2009 noch<br />

nicht. Nach Ansicht des BGH kommt ein solcher Anspruch auf Zahlung von Wertersatz in diesen<br />

Fällen nur dann in Betracht, wenn der Vermieter zuvor eine wirksame Mieterhöhungserklärung gem.<br />

§ 559b BGB abgegeben hatte. Erst diese Erklärung führe zur Zahlungspflicht für den „Modernisierungszuschlag“.<br />

Hinweis:<br />

Die fehlende Widerrufsbelehrung kann nachgeholt werden. In Altfällen beträgt die Widerrufsfrist in diesem<br />

Fall gem. § 355 BGB a.F. einen Monat, nach derzeit geltendem Recht 14 Tage.<br />

VI.<br />

Kündigung<br />

1. Kündigung wegen Eigenbedarfs durch eine GbR<br />

Der VIII. Senat hatte zunächst im Jahre 2007 entschieden, dass eine GbR wegen Eigenbedarfs für einen<br />

bei Abschluss des Mietvertrags existierenden Gesellschafter kündigen kann (BGH WuM 2007, 515 =<br />

NJW 2007, 2845 = NZM 2007, 679 = ZMR 2007, 772 = DWW 2007, 369 = MDR 2007, 1301 = MietPrax-AK<br />

§ 573 BGB Nr. 12 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; HÄUBLEIN NJW 2007, 2847; SCHUMACHER MietRB 2007, 253, 254;<br />

MÜLLER WuM 2007, 579; DRASDO NJW-Spezial 2007, 529). Vier Jahre später hat er diese Einschränkung<br />

fallengelassen und entschieden, dass eine GbR sich auf einen in der Person eines Gesellschafters<br />

bestehenden Eigenbedarf auch dann berufen kann, wenn dieser der Gesellschaft bei Abschluss des<br />

Mietvertrags oder bei Eintritt der Gesellschaft in einen bestehenden Mietvertrag noch nicht<br />

angehörte (BGH WuM 2012, 31 = GE 2012, 127 = NZM 2012, 150 = MDR 2012, 78 = NJW-RR 2012, 237 =<br />

ZfIR 2012, <strong>17</strong>7 = ZMR 2012, 264 = MietPrax-AK § 566 BGB Nr. 11 m. Anm. BÖRSTINGHAUS;SCHACH GE 2012, 98;<br />

SCHMID MietRB 2012, 34; DRASDO NJW-Spezial 2012, 129). Auf der anderen Seite hatte der Senat bereits<br />

zuvor entschieden, dass eine juristische Person (BGH ZMR 2003, 904 = GE 2003, 1488 = WuM 2003, 691<br />

= NJW-RR 2004, 12 = NZM 2004, 25 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 3 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; MACIEJEWSKI<br />

MM 2003, 445; ROTH NZM 2004, 129; LÜTZENKIRCHEN MietRB 2004, 4) und eine Personengesellschaft (BGH<br />

WuM 2011, 113 = GE 2011, 262 = NJW 2011, 993 = NZM 2011, 276 = ZMR 2011, 371 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />

Nr. 31 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; REINELT jurisPR-BGHZivilR 4/2011 Anm. 1; SCHACH MietRB 2011, 71; WIEK WuM<br />

2011, 146; DRASDO NJW-Spezial 2011, 194; EISENSCHMID LMK 4/2011 Anm. 3; CAMPOS BB 2011, 913) nicht wegen<br />

Eigenbedarfs ihrer Gesellschafter kündigen können.<br />

866 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 899<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Diese Rechtsprechung hat der BGH jetzt bestätigt und gegen Angriffe verteidigt (BGH MDR 20<strong>17</strong>, 142 =<br />

WuM 20<strong>17</strong>, 94 = GE 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>6 = NJW 20<strong>17</strong>, 547 = NZM 20<strong>17</strong>, 111 = ZMR 20<strong>17</strong>, 141 = DWW 20<strong>17</strong>, 51 =<br />

MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 62 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 3/20<strong>17</strong> Anm. 1;<br />

BÖRSTINGHAUS LMK 20<strong>17</strong>, 385346; DERLEDER WuM 20<strong>17</strong>, 104; SELK NJW 20<strong>17</strong>, 521; SINGBARTL NZM 20<strong>17</strong>, 119;<br />

ABRAMENKO MietRB 20<strong>17</strong>, 65/66; MEIER ZMR 20<strong>17</strong>, 150; SCHACH jurisPR-MietR 6/20<strong>17</strong> Anm. 2; DUBOVITSKAYA/<br />

WEITEMEYER NZM 20<strong>17</strong>, 201; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 194).<br />

Hinweis:<br />

Problematisch bleibt für die Praxis die Feststellung des Übergangs von einer GbR zu einer Personengesellschaft,<br />

also insbesondere einer OHG, der ja ohne Eintragung im Handelsregister allein durch die Ausweitung<br />

der Geschäfte möglich ist. Wenn dem Mietervertreter dieser Nachweis gelingt, scheidet eine Eigenbedarfskündigung<br />

aus.<br />

Der Senat hat in einer zweiten Entscheidung seine Auffassung noch einmal wiederholt (BGH NZM 20<strong>17</strong>,<br />

285 = WuM 20<strong>17</strong>, 288 = NJW-RR 20<strong>17</strong>, 583 = ZMR 20<strong>17</strong>, 380 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 63 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS).<br />

Mit der ersten Entscheidung (BGH MDR 20<strong>17</strong>, 142 = WuM 20<strong>17</strong>, 94 = GE 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>6 = NJW 20<strong>17</strong>, 547 = NZM<br />

20<strong>17</strong>, 111 = ZMR 20<strong>17</strong>, 141 = DWW 20<strong>17</strong>, 51 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 62) hat der Senat aber in einem<br />

Punkt eine Rechtsprechungsänderung vollzogen, und zwar was die Rechtsfolgen eines Verstoßes<br />

gegen die sog. Anbietpflicht angeht. Auch nach Ansicht des Senats hat der Vermieter als vertragliche<br />

Nebenpflicht die Verpflichtung, dem Mieter eine andere, ihm während der Kündigungsfrist zur<br />

Verfügung stehende vergleichbare Wohnung zur Anmietung anzubieten, sofern diese sich im selben<br />

Haus oder in derselben Wohnanlage befindet und er sie erneut vermieten will. In der Vergangenheit<br />

hatte der Senat aus diesem Unterlassen eines gebotenen Anbietens gefolgert, dass damit die Kündigung<br />

rechtsmissbräuchlich und damit unwirksam werde.<br />

An dieser Rechtsfolge will er jetzt nicht mehr festhalten. Der Vermieter verstoße nämlich allein durch<br />

die Eigenbedarfskündigung nicht gegen ein Gesetz. Erst dadurch, dass er eine ihm während der<br />

Kündigungsfrist zur Verfügung stehende geeignete Alternativwohnung nicht dem Mieter anbietet, liegt<br />

eine Nebenpflichtverletzung vor. Die Verletzung einer solchen Nebenpflicht mache aber die<br />

ursprünglich berechtigte Eigenbedarfskündigung nicht unwirksam. Der Mieter habe nur einen<br />

Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als wenn der Vermieter der Anbietpflicht nachgekommen<br />

wäre. Diesen Schaden muss der Vermieter dem Mieter ersetzen und zwar in Geld.<br />

Hinweise:<br />

Zum erstattungsfähigen Schaden können eventuell aufgewendete Umzugskosten gehören. Wäre der<br />

Mieter „nur“ im Haus umgezogen, wären diese eventuell gar nicht angefallen. Ebenso könnten auch<br />

Maklerkosten und höhere Fahrtkosten zur Arbeit dazugehören.<br />

2. Kündigung wegen Berufs- oder Geschäftsbedarfs<br />

a) (Frei-)Beruflicher oder gewerblicher Nutzungswunsch des Vermieters<br />

Der VIII. Senat hatte in der Vergangenheit durch einen sehr weit gefassten Leitsatz zumindest für<br />

erhebliche Missverständnisse, was die Kündigung wegen sog. Betriebsbedarfs angeht, gesorgt (BGH GE<br />

2012, <strong>16</strong>31 = WuM 2012, 684 = NZM 2013, 22 = NJW 2013, 225 = ZMR 2013, 107 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />

Nr. 43 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; SCHACH MietRB 2013, 2; BLANK WuM 2013, 47; BOTH jurisPR-MietR 2/2013 Anm.<br />

2; DRASDO NJW-Spezial 2013, 34; WIEK WuM 2013, 271). Damals hatte der Vermieter eine weitere Wohnung<br />

in dem Haus, in dem er mit seiner Frau lebte, gekündigt, damit dort seine Frau eine Anwaltskanzlei<br />

betreiben konnte. Diese Entscheidung wurde von der Praxis so verstanden, dass der Betriebsbedarf<br />

regelmäßig zu einer Kündigung nach der Generalklausel des § 573 Abs. 1 BGB berechtigt. Das wurde in der<br />

Literatur kritisiert (BLANK WuM 2013, 47; BOTH jurisPR-MietR 2/2013 Anm. 2; WIEK WuM 2013, 271).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 867


Fach 4 R, Seite 900<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Nunmehr hat der Senat (BGH GE 20<strong>17</strong>, 653 = WuM 20<strong>17</strong>, 333 = NZM 20<strong>17</strong>, 405 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />

Nr. 65 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGH-ZivilR 11/20<strong>17</strong> Anm. 3; HINZ NZM 20<strong>17</strong>, 412), wie<br />

er selbst schreibt, versucht, diese Missverständnisse seiner Rechtsprechung durch die Untergerichte<br />

auszuräumen, wobei dies durchaus auch als „Rechtsprechungsänderung“ (so die Überschrift des<br />

Urteilsabdrucks in NZM 20<strong>17</strong>, 405) verstanden wird, was der Senat aber selbst ausdrücklich bestreitet.<br />

Nach dem sehr allgemeinen Leitsatz der Entscheidung aus dem Jahre 2012 hat der Senat jetzt acht<br />

Leitsätze formuliert, die alleine schon fast die Länge eines amtsgerichtlichen Urteils haben. Damit wollte<br />

er wohl weitere Missverständnisse für die Zukunft vermeiden. Im konkreten Fall hatte eine Vermieterin<br />

eine sehr kleine Wohnung gekündigt, weil ihr Mann, der im gleichen Haus einer selbstständigen<br />

Tätigkeit nachging, dort Akten lagern wollte. Das war weder Eigenbedarf noch rechtfertigte es eine<br />

Kündigung wegen wirtschaftlicher Verwertung. Eine Verwertungskündigung setze voraus, dass der<br />

Vermieter durch das bestehende Wohnraummietverhältnis an einer wirtschaftlichen Verwertung „des<br />

Grundstücks“, also an einer Realisierung des diesem innewohnenden materiellen Werts gehindert sei.<br />

Eine solche Verwertung geschehe durch einen Verkauf oder eine Vermietung des Grundstücks. Die<br />

Vermietung sollte hier aber nicht der Erzielung eines höheren Ertrags dienen, sondern dem Betrieb des<br />

Ehemanns zugute kommen. In Betracht kam also allenfalls eine Kündigung nach der Generalklausel des<br />

§ 573 Abs. 1 BGB.<br />

Ob ein (frei-)beruflicher oder gewerblicher Bedarf eine Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses<br />

nach § 573 Abs. 1 S. 1 BGB rechtfertigt, lasse sich nicht allgemein beantworten. Es müsse in jedem<br />

Einzelfall festgestellt werden, ob der Vermieter ein „berechtigtes Interesse“ an der Kündigung habe.<br />

Dabei sei zu beachten, dass sowohl die Rechtsposition des Vermieters als auch das vom Vermieter<br />

abgeleitete Besitzrecht des Mieters von der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt<br />

seien. Wie diese Interessen zu gewichten seien, könne aus § 573 Abs. 2 BGB abgeleitet werden. Nach<br />

§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB reicht der Nutzungswunsch des Vermieters alleine aus, wenn er die Wohnung<br />

zu Wohnzwecken nutzen will. Geht es dagegen um eine wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks<br />

gem. § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB, erlaubt das Gesetz eine Kündigung nur bei erheblichen Nachteilen<br />

für den Vermieter. Das Interesse des Vermieters, die vermietete Wohnung zu (frei-)beruflichen oder<br />

gewerblichen Zwecken selbst zu nutzen, ist von der Interessenlage her zwischen den genannten<br />

typisierten Regeltatbeständen anzusiedeln. Es müsse deshalb jedesmal festgestellt werden, ob der<br />

konkrete Betriebsbedarf einen etwas größeren personalen Bezug habe oder näher an einer<br />

Verwertungskündigung zu sehen sei. Im letzteren Fall müssten dem Vermieter erhebliche Nachteile<br />

drohen. Und genau diese hat der Senat bei der vorliegenden Fallgestaltung verneint; ein solcher<br />

Nachteil von einigem Gewicht sei vorliegend nicht ansatzweise zu erkennen. Durch eine Auslagerung<br />

eines größeren Teils des Aktenbestands in andere, etwas entfernter gelegene Räumlichkeiten sei<br />

keine wirtschaftliche Einbuße von einigem Gewicht oder ein die Organisation des Unternehmers<br />

erheblich beeinträchtigender Nachteil erkennbar.<br />

b) Wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks<br />

In einer zweiten Entscheidung (BGH GE 20<strong>17</strong>, 769 = WuM 20<strong>17</strong>, 410 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 66 m.<br />

Anm. BÖRSTINGHAUS) hat der Senat diese von ihm jetzt neu entwickelten und dargestellten Grundsätze auf<br />

eine Fallgestaltung angewandt, bei der der Vermieter eine Wohnung gekündigt hatte, um sie einer ihm<br />

nahestehenden Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, die im ganzen Haus eine soziale Wohngruppe<br />

einrichten wollte. Für den erforderlichen Umbau sollte diese Gesellschaft staatliche Fördermittel<br />

erhalten, die aber wiederum von der Schaffung einer bestimmten Anzahl von Wohngruppenplätzen<br />

abhängig waren. Auch hier ist der Senat davon ausgegangen, dass allenfalls eine Kündigung nach der<br />

Generalklausel des § 573 Abs. 1 BGB in Betracht komme und dass hier wiederum eine größere Nähe zur<br />

Verwertungskündigung bestehe. Auch hier hat der Senat die erheblichen Nachteile auf Vermieterseite<br />

verneint. Zum einen sollte der Vermieter weder umbauen noch Fördermittel bekommen und zum<br />

anderen hatte der Vermieter bereits während des Räumungsprozesses begonnen, das Projekt zu<br />

realisieren und zu betreiben.<br />

868 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 901<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

c) Nutzung aus betrieblichen Gründen notwendig<br />

Und schließlich hat der Senat entschieden, dass eine Kündigung wegen Betriebsbedarfs voraussetzt,<br />

dass betriebliche Gründe die Nutzung gerade der gekündigten Wohnung notwendig machen. Die<br />

Wohnung muss deshalb für die betrieblichen Abläufe nach den Aufgaben der Bedarfsperson von<br />

wesentlicher Bedeutung sein. Dies sei etwa bei einem Angestellten, dem die Aufgaben eines<br />

„Concierge“ für ein Haus übertragen worden sind und der vor Ort sein muss, der Fall. Bei einem<br />

