ZAP-16-17
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
<strong>16</strong> 20<strong>17</strong><br />
9. August<br />
29. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />
Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
} Mit dem <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport<br />
Inklusive<br />
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Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Vermüllte Mietwohnung – Kündigung als Ultima Ratio (S. 829)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im August (S. 830) • BGH bestätigt Zulässigkeit kostenloser Erstberatung (S. 832) •<br />
„Einkaufszettel“ für das Anwaltspostfach (S. 834)<br />
Aufsätze<br />
Börstinghaus, Rechtsprechungsübersicht zum Wohnraummietrecht (S. 859)<br />
Müller, Grundzüge des Urlaubsrechts (S. 873)<br />
Volkmer‐Jäger, Kanzlei‐Leitbild: Erfolgreiche Weiterentwicklung und Marktpositionierung<br />
der Sozietät (S. 885)<br />
Eilnachrichten<br />
EuGH: Preistransparenz bei der Angabe von Flugpreisen (S. 852)<br />
BVerwG: Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach einmaliger Trunkenheitsfahrt (S. 853)<br />
BGH: Vertrauen auf die Gewährung einer Fristverlängerung bei der Berufungsbegründung (S. 854)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 829–830<br />
Anwaltsmagazin – – 830–836<br />
Berufsrechtsreport – – 837–850<br />
Eilnachrichten 1 137–144 851–858<br />
Börstinghaus, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />
zum Wohnraummietrecht – 1. Halbjahr 20<strong>17</strong> 4 R 891–904 859–872<br />
Müller, Grundzüge des Urlaubsrechts <strong>17</strong> 1255–1266 873–884<br />
Volkmer‐Jäger, Kanzlei‐Leitbild: Erfolgreiche Weiterentwicklung<br />
und Marktpositionierung der Sozietät 23 1113–1120 885–892<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F <strong>17</strong>, <strong>17</strong>R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F <strong>16</strong>) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />
• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />
RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />
Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />
Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />
Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />
Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
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Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 241,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
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Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Vermüllte Mietwohnung – Kündigung als Ultima Ratio<br />
Wenn ein Vermieter an einen Mieter mit einem<br />
ausgeprägten „Messie-Syndrom“ gerät, so kann<br />
er etwas erleben. Häufig entdeckt der Vermieter<br />
erst nach Jahren und mit Schrecken, in welchem<br />
Zustand sich seine Wohnung befindet, und<br />
möchte den Mieter gerne im Wege der Kündigung<br />
loswerden. Der Mieter wiederum will nicht<br />
ausziehen und widerspricht der Kündigung.<br />
Die einschlägigen Gerichtsentscheidungen im Rahmen<br />
von Räumungsklagen vermitteln einen Eindruck,<br />
was Vermieter und Nachbarn hier erwartet.<br />
Zudem wird deutlich, dass es dabei nicht um die<br />
harmlosen Fälle von Wohnungen geht, in denen<br />
Mieter zahlreiche Antiquitäten oder alte Zeitungen<br />
horten.<br />
In einer mittlerweile rechtskräftigen Entscheidung<br />
des Amtsgerichts Neustadt/Aisch (Urt. v. 25.8.20<strong>16</strong><br />
– 1 C 321/15) ging es um einen Mieter, der seit<br />
vielen Jahren in einer Dreizimmerwohnung lebte.<br />
Anlässlich einer Wohnungsbesichtigung bemerkte<br />
der Vermieter, dass sich die Wohnung in einem<br />
heruntergekommenen Zustand befand. Nachdem<br />
eine Abmahnung des Mieters erfolglos war, sprach<br />
er unter anderem deshalb eine fristlose sowie eine<br />
ordentliche Kündigung aus.<br />
Das Amtsgericht Neustadt/Aisch entschied, dass<br />
die ordentliche Kündigung wegen des Zustands<br />
der Mietwohnung rechtmäßig ist. Denn der Mieter<br />
hatte durch die Vermüllung der Wohnung die<br />
Mietsache gefährdet und dadurch seine vertraglichen<br />
Pflichten i.S.v. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB erheblich<br />
verletzt. Hierzu führte das Gericht in seiner sorgfältigen<br />
Begründung aus, dass sich in der gesamten<br />
Wohnung Unrat stapelte. Die gesamte Wohnung<br />
war verdreckt und stank unerträglich. Küche und<br />
Bad konnten nicht benutzt werden, weil sie mit<br />
Gegenständen vollgestellt waren. Überdies zeigte<br />
sich der Mieter uneinsichtig und verweigerte eine<br />
Zusammenarbeit mit Ämtern. Das Vorliegen einer<br />
unzumutbaren Härte i.S.d. § 574 BGB verneinte das<br />
Gericht mit dem Argument, dass hier das Interesse<br />
des Vermieters an seinem unversehrten Eigentum<br />
Vorrang hat. Das Landgericht Nürnberg-Fürth wies<br />
die Berufung des Mieters mit einstimmigem Beschluss<br />
vom 23.2.20<strong>17</strong> (7 S 7084/<strong>16</strong>) zurück, die<br />
Entscheidung ist rechtskräftig.<br />
In einem anderen Fall hatte das Amtsgericht<br />
Hamburg-Harburg (Urt. v. 18.3.2011 – 641 C 363/10)<br />
die fristlose Kündigung eines „beratungs- und<br />
hilferesistenten“ Mieters gem. § 543 BGB als<br />
gerechtfertigt angesehen. Dessen Wohnung war<br />
nur über „Kriechgänge“ zugänglich. Im Übrigen<br />
war sie mit Unrat, Kartons, abgelaufenen und<br />
offen herumstehenden verschimmelten Lebensmitteln<br />
vollgestellt. In der Wohnung stank es<br />
infolgedessen „bestialisch“. Auch für die anderen<br />
Mieter bestand die Gefahr, dass ihre Wohnungen<br />
von Ungeziefer befallen werden könnten.<br />
Das Amtsgericht Saarbrücken bejahte die Rechtmäßigkeit<br />
einer fristlosen Kündigung gem. § 543<br />
BGB in einem Fall, in dem es im Treppenhaus nach<br />
verdorbenen Speiseresten und Lebensmitteln stank<br />
und die Gefahr bestand, dass Ungeziefer angelockt<br />
und die Substanz der Mietsache gefährdet würde<br />
(AG Saarbrücken, Urt. v. 29.10.1993 – 37 C 267/93).<br />
Das Amtsgericht Hoyerswerda sah eine fristgemäße<br />
Kündigung eines körperbehinderten Mieters<br />
nach § 573 BGB als zulässig an, der seine<br />
Inkontinenzmaterialien nicht ordnungsgemäß entsorgt<br />
hatte. Dadurch stank es auch im Treppenhaus<br />
nach Urin und Fäkalien bzw. nach „Verwesung“.<br />
Mehrere Nachbarn beschrieben die<br />
„Geruchsbelästigung“ als derart massiv, dass sie<br />
es beim Vorbeigehen an der Wohnung kaum<br />
aushalten konnten und deshalb die „Luft anhielten“<br />
(AG Hoyerswerda, Urt. v. 3.2.2015 – 1 C 88/14).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 829
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Schließlich befand das Amtsgericht Menden die<br />
fristlose Kündigung einer Mieterin nach § 543 BGB<br />
für rechtmäßig, die in einem Raum ihrer Mietwohnung<br />
ca. 80 Vögel gehalten hatte. Der Vermieter<br />
war ihr auf die Schliche gekommen, nachdem<br />
sich Nachbarn über den Lärm beschwert hatten (vgl.<br />
AG Menden, Urt. v. 5.2.2014 – 4 C 286/13). Anlässlich<br />
einer Ortsbegehung stellte sich heraus, dass die<br />
Vögel in einem Raum „unkontrolliert nisteten,<br />
brüteten und sich vermehrten.“ Dass hierin eine<br />
vertragswidrige Nutzung einer Mietwohnung liegt,<br />
bedarf keiner weiteren Ausführungen.<br />
Demgegenüber führt das Landgericht Siegen (LG<br />
Siegen, Urt. v. 10.1.2006 – 1 S 1<strong>17</strong>/05) aus, dass sich<br />
allein aus einem „muffigen Geruch“ in einer mit alten<br />
Haushaltsgegenständen, Zeitungen oder Zeitschriften<br />
vollgestellten Mietwohnung noch keine Gefährdung<br />
der Mietsache ergebe. Die Hausgemeinschaft<br />
müsse „gewisse Beeinträchtigungen“ hinnehmen,<br />
„die aus dem Wohnverhalten und persönlichen<br />
Befinden eines hochbetagten langjährigen Mieters<br />
und Hausnachbarn erwachsen können“.<br />
Aus dieser „Messie-Rechtsprechung“ ergibt sich,<br />
dass die Gerichte eine Kündigung wegen Vermüllung<br />
einer Mietwohnung nur unter strengen Voraussetzungen<br />
als rechtmäßig ansehen. Zwar räumt der<br />
BGH dem Vermieter aus § 242 BGB ein Besichtigungsrecht<br />
ein, da der Mieter die Nebenpflicht habe,<br />
dem Vermieter – nach entsprechender Vorankündigung<br />
– ein Zutrittsrecht zu der Wohnung zu<br />
gewähren. Allerdings ist hierfür das Vorliegen eines<br />
konkreten sachlichen Grundes unabdingbar. Ein<br />
anlassloses Besichtigungsrecht steht dem Vermieter<br />
nicht ständig zu – auch nicht aus formularvertraglich<br />
vereinbarter Klausel im Mietvertrag, die wegen unangemessener<br />
Benachteiligung des Mieters nach<br />
§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam wäre (BGH, Urt. v.<br />
4.6.2014 – VIII ZR 289/13).<br />
Der Vermieter muss die Richter also davon überzeugen,<br />
dass es sich nicht um ein harmloses Chaos<br />
handelt. Vielmehr muss es sich um organischen Müll<br />
handeln, durch den die Mietsache konkret gefährdet<br />
wird bzw. durch dessen Gestank Nachbarn unzumutbar<br />
belästigt werden (so z.B. in dem Fall des AG<br />
München, Urt. v. 8.1.20<strong>16</strong> – 461 C 19626/15).<br />