Hausmeister, der mehrere Objekte des Vermieters betreuen soll und ohnehin bereits in der Nähe eines<br />

der Objekte wohnt, sei diese Voraussetzung aber zu verneinen (BGH MDR 20<strong>17</strong>, 693 = GE 20<strong>17</strong>, 658 =<br />

WuM 20<strong>17</strong>, 342 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 64 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR<br />

12/20<strong>17</strong> Anm. 2; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 621; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 419).<br />

3. Schadensersatz wegen vorgetäuschten Eigenbedarfs<br />

Inzwischen häufen sich die Entscheidungen des BGH zum Schadensersatzanspruch wegen vorgetäuschten<br />

Eigenbedarfs. In der Praxis geht es in diesen Fällen zum einen darum zu entscheiden, ob der<br />

behauptete Bedarf überhaupt eine Kündigung rechtfertigt, und zum anderen geht es prozessual immer<br />

um die Frage, ob der Mieter bewiesen hat, dass dieser Kündigungsgrund nur vorgeschoben war. Nach<br />

Ansicht des BGH (MDR 20<strong>17</strong>, 693 = GE 20<strong>17</strong>, 658 = WuM 20<strong>17</strong>, 342 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 64 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS;BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 12/20<strong>17</strong> Anm. 2; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 621; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>,<br />

419) komme dem Mieter hier aber dann eine Beweiserleichterung zugute, wenn der Vermieter nach<br />

Auszug des Mieters den angekündigten Bedarf gar nicht umsetzt. In diesem Fall trifft den Vermieter eine<br />

sekundäre Darlegungslast zum nachträglichen Wegfall des Bedarfs. Setzt der Vermieter den behaupteten<br />

Selbstnutzungswillen nach dem Auszug des Mieters nicht um, liege nämlich der Verdacht nahe, dass der<br />

Bedarf nur vorgeschoben gewesen sei. Unter diesen Umständen sei es dem Vermieter zuzumuten,<br />

substantiiert und plausibel („stimmig“) darzulegen, aus welchem Grund der mit der Kündigung<br />

vorgebrachte Bedarf nachträglich entfallen sein soll; an diese Darlegung sind nach der Rechtsprechung<br />

des Senats (BGH WuM 20<strong>16</strong>, 743 = MDR 20<strong>17</strong>, 21 = NZM 20<strong>17</strong>, 23 = GE 20<strong>17</strong>, 97 = ZMR 20<strong>17</strong>, 32 = MietPrax-<br />

AK § 573 BGB Nr. 61 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 1/20<strong>17</strong> Anm. 2; SCHÜLLER NZM<br />

20<strong>17</strong>, 26; SUILMANN MietRB 20<strong>17</strong>, 35) strenge Anforderungen zu stellen.<br />

4. Fortsetzung des Mietverhältnisses nach der Sozialklausel<br />

Der Kündigungsschutz des sozialen Mietrechts ist vom Gesetzgeber dual ausgestaltet worden (vgl.<br />

STERNEL, Vortrag auf dem Deutschen Mietgerichtstag 20<strong>17</strong>, www.mietgerichtstag.de). Zunächst muss der<br />

Vermieter ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses haben. Auf dieser Ebene<br />

werden die Interessen des Mieters noch nicht berücksichtigt. Das „zweite Standbein“ des dualen<br />

Kündigungsschutzes ist der Fortsetzungsanspruch des Mieters gem. §§ 574 ff. BGB. Hier geht es um die<br />

Mieterinteressen. Dieser Anspruch spielte in der Vergangenheit in der gerichtlichen Praxis kaum eine<br />

Rolle.<br />

Gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des<br />

Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die<br />

Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter<br />

Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Der BGH (GE 20<strong>17</strong>,<br />

469 = DWW 20<strong>17</strong>, 134 = NJW 20<strong>17</strong>, 1474 = NZM 20<strong>17</strong>, 286 = WuM 20<strong>17</strong>, 285 = MDR 20<strong>17</strong>, 635 = ZMR 20<strong>17</strong>,<br />

382 = MietPrax-AK § 574 BGB Nr. 2 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; SINGBARTL/HENKE NZM 20<strong>17</strong>, 289; BÖRSTINGHAUS<br />

jurisPR-BGHZivilR 9/20<strong>17</strong> Anm. 2; SANDIDGE/WICHERT MietRB 20<strong>17</strong>, 153; BEYER jurisPR-MietR 12/20<strong>17</strong> Anm.<br />

2) verlangt von den Tatsachengerichten zu diesen Voraussetzungen eine gründliche und sorgfältige<br />

Sachverhaltsfeststellung und anschließend eine Gewichtung und Würdigung der beiderseitigen<br />

Interessen. Die Härte muss aber stärker sein als die mit einem Wohnungswechsel typischerweise<br />

verbundenen Unannehmlichkeiten. Behauptet der Mieter gesundheitliche Auswirkungen eines Umzugs,<br />

müsse das Tatsachengericht regelmäßig ein Gutachten einholen. Auf der anderen Seite müssten die<br />

Tatsachengerichte auch berücksichtigen, wie groß und dringlich das Vermieterinteresse an der<br />

Eigenbedarfskündigung letztendlich ist. Da es im vorliegenden Fall wohl eher um eine Erhöhung des<br />

„Wohnkomforts“ gegangen sei als um eine Beseitigung völlig unzureichender beengter Wohnverhält-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 869


Fach 4 R, Seite 902<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

nisse, sei das Vermieterinteresse, obwohl es generell eine Kündigung rechtfertige, bei der Abwägung der<br />

Interessen nicht so stark zu berücksichtigen. Auch das Vorhandensein von Alternativwohnraum könne<br />

bei der Abwägung der Interessen auf Vermieterseite zu berücksichtigen sein.<br />

Hinweise:<br />

Nach Ansicht des BGH ist es nicht erforderlich, dass der Mieter sein Fortsetzungsverlangen mittels Widerklage<br />

geltend macht. Die Tatsachengerichte haben im Rahmen des § 308a ZPO einen sehr weiten<br />

Gestaltungsspielraum hinsichtlich des Inhalts des Mietvertrags im Zusammenhang mit der Anordnung<br />

der Fortsetzung. In Betracht käme z.B. eine moderate Mieterhöhung oder die Zahlung einer angemessenen<br />

Kostenbeteiligung an der Umgestaltung von alternativen Räumen für die Befriedigung der Wohnbedürfnisse<br />

des Vermieters.<br />

5. Kündigung wegen Zahlungsverzugs<br />

Nach § 543 Abs. 2 Nr. 3 lit. b BGB kann ein Mietverhältnis gekündigt werden, wenn der Mieter in einem<br />

Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der Miete in Höhe eines<br />

Betrages in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht. Kann der Vermieter deshalb immer<br />

kündigen, wenn der Mieter die vollständige Miete für zwei zeitlich nicht aufeinanderfolge Monate<br />

nicht zahlt, wenn die Miete zwischenzeitlich erhöht wurde? Man möchte das bejahen. Konkret betrug<br />

die Miete bis Juni 20<strong>16</strong> in diesem Fall 449,90 € und ab Juli 20<strong>16</strong> 453,04 €. Der Mieter zahlte die Miete<br />

für Juni und August in voller Höhe nicht. Nach richtiger Ansicht des AG Lübeck (WuM 20<strong>17</strong>, 200 = ZMR<br />

20<strong>17</strong>, 405 m. Anm. MUMMENHOFF; jurisPR-MietR 13/20<strong>17</strong> Anm. 4) ist die Kündigung hier nicht möglich.<br />

Mit dem Begriff „Miete für zwei Monate“ sei der doppelte Betrag der zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung<br />

geschuldeten Miete gemeint. Durch die Mieterhöhung hat der Vermieter diese Grenze<br />

verschoben. Dass diese Auffassung richtig ist, ergibt folgende Kontrollüberlegung: Wenn der Mieter<br />

über viele Monate monatlich 50 € zu wenig zahlt, kann es nicht darauf ankommen, wie hoch die Miete<br />

zu irgendeinem Termin in der Vergangenheit war. Auch hier kommt es nur auf die Miete zum<br />

Zeitpunkt der Kündigung an.<br />

VII. Räumung/Nutzungsentschädigung<br />

Hält der Mieter die Mietsache nach Ende der Mietzeit dem Vermieter vor, indem er sie nicht zurückgibt,<br />

so schuldet er gem. § 546a BGB Nutzungsentschädigung. Dabei enthält das Gesetz eine Untergrenze<br />

und eine Obergrenze für diese Entschädigung. Als Mindestbetrag muss der Mieter die bisher<br />

vereinbarte Miete zahlen – unabhängig davon, wie hoch die Marktmiete zu dieser Zeit ist. Als<br />

Obergrenze für die Nutzungsentschädigung sieht das Gesetz die „ortsübliche Miete“ vor. Nach Ansicht<br />

des BGH (GE 20<strong>17</strong>, 221 = WuM 20<strong>17</strong>, 134 = NZM 20<strong>17</strong>, 186 = NJW 20<strong>17</strong>, 1022 = MDR 20<strong>17</strong>, 387 = ZMR 20<strong>17</strong>,<br />

300 = MietPrax-AK § 546a BGB Nr. 8 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisZivilR 4/20<strong>17</strong> Anm. 1; BEYER<br />

jurisPR-MietR 5/20<strong>17</strong> Anm. 1; Röck NZM 20<strong>17</strong>, 188; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 257; MONSCHAU MietRB 20<strong>17</strong>,<br />

125; ARTZ NZM 20<strong>17</strong>, 281; FLEINDL NZM 20<strong>17</strong>, 282) handelt es sich dabei um die aktuelle Marktmiete und<br />

nicht um die ortsübliche Vergleichsmiete. Anders als § 546a BGB, der Teil der für alle Mietverhältnisse<br />

geltenden allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen des Mietrechts ist und deshalb nicht nur für<br />

Wohnraummietverhältnisse gilt, gelten die Bestimmungen der §§ 558 ff. BGB über die Mieterhöhung bis<br />

zur ortsüblichen Vergleichsmiete nur für Bestandsmietverhältnisse über Wohnraum. Anzunehmen, dass<br />

der Gesetzgeber aber für die Vermietung anderer Sachen als Wohnungen einen anderen Begriff der<br />

ortsüblichen Miete einführen wollte, sei systemwidrig. Und schließlich sprechen der Sinn und Zweck des<br />

§ 546a Abs. 1 Alt. 2 BGB für die Neuvertragsmiete. Mit § 546a BGB solle Druck auf den Mieter ausgeübt<br />

werden, damit er seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Räumung nachkomme.<br />

Hinweise:<br />

1. Für die Geltendmachung der höheren Neuvertragsmiete anstatt der bisherigen Vertragsmiete ist keine<br />

Gestaltungserklärung des Vermieters erforderlich (BGHZ 142, 186, 189). Eine nachträgliche Geltendmachung<br />

ist zulässig.<br />

870 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 903<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

2. Die Nutzungsentschädigung wird aber auf die zulässige Wiedervermietungsmiete gem. §§ 556d bis<br />

556g BGB beschränkt. Der Vermieter soll durch den rechtswidrig unterbliebenen Auszug des Mieters<br />

nicht schlechter gestellt werden, aber er darf auch nicht besser gestellt werden. Insofern darf der<br />

Vermieter in Gebieten mit angespannter Wohnungsversorgung grundsätzlich nur 110 % der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete verlangen, es sei denn es liegt einer der vier Ausnahmetatbestände der<br />

§§ 556e und 556f BGB vor. In Betracht kommt vor allem eine höhere „Vormiete“.<br />

3. Die Nutzungsentschädigung mindert sich nicht, wenn die ehemalige Mietsache nach Ende des<br />

Mietverhältnisses erstmals mangelhaft wird (BGH WuM 2015, 493 = GE 2015, 1022 = MDR 2015, 998 =<br />

NJW 2015, 2795 = NZM 2015, 695 = ZfIR 2015, 653 = ZMR 2015, 754 = MietPrax-AK § 546a BGB Nr. 7<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BLANK LMK 2015, 37<strong>17</strong><strong>16</strong>; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 15/2015 Anm. 2; BURBULLA<br />

MietRB 2015, 265).<br />

VIII. Schadensersatzansprüche<br />

1. Verantwortlichkeit des Mieters für Wohnungsschäden nach Polizeieinsatz<br />

Bei vertragswidrigem Verhalten kann der Mieter sich gem. § 280 BGB schadensersatzpflichtig machen.<br />

Nach Ansicht des BGH überschreitet ein Mieter die Grenze vertragsgemäßen Gebrauchs und verstößt<br />

gegen seine mietvertragliche Obhutspflicht, wenn er in der angemieteten Wohnung illegale<br />

Betäubungsmittel aufbewahrt (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 10 = GE 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>5 = MDR 20<strong>17</strong>, 267 = NZM 20<strong>17</strong>, 144<br />

= ZMR 20<strong>17</strong>, 236 = MietPrax-AK § 280 BGB Nr. 4 m. Anm. EISENSCHMID; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 138; MONSCHAU<br />

MietRB 20<strong>17</strong>, 94; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 226). Wenn die Polizei aber irrtümlich meint, dass der Mieter<br />

aus der Wohnung mit Betäubungsmitteln Handel treibt und deshalb bei einer Wohnungsdurchsuchung<br />

mit dem „43-Schlüssel“ (Fußtritt) die Wohnungstür öffnet und beschädigt, dann ist der Mieter nicht zum<br />

Schadenersatz verpflichtet, wenn sich der Verdacht nicht bestätigt, weil nur geringe Mengen zum<br />

Eigenverbrauch gefunden werden.<br />

2. Regressverzicht in der Gebäudeversicherung<br />

Der Eigentümer eines Einfamilienhauses muss seiner Versicherung keinen Ersatz leisten, weil diese ihm<br />

Versicherungsleistungen für leicht fahrlässig verursachte Schäden leistet oder wenn sie Dritten wegen<br />

eines solchen Verhaltens Schadensersatz leistet. Insofern ist in den Versicherungsbedingungen ein<br />

Regressverzicht vereinbart, denn gerade dafür werden ja Versicherungen abgeschlossen. Wenn der<br />

Mieter die Kosten der Versicherung über die Betriebskostenabrechnung zahlt und einen Schaden leicht<br />

fahrlässig verursacht, kann die Versicherung nach ganz herrschender Auffassung nach den Grundsätzen<br />

der ergänzenden Vertragsauslegung ebenfalls vom Mieter keinen Regress verlangen (dazu HINZ, Vortrag<br />

auf dem Deutschen Mietgerichtstag 20<strong>17</strong>, www.mietgerichtstag.de). Wie der BGH nun entschieden hat, ist<br />

diese Rechtsprechung aber nicht im Hinblick auf das neue VVG und dessen Abkehr vom „Alles-odernichts-Prinzip“<br />

auf Fälle der grob fahrlässigen Herbeiführung des Schadens zu übertragen (BGH VersR<br />

20<strong>17</strong>, 36 = NJW-RR 20<strong>17</strong>, 22 = NZM 20<strong>17</strong>, 29 = GE 20<strong>17</strong>, 290 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 71 m. Anm.<br />

EISENSCHMID).<br />

IX.<br />

Prozessrecht<br />

1. Streitwerte<br />

a) Unterverpachtung<br />

Verlangt der Unterpächter gegenüber dem Unterverpächter und dem Generalverpächter/Grundstückseigentümer<br />

– als Streitgenossen – die Feststellung, dass der Unterpachtvertrag mit ihm selbst und der<br />

Generalpachtvertrag zwischen den beiden Beklagten ungekündigt fortbestehen, und geht es ihm hierbei<br />

ausschließlich darum, sein Besitzrecht an der von ihm genutzten Parzelle gegen Herausgabeansprüche<br />

der beiden Beklagten zu verteidigen, so bemessen sich der Zuständigkeits- und Rechtsmittelstreitwert<br />

gem. §§ 8, 9 ZPO nach dem dreieinhalbfachen und der Gebührenstreitwert gem. § 41 Abs. 1 GKG nach<br />

dem einfachen Jahresbetrag des vom Kläger für seine Parzelle zu entrichtenden Pachtzinses.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 871


Fach 4 R, Seite 904<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Hinweis:<br />

Ein gegen einfache Streitgenossen ergangenes Feststellungsurteil entfaltet im Verhältnis unter diesen<br />

keine Rechtskraftwirkung (BGH MietPrax-AK § 8 ZPO Nr. 15 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

b) Berufung<br />

Eine zunächst zulässige Berufung eines Berufungsführers, dessen Beschwer die Wertgrenze des § 511<br />

Abs. 2 Nr. 1 ZPO erreicht, kann unzulässig werden, falls dieser willkürlich seinen Berufungsantrag auf<br />

einen unterhalb der Berufungssumme liegenden Wert beschränkt. Mit „willkürlich“ sind diejenigen Fälle<br />

gemeint, in denen der Berufungsführer aus eigener Entschließung, also nicht als Reaktion auf ein<br />

Verhalten seines Gegners, seinen Berufungsantrag auf einen die Berufungssumme unterschreitenden<br />

Wert beschränkt (Bestätigung von Großer Senat für Zivilsachen des Reichsgerichts, RGZ <strong>16</strong>8, 355, 358,<br />

360; BGHZ 1, 29, 31; BGH NJW 1966, 598; BGH NJW-RR 2009, 126).<br />

Wendet sich der Mieter mit seiner Berufung nicht gegen eine ausgeurteilte Zahlungsverpflichtung als<br />

solche, sondern begehrt er mit dem Rechtsmittel lediglich eine Verurteilung Zug um Zug gegen<br />

Erteilung einer ordnungsgemäßen Betriebskostenabrechnung, bemisst sich der Wert des geltend<br />

gemachten Beschwerdegegenstands gem. §§ 2, 3 ZPO nach dem Interesse des Mieters an einem sich<br />

möglicherweise aus der Abrechnung ergebenden Rückzahlungsanspruch, der ggf. nach Erfahrungswerten<br />

zu schätzen und mangels konkreter Anhaltspunkte i.d.R. nur mit einem Bruchteil der geleisteten<br />

Vorauszahlungen anzusetzen ist (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 220 = GE 20<strong>17</strong>, 588 = NZM 20<strong>17</strong>, 358 = MietPrax-AK<br />

§ 511 ZPO Nr. 5 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

c) Beschwer bei Räumung von Wohnraum<br />

Der Wert der Beschwer in einer Streitigkeit über die Räumung von Wohnraum bemisst sich gem. §§ 8, 9<br />

ZPO nach dem dreieinhalbfachen Jahreswert der Nettomiete, wenn es sich um ein Mietverhältnis auf<br />

unbestimmte Zeit handelt und sich deshalb die „streitige“ Zeit nicht bestimmen lässt (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />

<strong>16</strong>2 = MietPrax-AK § 26 Nr. 8 EGZPO Nr. 28 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

2. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kommt dann nicht in Betracht, wenn das<br />

Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat. Dazu muss die Nichtzulassungsbeschwerde zulässig sein,<br />

also die Beschwer mehr als 20.000 € betragen (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 293 = MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 31 m.<br />

Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

3. Nachbesserung der Vermögensauskunft<br />

Der Gläubiger kann die Nachbesserung einer Vermögensauskunft verlangen, wenn der Schuldner ein<br />

äußerlich erkennbar unvollständiges, ungenaues oder widersprüchliches Verzeichnis vorgelegt hat.<br />

Einem Verlangen auf Nachbesserung einer Vermögensauskunft gem. § 802c ZPO fehlt das Rechtsschutzbedürfnis,<br />

wenn der Gläubiger Auskunft über Erstattungsforderungen für Betriebs- und<br />

Heizkosten verlangt, die der Sozialhilfeträger für einen Empfänger von Leistungen nach dem SGB II<br />

an dessen Vermieter geleistet hat. Ein solches Auskunftsbegehren ist mutwillig, weil diese Ansprüche<br />

nicht der Pfändung unterliegen. Hat der Schuldner die Frage nach Ansprüchen aus Pacht-, Miet- und<br />

Leasingverträgen verneint, so bedarf die Frage, ob er die Kaution in Raten an das Jobcenter zurückzahlt,<br />

keiner Beantwortung, weil die Frage nach Ansprüchen aus dem Mietverhältnis bereits zusammenfassend<br />

verneint worden ist und somit kein berechtigtes Interesse an der Frage nach weiteren<br />

Einzelheiten eines Kautionsrückzahlungsanspruchs besteht (BGH MietPrax-AK § 802c ZPO Nr. 2<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS; MONSCHAU MietRB 20<strong>17</strong>, 10).<br />

872 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1255<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Individualarbeitsrecht<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Von Rechtsanwalt Dr. BENJAMIN MÜLLER, Köln<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Gesetzlicher Urlaubsanspruch<br />

1. Anspruchsvoraussetzungen<br />

2. Ausschluss von Doppelansprüchen nach<br />

Arbeitgeberwechsel<br />

3. Urlaubsdauer<br />

4. Teilurlaub<br />

5. Gesetzliche Kürzungsmöglichkeiten<br />

6. Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs<br />

7. Gewährung des Urlaubsanspruchs<br />

8. Urlaubsentgelt<br />

9. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />

III. Gesetzliche Urlaubsansprüche außerhalb<br />

des BUrlG<br />

IV. Übergesetzlicher Urlaub<br />

V. Bildungsurlaub<br />

VI. Unbezahlter Sonderurlaub<br />

VII. Prozessuales<br />

1. Leistungsklage<br />

2. Feststellungsklage<br />

3. Einstweiliger Rechtsschutz<br />

VIII. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats<br />

IX. Fazit<br />

I. Einleitung<br />

Nach Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) hat jeder Arbeitnehmer<br />

das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />

ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub darüber hinaus als ein besonders<br />

bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft anzusehen, von dem nicht abgewichen<br />

werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG<br />

selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen (EuGH EuZW 2009, 147, 149).<br />

Im deutschen Recht folgt der Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub unmittelbar aus § 1 des<br />

Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz – BUrlG). Wie der vollständige Titel<br />

des Gesetzes bereits zum Ausdruck bringt, regelt das Bundesurlaubsgesetz nur den Mindestanspruch<br />

auf Erholungsurlaub. Dem Arbeitgeber steht es daher frei, dem Arbeitnehmer über den gesetzlichen<br />

Mindesturlaub hinaus Mehrurlaub zu gewähren. Abweichungen zuungunsten der Arbeitnehmer sind<br />

hingegen grundsätzlich nicht bzw. nur in engen Grenzen in Tarifverträgen zulässig, § 13 Abs. 1 BUrlG.<br />

II.<br />

Gesetzlicher Urlaubsanspruch<br />

1. Anspruchsvoraussetzungen<br />

a) Anspruchsberechtigung<br />

Der Urlaubsanspruch nach § 1 BUrlG setzt voraus, dass der Anspruchsinhaber Arbeitnehmer im Sinne<br />

des Bundesurlaubsgesetzes ist. Dies sind gem. § 2 S. 1 BUrlG „Arbeiter und Angestellte“ sowie die zu ihrer<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 873


Fach <strong>17</strong>, Seite 1256<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Arbeitsrecht<br />

Ausbildung Beschäftigten. Mit dem Begriff der Arbeiter und Angestellten wird der Begriff des Arbeitnehmers<br />

indes nicht definiert. Vielmehr gilt die allgemeine Arbeitnehmerdefinition (vgl. § 611a Abs. 1<br />

BGB). Daneben steht gem. § 2 S. 2 BUrlG auch arbeitnehmerähnlichen Personen ein gesetzlicher<br />

Mindesturlaubsanspruch zu; ausgenommen hiervon sind nach § 2 S. 2 Hs. 2 BUrlG Heimarbeiter, die<br />

zwar auch arbeitnehmerähnliche Personen sind, für die der Gesetzgeber aber eine Spezialregelung in<br />

§ 12 BUrlG getroffen hat.<br />

Hinweis:<br />

Da der Urlaub auf Freistellung von der höchstpersönlich zu erbringenden Arbeitsleistung gerichtet ist, ist<br />

der Urlaubsanspruch nicht vererblich (BAG NZA 2012, 326; zur Vererblichkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs<br />

s. unten II. 9. a).<br />

b) Erfüllung der Wartezeit<br />

Der volle Urlaubsanspruch wird erst nach einem sechsmonatigen Bestehen des Arbeitsverhältnisses<br />

erworben, § 4 BUrlG. Die Wartezeit beginnt regelmäßig mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme<br />

und berechnet sich nach den §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 BGB. Mit Ablauf der Wartezeit entsteht der volle<br />

Urlaubsanspruch für das gesamte Urlaubsjahr und nicht etwa nur für die bis dahin abgelaufenen sechs<br />

Monate. Das Entstehen des Urlaubsanspruchs ist nicht von einem im Einzelfall festzustellenden<br />

„Erholungsbedürfnis“ des Arbeitnehmers abhängig. Der Urlaubsanspruch entsteht daher auch dann,<br />

wenn der Arbeitnehmer nicht arbeitet (BAG NZA 2012, 12<strong>16</strong>, 12<strong>17</strong>). Aus § 13 Abs. 1 BUrlG folgt, dass die<br />

Wartezeit nur tarifvertraglich zuungunsten der Arbeitnehmer verlängert werden kann.<br />

c) Teilurlaub vor Ablauf der Wartezeit<br />

Vor Ablauf der Wartezeit kann dem Arbeitnehmer unter den besonderen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1<br />

lit. a oder lit. b BUrlG nur ein Anspruch auf Teilurlaub zustehen. Danach hat der Arbeitnehmer Anspruch<br />

auf 1 / 12 des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses:<br />

1. für Zeiten eines Kalenderjahres, für die er wegen Nichterfüllung der Wartezeit keinen vollen<br />

Urlaubsanspruch erwirbt.<br />

Das ist der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers am 1.7. eines Kalenderjahres oder<br />

später beginnt. In diesem Fall kann die sechsmonatige Wartezeit bis zum Ablauf des Kalenderjahres<br />

nicht mehr erfüllt werden.<br />

2. wenn er vor Erfüllung der Wartezeit ausscheidet.<br />

Das ist der Fall, wenn bereits absehbar ist, dass das Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Wartezeit enden<br />

(z.B. aufgrund einer Befristung) oder das unbefristete Arbeitsverhältnis innerhalb der Probe-/<br />

Wartezeit vorzeitig beendet wird.<br />

d) Entstehungszeitpunkt<br />

Der erstmalige volle Urlaubsanspruch entsteht nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit. Danach<br />

entsteht der volle Urlaubsanspruch immer am jeweiligen Jahresbeginn (vgl. BAG AP BUrlG § 3<br />

Rechtsmissbrauch Nr. <strong>17</strong>).<br />

e) Fälligkeit<br />

Die Fälligkeit des Urlaubsanspruchs richtet sich mangels anderweitiger Regelung nach § 271 Abs. 1 BGB. Der<br />

Arbeitnehmer kann seinen Urlaubsanspruch daher sofort nach seinem Entstehen verlangen. Im ersten<br />

Beschäftigungsjahr kann der Arbeitnehmer seinen vollen Urlaubsanspruch also nach Ablauf der sechsmonatigen<br />

Wartezeit verlangen. Ist die Wartezeit abgelaufen, kann der Arbeitnehmer in allen folgenden<br />

Kalenderjahren den für das jeweilige Kalenderjahr entstehenden Urlaubsanspruch am 1. Arbeitstag des<br />

jeweiligen Kalenderjahres geltend machen (ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 1 BUrlG Rn 21). Erwirbt der<br />

Arbeitnehmer einen Teilurlaubsanspruch nach § 5 Abs. 1 lit. a BUrlG, weil er in seinem 1. Beschäftigungsjahr<br />

bis zum Ablauf des Kalenderjahres die sechsmonatige Wartezeit nicht mehr erfüllen kann, wird der<br />

Teilurlaubsanspruch mit Ablauf des ersten vollen Monats des Bestehens des Arbeitsverhältnisses fällig.<br />

874 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1257<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

2. Ausschluss von Doppelansprüchen nach Arbeitgeberwechsel<br />

Um nach einem Arbeitgeberwechsel doppelte Urlaubsansprüche in einem Kalenderjahr auszuschließen,<br />

bestimmt § 6 Abs. 1 BUrlG, dass ein Urlaubsanspruch nicht besteht, soweit dem Arbeitnehmer für das<br />

laufende Kalenderjahr bereits von einem früheren Arbeitgeber Urlaub gewährt worden ist. Es genügt<br />

allerdings nicht, dass dem Arbeitnehmer gegen den früheren Arbeitgeber nur ein Anspruch auf Urlaub<br />

zustand (BAG NZA 2015, 827, 830). § 6 Abs. 1 BUrlG enthält eine negative Anspruchsvoraussetzung.<br />

Hinweis:<br />

Es gelten die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast. Es obliegt zunächst dem Arbeitnehmer<br />

vorzutragen, dass die Voraussetzungen, unter denen § 6 Abs. 1 BUrlG eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen<br />

vorsieht, nicht vorliegen. Bestreitet der Arbeitgeber den Vortrag des Arbeitnehmers (ggf. mit<br />

Nichtwissen), hat der Arbeitnehmer seine Darlegungen zu substantiieren. Stellt der Arbeitgeber den Vortrag<br />

des Arbeitnehmers in Abrede, hat der Arbeitnehmer für seine Angaben Beweis anzubieten. Neben anderen<br />

Beweismitteln kommt insbesondere die Urlaubsbescheinigung gem. § 6 Abs. 2 BUrlG, die der alte Arbeitgeber<br />

bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitnehmer unaufgefordert auszustellen hat, in Betracht. Legt<br />

der Arbeitnehmer eine solche vor, obliegt es dem Arbeitgeber, den besonderen Beweiswert dieser Bescheinigung<br />

durch konkreten Sachvortrag zu erschüttern (BAG NZA 2015, 827, 830 f.).<br />

3. Urlaubsdauer<br />

a) Grundsatz: Vier Wochen Mindesturlaub pro Kalenderjahr<br />

Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beträgt der Urlaub jährlich mindestens 24 Werktage. Als Werktage gelten alle<br />

Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage sind, § 3 Abs. 2 BUrlG. Der Gesetzgeber geht<br />

damit von einer sog. Sechs-Tage-Woche aus. Arbeitet der Arbeitnehmer an mehr oder weniger als an<br />

sechs Tagen in der Woche, erhöht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch daher entsprechend. Bei<br />

einer Verteilung der Arbeitszeit auf fünf Tage in der Woche ergibt sich etwa ein Urlaubsanspruch von<br />