Nur: Ist die Geruchsbelästigung erst einmal wahrnehmbar,<br />
ist es in der Regel bereits zu spät.<br />
Fakt ist: Für den Vermieter ist es ein zeit- und<br />
kostenintensives Unterfangen, gegen einen „Messie-<br />
Mieter“ vorzugehen. In der Regel wird er – nach<br />
erfolgreicher Kündigung und Räumungsklage – die<br />
Kosten der Zwangsräumung nicht eintreiben können.<br />
Selbst bei einer kleinen Wohnung, die völlig vermüllt<br />
ist, kommen hier schnell 10.000 € zusammen.<br />
Wer regelmäßig Vermieter in derartigen Fällen<br />
berät, weiß, dass dies nicht nur an die finanzielle<br />
Substanz geht.<br />
Ass. jur. HARALD BÜRING, Düsseldorf<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im August<br />
Im Juli und August sind wieder zahlreiche Neuregelungen<br />
in Kraft getreten. Sie betreffen vorwiegend<br />
die Bereiche Arbeit, Gesundheit und<br />
Justiz. Die wichtigsten hiervon sind:<br />
• Gleichbehandlung beim Arbeitslohn<br />
Am 6. Juli in Kraft getreten ist das neue Gesetz zur<br />
Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen,<br />
das künftig geschlechtsspezifische Diskriminierungen<br />
bei der Entlohnung verhindern soll. Insbesondere<br />
müssen Arbeitgeber mit mehr als 200 Beschäftigten<br />
830 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
auf Anfrage eines Arbeitnehmers erläutern, nach<br />
welchen Kriterien im Betrieb entlohnt wird.<br />
• Berufskrankheiten<br />
Seit dem 5. August enthält die Liste der Berufskrankheiten<br />
fünf weitere Erkrankungen, darunter<br />
Fokale Dystonie (Muskelkrämpfe) bei Instrumentalmusikern,<br />
Eierstockkrebs durch Asbest oder<br />
Leukämie durch das Gas 1,3-Butadien.<br />
• Übertragbare Krankheiten<br />
Seit dem 25. Juli in Kraft ist ein Gesetz, das u.a.<br />
durch verstärkte Meldepflichten und bessere<br />
Zusammenarbeit der Gesundheitsbehörden den<br />
Schutz vor Infektionen verbessern soll. Es regelt<br />
zudem, dass künftig in Krankenhäusern Personaluntergrenzen<br />
in der Pflege bestehen.<br />
• Schutz vor Legionellen<br />
Am 19. August in Kraft tritt die 42. Verordnung zum<br />
Bundesimmissionsschutzgesetz, die den hygienisch<br />
einwandfreien Betrieb von Kühlanlagen und<br />
ähnlichen Einrichtungen gewährleisten soll. Sie<br />
zielt vor allem auf den Schutz vor Legionellen, die<br />
sich oft aus diesen Anlagen über Wassertropfen<br />
verbreiten und Lungenentzündungen verursachen.<br />
• Kriegsopferfürsorge<br />
Kriegsgeschädigte und ihre Hinterbliebenen können<br />
seit dem 25. Juli höhere Vermögensschonbeträge<br />
geltend machen, wenn sie Leistungen der<br />
Kriegsopferfürsorge erhalten.<br />
• Beschäftigte der Fleischindustrie<br />
Seit dem 25. Juli in Kraft ist ein neues Gesetz, das<br />
sich gegen ausbeuterische Verhältnisse in der<br />
Fleischindustrie wendet. Firmen dürfen ihre Pflicht<br />
zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen jetzt<br />
nicht mehr dadurch umgehen, dass sie Subunternehmer<br />
beauftragen, die wiederum „selbstständige“<br />
Schlachter und Zerleger über Werkverträge zu<br />
prekären Bedingungen beschäftigen. Arbeitgeber<br />
müssen kostenlos Arbeitsmittel, Werkzeuge und<br />
Schutzkleidung zur Verfügung stellen.<br />
• Elektronischer Personalausweis<br />
Seit dem 15. Juli in Kraft ist das Gesetz zur Förderung<br />
des elektronischen Identitätsnachweises, das den<br />
Online-Einsatz des elektronischen Personalausweises<br />
attraktiver machen soll. Insbesondere wird die<br />
Nutzung von dessen eID-Funktion erleichtert.<br />
• Neues Waffenrecht<br />
Seit dem 6. Juli in Kraft ist eine Änderung des<br />
Waffenrechts, wonach Besitzer bislang nicht eingetragene<br />
Waffen straffrei bei Polizei und Behörden<br />
abgeben können. Die Bundesregierung hofft, damit<br />
die Zahl illegaler Waffen und Munition zu reduzieren.<br />
• Entschädigung für seelisches Leid<br />
Seit dem 22. Juli in Kraft ist eine Neuregelung, die<br />
Hinterbliebenen im Sinne einer Anerkennung ihres<br />
seelischen Leids wegen des Verlustes eines ihnen<br />
besonders nahestehenden Menschen gegenüber<br />
dem hierfür Verantwortlichen eine Entschädigung<br />
zuspricht. Das Gesetz gilt für fremdverursachte<br />
Tötungen wie etwa Mord, Verkehrsunfall, ärztlichem<br />
Behandlungsfehler oder Terror.<br />
• Betreuungsrecht<br />
Das Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts<br />
von Betreuten ist seit dem 22. Juli in Kraft.<br />
Damit sind ärztliche Zwangsbehandlungen von<br />
Betreuten künftig auch außerhalb geschlossener<br />
Einrichtungen, wie beispielsweise in normalen<br />
Krankenhäusern, möglich.<br />
• Ehemündigkeit<br />
Ebenfalls seit dem 22. Juli in Kraft ist ein Gesetz<br />
gegen Kinderehen. Künftig ist eine Eheschließung<br />
nur noch möglich, wenn beide Heiratswillige<br />
volljährig sind.<br />
• Samenspenderregister<br />
Wer durch eine Samenspende gezeugt wurde, hat<br />
seit dem 25. Juli das Recht zu erfahren, wer der<br />
leibliche Vater ist. Dafür wird ein zentrales Samenspenderregister<br />
eingerichtet.<br />
• Mindeststrafe bei Wohnungseinbruch<br />
Einbrecher werden künftig härter bestraft: Für<br />
den Einbruch in eine Privatwohnung gilt seit dem<br />
22. Juli eine Mindeststrafe von einem Jahr Haft.<br />
• Rehabilitierung von Homosexuellen<br />
Männer, die strafrechtlich nach dem früheren § <strong>17</strong>5<br />
StGB verurteilt wurden, werden rehabilitiert. Das<br />
Gesetz, das seit dem 22. Juli in Kraft ist, spricht<br />
ihnen zudem einen Entschädigungsanspruch zu.<br />
Ausgenommen von der Rehabilitierung bleiben<br />
Verurteilungen wegen sexueller Handlungen, die<br />
auch unter Heterosexuellen strafbar waren.<br />
• Photovoltaikanlagen auf Mietgebäuden<br />
Seit dem 25. Juli in Kraft ist eine Neuregelung,<br />
wonach künftig auch Mieter von Solarstrom<br />
auf ihrem Hausdach profitieren können. Dies soll<br />
Anreize für den Ausbau von Photovoltaikanlagen<br />
auf Wohngebäuden schaffen.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 831
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
BGH bestätigt Zulässigkeit<br />
kostenloser Erstberatung<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat auf ein<br />
kürzlich ergangenes Urteil des BGH-Anwaltssenats<br />
hingewiesen, das die kostenlose Erstberatung<br />
durch einen Rechtsanwalt für zulässig<br />
erklärt hat (Urt. v. 3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 42/<strong>16</strong>).<br />
In dem zugrunde liegenden Fall, der das Verkehrsrecht<br />
betraf, war die Rechtsanwaltskammer Brandenburg<br />
gegen einen Kollegen vorgegangen, dessen<br />
Kanzlei in einer Regional-Zeitung wie folgt<br />
geworben hatte:<br />
„Verkehrsunfall – kostenlose Erstberatung. Kennen Sie<br />
Ihre Rechte nach einem Verkehrsunfall? Unsere Kanzlei<br />
bietet Ihnen ab sofort nach einem Verkehrsunfall eine<br />
kostenlose Erstberatung an. Sichern Sie Ihre Rechte<br />
und vereinbaren Sie sofort nach einem Verkehrsunfall<br />
einen Termin mit unserer Kanzlei für eine kostenlose<br />
Erstberatung. M. & D. Rechtsanwälte (…)“<br />
Die aufsichtführende Rechtsanwaltskammer sah<br />
darin einen klaren Verstoß gegen das anwaltliche<br />
Gebührenrecht. Eine kostenlose Rechtsberatung<br />
ohne inhaltliche Qualifizierung anhand von Besonderheiten<br />
des Falls oder der den Rechtsrat<br />
suchenden Person sei unzulässig. Zur Begründung<br />
verwies die Kammer auf § 49b BRAO sowie §§ 34,<br />
4 RVG. Der Anwaltsgerichtshof Brandenburg hob<br />
die belehrende Ermahnung der Kammer zwar<br />
wieder auf, ließ die Berufung zum BGH aber zu.<br />
Dieser wies die Berufung der Rechtsanwaltskammer<br />
nun zurück. Die Voraussetzungen des<br />
§ 49b Abs. 1 S. 1 BRAO seien nicht erfüllt. Auch<br />
die Ausnahmevorschrift des § 49b Abs. 1 S. 2<br />
BRAO, nach welcher der Rechtsanwalt die Gebühren<br />
und Auslagen nach Erledigung des Auftrags<br />
unter bestimmten Voraussetzungen erlassen<br />
oder ermäßigen darf, greife ersichtlich nicht<br />
ein, weil die kostenlose Erstberatung vorab und<br />
unabhängig von der Bedürftigkeit des Auftraggebers<br />
angeboten wurde. Wenn für die Erstberatung<br />
im RVG keine bestimmte Gebühr vorgesehen<br />
sei, gebe es auch keine Mindestgebühr,<br />
die unter Verstoß gegen § 49b BRAO unterschritten<br />
werden könnte.<br />
Eine Absage erteilte der Anwaltssenat des BGH<br />
auch der Auffassung der Anwaltskammer, dass die<br />
Vorschrift des § 34 Abs. 1 S. 1 RVG durch die in §4<br />
Abs. 1 RVG enthaltenen Regelungen dahingehend<br />
modifiziert werde, dass die vereinbarte Vergütung<br />
in einem angemessenen Verhältnis zu Leistung,<br />
Verantwortung und Haftungsrisiko der anwaltlichen<br />
Leistung stehen müsse. § 4 RVG sei hier gar<br />
nicht anwendbar, denn er setze eine gesetzlich<br />
vorgeschriebene Gebühr voraus. Schon aus dem<br />
Wortlaut der Vorschrift und ihrer Position im<br />
Gesetz ergebe sich, dass der Gesetzgeber damit<br />
gänzlich andere Konstellationen gemeint habe.<br />
Nach Auffassung des DAV ist dies eine erfreuliche<br />
Klarstellung, dass kostenlose Erstberatungen zulässig<br />
sind. Das sei bisher schon herrschende<br />
Meinung in der Literatur gewesen; die Mindermeinung,<br />
der zufolge ein vollständiger Verzicht<br />
auf Gebühren für anwaltliche Leistungen niemals<br />
angemessen und deshalb unzulässig sei, sei damit<br />
überholt. Die Anwaltschaft könne in Zukunft<br />
problemlos kostenlose Erstberatungen anbieten,<br />
was nicht-anwaltliche Rechtsdienstleister schon<br />
längst täten. Diese hätten ab sofort keinen<br />
Wettbewerbsvorteil mehr vor Anwaltskanzleien.<br />
[Quellen: BGH/DAV]<br />
Anlassunabhängige Geldwäscheaufsicht<br />
der Anwaltskammern<br />
Bislang übten die Rechtsanwaltskammern die<br />
Geldwäscheaufsicht nur auf Beschwerden hin<br />
oder bei Kenntnis von entsprechenden Anhaltspunkten<br />
aus. Mit dem am 26.6.20<strong>17</strong> in Kraft<br />
getretenen Gesetz zur Umsetzung der Vierten<br />
EU-Geldwäscherichtlinie (BGBl 20<strong>17</strong> I, S. 1822) hat<br />
sich das geändert: Nunmehr üben die Kammern<br />
nach § 51 GwG eine anlassunabhängige Geldwäscheaufsicht<br />
über Rechtsanwältinnen und<br />
Rechtsanwälte aus.<br />
Die Kammern müssen zur anlassunabhängigen<br />
Geldwäscheaufsicht gem. § 51 Abs. 9 GwG eine<br />
Jahresstatistik erstellen. Die Durchführung der<br />
Prüfungen kann auf andere Personen oder Einrichtungen<br />
übertragen werden (§ 51 Abs. 3 S. 3<br />
GwG). Den nach GwG verpflichteten Rechtsanwältinnen<br />
und Rechtsanwälten müssen die<br />
Kammern regelmäßig aktualisierte Auslegungsund<br />
Anwendungshinweise für die Umsetzung<br />
der Sorgfaltspflichten und der internen Sicherungsmaßnahmen<br />
zur Verfügung stellen (§ 51<br />
Abs. 8 GwG).<br />
[Quelle: BRAK]<br />
832 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Scheinvaterschaften zur<br />
Aufenthaltsrechtserlangung<br />
Mit der Begründung von Scheinvaterschaften zur<br />
Aufenthaltsrechtserlangung hat sich kürzlich eine<br />
Bundestagsanfrage befasst. Wie die Bundesregierung<br />
in ihrer Antwort ausführt, liegt eine missbräuchliche<br />
Anerkennung der Vaterschaft dann<br />
vor, wenn diese gezielt gerade dem Zweck dient,<br />
die rechtlichen Voraussetzungen für die erlaubte<br />
Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des Kindes,<br />
des Anerkennenden oder der Mutter zu schaffen.<br />
Dies gelte auch für den Fall, dass mittels der<br />
Anerkennung die rechtlichen Voraussetzungen für<br />
die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt<br />
des Kindes durch den Erwerb der deutschen<br />
Staatsangehörigkeit des Kindes geschaffen werden<br />
sollen (vgl. BT-Drucks 18/13097).<br />
Zur Verhinderung dieser missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennungen<br />
habe der Gesetzgeber im<br />
Jahr 2008 ein behördliches Anfechtungsrecht<br />
eingeführt, schreibt die Bundesregierung weiter.<br />
Das Bundesverfassungsgericht habe diese Regelung<br />
jedoch mit Beschluss vom <strong>17</strong>.12.2013 (1 BvL<br />
6/10) für verfassungswidrig und nichtig erklärt.<br />
Damit sei die rechtliche Handhabe entfallen, um<br />
mutmaßlich missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen<br />
behördlich zu überprüfen und dagegen<br />
vorzugehen.<br />
Wie die Regierung ferner darlegt, haben sowohl<br />
Vertreter der das Ausländerrecht vollziehenden<br />
Länder als auch der Ausländerbehörden aufgrund<br />
steigender Verdachtszahlen wiederholt und<br />
nachdrücklich eine Neuregelung zur Verhinderung<br />
missbräuchlicher Vaterschaftsanerkennungen gefordert.<br />
Jetzt sei mit dem vom Bundestag kürzlich<br />
gebilligten Gesetz zur besseren Durchsetzung der<br />
Ausreisepflicht ein präventives Prüfverfahren beschlossen,<br />
um missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen<br />
zukünftig bereits im Vorfeld zu verhindern.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Evaluationsbericht zur Mediation<br />
in Deutschland<br />
Die Bundesregierung hat Mitte Juli den nach § 8<br />
Abs. 1 des Mediationsgesetzes vorgeschriebenen<br />
Evaluationsbericht zur Entwicklung der Mediation<br />
in Deutschland und über die Aus- und Fortbildung<br />
der Mediatorinnen und Mediatoren vorgelegt. Mit<br />
dieser Pflicht zur Evaluierung wollte der Gesetzgeber<br />
des im Jahr 2012 in Kraft getretenen Gesetzes<br />
sicherstellen, dass nach rund vier Jahren überprüft<br />
wird, ob weiterer gesetzgeberischer Handlungsbedarf<br />
hinsichtlich der in Deutschland neuen außergerichtlichen<br />
Konfliktlösungsmöglichkeit besteht.<br />
Der Bericht kommt nun zu dem Ergebnis, dass die<br />
Mediation als alternatives Instrument der Konfliktbeilegung<br />
in Deutschland einen festen Platz in<br />
der Streitbeilegungslandschaft einnimmt, allerdings<br />
noch nicht in einem Maße genutzt wird, wie es<br />
wünschenswert wäre. Das Potential der Mediation<br />
sei, so das Fazit, noch nicht voll entfaltet.<br />
Beauftragt mit der Erstellung der rechtstatsächlichen<br />
Studie war das Deutsche Forschungsinstitut<br />
für die öffentliche Verwaltung in Speyer. Dieses hat<br />
seit 2014 bundesweit mehr als 1.000 Mediatorinnen<br />
und Mediatoren befragt. Zudem wurde u.a. umfangreich<br />
Literatur ausgewertet, und es wurden<br />
Workshops mit den Mediatoren durchgeführt. Das<br />
Institut kommt zu folgenden Feststellungen:<br />
• Die Zahl der durchgeführten Mediationen ist<br />
auf einem gleichbleibenden niedrigen Niveau.<br />
Die Mediationen konzentrieren sich dabei<br />
überwiegend auf einige wenige Mediatoren.<br />
• Die Mediationstätigkeit bietet nur geringe Verdienstmöglichkeiten.<br />
Viele Mediatoren sind in<br />
der Ausbildung tätig.<br />
• Während die Mediationskostenhilfe von den<br />
Mediatoren für das beste Instrument zur Förderung<br />
der Mediation gehalten wird, rät der<br />
Bericht jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
von einer allgemeinen, bereichsunabhängigen<br />
Regelung zur Mediationskostenhilfe ab.<br />
• Die Vollstreckbarkeit von Mediationsvereinbarungen<br />
wird von den Mediatoren im geringsten<br />
Maße als weiterführendes Instrument zur<br />
Förderung der Mediation erachtet. Für eine<br />
Sonderregelung zur Vollstreckbarmachung von<br />
Mediations(ergebnis)vereinbarungen gebe es<br />
keinen Bedarf.<br />
• Die Zertifizierung von Mediatoren, wie sie<br />
derzeit ausgestaltet ist, hat für die Nutzer wenig<br />
Relevanz. Inwieweit ein einheitliches öffentlichrechtliches<br />
Zertifizierungssystem dies zu ändern<br />
vermag, ist empirisch nicht belegbar.<br />
Einen unmittelbaren gesetzgeberischen Handlungsbedarf,<br />
insbesondere auf dem Gebiet der<br />
Aus- und Fortbildung von Mediatoren, sieht der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 833
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Bericht daher nicht. Die Bundesregierung will die<br />
Ergebnisse jedoch zum Anlass nehmen, um im<br />
Austausch mit den betroffenen Kreisen auf der<br />
Grundlage der Erkenntnisse des Berichts zu überlegen,<br />
wie das mit dem Mediationsgesetz verfolgte<br />
Ziel der Förderung von Mediation langfristig noch<br />
besser verwirklicht werden kann.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Bericht zu Diskriminierungen<br />
in der Arbeitswelt<br />
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat<br />
kürzlich ihren Bericht zur Arbeitssituation lesbischer,<br />
schwuler, bisexueller und transgeschlechtlicher<br />
Menschen präsentiert. Daraus geht<br />
hervor, dass rund drei Viertel der Betroffenen<br />
Diskriminierung in mindestens einer Form erlebt<br />
haben. 39 % von ihnen berichteten sogar von<br />
sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.<br />
Knapp zwei Drittel der berichteten Diskriminierungen<br />
seien „AGG-nahe Diskriminierungen“, so<br />
die Studie. Ein Fünftel weise sogar strafrechtliche<br />
Relevanz auf.<br />
Mehr als jeder Zehnte (11,5 %) Befragte hat direkt<br />
arbeitsplatzrelevante Diskriminierung erlebt.<br />
Diese Zahl liegt speziell bei Transsexuellen noch<br />
deutlich höher (25,5 %). 2,5 % der Befragten<br />
berichteten, dass sie wegen ihrer sexuellen Identität<br />
eine Versetzung und 3,4 %, dass sie eine<br />
Kündigung erlebt haben, 7,9 % berichteten, dass sie<br />
einen Arbeitsplatz nicht bekommen haben.<br />
Die Antidiskriminierungsstelle hebt aber auch den<br />
Umstand hervor, dass die Zahl der lesbischen und<br />
schwulen Beschäftigten, die am Arbeitsplatz offen<br />
mit ihrer sexuellen Identität umgehen, sich in den<br />
vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.<br />
Knapp ein Drittel (28,9 %) der Befragten spricht mit<br />
allen Kolleginnen und Kollegen offen über dieses<br />
Thema. Das gewandelte gesellschaftliche Klima<br />
schlage sich in den Unternehmen nieder, so die<br />
Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, CHRISTINE<br />
LÜDERS, bei der Vorstellung der Studie. Viele<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können<br />
heute offener mit ihrer sexuellen Orientierung<br />
umgehen als noch vor zehn Jahren.<br />
Die Antidiskriminierungsstelle stellt seit 2012 jedes<br />
Jahr eine spezielle Form der Diskriminierung in den<br />
Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Die bisherigen Themenschwerpunkte<br />