20 Tagen (24/6 × 5 = 20). Im Ergebnis verfügt damit jeder Arbeitnehmer über einen gleich langen Urlaub<br />

von vier Wochen (BAG NZA 2001, 1254, 1256). Dies entspricht auch der europarechtlichen Vorgabe zum<br />

Mindestjahresurlaub in der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Ergeben sich bei der Umrechnung<br />

Bruchteile von Urlaubstagen, ist der Mindestjahresurlaub weder ab- noch aufzurunden, sondern genau<br />

im ermittelten Umfang zu gewähren. Die für den Teilurlaub in § 5 Abs. 2 BUrlG geltende gesetzliche<br />

Aufrundungsregel ist nicht anwendbar, weil es sich hier um Bruchteile von Vollurlaubstagen handelt<br />

(BAG NZA 1995, <strong>17</strong>4, <strong>17</strong>5).<br />

Beispiel:<br />

Tarifvertraglich stehen den Arbeitnehmern bei Unternehmen U bei einer Fünf-Tage-Woche 26 Urlaubstage<br />

zu. Der Arbeitnehmer A arbeitet bei U in Teilzeit drei Tage pro Woche. Er hat demnach Anspruch auf 15,6<br />

Urlaubstage pro Kalenderjahr (26 Urlaubstage / 5 Tage x 3 Tage = 15,6). § 5 Abs. 2 BUrlG findet keine Anwendung.<br />

b) Berechnung bei unregelmäßig verteilter Arbeitszeit<br />

Ist die regelmäßige Arbeitszeit nicht gleichmäßig auf alle Kalenderwochen verteilt, ist auf den<br />

Zeitabschnitt abzustellen, in dem im Durchschnitt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit erreicht<br />

wird (BAG AP BUrlG § 3 Fünf-Tage-Woche Nr. 13).<br />

Beispiel:<br />

Der Arbeitnehmer arbeitet wöchentlich wechselnd drei und vier Tage die Woche, d.h. an sieben Tagen in<br />

zwei Wochen. Es kann daher ein Zeitabschnitt von zwei Wochen zugrunde gelegt werden. Sein gesetzlicher<br />

Urlaubsanspruch beträgt demnach 7/12 des Vollurlaubsanspruchs im Vergleich zu einer Sechs-Tage-Woche,<br />

d.h. 14 Urlaubstage pro Kalenderjahr (24/12 × 7).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 875


Fach <strong>17</strong>, Seite 1258<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Arbeitsrecht<br />

Wiederholt sich ein Arbeitsrhythmus innerhalb eines Jahres nicht, ist der Umrechnung die Jahresarbeitszeit<br />

zugrunde zu legen. Dabei ist grundsätzlich auf 312 Werktage im Kalenderjahr abzustellen. Dies folgt aus § 11<br />

Abs. 1 S. 1 BUrlG, der (abweichend von § 191 BGB) ein Vierteljahr mit 13 Wochen, ein Jahr demnach mit 52<br />

Wochen und 364 Tagen bemisst (vgl. BAG AP BGB § 611 Arbeitnehmerähnlichkeit Nr. 12). Knüpft etwa eine<br />

tarifvertraglich vereinbarte Urlaubsdauer nicht an eine Sechs-, sondern an eine Fünf-Tage-Woche an, sind<br />

demnach 260 Arbeitstage zugrunde zu legen (52 Wochen x 5 Arbeitstage = 260 Arbeitstage).<br />

Zwei Kalendertage überlappende Arbeitsschichten gelten als ein Arbeitstag. Sonn- und Feiertage, an<br />

denen eine Arbeitspflicht besteht, werden wie Werktage berücksichtigt. Dem steht die in § 3 Abs. 2<br />

BUrlG getroffene Definition der Werktage als Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage<br />

sind, nicht entgegen, da hiermit nur der gesetzliche Freistellungszeitraum gesichert werden soll (BAG AP<br />

BGB § 611 Arbeitnehmerähnlichkeit Nr. 12). Da an Freischichttagen keine Arbeitspflicht besteht, bleiben<br />

diese bei der Berechnung der Arbeitstage wiederum außer Betracht (BAG NZA 1997, 555 f.).<br />

c) Teilzeitarbeit<br />

Da der Urlaub in Tagen und nicht in Stunden bemessen wird, kommt es auf die pro Tag geleisteten<br />

Arbeitsstunden nicht an. Keine Unterschiede in der Berechnung der Urlaubstage ergeben sich daher,<br />

wenn ein Arbeitnehmer bei gleichbleibender Anzahl von Arbeitstagen in Voll- oder Teilzeit arbeitet.<br />

Beispiel:<br />

Der Arbeitnehmer, der bisher montags bis freitags in Vollzeit gearbeitet hat, arbeitet künftig nur noch<br />

halbtags. Da die Anzahl der Arbeitstage gleich bleibt, ändert sich die Anzahl der dem Arbeitnehmer zustehenden<br />

Urlaubstage nicht.<br />

d) Umrechnung bei Reduzierung der Arbeitstage<br />

Bei einem Wechsel von einer Vollzeit- zu einer Teilzeitbeschäftigung mit damit verbundener<br />

Reduzierung der Arbeitstage ist der Urlaubsanspruch hingegen zeitratierlich zu berechnen: Die<br />

während der Vollzeitbeschäftigung erworbenen Urlaubstage bleiben zeitratierlich in vollem Umfang<br />

erhalten und können nach dem Wechsel in Teilzeit nicht gekürzt werden (BAG NZA 2015, 1005 ff. unter<br />

Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung, nach der die Urlaubstage nach einer Verringerung der Anzahl<br />

der Arbeitstage umzurechnen waren).<br />

Beispiel (nach BAG NZA 2015, 1005 ff.):<br />

Der Arbeitgeber gewährt seinen Arbeitnehmern bei einer Fünf-Tage-Woche 30 Tage Urlaub (= sechs Wochen<br />

Urlaub). Der Arbeitnehmer arbeitet in der ersten Jahreshälfte Vollzeit in einer Fünf-Tage-Woche. In<br />

der zweiten Jahreshälfte wechselt der Arbeitnehmer in Teilzeit und arbeitet nur noch an vier Tagen in der<br />

Woche.<br />

Der Arbeitnehmer hat in der ersten Jahreshälfte demnach zeitratierlich 15 Urlaubstage erworben (30 Urlaubstage<br />

pro Jahr geteilt durch 2). In der zweiten Jahreshälfte hat der Arbeitnehmer wegen seiner Vier-Tage-<br />

Woche zeitratierlich weitere 12 Urlaubstage erworben (30 Urlaubstage pro Jahr geteilt durch 5 (Tage/Woche) x<br />

4 (Tage/Woche) geteilt durch 2 = 12). Dem Arbeitnehmer stehen daher (15 + 12 =) 27 Urlaubstage zu.<br />

Sofern der Arbeitnehmer in der ersten Jahreshälfte noch keinen Urlaub genommen hat, stünden ihm in<br />

dieser Konstellation aufgrund des Wechsels in eine Vier-Tage-Woche effektiv mehr als sechs Wochen<br />

Erholungserlaub zu.<br />

e) Umrechnung bei Erhöhung der Arbeitstage<br />

Hat ein Arbeitnehmer bisher in Teilzeit gearbeitet und wechselt er nunmehr unter Erhöhung der<br />

Arbeitstage in Vollzeit, findet ebenfalls eine zeitratierliche Nachberechnung statt (EuGH NZA 2015, 1501 ff.).<br />

Beispiel:<br />

Der Arbeitgeber gewährt seinen Arbeitnehmern bei einer Fünf-Tage-Woche den gesetzlichen Mindesturlaub<br />

von 20 Tagen (= vier Wochen Urlaub). Der Arbeitnehmer arbeitet in der ersten Jahreshälfte Teilzeit<br />

876 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1259<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

an vier Tagen in der Woche. In der zweiten Jahreshälfte wechselt der Arbeitnehmer in Vollzeit und arbeitet<br />

somit an fünf Tagen in der Woche.<br />

Der Arbeitnehmer hat in der ersten Jahreshälfte demnach zeitratierlich 8 Urlaubstage erworben (20 Urlaubstage<br />

pro Jahr geteilt durch 5 (Tage/Woche) x 4 (Tage/Woche) geteilt durch 2). In der zweiten Jahreshälfte<br />

erwirbt der Arbeitnehmer zeitratierlich 10 Urlaubstage (20 Urlaubstage pro Jahr geteilt durch 2).<br />

Dem Arbeitnehmer stehen insgesamt mithin (8 + 10 =) 18 Urlaubstage zu.<br />

Sofern der Arbeitnehmer in der ersten Jahreshälfte noch keinen Urlaub genommen hat, stünden ihm in<br />

dieser Konstellation aufgrund des Wechsels in eine Fünf-Tage-Woche effektiv weniger als vier Wochen<br />

Erholungserlaub zu.<br />

4. Teilurlaub<br />

In den Fällen des § 5 Abs. 1 BUrlG hat der Arbeitnehmer lediglich Anspruch auf ein Zwölftel des<br />

Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Dies betrifft die Fälle:<br />

1. für Zeiten eines Kalenderjahres, für die ein Arbeitnehmer wegen Nichterfüllung der Wartezeit in<br />

diesem Kalenderjahr keinen vollen Urlaubsanspruch erwirbt;<br />

2. wenn der Arbeitnehmer vor erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet sowie<br />

3. wenn der Arbeitnehmer nach erfüllter Wartezeit in der ersten Hälfte eines Kalenderjahres aus dem<br />

Arbeitsverhältnis ausscheidet.<br />

Im Unterschied zu Nr. 1 und 2 (s. hierzu bereits oben II. 1. c) regelt § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG keinen Anspruch<br />

auf Teilurlaub, sondern einen gekürzten Vollurlaubsanspruch. Denn anders als in den ersten beiden<br />

Fällen hatte der Arbeitnehmer in Nr. 3 zu Jahresbeginn bereits einen Vollurlaubsanspruch erworben, der<br />

nachträglich gekürzt wird, wenn der Arbeitnehmer bis zum 30.6. eines Kalenderjahres aus dem<br />

Arbeitsverhältnis ausscheidet.<br />

Für alle Fälle des Teilurlaubs ordnet § 5 Abs. 2 BUrlG an, dass sich aufgrund der zeitanteiligen Umrechnung<br />

ergebende Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, auf volle Urlaubstage<br />

aufzurunden sind.<br />

Beispiel:<br />

Das am 1.1.20<strong>16</strong> begonnene Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers wird zum Ablauf des 30.6.20<strong>17</strong> gekündigt.<br />

Dem Arbeitnehmer steht ein vereinbarter Jahresurlaub von 27 Tagen zu. Der Urlaubsanspruch<br />

für das Kalenderjahr 20<strong>17</strong> ist am 1.1.20<strong>17</strong> in voller Höhe entstanden. Aufgrund der vorzeitigen Beendigung<br />

des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.20<strong>17</strong> ist der Vollanspruch nach § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG um 6 / 12 ( 1 / 2 )zu<br />

kürzen und beträgt demnach 13,5 Urlaubstage. Wegen der Aufrundungsregel in § 5 Abs. 2 BUrlG erhöhen<br />

sich die Urlaubstage auf 14 Tage.<br />

Bruchteile von Urlaubstagen, die nicht nach § 5 Abs. 2 BUrlG aufgerundet werden müssen, sind<br />

entsprechend ihrem Umfang dem Arbeitnehmer durch Befreiung von der Arbeitspflicht zu gewähren<br />

(BAG NZA 1989, 756 ff.).<br />

Beispiel:<br />

Das am 1.1.20<strong>17</strong> unbefristet eingegangene Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers wird vorzeitig zum Ablauf des<br />

28.2.20<strong>17</strong> gekündigt. Vereinbart ist nur der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Tagen bei einer Fünf-Tage-Woche.<br />

Wegen Nichterfüllung der sechsmonatigen Wartezeit erwirbt der Arbeitnehmer nur einen Teilurlaubsanspruch<br />

nach § 5 Abs. 1 lit. b BUrlG i.H.v. 2 / 12 ( 1 / 6 ) des Jahresurlaubs. Dies entspricht 3,33 Urlaubstagen, die exakt in diesem<br />

Umfang vom Arbeitgeber zu gewähren (bzw. nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten) sind.<br />

Hat der Arbeitnehmer im Falle des § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG bereits Urlaub über den ihm zustehenden<br />

Umfang hinaus erhalten, so kann der Arbeitgeber das dafür gezahlte Urlaubsentgelt nicht zurückfordern,<br />

§ 5 Abs. 3 BUrlG. Es handelt sich um eine Sondervorschrift zum Bereicherungsrecht, die es dem<br />

Arbeitnehmer erspart, der Forderung des Arbeitgebers mit dem Einwand der Entreicherung begegnen<br />

zu müssen (BAG AP BUrlG § 5 Nr. 19).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 877


Fach <strong>17</strong>, Seite 1260<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Arbeitsrecht<br />

Hinweis:<br />

Kein Fall des § 5 Abs. 3 BUrlG liegt vor, wenn das Urlaubsentgelt vor Inanspruchnahme des Urlaubs, der auch<br />

nicht mehr angetreten wird, ausgezahlt wird. In diesem Fall kann der Arbeitgeber das gezahlte Urlaubsentgelt<br />

aufgrund des nachträglich weggefallenen Rechtsgrunds nach den §§ 812 ff. BGB kondizieren (vgl. BAG AP<br />

BUrlG § 5 Nr. 19).<br />

Genauso kann der Arbeitgeber – solange der Arbeitnehmer seinen Urlaub noch nicht angetreten hat –<br />

die nachträglich nicht mehr durch den Urlaubsanspruch gedeckte Freistellungserklärung mit der Folge<br />

kondizieren, dass der Arbeitnehmer entgegen seinen ursprünglichen Wünschen zur Arbeit verpflichtet<br />

ist und dafür das geschuldete Entgelt erhält (BAG NZA 1997, 265, 266). Nach § 13 Abs. 2 S. 1, 3 BUrlG<br />

können die Tarifvertragsparteien zuungunsten des Arbeitnehmers von dem Rückzahlungsverbot<br />

abweichen (BAG AP BUrlG § 5 Nr. 10).<br />

5. Gesetzliche Kürzungsmöglichkeiten<br />

In bestimmten Sonderfällen stehen dem Arbeitgeber Möglichkeiten zur Kürzung des Urlaubsanspruchs zu:<br />

• § <strong>17</strong> Abs. 1 BEEG regelt die Kürzungsmöglichkeit für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um 1 / 12<br />

(gilt nicht bei Elternzeit in Teilzeit).<br />

• § 4 Abs. 1 ArbPlSchG regelt die Kürzungsmöglichkeit für jeden vollen Kalendermonat, in dem der<br />

Arbeitnehmer Wehrdienst leistet.<br />

Ausfallzeiten wegen mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote zählen hingegen als Beschäftigungszeiten,<br />

so dass in diesem Fall keine Kürzungsmöglichkeit besteht, vgl. § <strong>17</strong> S. 1 MuSchG.<br />

6. Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs<br />

a) Grundsatz<br />

Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss der Urlaub im laufenden Kalenderjahr und im Fall seiner Übertragung in das<br />

nächste Kalenderjahr in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und<br />

genommen werden. Danach erlischt er (BAG NZA 2012, 12<strong>16</strong>, 1219).<br />