waren 2012: Alter, 2013: Behinderung,<br />
2014: Rassismus, 2015: Geschlecht, 20<strong>16</strong>:<br />
Religion und in diesem Jahr eben die sexuelle<br />
Vielfalt. Über die Berichte hinaus wird von der<br />
Antidiskriminierungsstelle eine juristische Erstberatung<br />
angeboten bzw. an andere Beratungsstellen<br />
weitervermittelt. Zudem versucht sie, zwischen<br />
den Parteien zu schlichten.<br />
[Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes]<br />
„Einkaufszettel“ für das Anwaltspostfach<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat angesichts<br />
der näher rückenden Nutzungspflicht für<br />
das besondere elektronische Anwaltspostfach (vgl.<br />
dazu zuletzt auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 15/20<strong>17</strong>,<br />
S. 779) kürzlich noch einmal auf die für den Zugang<br />
zum beA mindestens benötigte Computer-Hardund<br />
-Software hingewiesen. Was sich hinter den<br />
„erforderlichen technischen Einrichtungen“, von<br />
denen das Gesetz spricht, verbirgt, soll nachstehend<br />
noch einmal kurz aufgelistet werden:<br />
• PC (auch Laptop) mit USB-Anschluss;<br />
• Betriebssystem und Internetbrowser: Für<br />
die gängigen Betriebssysteme (Windows: ab<br />
Windows 7; Apple: ab OS X 10.9; Linux:<br />
openSUSE 13.2) und Internetbrowser (neuere<br />
Versionen von Internet Explorer, Firefox,<br />
Chrome und Safari) wird die Funktionsfähigkeit<br />
getestet; weitere kompatible Software<br />
wird auf der Webseite der BRAK beschrieben;<br />
• Internetverbindung: Empfohlen werden mindestens<br />
2 Mbit/s;<br />
• Virenschutz: Mittlerweile bringen zwar schon<br />
einige Betriebssysteme einen Virenschutz mit.<br />
Idealerweise sollte aber eine gesonderte Software<br />
zusätzlich installiert werden, die ständig<br />
aktuell zu halten ist;<br />
• die Software „beA Client Security“ muss auf<br />
dem PC installiert werden;<br />
• beA-Karte(n): Zu bestellen über die Bundesnotarkammer.<br />
Mitarbeiter sollten jeweils eine<br />
eigene Karte erhalten;<br />
• Kartenlesegerät: Benötigt wird ein Chipkartenleser,<br />
der an den PC angeschlossen und<br />
dort installiert wird. Es gibt verschiedene Sicherheitsklassen;<br />
für Mitarbeiter reicht ein<br />
Gerät der Klasse 1, für Anwälte wird ein Gerät<br />
834 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
der Klasse 3 empfohlen, mit dem auch die PIN<br />
der beA-Karte geändert und das Signaturzertifikat<br />
aufgeladen werden kann.<br />
Die BRAK verweist darauf, dass neben diesen<br />
notwendigen Komponenten eventuell noch weitere<br />
sinnvolle Hardware zur Verfügung stehen<br />
sollte, etwa ein Drucker und ein Scanner, der für<br />
die Digitalisierung von Papierdokumenten benötigt<br />
wird. Die ausführlichen Tipps der BRAK zu den<br />
technischen Vorgaben für das beA finden sich auf<br />
der Homepage der Kammer unter http://bea.brak.de/<br />
. [Quelle: BRAK]<br />
Personalia<br />
Ende Juni gab es am Bundesgerichtshof mehrere<br />
Ernennungen. Neu zu Richtern am BGH ernannt<br />
wurden die Vorsitzende Richterin am OLG Dr. UTE<br />
BRENNEISEN und die Richterin am OLG Dr. NINA MARX.<br />
Frau Dr. BRENNEISEN kommt vom Thüringer Oberlandesgericht,<br />
wo sie einen Zivilsenat und zudem<br />
den Senat für Notarsachen leitete. Sie ist nun dem<br />
vornehmlich für das Werkvertrags-, Handelsvertreter-<br />
und Zwangsvollstreckungsrecht zuständigen<br />
VII. Zivilsenat des BGH zugewiesen worden.<br />
Frau Dr. MARX war zuletzt als Richterin am<br />
Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen tätig.<br />
Das Präsidium des BGH hat sie mit jeweils hälftiger<br />
Arbeitskraft dem vornehmlich für den gewerblichen<br />
Rechtsschutz, das Urheberrecht und das<br />
Wettbewerbsrecht zuständigen I. Zivilsenat sowie<br />
dem X. Zivilsenat zugewiesen, der schwerpunktmäßig<br />
für Patent- und Gebrauchsmusterstreitsachen<br />
sowie darüber hinaus für das Personenbeförderungs-<br />
und Reisevertragsrecht zuständig ist.<br />
Zum Vorsitzenden Richter am BGH wurde der<br />
bisherige Richter am BGH Prof. Dr. INGO DRESCHER<br />
ernannt. Prof. DRESCHER kam 2007 an den BGH, wo<br />
er seither und zuletzt als stellvertretender Vorsitzender<br />
dem für das Gesellschaftsrecht und für<br />
Teilbereiche des Kapitalmarktrechts zuständigen<br />
II. Zivilsenat angehörte. Ihm wurde nun der<br />
Vorsitz dieses Senats übertragen.<br />
Zum neuen Richter am Bundesverwaltungsgericht<br />
wurde der bisherige Vorsitzende Richter am OVG<br />
Münster HANS-JÖRG HOLTBRÜGGE ernannt. Herr HOLT-<br />
BRÜGGE war langjährig am VG Gelsenkirchen tätig,<br />
im Jahr 2005 wurde er zum Richter am nordrheinwestfälischen<br />
OVG ernannt. Im Januar 2012 folgte<br />
seine Ernennung zum Vorsitzenden Richter. Beim<br />
BVerwG ist er künftig im für das Fürsorgerecht<br />
einschließlich des Asylbewerberleistungsrechts, das<br />
Schwerbehinderten-, Mutterschutz-, Jugendhilfe-,<br />
Jugendschutz- und Ausbildungsförderungsrecht<br />
sowie das Personalvertretungsrecht zuständigen<br />
5. Revisionssenat tätig. [Quellen: BGH/BVerwG]<br />
Herbstveranstaltung des Deutschen<br />
Mietgerichtstags<br />
Die Herbstveranstaltung des Deutschen Mietgerichtstags<br />
findet in diesem Jahr am 15. September<br />
in Hamburg statt. Angekündigt sind Vorträge zu<br />
den Themen „Nutzungsentschädigung nach Beendigung<br />
des Mietverhältnisses“ (Referent: Vors.<br />
Richter am LG HUBERT FLEINDL, München) und<br />
„Kündigungsfolgeschaden des Mieters“ (Referentin:<br />
Vors. Richterin am LG ASTRID SIEGMUND, Berlin).<br />
Interessenten können sich per E-Mail unter<br />
anmeldung@mietgerichtstag.de oder auf der<br />
Webseite der Uni Bielefeld (www.jura.uni-bielefeld.<br />
de/lehrstuehle/artz/startseite) anmelden. Die Teilnahme<br />
ist für Mitglieder des Mietgerichtstags<br />
kostenlos, für Nichtmitglieder beträgt die Teilnahmegebühr<br />
50 €. [Quelle: Mietgerichtstag]<br />
Neuer <strong>ZAP</strong> Report zum Berufsrecht<br />
Das Berufsbild des Rechtsanwalts hat sich in den<br />
letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Der Trend<br />
von der individualistischen Berufsausübung in einer<br />
örtlichen Kanzlei hin zur beruflichen Zusammenarbeit<br />
in grenzüberschreitend tätigen Sozietäten,<br />
die immer stärkere Spezialisierung und die fortschreitende<br />
Digitalisierung sind nur ein paar Beispiele<br />
für die erheblichen Umwälzungen auf dem<br />
Anwaltsmarkt.<br />
Grund genug, dem anwaltlichen Berufsrecht mit<br />
einem eigenen <strong>ZAP</strong> Report einen festen Stellenwert<br />
in der <strong>ZAP</strong> einzuräumen. Der <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport<br />
soll Ihnen einen Überblick über<br />
wesentliche Gesetzesänderungen und die wichtigste<br />
Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht<br />
geben. Den ersten Report lesen Sie in dieser<br />
Ausgabe direkt im Anschluss an das Anwaltsmagazin.<br />
[Red.]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 835
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Wichtige Gesetzesverkündungen im Überblick<br />
Bundesgesetzblatt Teil I 20<strong>17</strong><br />
Gesetz vom Inkrafttreten BGBl, S. Anmerkung<br />
Gesetz zur Durchführung der<br />
Verordnung (EU) 2015/848 über<br />
Insolvenzverfahren<br />
Gesetz zur Ergänzung des Finanzdienstleistungsaufsichtsrechts<br />
im<br />
Bereich der Maßnahmen bei Gefahren<br />
für die Stabilität des Finanzsystems<br />
und zur Änderung<br />
der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie<br />
(Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz)<br />
Dreiundfünfzigstes Gesetz zur<br />
Änderung des Strafgesetzbuches<br />
– Ausweitung des Maßregelrechts<br />
bei extremistischen Straftätern<br />
Achtes Gesetz zur Änderung des<br />
Straßenverkehrsgesetzes<br />
Gesetz zur Bekämpfung der<br />
Steuerumgehung und zur Änderung<br />
weiterer steuerlicher Vorschriften<br />
(Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz<br />
– StUmgBG)<br />
Zweites Gesetz zur Novellierung<br />
von Finanzmarktvorschriften aufgrund<br />
europäischer Rechtsakte<br />
(Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz<br />
– 2. FiMaNoG)<br />
Gesetz zur Umsetzung der Vierten<br />
EU-Geldwäscherichtlinie, zur<br />
Ausführung der EU-Geldtransferverordnung<br />
und zur Neuorganisation<br />
der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen<br />
5.6.20<strong>17</strong> 26.7.20<strong>17</strong><br />
21.4.2018<br />
6.6.20<strong>17</strong> 10.6.20<strong>17</strong><br />
1.7.2018<br />
1476 u.a. örtliche Zuständigkeit bei sog.<br />
Annexklagen, Abwicklung von<br />
Sekundärinsolvenzverfahren<br />
(s. VALLENDER <strong>ZAP</strong> F 14, S. 789 ff.)<br />
1495 u.a. Mindeststandards für die Vergabe<br />
von Neukrediten, neue Verbraucherinformationspflichten<br />
11.6.20<strong>17</strong> 1.7.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>12 Elektronische Aufenthaltsüberwachung;<br />
fakultative Sicherungsverwahrung<br />
<strong>16</strong>.6.20<strong>17</strong> 21.6.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>48 Schaffung von Rahmenbedigungen<br />