Hinweis:<br />

Die gesetzlichen Sonderregelungen in § <strong>17</strong> S. 2 MuSchG und § <strong>17</strong> Abs. 2 BEEG bestimmen abweichend von<br />

§ 7 Abs. 3 BUrlG, dass der Urlaub nicht im laufenden Jahr gewährt und genommen werden muss, sondern<br />

auch im Folgejahr genommen werden kann. Dies ist dann das für das Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG<br />

maßgebliche Urlaubsjahr (BAG NZA 20<strong>16</strong>, 433 ff.).<br />

Eine Übertragung des Urlaubs bis zum 31.3. des Folgejahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche<br />

oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG.<br />

Ist dies nicht der Fall und war der Arbeitnehmer in der Lage, seinen Urlaub im Urlaubsjahr zu nehmen,<br />

geht sein Anspruch auf Erholungsurlaub am Ende des Urlaubsjahres unter. Dies gilt auch dann, wenn er<br />

von seinem Arbeitgeber rechtzeitig vor Ablauf des Urlaubsjahres die Gewährung des Urlaubs verlangt<br />

hatte. Allerdings führt dies nicht zu einem Verlust des Anspruchs auf bezahlte Freistellung von der<br />

Arbeitsleistung. Gewährt nämlich der Arbeitgeber trotz eines rechtzeitigen Urlaubsantrags des<br />

Arbeitnehmers diesem keinen Urlaub, tritt an die Stelle des verfallenen Urlaubsanspruchs ein<br />

Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers auf Gewährung von Ersatzurlaub. Der Arbeitnehmer hat<br />

dann Anspruch darauf, dass ihm der Ersatzurlaub im Umfang des verfallenen Urlaubs gewährt wird<br />

(BAG NZA 20<strong>17</strong>, 271, 272; das Bundesarbeitsgericht hat die Frage der Vereinbarkeit dieser Gesetzeslage<br />

mit der Arbeitszeitrichtlinie dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt).<br />

b) Abweichende Rechtslage bei Arbeitsunfähigkeit<br />

Aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG ist § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtskonform<br />

dahingehend auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht vor Ablauf von 15 Monaten nach dem<br />

878 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1261<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des<br />

Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. In diesen Fällen geht der gesetzliche<br />

Urlaubsanspruch daher erst mit Ablauf des 31.3. des zweiten Folgejahres unter (BAG NZA 2012, 12<strong>16</strong>, 1221).<br />

Geht der aus dem Vorjahr übertragene Urlaubsanspruch nach Ablauf des Übertragungszeitraums nicht<br />

unter, weil der Arbeitnehmer wegen andauernder krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit gehindert war,<br />

den Urlaub in Anspruch zu nehmen, teilt er das rechtliche Schicksal des Urlaubsanspruchs, den der<br />

Arbeitnehmer zu Beginn des neuen Urlaubsjahres erworben hat. Der Arbeitnehmer, der nach seiner<br />

Genesung an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, muss deshalb seinen übertragenen Urlaubsanspruch<br />

genauso wie seinen im neuen Kalenderjahr erworbenen Urlaubsanspruch bis zum Ende des Kalenderjahres<br />

bzw. des Übertragungszeitraums geltend machen, damit sie nicht erlöschen (BAG NZA 2012, 29 ff.).<br />

7. Gewährung des Urlaubsanspruchs<br />

a) Unwiderrufliche Freistellungserklärung des Arbeitgebers<br />

Urlaubsgewährung ist nach § 7 Abs. 1 BUrlG die Befreiung von der Arbeitspflicht für einen bestimmten<br />

zukünftigen Zeitraum. Die Freistellung zum Zwecke der Gewährung von Erholungsurlaub erfolgt durch<br />

einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung des Arbeitgebers, die als solche mit Zugang beim<br />

Arbeitnehmer nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam wird (BAG NZA 2011, 1032, 1033). Die Erfüllung eines<br />

Anspruchs auf Erholungsurlaub setzt voraus, dass der Arbeitnehmer im Voraus durch eine<br />

unwiderrufliche Freistellungserklärung des Arbeitgebers zu Erholungszwecken von seiner sonst<br />

bestehenden Arbeitspflicht befreit wird (BAG AP BUrlG § 7 Nr. 65). Eine nachträgliche Urlaubsgewährung<br />

scheidet aus (BAG NZA 1995, 591).<br />

Hinweis:<br />

Eine eigenmächtige Selbstbeurlaubung durch den Arbeitnehmer sieht das BUrlG nicht vor. Bleibt ein<br />

Arbeitnehmer eigenmächtig der Arbeit fern, etwa weil er sich nach einem abgelehnten Urlaubsantrag<br />

selbst beurlaubt hat, stellt dies sogar einen an sich wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung<br />

dar (BAG NZA 1998, 708, 709 f.).<br />

Der Arbeitgeber kann den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers auch dadurch erfüllen, dass er dem<br />

Arbeitnehmer das Recht einräumt, die konkrete Lage des Urlaubs innerhalb eines bestimmten<br />

Zeitraums selbst zu bestimmen. Ist der Arbeitnehmer damit nicht einverstanden, weil er ein<br />

Annahmeverweigerungsrecht geltend macht, hat er dies dem Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen.<br />

Unterbleibt eine solche Mitteilung, kann der Arbeitgeber davon ausgehen, der Arbeitnehmer lege die<br />

Urlaubszeit innerhalb des bestimmten Zeitraums selbst fest (BAG NZA 2007, 36, 38).<br />

Bei einer vorsorglichen Freistellungserklärung in einem Kündigungsschreiben für den Fall, dass die<br />

erklärte außerordentliche oder ordentliche Kündigung unwirksam ist, liegt eine wirksame Urlaubsgewährung<br />

ferner nur vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zugleich die Urlaubsvergütung vor<br />

Antritt des Urlaubs zahlt oder vorbehaltlos zusagt (BAG NZA 2015, 998, 999).<br />

b) Berücksichtigung der Urlaubswünsche des Arbeitnehmers<br />

Damit der Urlaubsanspruch nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt, trifft den Arbeitnehmer die Obliegenheit,<br />

seine Urlaubswünsche gegenüber dem Arbeitgeber rechtzeitig geltend zu machen. Dabei ist der<br />

Arbeitnehmer berechtigt, einen jahresübergreifenden Urlaub zu wünschen, indem er im laufenden<br />

Urlaubsjahr neben dem aus diesem Jahr resultierenden Urlaub auch bereits den Urlaub aus dem<br />

Folgejahr beantragt (BAG NZA 2011, 1032, 1033). Der Arbeitgeber ist umgekehrt als Schuldner des<br />

Urlaubsanspruchs verpflichtet, nach § 7 Abs. 1 Hs. 1 BUrlG die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu<br />

berücksichtigen und daher den Urlaub für den vom Arbeitnehmer angegebenen Termin festzusetzen,<br />

jedenfalls dann, wenn die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Hs. 2 BUrlG nicht gegeben sind.<br />

Hinweis:<br />

Ein Recht des Arbeitgebers zur beliebigen Urlaubserteilung im Urlaubsjahr oder zur Erteilung des Urlaubs<br />

nach billigem Ermessen besteht nicht (BAG NZA 1987, 379).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 879


Fach <strong>17</strong>, Seite 1262<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Arbeitsrecht<br />

c) Dem Urlaubswunsch entgegenstehende Gründe<br />

Der Arbeitgeber muss die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers nicht berücksichtigen, wenn dringende<br />

betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den<br />

Vorrang verdienen, dem entgegenstehen, § 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BUrlG. Ihm steht in diesem Fall ein<br />

Leistungsverweigerungsrecht zu. Dringende betriebliche Belange im Sinne dieser Vorschrift sind solche<br />

Umstände, die in der betrieblichen Organisation, im technischen Arbeitsablauf, der Auftragslage und<br />

ähnlichen Umständen ihren Grund haben (BAG AP BetrVG 1972 § 87 Urlaub Nr. 2). In der Praxis werden dies<br />

i.d.R. saison- oder krankheitsbedingte Personalengpässe sein (vgl. SCHAUB/LINCK, <strong>16</strong>.Aufl. 2015, § 104 Rn 79).<br />

Daneben können auch Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer einer Urlaubsgewährung durch den<br />

Arbeitgeber entgegenstehen. Die hierbei zu berücksichtigenden sozialen Gesichtspunkte können verschiedenartig<br />

sein, etwa die Urlaubsmöglichkeiten des Partners und der Kinder (Stichwort: Schulferien), eine<br />

bisherige Urlaubsgewährung in besonders beliebten Zeiten, Alter und Betriebszugehörigkeit, erstmaliger<br />

oder wiederholter Urlaub in dem Kalenderjahr oder die Erholungsbedürftigkeit der anderen Arbeitnehmer<br />

z.B. wegen intensiver Arbeiten oder Erkrankung (nach ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 7 BUrlG Rn 19).<br />

d) Pflicht zur Gewährung von „Schonungsurlaub“<br />

Verlangt der Arbeitnehmer im unmittelbaren Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen<br />

Vorsorge oder Rehabilitation (früher Kuren oder Heilverfahren genannt) Urlaub, ist der Arbeitgeber<br />

nach § 7 Abs. 1 S. 2 BUrlG verpflichtet, den Urlaub zu gewähren. Ein Leistungsverweigerungsrecht nach<br />

§ 7 Abs. 1 S. 1 BGB steht dem Arbeitgeber nicht zu (ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 7 BUrlG Rn 20).<br />

e) Urlaubserteilung ohne Äußerung von Urlaubswünschen<br />

Der Arbeitgeber ist nach § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG ohne zuvor geäußerten Urlaubswunsch nicht dazu verpflichtet,<br />

den Arbeitnehmer anzuhören oder seine Urlaubswünsche zu erfragen. Ein dem Arbeitgeber mitgeteilter<br />

Urlaubswunsch ist nicht Voraussetzung des Rechts des Arbeitgebers, die zeitliche Lage des Urlaubs<br />

festzulegen. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG hat der Arbeitgeber die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers bei der<br />

Urlaubserteilung dennoch zu berücksichtigen. Die ohne einen solchen Wunsch des Arbeitnehmers erfolgte<br />

zeitliche Festlegung des Urlaubs durch den Arbeitgeber ist rechtswirksam, wenn der Arbeitnehmer auf<br />

die Erklärung des Arbeitgebers hin keinen anderweitigen Urlaubswunsch äußert (BAG NZA 2009, 538, 540).<br />

Äußert der Arbeitnehmer keine (abweichenden) Urlaubswünsche, kann der Arbeitgeber die Freistellung<br />

auch im Vorgriff auf das kommende Urlaubsjahr erklären und dem Arbeitnehmer jahresübergreifend<br />

Erholungsurlaub gewähren (BAG NZA 2011, 1032, 1033). In betriebsratslosen Betrieben kann der<br />

Arbeitgeber ferner Betriebsferien kraft Direktionsrecht anordnen (LAG Düsseldorf LAGE § 7 BUrlG Nr. 40;<br />

LAG Rheinland-Pfalz BeckRS 2012, 74686). In Betrieben mit Betriebsrat ist die Einführung von Betriebsferien<br />

nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG mitbestimmungspflichtig (BAG NZA 1988, 889, 890).<br />

f) Gebot des zusammenhängenden Urlaubs<br />

Bei der Urlaubsgewährung ist zu beachten, dass der gesetzliche Urlaub zusammenhängend zu gewähren<br />

ist, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende<br />

Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen, § 7 Abs. 2 S. 1 BUrlG. Hinsichtlich der betrieblichen<br />

Gründe gelten dieselben Grundsätze wie bei § 7 Abs. 1 Hs. 2 BUrlG (s. oben unter c). Liegt ein<br />

Teilungsgrund vor und hat der Arbeitnehmer noch Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen,<br />

so muss einer der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfolgende Werktage umfassen, § 7 Abs. 2 S. 2<br />

BUrlG. Das Gebot des zusammenhängenden Urlaubs wird in der Praxis regelmäßig missachtet. Ein<br />

Verstoß hat grundsätzlich zur Folge, dass der Urlaubsanspruch nicht rechtswirksam erfüllt wird (BAG<br />

NJW 1965, 2<strong>17</strong>4 f.; vgl. auch LAG Düsseldorf LAGE § 7 BUrlG Nr. 41).<br />

g) Erteilung und Erfüllbarkeit<br />

Hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer freigestellt, also die Leistungszeit bestimmt, in der der<br />

Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers i.S.v. § 362 Abs. 1 BGB erfüllt werden soll, und das dem<br />

Arbeitnehmer mitgeteilt, hat der Arbeitgeber als Schuldner des Urlaubs die für die Erfüllung dieses<br />

Anspruchs erforderliche Leistungs- bzw. Erfüllungshandlung i.S.v. § 7 Abs. 1 BUrlG vorgenommen (BAG<br />

NZA 2001, 100, 101 f.).<br />

880 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1263<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Hinweis:<br />

An die einmal erklärte Freistellung ist der Arbeitgeber gebunden; er kann den Arbeitnehmer nicht mehr aus<br />

dem Urlaub zurückrufen. Eine Vereinbarung, in der sich der Arbeitnehmer gleichwohl verpflichtet, den Urlaub<br />

abzubrechen und die Arbeit wieder aufzunehmen, verstößt gegen § 13 Abs. 1 BUrlG und ist rechtsunwirksam<br />

(BAG NZA 2001, 100, 101 f.).<br />

Die Erfüllbarkeit des gesetzlichen Urlaubsanspruchs hängt allerdings von dem Bestehen einer im<br />

Freistellungszeitraum ansonsten bestehenden Arbeitspflicht ab: Wer etwa arbeitsunfähig krank ist,<br />

kann durch Urlaubserteilung von seiner Arbeitspflicht nicht mehr befreit werden (BAG AP BUrlG § 7<br />

Nr. 72). Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, so werden ferner die durch ärztliches Zeugnis<br />

nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet, § 9 BUrlG.<br />

Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer bereits vor Urlaubsantritt arbeitsunfähig erkrankt. In diesen Fällen<br />

kann der Arbeitnehmer die Erfüllung seines Urlaubsanspruchs innerhalb der gesetzlichen oder<br />

tariflichen Befristung nachfordern (BAG NZA 1989, 137).<br />

Ebenso wenig kann der Urlaubsanspruch in einer Zeit erfüllt werden, in der der Arbeitnehmer an<br />

Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation teilnimmt, für deren Dauer der<br />

Arbeitnehmer bereits einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nach den gesetzlichen<br />

Vorschriften über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (EFZG) hat, vgl. § 10 BUrlG.<br />

8. Urlaubsentgelt<br />

a) Grundsätzliches<br />

Während des Urlaubszeitraums schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Fortzahlung des<br />

Arbeitsentgelts als Urlaubsentgelt nach § 11 BUrlG. Das Urlaubsentgelt ist zu unterscheiden von der<br />

Urlaubsabgeltung sowie vom Urlaubsgeld, das manche Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern als zusätzliche<br />