für das automatisierte Fahren<br />
23.6.20<strong>17</strong> 25.6.20<strong>17</strong><br />
1.1.2018<br />
23.6.20<strong>17</strong> 25.6.20<strong>17</strong><br />
26.6.20<strong>17</strong><br />
1.1.2018<br />
3.1.2018<br />
1.7.2018<br />
23.6.20<strong>17</strong> 26.6.20<strong>17</strong><br />
25.5.2018<br />
<strong>16</strong>82 u.a. Maßnahmen gegen Steuerbetrug<br />
und -umgehung; Kindergeld<br />
rückwirkend nur für sechs Monate;<br />
Eheleute erhalten automatisch<br />
Steuerklasse IV (vgl. auch <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 13/20<strong>17</strong>, S. 664)<br />
<strong>16</strong>93 u.a. Stärkung des Anlegerschutzes<br />
durch Ausweitung von Verhaltens-<br />
und Organisationspflichten<br />
für Wertpapierdienstleistungsunternehmen<br />
1822 u.a. Prüfung des jeweiligen Risikos<br />
von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung<br />
Verordnung vom Inkrafttreten BGBl, S. Anmerkung<br />
Zweite Verordnung zur Änderung<br />
der Sportanlagenlärmschutzverordnung<br />
Verordnung zur Änderung der<br />
Telekommunikations-Überwachungsverordnung<br />
Verordnung über das automatisierte<br />
Verfahren zur Auskunft<br />
über Kundendaten nach § 112 des<br />
Telekommunikationsgesetzes<br />
1.6.20<strong>17</strong> 8.9.20<strong>17</strong> 1468 Neuregelung der Ruhezeiten für<br />
wohnortnahe Sportausübung<br />
14.6.20<strong>17</strong> 21.6.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>57 u.a. Festlegung technischer/organisatorischer<br />
Details zur neuen<br />
Vorratsdatenspeicherung<br />
14.6.20<strong>17</strong> 21.6.20<strong>17</strong> <strong>16</strong>67 Regelung, wann der Fahrer die<br />
Steuerung über den Wagen beim<br />
Einsatz hoch- oder vollautomatisierter<br />
Systeme übernehmen<br />
muss; Einsatz eines Datenspeichers<br />
in Form einer Blackbox<br />
836 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
Berufsrechtsreport<br />
Von Akad. Rat Dr. CHRISTIAN DECKENBROCK und Akad. Rat Dr. DAVID MARKWORTH, Universität zu Köln<br />
I. Einleitung<br />
Das Berufsbild des Rechtsanwalts hat sich in den<br />
letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Der Trend<br />
von der individualistischen Berufsausübung in<br />
einer örtlichen Kanzlei hin zur beruflichen Zusammenarbeit<br />
in grenzüberschreitend tätigen Sozietäten,<br />
die immer stärkere Spezialisierung und die<br />
fortschreitende Digitalisierung sind nur ein paar<br />
Beispiele für die erheblichen Umwälzungen auf<br />
dem Anwaltsmarkt. Der Gesetzgeber kommt<br />
kaum hinterher, diesen Entwicklungen durch Reformen<br />
des anwaltlichen Berufsrechts Rechnung<br />
zu tragen. Oft genug bedarf es erst Entscheidungen<br />
des BVerfG, um Neuregelungen anzustoßen.<br />
Das anwaltliche Berufsrecht entwickelt sich dabei<br />
nicht immer linear und konsistent, weil es kein<br />
geschlossenes System darstellt. Vielmehr handelt<br />
es sich um eine in zahlreiche autonome Entwicklungsstränge<br />
aufgespaltene Querschnittsmaterie.<br />
Nicht einmal innerhalb der einzelnen Teilstränge<br />
findet seitens der Rechtsprechung eine einheitliche<br />
Ausdifferenzierung statt, die sowohl der<br />
Rechtspraxis als auch dem Normgeber Anhaltspunkte<br />
zur weiteren Verhaltenssteuerung liefern<br />
könnte. Die Auslegung des anwaltlichen Berufsrechts<br />
ist auch davon abhängig, in welchem<br />
Rechtsweg eine Berufspflicht Bedeutung erlangt.<br />
Die Justiz kann nämlich aus ganz unterschiedlichen<br />
Gründen berufen sein, über die Reichweite berufsrechtlicher<br />
Regelungen zu befinden.<br />
Dies lässt sich am besten am Beispiel des Verbots<br />
der Vertretung widerstreitender Interessen verdeutlichen:<br />
So kann das Vorliegen eines Interessenkonflikts<br />
i.S.d. § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3<br />
BORA in einem berufsgerichtlichen Verfahren<br />
nach den §§ 113 ff. BRAO von Bedeutung sein.<br />
Zuständig hierfür ist die Anwaltsgerichtsbarkeit mit<br />
dem Anwaltsgericht (AnwG) als Eingangs-, dem<br />
Anwaltsgerichtshof (AGH) als Berufungs- und dem<br />
Senat für Anwaltssachen beim BGH als Revisionsinstanz.<br />
Oft führen Interessenkonflikte nur zu<br />
einem belehrenden Hinweis der Rechtsanwaltskammer,<br />
in dem diese den betroffenen Anwalt auf<br />
einen vermeintlichen Verstoß gegen das Verbot der<br />
Vertretung widerstreitender Interessen hinweist<br />
und die Fortführung des Mandats untersagen will.<br />
Insoweit handelt es sich um eine verwaltungsrechtliche<br />
Anwaltssache (§§ 112a ff. BRAO), für die,<br />
wie für das berufsgerichtliche Verfahren, die Anwaltsgerichtsbarkeit<br />
zuständig ist. Eingangsinstanz<br />
ist hier allerdings der AGH. Die Berufungsinstanz<br />
bildet (systemwidrig) der Senat für Anwaltssachen<br />
des BGH, und das einschlägige Verfahrensrecht ist<br />
der VwGO zu entnehmen (vgl. die Überlegungen<br />
zur Neuausrichtung der Anwaltsgerichtsbarkeit bei<br />
DECKENBROCK AnwBl 2015, 365; KILIAN NJW 20<strong>16</strong>, 137).<br />
Der Beschluss des BGH vom 2.6.20<strong>17</strong> (Az. AnwZ<br />
[Brfg] 26/<strong>16</strong>) zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten,<br />
die selbst Anwälte mit dieser ungewöhnlichen<br />
Struktur haben. Wird dem Anwalt demgegenüber<br />
vorsätzliches Fehlverhalten zur Last<br />
gelegt, droht ihm sogar eine strafgerichtliche<br />
Verurteilung wegen Parteiverrats nach § 356 StGB.<br />
Immer wieder kommt es daher vor, dass die<br />
Strafsenate des BGH in letzter Instanz über die<br />
Reichweite eines Tätigkeitsverbots entscheiden.<br />
Schließlich können Interessenkonflikte in zivilrechtlichen<br />
Rechtsstreitigkeiten eine Rolle spielen:<br />
Ein Anwalt kann etwa versuchen, den gegnerischen<br />
Prozessbevollmächtigten im Wege einer<br />
wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage zur<br />
Mandatsniederlegung zu zwingen. Weitere Beispiele<br />
sind Streitigkeiten über die Wirksamkeit<br />
eines Anwaltsvertrags (§ 134 BGB) und über die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 837
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Folgen einer Kündigung wegen eines Interessengegensatzes<br />
(§§ 627 f. BGB). Bisweilen spielt die<br />
Reichweite des Verbots der Vertretung widerstreitender<br />
Interessen auch in Kostenfestsetzungsverfahren<br />
eine Rolle. Es hängt mithin vom<br />
Einzelfall ab, welchem Zivilsenat des BGH die<br />
letztinstanzliche Zuständigkeit zukommt.<br />
Bereits diese nicht abschließende Aufzählung zeigt,<br />
dass über anwaltliches Berufsrecht – entgegen<br />
einem weit verbreiteten Trugschluss – nicht allein<br />
die Anwaltsgerichtsbarkeit, in der auch Rechtsanwälte<br />
als Richter fungieren, entscheidet. Nicht<br />
nur in der Frage der Interessenkonflikte offenbart<br />
eine Analyse der Rechtsprechung des BGH dabei,<br />
dass die Wertungen der Senate alles andere als<br />
deckungsgleich sind. Dies wird insbesondere auch<br />
bei der Frage der Spezialistenbezeichnungen, zu<br />
der der I. Zivilsenat und der Anwaltssenat unterschiedliche<br />
Standpunkte vertreten (s. dazu unten<br />
V. 2.), und im anwaltlichen Gesellschaftsrecht, wo<br />
insbesondere der II. Senat die vorhandenen Beschränkungen<br />
viel weitgehender als der Anwaltssenat<br />
verfassungsrechtlich hinterfragt hat (s. dazu<br />
unten III. 1.), deutlich.<br />
Der folgende Report soll einen Überblick über<br />
wesentliche Gesetzesänderungen und die wichtigste<br />
Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht<br />
geben. In diesem Rahmen werden auch<br />
verborgene Zusammenhänge und etwaige Widersprüche<br />
aufgezeigt und rechtspolitische Versäumnisse<br />
angesprochen. Die folgenden Ausführungen,<br />
die aus Platzgründen (dieses Mal) das<br />
anwaltliche Vergütungsrecht noch weitgehend<br />
außer Acht lassen, widmen sich im Wesentlichen<br />
den Entwicklungen des vergangenen Jahres.<br />
Ihnen sollen von nun an regelmäßig weitere<br />
Berufsrechtsreporte folgen.<br />
II.<br />
Aktuelle Gesetzesänderungen<br />
1. „Kleine“ BRAO-Novelle<br />
Zahlreiche Änderungen im Berufsrecht hat das<br />
Gesetz zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie<br />
und zur Änderung weiterer Vorschriften<br />
im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom<br />
12.5.20<strong>17</strong> (BGBl I, S. 1121) mit sich gebracht. Von<br />
einem großen Wurf kann gleichwohl nicht die<br />
Rede sein. Der Gesetzgeber hat nicht nur das<br />
anwaltliche Gesellschaftsrecht (dazu III.) von vornherein<br />
ausgeklammert, sondern auch nicht den<br />
Mut gehabt, die ursprünglichen Pläne zur anwaltlichen<br />
Fortbildungspflicht umzusetzen. So fehlt<br />
der Satzungsversammlung der BRAK künftig weiterhin<br />
die Kompetenz, die allgemeine anwaltliche<br />
Fortbildungspflicht (§ 43a Abs. 6 BRAO) zu konkretisieren.<br />
Ebenfalls nicht Gesetz geworden ist<br />
das Vorhaben, alle neu zugelassenen Rechtsanwälte<br />
zu verpflichten, innerhalb eines Jahres<br />
nach ihrer Zulassung eine zehnstündige Fortbildung<br />
im anwaltlichen Berufsrecht nachzuweisen.<br />
Vielmehr beschränkt sich das in Kraft getretene<br />
Gesetz auf die Regelung einer Vielzahl minderbedeutender<br />
Einzelfragen und wird daher nicht zu<br />
Unrecht zum „Reförmchen“ herabgewürdigt (vgl.<br />
zum Ganzen näher DECKENBROCK NJW 20<strong>17</strong>, 1425;<br />
OFFERMANN-BURCKART AnwBl 20<strong>17</strong>, 513).<br />
Nunmehr können Rechtsanwälte neben ihrer (Zulassungs-)Kanzlei<br />
nicht nur Zweigstellen, sondern<br />
auch sog. weitere Kanzleien unterhalten (§ 27 Abs. 2<br />
BRAO n.F.). Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass<br />
sie gegenüber der Zulassungskanzlei eigenständig<br />
sind, während eine Zweigstelle von ihr abhängig und<br />
an diese angegliedert ist. Von dieser Änderung<br />
erhofft sich der Gesetzgeber eine höhere Transparenz<br />
der anwaltlichen Berufsausübung. Die<br />
Handakte, die jetzt elektronisch geführt werden<br />
kann, muss künftig grundsätzlich für sechs Jahre<br />
aufbewahrt werden, wobei die Frist erst mit Ablauf<br />
des Kalenderjahres beginnt, in dem der Auftrag<br />
beendet wurde (vgl. § 50 BRAO n.F.). Zudem<br />
ermächtigt § 59b Abs. 2 Nr. 8 BRAO n.F. die<br />
Satzungsversammlung der BRAK zu einer näheren<br />
Regelung der Zustellung von Anwalt zu Anwalt; die<br />
Satzungsversammlung hat diese Kompetenz bereits<br />
am 19.5.20<strong>17</strong> genutzt und eine Anpassung des § 14<br />
BORA verabschiedet, die noch in diesem Jahr in<br />
Kraft treten dürfte. § 64 Abs. 1 BRAO n.F. ermöglicht<br />
erstmalig eine Briefwahl des Kammervorstands,<br />
wohingegen § 46a Abs. 4 BRAO n.F. die Befreiung<br />
von der Rentenversicherungspflicht für Syndikusanwälte<br />
auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf<br />
Zulassung bei der Rechtsanwaltskammer vorverlegt.<br />
Das RDG enthält seit der Novelle eine Definition<br />
seines räumlichen Anwendungsbereichs;<br />
wird eine Rechtsdienstleistung ausschließlich aus<br />
einem anderen Staat heraus erbracht, gilt dieses<br />
Gesetz nur, wenn ihr Gegenstand deutsches Recht<br />
ist (§ 1 Abs. 2 RDG n.F.). Inkassodienstleister,<br />
Rentenberater und Rechtsdienstleister in einem<br />
ausländischen Recht haben von nun an die Möglichkeit,<br />
sich auch nur für einen Teilbereich registrieren<br />
zu lassen (§ 10 Abs. 1 S. 2 RDG n.F.; z.B. Rentenberater<br />
für betriebliche Altersvorsorge).<br />
838 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
2. Schutz von Geheimnissen bei Outsourcing<br />
In Kürze wird das Gesetz zur Neuregelung des<br />
Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung<br />
Dritter an der Berufsausübung schweigepflichtiger<br />
Personen (BT-Drucks 18/11936 i.V.m. 18/12940)<br />
in Kraft treten. Es hat als eines der letzten<br />
Gesetzesvorhaben der laufenden Legislaturperiode<br />
den Bundestag am 29.6.20<strong>17</strong> erfolgreich<br />
passiert, muss aber am 22.9.20<strong>17</strong> noch den<br />
Bundesrat durchlaufen. Mit dem Gesetz wird der<br />
straf- und berufsrechtliche Schutz von Geheimnissen,<br />
die im Rahmen des Outsourcing bestimmter<br />
Dienstleistungen dritten Personen anvertraut<br />
oder sonst beruflich bekannt geworden<br />
sind (etwa bei der Einrichtung, dem Betrieb, der<br />
Wartung und der Anpassung der informationstechnischen<br />
Anlagen, Anwendungen und Systeme),<br />
eindeutig verankert. Das Gesetz stellt durch<br />
eine Ergänzung des § 203 StGB sicher, dass<br />
künftig das Offenbaren von geschützten Geheimnissen<br />
gegenüber Personen, die an der beruflichen<br />
oder dienstlichen Tätigkeit des Berufsgeheimnisträgers<br />
mitwirken, nicht als strafbares<br />
Handeln zu qualifizieren ist, soweit dies für die<br />
Inanspruchnahme der Tätigkeit der mitwirkenden<br />
Personen erforderlich ist. Die damit verbundene<br />
Verringerung des Geheimnisschutzes wird<br />
dadurch kompensiert, dass die mitwirkenden<br />
Personen im Gegenzug in die Strafbarkeit nach<br />
§ 203 StGB einbezogen werden. Flankierend dazu<br />
wurden die strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte<br />
erweitert (vgl. zu Einzelheiten GRUPP<br />
AnwBl 20<strong>17</strong>, 507).<br />
III. Anwaltliches Gesellschaftsrecht<br />
1. Beschränkung des Kreises der sozietätsfähigen<br />
Berufe<br />
Anfang 20<strong>16</strong> befasste sich das BVerfG auf Vorlage<br />
des BGH mit der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung<br />
des Kreises der sozietätsfähigen Berufe<br />
auf Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in § 59a<br />
Abs. 1 BRAO. Wie angesichts der „Vorarbeiten“ des<br />
BGH (Beschl. v. <strong>16</strong>.5.2013 – II ZB 7/11) zu erwarten<br />
war, sah der I. Senat das berufsrechtliche Verbot<br />
eines interprofessionellen Zusammenschlusses<br />
eines Rechtsanwalts mit einer gutachterlich tätigen<br />
Ärztin und Apothekerin in einer Partnerschaftsgesellschaft<br />
als nicht gerechtfertigten<br />
Eingriff in die durch Art. 12 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit<br />
an. Der Senat stellt insoweit vor<br />
allem darauf ab, dass das berufsrechtliche Schutzniveau<br />
von Ärzten und Apothekern nicht hinter<br />
dem von Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern,<br />
die in § 59a BRAO als sozietätsfähige Berufe<br />
anerkannt sind, zurückbleibt (BVerfG, Beschl. v.<br />
12.1.20<strong>16</strong> – 1 BvL 6/13; BGH, Beschl. v. 12.4.20<strong>16</strong> – II<br />
ZB 7/11; s. ausführlich HENSSLER/DECKENBROCK AnwBl<br />
20<strong>16</strong>, 211; KILIAN/GLINDEMANN BRAK-Mitt. 20<strong>16</strong>, 102;<br />
RÖMERMANN NJW 20<strong>16</strong>, 682).<br />
Relevant sind allerdings nicht so sehr die unmittelbaren<br />
Beschlussfolgen. So ging es vordergründig<br />
allein um gutachterliche Tätigkeiten von Ärzten und<br />
Apothekern, also insbesondere nicht um die Ausübung<br />
des Heilberufs oder den Betrieb einer Apotheke,<br />
und damit um ein schmales Feld der<br />
Beratungsbranche. Die Entscheidung zeigt jedoch<br />
– insbesondere im Zusammenspiel mit dem bereits<br />
Anfang 2014 ergangenen Beschluss zur Verfassungswidrigkeit<br />
von Mehrheitserfordernissen in der<br />
interprofessionellen Sozietät (BVerfG, Beschl. v.<br />
14.1.2014 – 1 BvR 2998/11, 1 BvR 236/12) – eindrucksvoll,<br />
dass die derzeitige Architektur des anwaltlichen<br />
Gesellschaftsrechts verfassungsrechtlich<br />
nicht haltbar ist. Insoweit bleibt zu hoffen, dass<br />
der Gesetzgeber das anwaltliche Gesellschaftsrecht<br />
nicht nur im Sinne der BVerfG-Rechtsprechung<br />
repariert, sondern sich zu einer vollständigen Reform<br />
durchringt. Zu den Eckpunkten dieser Neuordnung<br />
sollten insbesondere die Ermöglichung der<br />
beruflichen Zusammenarbeit von Anwälten mit<br />
allen, zumindest aber mit allen verkammerten Berufsgruppen,<br />
die vollständige berufsrechtliche Anerkennung<br />
der Berufsausübungsgemeinschaft mit<br />
rechtsformneutralen Regelungen zur Zulassung, zur<br />
Postulationsfähigkeit und zur berufsrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
sowie die Aufnahme von Gesellschaften<br />
in ein erweitertes Rechtsanwaltsverzeichnis<br />
zählen (zum Reformbedarf s. DECKENBROCK AnwBl<br />
2014, 118; HENSSLER AnwBl 20<strong>17</strong>, 378). Immerhin hat<br />
das BMWi in dem am 12.4.20<strong>17</strong> verabschiedeten<br />
nationalen Reformprogramm 20<strong>17</strong> verlautbart, die<br />
längst überfällige Reform des anwaltlichen Gesellschaftsrechts<br />
in der kommenden Legislaturperiode<br />
endlich anzugehen.<br />
Solange es nicht zur Reform des anwaltlichen<br />
Berufsrechts kommt, werden die Möglichkeiten<br />
beruflicher Zusammenarbeit durch die Gerichte<br />
auch weiterhin eng begrenzt werden. So hat<br />
etwa der AGH Niedersachsen nunmehr entschieden,<br />
dass eine Bürogemeinschaft zwischen einem<br />
Rechtsanwalt und einem Mediator/Berufsbetreuer<br />
verboten bleibt (AGH Niedersachsen,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 839
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Urt. v. 22.5.20<strong>17</strong> – AGH <strong>16</strong>/<strong>16</strong> [I 9]). Kurios war<br />
dabei, dass der Mediator/Berufsbetreuer bis zur<br />
freiwilligen Rückgabe seiner Zulassung ebenfalls<br />
Rechtsanwalt und in dieser Funktion sogar Sozius<br />
seines nunmehrigen Bürokollegen gewesen ist.<br />
Davon unbeeindruckt stellte der AGH maßgeblich<br />
darauf ab, dass Mediatoren bzw. Berufsbetreuer,<br />
anders als Ärzte und Apotheker, keiner den Rechtsanwälten<br />
vergleichbaren strafrechtlich und prozessual<br />
abgesicherten Verschwiegenheitspflicht<br />
unterliegen. Trotz der Vorgaben des BVerfG sei<br />
daher nicht davon auszugehen, dass bei einer<br />
solchen Zusammenarbeit die Einschränkung des<br />
§ 59a Abs. 1 BRAO, die nach § 59a Abs. 3 BRAO für<br />
die Bürogemeinschaft entsprechend gilt, verfassungswidrig<br />
ist.<br />
2. Verbot von Anwaltskonzernen<br />
Anschauungsmaterial für den Gesetzgeber liefert<br />
auch das Urteil des Anwaltssenats vom 20.3.20<strong>17</strong><br />
(Az. AnwZ [Brfg] 33/<strong>16</strong>). Nach dem Willen des<br />
historischen Gesetzgebers sollte die BRAO die<br />
Gesellschafterstruktur anwaltlicher Berufsausübungsgesellschaften<br />