Vergütung zahlen. Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst,<br />

das der Arbeitnehmer in den letzten dreizehn Wochen vor dem Beginn des Urlaubs erhalten hat,<br />

mit Ausnahme des zusätzlich für Überstunden gezahlten Arbeitsverdienstes, § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG.<br />

b) Fälligkeit<br />

Nach § 11 Abs. 2 BUrlG ist das Urlaubsentgelt vor Urlaubsantritt auszuzahlen. Die Vorschrift, von der<br />

nach § 13 Abs. 1 BUrlG nur durch Tarifvertrag wirksam zuungunsten von Arbeitnehmern abgewichen<br />

werden kann, wird bisweilen in der Praxis regelmäßig ignoriert, indem das Urlaubsentgelt regelmäßig<br />

mit dem regulären Gehaltslauf (am Monatsende) zur Auszahlung kommt. Ein Verstoß gegen<br />

die Fälligkeitsregelung in § 11 Abs. 2 BUrlG hat jedoch auf die Wirksamkeit der Urlaubserteilung keinen<br />

Einfluss, sondern bedeutet nur, dass sich der Arbeitgeber in Verzug befindet, wenn er nicht<br />

vor Urlaubsantritt das für die Urlaubszeit weiter zu gewährende Entgelt auszahlt (BAG NZA 1987,<br />

633, 633).<br />

c) Keine Kürzung bei Verstoß gegen § 8 BUrlG<br />

§ 8 BUrlG regelt das Verbot, dass ein Arbeitnehmer während des Urlaubs keine dem Urlaubszweck<br />

widersprechende Erwerbstätigkeit leisten darf. Dem Arbeitnehmer wird mit dieser Regelung eine<br />

gesetzlich bedingte Pflicht aus seinem Arbeitsverhältnis auferlegt, während des Urlaubs jedenfalls<br />

urlaubszweckwidrige Tätigkeiten gegen Entgelt zu unterlassen, gleichgültig, ob sie in einem Arbeitsoder<br />

einem anderen Vertragsverhältnis ausgeübt werden (BAG NZA 1988, 607, 608).<br />

Ein Verstoß gegen § 8 BUrlG begründet jedoch weder ein Recht des Arbeitgebers, das Urlaubsentgelt im<br />

Umfang des gesetzlichen Urlaubsanspruchs aus diesem Anlass zu kürzen, noch entfällt damit der<br />

Anspruch auf Zahlung des Urlaubsentgelts (BAG NZA 1988, 607, 608). Bei Verstößen kommen für den<br />

Arbeitgeber „nur“ die Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs und arbeitsrechtlich insbesondere<br />

die Abmahnung oder ggf. die Kündigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 881


Fach <strong>17</strong>, Seite 1264<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Arbeitsrecht<br />

Hinweis:<br />

§ 8 BUrlG ist im Rahmen des gesetzlichen Mindesturlaubs nicht abdingbar, vgl. § 13 Abs. 1 BUrlG. Tarifvertragsparteien<br />

sind jedoch nicht gehindert, für einen tariflichen Mehrurlaubsanspruch den Wegfall des Entgeltanspruchs<br />

vorzusehen, wenn der Arbeitnehmer ohne Zustimmung des Arbeitgebers während des Urlaubs<br />

erwerbstätig wird (BAG NZA 1988, 607, 609).<br />

9. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />

a) Urlaubsabgeltungsanspruch<br />

Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt<br />

werden, so ist er nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung entsteht mit<br />

Beendigung des Arbeitsverhältnisses – anders als nach der inzwischen aufgegebenen Surrogationstheorie –<br />

als reiner Geldanspruch. Ist er entstanden, ist er nicht mehr Äquivalent zum Urlaubsanspruch, sondern bildet<br />

einen Teil des Vermögens des Arbeitnehmers und unterscheidet sich in rechtlicher Hinsicht nicht von anderen<br />

Zahlungsansprüchen des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber (BAG NZA 20<strong>16</strong>, 37, 39). Aus der Einordnung<br />

des Urlaubsabgeltungsanspruchs als reiner Geldanspruch folgt, dass dieser Anspruch weder von der<br />

Erfüllbarkeit oder Durchsetzbarkeit des Urlaubsanspruchs abhängt noch mit dem Tod des Arbeitnehmers<br />

untergeht. Vielmehr ist er vererbbar (BAG NZA 20<strong>16</strong>, 37, 39). Stirbt der Arbeitnehmer jedoch im laufenden<br />

Arbeitsverhältnis, geht der Urlaubsanspruch ohne Umwandlung in einen Abgeltungsanspruch unter, so<br />

dass ein Urlaubsabgeltungsanspruch auch nicht Teil der Erbmasse nach § 1929 Abs. 1 BGB werden kann.<br />

Hinweis:<br />

Ob gleichwohl aus der Arbeitszeitrichtlinie oder aus Art. 31 Abs. 2 GRC ein Anspruch der Erben auf finanziellen<br />

Ausgleich für den dem Arbeitnehmer vor seinem Tod zustehenden Mindestjahresurlaub zusteht, ist derzeit<br />

Gegenstand eines vom Bundesarbeitsgericht eingeleiteten Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof<br />

(BAG NZA 20<strong>17</strong>, 207 ff.).<br />

Während im laufenden Arbeitsverhältnis wegen § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG ein Verzicht des Arbeitnehmers auf<br />

Geltendmachung seines (künftigen) Urlaubsabgeltungsanspruchs rechtlich nicht möglich ist, ist ein nach<br />

Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschlossener Vergleich mit einer Ausgleichsklausel, der zufolge<br />

sämtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis „erledigt“ sind, wirksam (BAG NZA 2013, 1098, 1099).<br />

Der Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegt den im Einzelfall geltenden arbeitsvertraglichen und<br />

tariflichen Ausschlussfristen. Die Verjährung richtet sich nach §§ 195, 199 BGB und beträgt drei Jahre.<br />

b) Ausstellen einer Urlaubsbescheinigung<br />

Der Arbeitgeber ist nach § 6 Abs. 2 BUrlG verpflichtet, bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem<br />

Arbeitnehmer eine Bescheinigung über den im laufenden Kalenderjahr gewährten oder abgegoltenen<br />

Urlaub auszuhändigen. Die schriftlich auszustellende Bescheinigung ist vom Arbeitgeber unaufgefordert<br />

am letzten Arbeitstag (auf einer gesonderten Urkunde) zur Verfügung zu stellen (ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl.<br />

20<strong>17</strong>, § 6 BUrlG Rn 4 f.). Dem Arbeitgeber steht kein Zurückbehaltungsrecht zu. Legt der Arbeitnehmer<br />

seinem neuen Arbeitgeber keine Urlaubsbescheinigung vor, kann dieser die Erfüllung des bei ihm<br />

entstehenden Urlaubsanspruchs mit der Begründung des § 6 Abs. 1 BUrlG verweigern (s. oben II. 2.).<br />

III. Gesetzliche Urlaubsansprüche außerhalb des BUrlG<br />

Das BUrlG wurde im Laufe der Zeit durch weitere gesetzliche Vorschriften für besondere Arbeitnehmergruppen<br />

ergänzt. So haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen<br />

Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr, § 125 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Weitere Spezialvorschriften finden<br />

sich insbesondere in<br />

• § 19 JArbSchG, der den Urlaubsanspruch für Jugendliche degressiv nach Lebensalter staffelt (von 25<br />

bis zu 33 Urlaubstagen pro Kalenderjahr);<br />

882 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1265<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

• § 13 Abs. 1 BFDG, der das JArbSchG und das BUrlG für Tätigkeiten im Rahmen von Bundesfreiwilligendiensten<br />

für entsprechend anwendbar erklärt;<br />

• § <strong>16</strong>d Abs. 7 S. 2 Hs. 2 SGB II, der für sog. Ein-Euro-Jobber die entsprechende Anwendbarkeit des<br />

BUrlG mit Ausnahme der Regelungen über das Arbeitsentgelt regelt;<br />

• §§ 56 ff. SeeArbG, die für Besatzungsmitglieder spezielle Urlaubsregelungen unter ergänzender<br />

Anwendung des Bundesurlaubsgesetzes vorsehen (vgl. § 56 Abs. 2 SeeArbG).<br />

IV. Übergesetzlicher Urlaub<br />

Die Arbeitsvertrags-/Tarifvertragsparteien können – da arbeitnehmergünstig – Urlaubsansprüche, die über<br />

den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen sollen, frei regeln. Für einen Regelungswillen, der zwischen<br />

gesetzlichen und übergesetzlichen vertraglichen Ansprüchen unterscheidet, müssen jedoch deutliche<br />

Anhaltspunkte bestehen (BAG NZA 2009, 538 ff.; NZA 2011, 1050 ff.). Fehlen deutliche Anhaltspunkte, dass<br />

die Arbeits-/Tarifvertragsparteien für vereinbarten Mehrurlaub ein abweichendes Fristenregime vereinbart<br />

haben, ist von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf Mehrurlaub<br />

auszugehen (BAG NZA-RR 2015, 399, 401). Ein Gleichlauf ist hingegen nicht gewollt, wenn die Vertragsparteien<br />

entweder bei der Befristung und Übertragung bzw. beim Verfall des Urlaubs zwischen<br />

gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterschieden oder sich vom gesetzlichen<br />

Fristenregime gelöst und eigenständige, vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Regelungen zur Befristung<br />

und Übertragung bzw. zum Verfall des Urlaubsanspruchs getroffen haben (BAG NZA-RR 2015, 399, 401).<br />

Muster zur Regelung von Mehrurlaub:<br />

(nach KÜTTNER/RÖLLER, Personalbuch 20<strong>17</strong>, M 9.2):<br />

(1) Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf einen gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Werktagen<br />

(Arbeitstagen) pro Kalenderjahr. Der Arbeitgeber gewährt dem Arbeitnehmer zusätzlich zu dem gesetzlichen<br />

Mindesturlaub einen vertraglichen Urlaub von weiteren 10 Arbeitstagen.<br />

(2) Der Urlaub ist möglichst zusammenhängend zu nehmen. Bei der Gewährung von Urlaub wird zuerst<br />

der gesetzliche Urlaub eingebracht. Für den vertraglichen Urlaub gilt abweichend von dem gesetzlichen<br />

Mindesturlaub, dass der Urlaubsanspruch nach Ablauf des Übertragungszeitraumes auch dann verfällt,<br />

wenn er wegen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht genommen werden kann. Der gesetzliche<br />

Mindesturlaub verfällt in einem solchen Fall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres. (…)<br />

V. Bildungsurlaub<br />

Bildungsurlaub dient der Arbeitnehmerweiterbildung und ist eine besondere Form des bezahlten<br />

Urlaubs. Da der Bundesgesetzgeber den Bildungsurlaub im Bundesurlaubsgesetz nicht geregelt hat,<br />

haben bis auf Bayern und Sachsen die jeweiligen Bundesländer aufgrund der konkurrierenden<br />

Gesetzgebungsbefugnis (Art. 74 Nr. 12, Art. 72 Abs. 1 GG) jeweils eigene Gesetze zur Regelung von<br />

Bildungsurlaub geschaffen.<br />

Hinweis:<br />

Eine Übersicht der jeweiligen Regelungen der Bundesländer findet sich etwa bei KORTSTOCK, in: NIPPERDEY,<br />

Lexikon Arbeitsrecht, 30. Ed. 20<strong>16</strong>, Bildungsurlaub.<br />

VI. Unbezahlter Sonderurlaub<br />

Eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers, einem Arbeitnehmer unbezahlten Sonderurlaub zu<br />

gewähren, besteht nicht. Den Arbeits-/Tarifvertragsparteien steht es aber frei, sich außerhalb des<br />

Bundesurlaubsgesetzes auf einen unbezahlten Sonderurlaub zu einigen. Allerdings hat der Arbeitgeber<br />

zu beachten, dass die mit der Gewährung unbezahlten Urlaubs bewirkte Suspendierung der<br />

wechselseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis das Entstehen des gesetzlichen Urlaubs-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 883


Fach <strong>17</strong>, Seite 1266<br />

Grundzüge des Urlaubsrechts<br />

Arbeitsrecht<br />

anspruchs nicht hindert. Der Urlaubsanspruch nach dem BUrlG steht nicht unter der Bedingung, dass<br />

der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat (BAG NZA 2014, 959, 960 f.).<br />

VII. Prozessuales<br />

1. Leistungsklage<br />

Will der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch gerichtlich durchsetzen, kann er grundsätzlich<br />

Leistungsklage auf Erteilung von Urlaub in einem bestimmten Zeitraum erheben. Diese Leistungsklage<br />

ist auf Abgabe einer bestimmten Willenserklärung i.S.v. § 894 ZPO gerichtet, da der Arbeitgeber zur<br />

Erfüllung des Urlaubsanspruchs den Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht freizustellen hat. Häufig wird<br />

der vom Arbeitnehmer begehrte Urlaubszeitraum bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen<br />

Verfahrens jedoch bereits verstrichen sein. Dadurch wird die Leistungsklage unzulässig, weil sie auf eine<br />

inzwischen unmöglich gewordene Leistung gerichtet ist (BAG NZA 1987, 379, 379). Das Bundesarbeitsgericht<br />

erachtet jedoch auch solche Klagen, mit denen der Arbeitgeber zur Gewährung einer<br />

bestimmten Anzahl von Urlaubstagen ab einem in der Zukunft liegenden, nicht näher genannten<br />

Zeitpunkt verurteilt werden soll, als zulässig (BAG AP BUrlG § 7 Nr. 72). Bei einer solchen Leistungsklage<br />

ohne bestimmte Zeitangabe verzichtet der Arbeitnehmer jedoch auf sein Recht gem. § 7 Abs. 1 BUrlG,<br />

den Urlaub nach seinen Wünschen zeitlich festzulegen, da die Klage dahin auszulegen wäre, dass der<br />

Arbeitnehmer seinem beklagten Arbeitgeber die zeitliche Festlegung des Urlaubs überlassen wolle (BAG<br />

NZA 2011, 1050, 1051).<br />

2. Feststellungsklage<br />

Zulässig ist ferner die Erhebung einer Feststellungsklage bezüglich des Bestehens eines Urlaubsanspruchs<br />

aus einem in der Vergangenheit liegenden Urlaubsjahr. Stellt der Arbeitgeber den erhobenen<br />

Urlaubsanspruch in Abrede, besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Der<br />

Feststellungsklage steht nicht der Vorrang der Leistungsklage entgegen, da auch durch eine<br />

Feststellungsklage eine sachgemäße, einfache Erledigung der Streitpunkte zu erreichen ist und<br />

prozesswirtschaftliche Erwägungen gegen einen Zwang zur Leistungsklage sprechen (ausführlich<br />

dazu BAG NZA 2011, 1050, 1051).<br />

3. Einstweiliger Rechtsschutz<br />

Schließlich kann ein Arbeitnehmer unter den Voraussetzungen der §§ 935, 940 ZPO einen Antrag auf<br />

Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen, wenn der Arbeitgeber sich weigert, den vom Arbeitnehmer<br />

für einen bestimmten Zeitraum gewünschten Urlaub zu gewähren.<br />

VIII. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats<br />

Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bestehen nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG. Danach sind<br />

Mitbestimmungsrechte bei der Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans<br />

sowie bei der Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer gegeben, wenn<br />

zwischen dem Arbeitgeber und den beteiligten Arbeitnehmern kein Einverständnis erzielt wird (wegen<br />

der Einzelheiten s. etwa ErfK/KANIA, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 87 BetrVG Rn 42 ff.). Das Mitbestimmungsrecht<br />

bezieht sich nicht nur auf den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern auf jede Art von Urlaub.<br />