nicht nur hinsichtlich einer<br />
interprofessionellen Zusammenarbeit, sondern<br />
darüber hinaus gem. § 59e Abs. 1 S. 1 BRAO<br />
auf natürliche Personen beschränken. Letzteres<br />
schließt Konzernierungen aus und verhindert insbesondere,<br />
dass moderne, international tätige größere<br />
Berufsträgerzusammenschlüsse besonders<br />
haftungsträchtige Mandate in eigene Gesellschaften<br />
auslagern können. Der Anwaltssenat hat in seinem<br />
Urteil am überkommenen gesetzgeberischen Willen<br />
festgehalten und die Alleingesellschafterstellung<br />
einer Partnerschaftsgesellschaft an einer Rechtsanwaltsgesellschaft<br />
als unzulässig angesehen. Insoweit<br />
versuchte der Senat eine Abgrenzung zu<br />
einer Entscheidung des Senats für Patentanwaltssachen<br />
aus dem Jahr 2001 (Beschl. v. 9.7.2001 –<br />
PatAnwZ 1/00), wonach der Wortlaut des § 59e<br />
Abs. 1 S. 1 BRAO bei zeitgemäßer Auslegung es nicht<br />
ausschließt, dass eine GbR Gesellschafterin einer<br />
Berufsträgergesellschaft wird. Auch wenn seitdem<br />
der pauschale Ausschluss einer Konzernierung als<br />
unzulässig galt, machte der BGH in dem Umstand,<br />
dass nun eine Partnerschaftsgesellschaft anstelle<br />
einer GbR die Gesellschafterstellung innehatte,<br />
einen entscheidenden Unterschied aus. Diesen<br />
Unterschied sah der Senat in seiner rückwärtsgewandten<br />
Entscheidung wenig überzeugend darin,<br />
dass die Partnerschaftsgesellschaft rechtlich deutlich<br />
stärker verselbstständigt sei als die GbR (s. die<br />
ausführliche Kritik bei MARKWORTH WuB 20<strong>17</strong>, 427;<br />
HENSSLER NJW 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>44; GRUNEWALD BB 20<strong>17</strong>, 1<strong>16</strong>3;<br />
RÖMERMANN EWiR 20<strong>17</strong>, 261).<br />
3. Eintragungsfähigkeit des Firmennamens<br />
einer Partnerschaft<br />
In letzter Zeit haben sich die Gerichte verstärkt<br />
damit zu befassen, inwiefern Partnerschaftsgesellschaften<br />
den Namen eines Partners auch nach<br />
dessen Ausscheiden fortführen dürfen. § 2 Abs. 1<br />
PartGG ist zu entnehmen, dass die Partnerschaftsgesellschaft<br />
den Namen mindestens eines Gesellschafters<br />
tragen muss. Scheidet dieser aus, setzt<br />
die Beibehaltung seines Namens die im Kern<br />
unveränderte Fortführung der Firma im Übrigen<br />
voraus. Der Grundsatz der Firmenwahrheit wird<br />
dann durch den Grundsatz der Firmenkontinuität<br />
überlagert (§ 2 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 24 Abs. 1<br />
HGB). Die Firmenkontinuität ist nach dem OLG<br />
Hamm allerdings nicht mehr gewährleistet, wenn<br />
die Gesellschaft zusätzlich den Zusatz „X-Treuhand“<br />
aus ihrem Namen entfernt, da ihm Kennzeichnungskraft<br />
für eine Wirtschaftsprüfungsund<br />
Steuerberatungsgesellschaft zugesprochen<br />
wird (OLG Hamm, Beschl. v. 5.10.20<strong>16</strong> – 27 W<br />
107/<strong>16</strong>; zustimmend JURETZEK DStR 20<strong>17</strong>, 352).<br />
Außer bei Ausscheiden des namensgebenden Gesellschafters<br />
ist die Fortführung eines Namens<br />
gem. § 2 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 22 Abs. 1 HGB<br />
grundsätzlich auch dann zulässig, wenn der Namensgeber<br />
das Anwaltsunternehmen an einen<br />
neuen Unternehmensträger veräußert. Insoweit<br />
hat nun ebenfalls das OLG Hamm entschieden,<br />
dass die Vorschriften analog anzuwenden sind,<br />
sofern sich eine deutsche Partnerschaftsgesellschaft<br />
von einer internationalen ausländischen<br />
Sozietät abspaltet, um deren Geschäftsbetrieb in<br />
Deutschland als rechtlich selbstständige Niederlassung<br />
zu führen. Voraussetzung der Fortführung<br />
der international eingeführten Kanzleibezeichnung<br />
durch die deutsche Partnerschaftsgesellschaft soll<br />
lediglich die Zustimmung sämtlicher Partner der<br />
ausländischen Sozietät sein, nicht hingegen diejenige<br />
ihrer längst ausgeschiedenen ursprünglichen<br />
Namensgeber (OLG Hamm, Beschl. v. 5.7.20<strong>16</strong> –<br />
27 W 42/<strong>16</strong>; v. 3.11.20<strong>16</strong> – 27 W 130/<strong>16</strong>; im Einzelnen<br />
JURETZEK DStR 20<strong>17</strong>, 1231). Die Entscheidungen zeigen<br />
einmal mehr, wie sehr die partnerschaftsgesellschaftliche<br />
Praxis angesichts häufiger Kanzleiwechsel,<br />
-fusionen und altersbedingter Austritte<br />
mit dem Zwang zur Namensfirma hadert. Insbesondere<br />
vor dem Hintergrund, dass Berufsgesellschaften<br />
in Form der GmbH keinem ähnlichen<br />
840 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
Zwang unterliegen, ist dies ohne Weiteres nachvollziehbar<br />
(zum Reformbedarf des § 2 PartGG<br />
HENSSLER, in: FS Baums, 20<strong>17</strong>, S. 579).<br />
Das starre Firmenrecht der Partnerschaftsgesellschaft<br />
war auch Gegenstand des Beschlusses des<br />
OLG München vom 1.12.20<strong>16</strong> (Az. 31 Wx 281/<strong>16</strong>). Im<br />
Gegensatz zum OLG Hamm kam das Münchener<br />
OLG den Interessen der Berufsträger an größerer<br />
Freiheit bei der Namensgebung jedoch insofern<br />
entgegen, als es entschied, dass eine in Form der<br />
Partnerschaftsgesellschaft geführte Steuerberatungsgesellschaft<br />
bei Eintritt eines Rechtsanwalts<br />
generell nicht zur Angabe seines Berufs in ihrem<br />
Namen verpflichtet ist (s. auch eine weitere<br />
Entscheidung unter IV. 3).<br />
IV. Werberecht<br />
1. Streit um Kaffeetassen, Anwaltsroben<br />
und Kalender<br />
Ein Brühler Rechtsanwalt (Rechtsanwalt Dr. R.)<br />
streitet seit einigen Jahren mit der für ihn zuständigen<br />
Rechtsanwaltskammer und versucht permanent,<br />
die Grenzen des anwaltlichen Berufsrechts<br />
und hier vor allem des Werberechts auszutesten.<br />
Besonders prominent war der Streit um die Zulässigkeit<br />
von kammerseits untersagter Schockwerbung<br />
auf Kaffeetassen. Das gegen die Untersagung<br />
gerichtete Klageverfahren sowie die sich<br />
daran anschließende Verfassungsbeschwerde hatten<br />
keinen Erfolg (vgl. BGH, Urt. v. 27.10.2014 –<br />
AnwZ [Brfg] 67/13 m. Anm. TERRIUOLO <strong>ZAP</strong> F. 23,<br />
S. 1001; BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 5.3.2015 –<br />
1 BvR 3362/14). Die werberechtlichen Vorschriften<br />
des anwaltlichen Berufsrechts dienten dem Zweck,<br />
die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ<br />
der Rechtspflege (§ 1 BRAO) zu sichern; mit der<br />
Stellung eines Rechtsanwalts sei im Interesse des<br />
rechtsuchenden Bürgers eine Werbung unvereinbar,<br />
die ein reklamehaftes Anpreisen in den Vordergrund<br />
stelle und mit der eigentlichen Leistung des Anwalts<br />
sowie dem unabdingbaren Vertrauensverhältnis im<br />
Rahmen eines Mandats nichts mehr zu tun habe.<br />
In Fortführung der geschilderten Auseinandersetzung<br />
fragte Dr. R. dann bei der Rechtsanwaltskammer<br />
an, ob denn die Verwendung der<br />
fraglichen Tassen durch die „Dr. R. Rechtswissenschaftliche<br />
Dienstleistungen UG (haftungsbeschränkt)“,<br />
deren Geschäftsführer er ist, erfolgen könne. Nachdem<br />
die Kammer die Zulässigkeit dieser Art der<br />
Werbung unter Hinweis auf das in § 6 Abs. 3 BORA<br />
normierte Umgehungsverbot ebenfalls verneint<br />
hatte, hat Dr. R. wiederum Klage erhoben. Der<br />
Anwaltssenat (Urt. v. 3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 45/15)<br />
hielt diese – wie schon die Vorinstanz – für<br />
unzulässig, weil es sich bei dem Schreiben der<br />
Kammer nicht um einen mit der Anfechtungsklage<br />
angreifbaren belehrenden Hinweis (Verwaltungsakt),<br />
sondern um eine bloß präventive Auskunft<br />
ohne Regelungscharakter handele. Zwar bringe das<br />
Schreiben zum Ausdruck, dass die Kammer ein<br />
bestimmtes Verhalten des Klägers für berufsrechtswidrig<br />
erachte, es werde in ihm allerdings weder<br />
in einer Entscheidungsformel festgestellt, dass ein<br />
bestimmtes Verhalten rechtswidrig sei, noch werde<br />
ein konkretes Verbot oder Unterlassungsgebot<br />
ausgesprochen. Zugleich sei eine auf die Feststellung<br />
der Rechtmäßigkeit des beabsichtigten<br />
Verhaltens gerichtete (vorbeugende) Feststellungsklage<br />
des Rechtsanwalts grundsätzlich nur<br />
dann zulässig, wenn ein spezielles, besonders<br />
schützenswertes, gerade auf die lnanspruchnahme<br />
vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Interesse<br />
bestehe und die Verweisung des Rechtsanwalts<br />
auf den nachträglichen Rechtsschutz für<br />
ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden sei.<br />
Ein solches Feststellungsinteresse fehle vorliegend,<br />
weil es dem Kläger etwa zuzumuten gewesen sei,<br />
die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft<br />
zur Frage einer möglichen anwaltsgerichtlichen<br />
Anschuldigung abzuwarten. Dieser Ansatz ist fragwürdig,<br />
führt er doch dazu, dass die gerichtliche<br />
Überprüfbarkeit von der durch die Rechtsanwaltskammer<br />
gewählten Entscheidungsform abhängt<br />
und – wenn es an einem belehrenden Hinweis<br />
mit Verwaltungsaktqualität fehlt – der betroffene<br />
Anwalt, der unsicher über die Berufsrechtskonformität<br />
seines Handelns ist, zunächst den Berufsrechtsverstoß<br />