IX. Fazit<br />

Das deutsche Urlaubsrecht wird immer mehr durch europarechtliche Vorgaben dominiert. Das führt seit<br />

vielen Jahren dazu, dass sich das Bundesarbeitsgericht immer wieder mit Grundsatzfragen des<br />

Urlaubsrechts beschäftigen und mitunter seine bisherige Rechtsprechung abändern muss. Für die<br />

anwaltliche Praxis empfiehlt sich daher, stets auch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs im Auge<br />

zu behalten.<br />

884 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1113<br />

Kanzlei-Leitbild<br />

Anwaltsbüro<br />

Kanzlei-Leitbild: Erfolgreiche Weiterentwicklung und Marktpositionierung<br />

der Sozietät<br />

Von Dipl.-Psych. KATRIN VOLKMER-JÄGER, Achim<br />

Inhalt<br />

I. Braucht eine Kanzlei ein Leitbild?<br />

II. Funktionen oder Merkmale von Leitbildern<br />

1. Grundlage für die Identitätsfindung<br />

2. Steigerung der Mitarbeitermotivation<br />

3. Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft<br />

4. Klare Positionierung<br />

5. Hohe Mandantenorientierung<br />

6. Potenzielle Mandanten/Bewerber<br />

7. Vertrauensbildung<br />

III. Definition<br />

IV. Erstellen eines Leitbildes<br />

1. Visionen<br />

2. Bausteine<br />

3. Formulierungshinweise<br />

4. Dynamisches Leitbild<br />

V. Wertschätzende Leitbildinhalte<br />

VI. Auswirkungen auf die Kanzlei<br />

VII. Fazit<br />

I. Braucht eine Kanzlei ein Leitbild?<br />

Schon lange sind Leitbilder in Organisationen ein großes – wenn auch mitunter umstrittenes – Thema.<br />

Befürworter eines Leitbildes sehen darin eine Möglichkeit, organisationsintern eine gemeinsame<br />

Orientierung und Motivation zu schaffen. Ziele, Werte und Grundhaltungen werden definiert und<br />

schriftlich festgehalten. Extern vermittelt es einen positiven Einfluss auf die Darstellung und das Image<br />

einer Organisation. Kritiker von Leitbildern bemängeln, dass es sich dabei nur um eine Ansammlung<br />

formulierter Phrasen handele: „Meine Mitarbeiter halten sich sowieso nicht an das, was im Leitbild steht!“ oder:<br />

„Das sind alles nur leere Worthülsen, die gleich nach ihrer Entstehung wieder in der Schublade landen!“<br />

Lohnt sich also der Aufwand, ein Leitbild für die Kanzlei zu erstellen? Um es vorwegzunehmen: Ja.<br />

Insbesondere mittelständische und große Kanzleien sollten dieses Instrument nutzen, um sich mit<br />

einem klaren Konzept am Markt zu präsentieren. Aber auch kleine Kanzleien können davon profitieren,<br />

wenn sie sich einmal mit den Inhalten eines Leitbildes auseinandersetzen: Was sind die Kernkompetenzen<br />

der Kanzlei? Wo sind Stärken, wo Schwächen?<br />

Jede Fehlentscheidung im Kanzleialltag kostet Geld, Nerven und schlimmstenfalls auch Mandanten.<br />

Daher ist es wichtig, bei schwierigen Entscheidungen oder Konfliktsituationen auf ein kanzleiinternes<br />

Navigationssystem zurückgreifen zu können, das alle Kanzleimitglieder unterstützt und wegweisend ist<br />

– denn das ist die Aufgabe eines Leitbildes. BLEICHER versteht das Leitbild als ein „realistisches Idealbild“,<br />

ein Leitsystem, an dem sich das gesamte organisatorische Handeln orientiert (BLEICHER, Das Konzept<br />

Integriertes Management, 7. Aufl., S. 431 ff.).<br />

Dabei sollte das Leitbild die Kanzlei zu 100 Prozent abbilden. Echte Leitbilder spiegeln den Kanzleialltag<br />

wider; mit den Formulierungen und verwendeten Begriffen sollten tatsächliche Werte, gemeinsame<br />

Ziele, konkrete Tätigkeitsabläufe und vieles mehr erfasst werden.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 885


Fach 23, Seite 1114<br />

Kanzlei-Leitbild<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Hinweis:<br />

Mit der Verwendung nicht ernst gemeinter Floskeln oder Worthülsen werden unter Umständen Erwartungen<br />

bei Mitarbeitern und Mandanten hervorgerufen, die bei Nichteinhaltung mehr schaden als nutzen.<br />

Für die Entwicklung eines Leitbildes ist es wichtig, dass alle – Berufsträger und Mitarbeiter – an der<br />

Erstellung und Umsetzung beteiligt sind. Ein Leitbild, das alleine von der Kanzleiführung entwickelt wird,<br />

wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich sein. Genauso wichtig ist es, dass<br />

die Führungskräfte die Inhalte vorleben. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann das gemeinsam<br />

entwickelte und erfolgreich umgesetzte Kanzlei-Leitbild die Basis für eine positive Weiterentwicklung<br />

der Kanzlei bedeuten: Mit einer (wirtschaftlich) erfolgreichen Marktpositionierung und einem<br />

motivierten Kanzlei-Team, das weiß und versteht, was zu tun ist und welchen wertschöpfenden<br />

Beitrag jeder Einzelne leistet. Die Arbeit erhält eine Richtung und damit einen weiteren Sinn.<br />

II. Funktionen oder Merkmale von Leitbildern<br />

Ein Leitbild sollte damit kanzleiintern und –extern, also auch gegenüber Dritten, Antworten auf die<br />

folgenden Fragen geben:<br />

• Wer sind wir?<br />

• Wem nutzen wir?<br />

• Was wollen wir gemeinsam erreichen?<br />

• Wie wollen wir zusammenarbeiten?<br />

Zur Beantwortung dieser Fragen erfüllt das Leitbild zahlreiche Funktionen. Es dient den Kanzleimitgliedern<br />

als Grundlage für die Identitätsfindung. Zudem kann es einen Beitrag zur Steigerung der<br />

Mitarbeitermotivation leisten und eignet sich als Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft.<br />

Außerdem erleichtert es die Positionierung der Kanzlei am Markt, schafft eine hohe Mandantenorientierung,<br />

eignet sich zur Mandanten- und Bewerberakquise und schafft Vertrauen. Die einzelnen<br />

Funktionen für die Kanzlei werden im Folgenden erläutert.<br />

1. Grundlage für die Identitätsfindung<br />

Ein Leitbild und dessen Entwicklungsprozess führen i.d.R. zu einer Stärkung des „Wir-Gefühls“ der<br />

Kanzleimitglieder: Es findet eine Identifizierung mit der Sache und mit den Kollegen statt; die Grundlage<br />

für die tägliche Arbeit wird entwickelt und damit die Voraussetzung geschaffen, sich auf dem<br />

umkämpften Anwaltsmarkt zu behaupten.<br />

Hinweis:<br />

Die Beteiligung aller Mitarbeiter über sämtliche Hierarchieebenen hinweg an dem Entwicklungsprozess<br />

bewirkt, dass sich alle mit der Kanzlei identifizieren können, sich gegenseitig wertschätzen und Respekt<br />

füreinander aufbringen.<br />

2. Steigerung der Mitarbeitermotivation<br />

Das gemeinsame Erreichen des Ziels und die im Leitbild festgehaltene Vision wirken motivierend auf die<br />

Kanzleimitglieder.<br />

Hinweis:<br />

Der Berufsträger sollte als Führungskraft die im Leitbild verankerte Führungskultur und die enthaltenen<br />

Werte vorleben. Dies steigert die Motivation und regt zur Nachahmung an.<br />

3. Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft<br />

Das Leitbild bildet den Rahmen für das Tagesgeschäft. Wird es konkret formuliert, kann es<br />

handlungsleitend sein.<br />

886 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1115<br />

Kanzlei-Leitbild<br />

Praxishinweis:<br />

Verwendete Methoden oder Maßnahmen zum Erreichen der Ziele sollten gegenüber Dritten nicht<br />

preisgegeben werden – ebenso wenig wie die verfolgten Strategien. Das ist „Geschäftsgeheimnis“!<br />

4. Klare Positionierung<br />

Leitmotto und Leitmotiv (s. unten IV. 2.) bringen die Vorzüge der Kanzlei auf den Punkt. Das gesamte<br />

Leitbild ist individualisiert und authentisch und schafft so eine klare Positionierung im Markt:<br />

Kernkompetenzen und Werte der Kanzlei werden dargestellt.<br />

5. Hohe Mandantenorientierung<br />

Ein gutes Leitbild gibt den Mandanten eine Antwort auf die Frage „Was können wir von der Kanzlei<br />

erwarten?“ Anhand des Leitbildes werden die Kanzlei-Werte einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt. Im<br />

Umkehrschluss heißt das: Mandanten können sich auch darauf berufen.<br />

Hinweis:<br />

Gleichzeitig legt das Leitbild die Handlungsanweisungen für die in der Kanzlei tätigen Personen gegenüber<br />

den Mandanten in Bezug auf die Kundenorientierung fest.<br />

6. Potenzielle Mandanten/Bewerber<br />

Potenzielle Mandanten oder Bewerber auf eine Stelle in Ihrer Kanzlei prüfen mit einem Blick auf der<br />

Kanzlei-Homepage, ob die Zielsetzung und die dargestellten Werte mit den eigenen gesetzten Zielen<br />

und Werten übereinstimmen. Daher beinhaltet das Leitbild auch Informationen, die diesen Personen<br />

vermittelt, welche Tätigkeitsschwerpunkte und welche Ziele in der Kanzlei verfolgt werden.<br />

7. Vertrauensbildung<br />

Das Leitbild schafft Vertrauen, indem über Qualitätsstandards, wie z.B. eine Zertifizierung, informiert wird.<br />

Hinweis:<br />

Insbesondere ist es vertrauensbildend, wenn das, was hier formuliert wird, auch mit dem tatsächlich im<br />

Kanzleialltag gelebten Verhalten übereinstimmt.<br />

Zusammengefasst werden die Funktionen und Inhalte von Leitbildern in den nachfolgenden Definitionen.<br />

III. Definition<br />

Folgt man der Kurzerklärung des Gabler-Wirtschaftslexikons, ist ein Leitbild ein „Element des normativen<br />

Rahmens eines Unternehmens, in dem es den Zweck seines Daseins in Form von Nutzenversprechen gegenüber seinen<br />

Anspruchsgruppen darlegt (…)“ (s. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/<strong>16</strong>056/unternehmensleitbild-v7.html).<br />

Eine etwas ausführlichere Definition bietet das Online-Verwaltungslexikon (s. http://www.olev.de/, unter<br />

„Leitbild“):<br />

„Das Leitbild einer Organisation formuliert kurz und prägnant den Auftrag (Mission), die strategischen Ziele<br />

(Vision) und die wesentlichen Orientierungen für Art und Weise ihrer Umsetzung (Werte). Es soll damit allen<br />

Organisationsmitgliedern eine einheitliche Orientierung geben und die Identifikation mit der Organisation<br />

unterstützen. Es (…) ist wesentliches Element einer Corporate Identity.“<br />

Anders ausgedrückt: Ein Leitbild für eine Kanzlei ist eine Erklärung aller Kanzleiangehörigen über:<br />

• ihr Selbstverständnis,<br />

• ihre Grundprinzipien oder Werte,<br />

• ihr angestrebtes Ziel,<br />

• ihre Mission,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 887


Fach 23, Seite 11<strong>16</strong><br />

Kanzlei-Leitbild<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

• ihre Vision,<br />

• ihre Führungskultur und<br />

• ihre Regeln für den Umgang miteinander und das Verhalten gegenüber Dritten (z.B. Mandanten,<br />

Dienstleistern).<br />

Es empfiehlt sich, diese Punkte schriftlich zu fixieren. Damit dient es Mitarbeitern, Mandanten,<br />

Kooperationspartnern sowie potenziellen Mandanten und Bewerbern als Orientierung.<br />

IV.<br />

Erstellen eines Leitbildes<br />

1. Visionen<br />

Um ein Leitbild erstellen zu können, muss das Kanzlei-Team eine Vorstellung/eine Vision davon haben,<br />

was die Kanzlei langfristig ausmachen wird, wie das Miteinander im Team gestaltet werden soll, welche<br />

Werte das tägliche Handeln bestimmen, was das Team zur Arbeit motiviert, welche gemeinsamen Ziele<br />

verfolgt werden, was die Kanzlei für die Mandanten besonders macht usw. Wer Visionen hat, weiß,<br />

warum und wofür er etwas tut. Visionen bestimmen das tägliche Handeln – daran wird der<br />

Kanzleialltag ausgerichtet. Fehlt die Vision, ist das Ziel der Arbeit unklar.<br />

Daher ist das Herausfinden und Benennen der Kanzlei-Visionen wichtig! Sie müssen transparent für<br />

Mitarbeiter und Mandanten sein. Nur so können sie in strategisches Handeln umgewandelt werden. Das<br />

betrifft alle – hierarchieübergreifend –, so dass alle Kanzleimitglieder an diesem Prozess beteiligt und die<br />

Erfahrungen aller Mitarbeiter genutzt werden sollten (zur Erarbeitungsmethode solcher Visionen s. unten V.).<br />

2. Bausteine<br />

Aus den Visionen entstehen die Inhalte der Bausteine eines jeden Leitbildes: Leitmotto, Leitmotiv und<br />

Leitsätze.<br />

a) Leitmotto<br />

Das Leitmotto beschreibt die Kanzlei kurz und prägnant anhand eines Satzes. Dieser gleicht einem<br />

Werbeslogan und spiegelt den Grundgedanken des Leitbildes wider.<br />

Beispiel:<br />

Der Mensch ist unser Mittelpunkt!<br />

b) Leitmotiv<br />

Das Leitmotiv ist eine Art Vorwort und bringt anhand einiger Stichworte auf den Punkt, warum die<br />

Kanzlei existiert. Häufig finden sich hier die Gründungsideen wieder, die den Nutzen der Kanzlei für die<br />

Mandanten und die Gesellschaft formulieren.<br />

Beispiele:<br />

• Der Einzelne ist für uns wichtig!<br />

• Unsere Arbeit macht das Leben lebenswerter!<br />

c) Leitsätze<br />

Leitsätze sind Regeln, die aus den gemeinsamen Visionen der Kanzlei abgeleitet werden. Es sollte sich<br />

dabei um leicht verständliche und kurze Aussagen handeln. Zudem sollten sie umsetzbar sein. Für den<br />

internen Kanzleigebrauch können auch zusätzliche Erläuterungen formuliert werden.<br />

Die Leitsätze sind für alle Kanzleimitglieder verbindlich. Damit sie im Alltag auch zur Anwendung<br />

kommen, müssen<br />

• daraus konkrete Handlungsanweisungen abgeleitet und verschriftlicht werden,<br />

• sich alle – über alle Hierarchieebenen hinweg – dazu verpflichten, die Regeln als verbindlich anzusehen,<br />

• Sanktionen auf Regelverstöße folgen, die ebenfalls gemeinsam festgelegt werden,<br />

888 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 11<strong>17</strong><br />

Kanzlei-Leitbild<br />

• Verantwortliche bestimmt werden, die prüfen, ob sich alle im Sinne des Leitbildes verhalten,<br />

• sich alle darüber klar sein, dass ein Leitbild stets weiterentwickelt werden muss, wenn geänderte<br />

Bedingungen eine Anpassung erforderlich machen, z.B. wenn ein neuer Partner in die Kanzlei kommt<br />

oder sich die Ziele bzw. Visionen ändern: Leitbilder sind lebendig (s. unten IV. 4.)!<br />

Beispiele:<br />

• Wir bieten Mandanten und Mitarbeitern mehr als sie erwarten.<br />

• Jeder Mitarbeiter wird individuell gefördert, wir führen insbesondere regelmäßig Soft Skill-Schulungen<br />

durch.<br />

• Bei uns wird nicht mehr gearbeitet als vertraglich vereinbart.<br />

Die folgende Grafik fasst die Zusammenhänge zwischen Visionen, Leitmotiv, Leitmotto und Leitsätzen<br />

noch einmal zusammen. Die gemeinsamen Visionen aller Kanzleimitglieder zeigen auf, welcher<br />

Zielzustand zusammen angestrebt wird. Geprägt sind die Visionen durch gemeinsame Werte.<br />

Leitmotto und -motiv bringen den Grundgedanken und den Nutzen der Kanzlei für die Gesellschaft<br />

auf den Punkt. In den Leitsätzen ist formuliert, wie die Vision erreicht werden kann, sie geben die<br />

Mission an und sind gleichzeitig Regeln für den Umgang miteinander und gegenüber Dritten. Unter den<br />

einzelnen Bausteinen bestehen wechselseitige Beziehungen. Die Visionen prägen so die Leitsätze,<br />

umgekehrt führen Leitsätze aber auch dazu, dass die Vision zur Realität wird.<br />

Praxisbeispiel:<br />

Eine Kanzlei möchte die hanseatische Lebenshaltung leben. So findet sich im Leitmotto das Wort<br />

„Hanseatisch!“ wieder. Im Leitmotiv wird formuliert: „Auf unsere Zusagen können Sie vertrauen!“<br />

Daraus entstehen Leitsätze, wie: „Gegebene Zusagen halten wir ein.“ Für alle Mitarbeiter gilt, dass ein<br />

Handschlag oder eine mündliche Zusage genauso verbindlich sind wie ein schriftlicher Vertrag. Dies gilt<br />

kanzleiintern sowie -extern.<br />

3. Formulierungshinweise<br />

Folgende Hinweise helfen bei der Formulierung des Leitbildes:<br />

• Nehmen Sie ausschließlich authentische Aussagen auf (beschreiben Sie nur etwas, was auch<br />

tatsächlich vorhanden ist).<br />

• Formulieren Sie kurze und eindeutige Sätze.<br />

• Treffen Sie zukunftsweisende Aussagen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 889


Fach 23, Seite 1118<br />

Kanzlei-Leitbild<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

• Wählen Sie die direkte Ansprache.<br />

• Formulieren Sie für alle verständlich (Mitarbeiter und Mandanten).<br />

• Verwenden Sie bildhafte Sprache.<br />

4. Dynamisches Leitbild<br />

Ein Leitbild kann niemals statisch sein. Ändern sich bestimmte Faktoren, so muss das Leitbild daran<br />

angepasst werden. Beispielsweise kann die Kanzlei expandieren, ein neuer Wettbewerber hinzukommen,<br />

die Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs oder der Erwerb eines neuen<br />

Fachanwaltstitels anstehen. Auf solche Veränderungen muss die Kanzlei reagieren und sich strategisch<br />

neu ausrichten oder thematische Schwerpunkte neu formulieren.<br />

Beispiel:<br />

Wird ein weiterer Partner in die Kanzlei aufgenommen oder neues Personal eingestellt, kann dies Einfluss<br />

auf bestimmte Inhalte des Leitbildes haben. Ein neuer Partner legt vielleicht besonderen Wert auf<br />

Dienstleistungsprozesse, eine neue Bürovorsteherin sorgt für eine neue Kanzleistruktur usw.<br />

Die Gültigkeit des Leitbildes sollte stets überprüft werden, und ggf. notwendige Änderungen, sollten<br />

gemeinsam mit dem gesamten Kanzleiteam vorgenommen werden.<br />

Hinweis:<br />

Auf ein konkretes Beispiel eines ausformulierten Kanzlei-Leitbildes wird hier bewusst verzichtet. Dieses<br />

muss immer individuell erarbeitet werden, damit es sich nicht um eine Ansammlung leerer Floskeln handelt.<br />

V. Wertschätzende Leitbildinhalte<br />

Um gemeinsam mit dem gesamten Kanzlei-Team die Inhalte, die in dem Kanzlei-Leitbild abgebildet<br />

werden sollten, zu erarbeiten, eignet sich die Methode der „wertschätzenden Entdeckung“. Die sog.<br />

wertschätzende Entdeckung ist eine Workshop-Methode zur Veränderung von Organisationen, die in<br />

den achtziger Jahren von DAVID COOPERRIDER in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde (vgl.<br />

COOPERRIDE/WHITNEY/STAVROS, Appreciative Inquiry Handbook: For Leaders of Change, 2003). Mit ihrer<br />

Hilfe kann das positive Potenzial herausgearbeitet werden, das in der Kanzlei und einzelnen<br />

Kanzleimitgliedern vorhanden ist. Diese Methode basiert auf der Annahme, dass Menschen mehr<br />

erreichen, wenn sie an sich glauben und sich mehr zutrauen. Wenn sie wissen, was sie können, können<br />

sie die Vision von der Zukunft mittragen.<br />

Hinweis:<br />

Häufig werden in der Praxis defizit-orientierte Methoden verwendet, um Veränderungsprozesse in Gang<br />

zu bringen, z.B. um die Mängel einer Kanzlei aufzudecken. Doch solche Methoden führen oft dazu, dass<br />

man um alte Probleme kreist, anstatt Lösungen für die Zukunft zu finden.<br />

Jede wertschätzende Entdeckung beginnt in einem ersten Schritt mit einem Partnerinterview, das die<br />

Wahrnehmung zum Positiven lenkt. Hierbei werden positive Erfahrungen und Erlebnisse aus der<br />

Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft genutzt. Aus den Ergebnissen der Interviews werden<br />

Wünsche, Ziele und Visionen für die Zukunft abgeleitet.<br />

Beispiele für Leitfragen aus einer wertschätzenden Entdeckung:<br />

1. Beschreiben Sie eine Arbeitssituation, in der Sie sich besonders gut/motiviert/lebendig/engagiert<br />

gefühlt haben. Erinnern Sie sich an ein besonderes Erlebnis in der Kanzlei oder an einen ehemaligen<br />

Arbeitsplatz: Was oder wer hat es so besonders gemacht?<br />

890 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1119<br />

Kanzlei-Leitbild<br />

2. Was gefällt Ihnen besonders<br />

• an sich selbst als Kollege/Kollegin/Chef/Chefin,<br />

• an Ihrer Tätigkeit in der Kanzlei,<br />

• an der Kanzlei?<br />

3. Wenn Sie jetzt an unsere Kanzlei denken: Was macht die Kanzlei aus? Was macht uns für unsere<br />

Mandanten besonders? Warum kommen sie zu uns? Was ist es, durch das wir unverwechselbar sind?<br />

4. Welche Wünsche haben Sie für unsere Kanzlei, damit wir mehr Erfolg, mehr Arbeitsfreude und ein<br />

vertrauensvolles Miteinander erreichen/beibehalten können?<br />

In einem zweiten Schritt werden diese Situationen/Geschichten verdichtet. Die Leitfrage kann dabei<br />

sein: „Welche Aspekte sind hier besonders bedeutend?“ Jeder Teilnehmer stellt seinen Interviewpartner und<br />

dessen Geschichte in eigenen Worten kurz vor. Der Interviewte kann korrigieren, falls erforderlich.<br />

Zusammen wird ein Name für die Geschichte gefunden. Nachdem alle Situationen vorgestellt wurden,<br />

werden Gemeinsamkeiten (Aussagen/Richtungen/Werte/Themen etc.) zwischen den Geschichten<br />

gefunden. Es entsteht eine Art Mind-Map, die die einzelnen Situationen miteinander verbindet. Am<br />

Ende kann eine Quintessenz abgeleitet werden, z.B. eine Richtung, ein Ziel oder eine Kernaussage,<br />

welche auch auf die Arbeit in der Kanzlei übertragbar ist. Diese Aussage wird explizit formuliert.<br />

Zusätzlich wird die Leitfrage gestellt: „Was können wir daraus lernen?“ So finden sich Lehren für eine<br />

erfolgreiche Zusammenarbeit in der Kanzlei, die aus den Situationen/Geschichten abgeleitet werden<br />

können.<br />

Beispiel: Beruflicher Wiedereinstieg<br />

• Eine Mitarbeiterin beschreibt in einem Interview ihren beruflichen Wiedereinstieg nach der Erziehungspause.<br />

Besonders positiv nahm sie wahr, dass eine ältere Kollegin ihr den Einstieg dadurch erleichterte,<br />

dass sie ihr alle nach dem zwischenzeitlichen Ausscheiden aufgetretenen Änderungen in<br />

Ruhe erklärt hat. Auch im Anschluss war die Kollegin immer wieder bereit, Fragen zu beantworten<br />

und Arbeitsabläufe zu zeigen. Zusätzlich konnte die Mitarbeiterin im aktuellen Kanzlei-Handbuch<br />

nachschlagen. Die hilfsbereite und freundliche Art der Kollegin hat der Mitarbeiterin den beruflichen<br />

Wiedereinstieg leicht gemacht und dazu geführt, dass sie sich schnell integrieren und ihre Arbeit<br />

sogleich mit Freude ausführen konnte. Die Interviewpartnerin findet einen Namen für die Geschichte:<br />

Mentoring für Berufsrückkehrerinnen.<br />

• Eine weitere Mitarbeiterin berichtet sehr positiv von ihrem Neueinstieg in die Kanzlei. Auch bei ihr<br />

war es eine engagierte Kollegin, die ihr den Start leicht gemacht und eine schnelle Einarbeitung<br />

ermöglicht hat. Der Name für die Situation: Begleiteter beruflicher Neueinstieg.<br />

Die Gruppe zieht aus beiden Situationen die Kernaussage, dass eine enge Begleitung durch eine erfahrene<br />

Kollegin für den beruflichen Neu- oder Wiedereinstieg die Einarbeitung deutlich erleichtert. In Zukunft<br />

sollen neue Mitarbeiter und Rückkehrer durch ein Mentoring unterstützt werden.<br />

In einem dritten Schritt werden Visionen formuliert, die das Leitbild tragen. Beispielsweise sollen sich<br />

die Mitarbeiter die Kanzlei im Jahre 2020 vorstellen – die Kanzlei hat sich so entwickelt, wie sie es sich<br />

ausgemalt hatten. Sie werden jetzt dazu aufgefordert, zu beschreiben, wie ihre Arbeitswelt nun<br />

aussieht. Es werden die wichtigsten Themen der zukünftigen Arbeit gesammelt und im Anschluss<br />

konkrete Zukunftsaussagen daraus abgeleitet. Diese Zukunftsaussagen sind die Leitsätze des Leitbildes.<br />

Beispiel „Kommunikation“:<br />

• Wir sprechen offen und ehrlich miteinander.<br />

• Wir teilen Informationen innerhalb der Kanzlei verantwortungsbewusst.<br />

Jetzt können Projekte generiert werden: Was ist zu tun, damit diese Zukunft auch Wirklichkeit wird?<br />

Projektgruppen zu verschiedenen Themen werden gebildet und ein Umsetzungs- und Handlungsplan<br />

festgelegt: Was genau muss erledigt werden? Wer macht was mit wem und bis wann? An dieser Stelle<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 891


Fach 23, Seite 1120<br />

Kanzlei-Leitbild<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

sollte auch eine Erfolgskontrolle eingeplant werden: Eine Person wird bestimmt, die zu einem<br />

festgesetzten Zeitpunkt kontrolliert, ob das Geplante auch umgesetzt wurde.<br />

Es empfiehlt sich, den Umsetzungs- und Handlungsplan wie in folgendem Beispiel in tabellarischer<br />

Form festzuhalten:<br />

Aufgabe Priorität Dauer Bis wann? Wer? Erledigt?<br />

Erstellung eines Einarbeitungsplans<br />

hoch 2 Tage 31.8. Frau Müller<br />

Praxishinweis:<br />

Lassen Sie einen solchen Workshop von einem externen Moderator begleiten. Viele Themen sind sehr<br />

persönlich, und alle Mitglieder einer Kanzlei stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Nicht<br />

selten kommt es zu hitzigen Diskussionen, die ein neutraler und geschulter Workshop-Leiter besser<br />

auffangen kann.<br />

VI. Auswirkungen auf die Kanzlei<br />

Ein solcher Prozess hat Auswirkungen auf alle Facetten einer Kanzlei. Es kann sein, dass z.B. im<br />

Anschluss das Organigramm neu aufgestellt werden muss. Damit verbunden sind oft auch Änderungen<br />

der Personalplatzierung und der strukturellen Abläufe. Gegebenenfalls wird die Personalauswahl<br />

anders gestaltet. Nicht selten ergeben sich direkt Implikationen für die Personalentwicklung: Fachliche<br />

Weiterbildungen werden unter Umständen benötigt, ein Bedarf an zusätzlichen Soft Skill-Qualifikationen<br />

wird festgestellt usw. Vielleicht werden Internetseiten mit neuen Inhalten gefüllt. Es werden die<br />

Maßnahmen ergriffen, um die im Leitbild definierten Ziele erreichen zu können.<br />

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Kanzlei-Handbuch zu. Es empfiehlt sich,<br />

dass die für das tägliche Handeln notwendigen Wissensinhalte und Regeln in einem Kanzlei-Handbuch<br />

detailliert abgebildet werden. So kann es als Nachschlagewerk für alle Mitarbeiter dienen. Wichtig ist<br />

dies insbesondere auch für die Einarbeitung neuer Mitarbeiter. Es enthält neben der Darstellung sich<br />

wiederholender Arbeitsabläufe/-prozesse – wie z.B. der Vergabe von Besprechungsterminen,<br />

Einholung von Mandanten-Feedback – genaue Anleitungen dafür, wie in der Kanzlei mit Mandantenbeschwerden<br />

umgegangen wird, wie die Einarbeitung neuer Mitarbeiter erfolgt und vieles mehr.<br />

VII. Fazit<br />

Es lohnt sich, gemeinsam ein „echtes“ Leitbild für die eigene Kanzlei zu schaffen, um nicht genutztes<br />

Potential zu erkennen, Personal- und Mandantenfluktuation vorzubeugen und wirtschaftlich erfolgreicher<br />

zu werden. Die Umsetzung der im Leitbild formulierten Ziele und Werte hat Einfluss auf alle<br />

organisatorischen Prozesse und kann damit positive Auswirkungen auf das Kanzleiklima sowie die<br />

gesamte Kanzleikultur haben. Letztendlich entscheidet das alltägliche Arbeitsverhalten aller Kanzleimitglieder<br />

darüber, ob das Leitbild ein Erfolgsgarant der Kanzlei ist.<br />

892 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>

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