begehen und möglicherweise erhebliche<br />
Sanktionen in Kauf nehmen muss (vgl. bereits<br />
DECKENBROCK AnwBl 2015, 365, 370 ff.). Obwohl der<br />
Senat die Klage für unzulässig hielt, hat er doch in<br />
der Sache die Berufsrechtswidrigkeit auch des<br />
neuen Werbemodells von Dr. R. herausgestellt. Sei<br />
eine Werbung in eigener Person unzulässig, so<br />
könne der Rechtsanwalt dieses Verbot nicht dadurch<br />
umgehen, dass er auf Vornahme der Werbung<br />
durch eine Gesellschaft hinwirke.<br />
Ein weiterer aktueller Streit dreht sich um die berufsrechtliche<br />
Zulässigkeit einer mit Werbung auf<br />
dem oberen Rückenbereich bedruckten bzw. bestickten<br />
(„Dr. R.“ und Internetadresse „www.dr-r.de“)<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 841
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
und im Gerichtssaal getragenen Anwaltsrobe<br />
(BGH, Urt. v. 7.11.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg] 47/15, <strong>ZAP</strong> EN-<br />
Nr. 31/20<strong>17</strong>). Der Anwaltssenat entschied, dass die in<br />
§ 20 BORA bestimmte Pflicht zum Tragen einer<br />
Robe voraussetze, dass die Robe nicht mit werbenden<br />
Aufbringungen versehen sei, weil andernfalls<br />
ihre Funktion, Aussage und Wirkung gestört würde.<br />
In der Literatur ist diese Entscheidung auf ein<br />
geteiltes Echo gestoßen (zustimmend etwa HÄRTING<br />
NJW 20<strong>17</strong>, 410; ablehnend RÖMERMANN BB 20<strong>17</strong>, 19).<br />
Insgesamt bleibt fragwürdig, ob infolge eines Abdrucks<br />
des eigenen Namens auf einer selbst getragenen<br />
Robe tatsächlich eine Beeinträchtigung der<br />
Rechtspflege zu befürchten ist. Möglicherweise wird<br />
das unter dem Az. 1 BvR 54/<strong>17</strong> anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />
hier mehr Klarheit<br />
bringen.<br />
20<strong>17</strong> ging schließlich der „Kalenderstreit“ in eine<br />
neue Runde. Bereits 2013 hatte Rechtsanwalt Dr. R.<br />
Kalender mit Bildern nackter oder spärlich bekleideter<br />
Frauen und einem Verweis auf seine Kanzlei<br />
zu Werbezwecken an Autowerkstätten verteilt.<br />
Hierfür wurde er von der Anwaltskammer wegen<br />
eines Verstoßes gegen das Gebot sachlicher Werbung<br />
(§ 43b BRAO) gerügt. 2015, d.h. nach der<br />
Entscheidung zur Schockwerbung auf Kaffeetassen,<br />
wiederholte er diesen Vorgang, mit dem Hauptunterschied,<br />
dass die nunmehr verwendeten Bilder<br />
schwarz-weiß waren. Einen Deckungsschutz seiner<br />
Versicherung zur Anfechtung des gegen ihn daraufhin<br />
verhängten Bußgelds konnte er sich jedoch vor<br />
dem LG Köln nicht erstreiten (vgl. LG Köln, Urt. v.<br />
23.3.20<strong>17</strong> – 24 S 22/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 350/20<strong>17</strong>).<br />
2. Wettbewerbswidrige Herabwürdigung<br />
eines Mitbewerbers<br />
Auch das anwaltliche Werberecht wird nicht ausschließlich<br />
durch die Anwaltsgerichtsbarkeit fortentwickelt.<br />
So hat der I. Zivilsenat (Urt. v. 31.3.20<strong>16</strong> –<br />
I ZR <strong>16</strong>0/14) klargestellt, dass die überspitzten<br />
Äußerungen eines Rechtsanwalts zu einer fragwürdigen<br />
beruflichen Praxis eines anderen am gleichen<br />
Ort ansässigen Anwalts in einem überregionalen<br />
Medium nicht nur eine Meinungsäußerung darstellen,<br />
sofern der Äußernde nicht nur als „neutraler<br />
Experte“ auftreten, sondern zugleich Mandanten auf<br />
sein eigenes Beratungsangebot aufmerksam machen<br />
wolle. Vielmehr handele es sich um eine<br />
geschäftliche Handlung, die als wettbewerbswidrige<br />
Herabwürdigung eines Mitbewerbers verboten werden<br />
könne. Die Entscheidung wird in der Literatur<br />
(HIMMELSBACH GRUR-Prax 20<strong>16</strong>, 290; HUFF K&R 20<strong>16</strong>,<br />
496; GEISLER jurisPR-BGHZivilR 12/20<strong>16</strong> Anm. 2; a.A.<br />
GRUNEWALD NJW 20<strong>16</strong>, 3694, 3695) zu Recht als zu<br />
weitgehend kritisiert: Anwälte, die durch Medien zu<br />
einer Stellungnahme zu einem aktuellen rechtlichen<br />
Missstand aufgefordert werden, weil sie hierzu<br />
aufgrund ihres eigenen beruflichen Schwerpunkts<br />
besonders qualifiziert sind, müssen angesichts der<br />
Meinungsfreiheit sicher sein können, hierfür nicht<br />
wettbewerbsrechtlich belangt zu werden.<br />
3. Bezeichnung mehrerer Kanzleien als<br />
„Rechtsanwalts- und Steuerkanzlei“<br />
Nach dem OLG Brandenburg (Beschl. v. 26.2.20<strong>16</strong> –<br />
7 W 129/15) dürfen sich zwei Rechtsanwälte, die in<br />
unterschiedlichen Orten ihren Kanzleisitz haben<br />
sowie an noch anderen Orten Zweigstellen unterhalten,<br />
nicht als „Rechtsanwalts- und Steuerkanzlei<br />
Partnerschaftsgesellschaft“ in das Partnerschaftsregister<br />
eintragen lassen. Wettbewerbsrechtlich sei<br />
dies irreführend, da es suggeriere, dass es sich nicht<br />
um zwei Kanzleien, sondern um eine Kanzlei handele<br />
(zum Firmenrecht der Partnerschaftsgesellschaft<br />
im engeren Sinne s. bereits oben III. 3.).<br />
Inwiefern man die Entscheidung des OLG Brandenburg<br />
für richtig hält, hängt maßgeblich vom eigenen<br />
Verständnis des in § 5 BORA erwähnten Begriffs<br />
der „Kanzlei“ ab. In der Literatur wird sowohl<br />
vertreten, er beziehe sich einzig auf die Räumlichkeiten<br />
der beruflichen Niederlassung, als auch<br />
weitergehend, dass er ein gesamtes „Anwaltsunternehmen“<br />
beschreiben könne. Dementsprechend<br />
halten sich Zustimmung und Ablehnung zu der<br />
Entscheidung die Waage (zustimmend SCARAGGI-<br />
KREITMAYER DStR 20<strong>16</strong>, 1392; ablehnend RÖMERMANN<br />
GRUR-Prax 20<strong>16</strong>, 208). Nachdem es einem Anwalt<br />
infolge des Inkrafttretens der BRAO-Novelle (dazu<br />
II. 1.) nun gestattet ist, auch „weitere Kanzleien“ zu<br />
unterhalten, erscheint es allerdings fraglich, ob sich<br />
die Restriktionen des OLG Brandenburg heute noch<br />
rechtfertigen lassen.<br />
4. Irreführende Werbung eines Einzelanwalts<br />
mit Angabe von zwei Büros<br />
Ebenfalls als irreführend sah der AGH NRW (Urt.<br />
v. 30.9.20<strong>16</strong> – 1 AGH 49/15) die Außendarstellung<br />
eines Rechtsanwalts an, die zwei „Büros“ aufführte,<br />
obwohl das eine „Büro“ insofern nur virtuell<br />
bestand, als dem Rechtsanwalt von dritter Seite<br />
die Nutzung der Anschrift sowie der angegebenen<br />
Telefon- und Telefaxnummern überlassen worden<br />
war. Die Entscheidung entspricht dem höchstrichterlich<br />
verfestigten Grundsatz, dass ein Wettbewerbsverstoß<br />
bei Übertreibungen in rechts-<br />
842 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
anwaltlichen Außendarstellungen nur dann zu<br />
verneinen ist, wenn hieraus keine Nachteile für<br />
die Mandanten entstehen können, was hier aber<br />
gerade nicht der Fall war (im Ergebnis ebenso<br />
WILLERSCHEID DStR 20<strong>17</strong>, 960). Immerhin mussten die<br />
Mandanten davon ausgehen, auch unter der virtuellen<br />
Büroadresse vollwertig beraten zu werden.<br />
V. Fachanwälte<br />
1. Fachanwalt werden – wichtige Präzisierungen<br />
durch die Rechtsprechung<br />
Fachanwaltschaften erfreuen sich einer immer<br />
größeren Beliebtheit. Es ist daher nicht verwunderlich,<br />
dass sich der Anwaltssenat häufig mit den<br />
Voraussetzungen für die Verleihung eines Fachanwaltstitels<br />
befassen muss. Zudem wurden zum<br />
1.7.20<strong>17</strong> die Anforderungen für Fachanwälte im<br />
Insolvenz- und Vergaberecht leicht geändert<br />
(Grundlage war der Beschl. der Satzungsversammlung<br />
v. 21.11.20<strong>16</strong>, vgl. BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 81).<br />
Außerdem soll künftig im Rahmen der Fortbildungspflicht<br />
nach § 15 FAO bei dozierender<br />
Teilnahme die Vorbereitungszeit in angemessenem<br />
Umfang zu berücksichtigen sein (vgl. den<br />
Beschl. der Satzungsversammlung v. 19.5.20<strong>17</strong>).<br />
Wer Fachanwalt werden oder bleiben will, sollte<br />
die Rechtsentwicklung zu dem von ihm favorisierten<br />
Titel daher gut im Auge behalten. So entschied<br />
der Anwaltssenat in Präzisierung von § 5 FAO, dass<br />
bei Zählung der für die Fachanwaltszulassung<br />
erforderlichen Fälle Mandate weder doppelt zählen,<br />
nur weil sie sich auf mehrere gerichtliche<br />
Instanzen erstrecken, noch allein aus diesem<br />
Grund höher zu gewichten sind (BGH, Beschl. v.<br />
27.4.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg] 3/<strong>16</strong>). Der Senat hielt es<br />
zudem für verfassungsrechtlich unbedenklich, dass<br />
die Frage, was überhaupt als Fallbearbeitung<br />
anzusehen ist, bei den einzelnen Fachanwaltschaften<br />
gravierend unterschiedlich beurteilt wird<br />
(BGH, Beschl. v. 26.1.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 49/<strong>16</strong>).<br />
Zulässig sei es daher, im Fachgebiet Strafrecht erst<br />
bei 40 Hauptverhandlungstagen vor dem Schöffengericht<br />
oder einem höheren Gericht innerhalb<br />
eines Dreijahreszeitraums von der notwendigen<br />
Anzahl von Fallbearbeitungen auszugehen, obwohl<br />
die FAO für andere Fachanwaltsbezeichnungen<br />
keine oder weniger Gerichtstage voraussetzt.<br />
Des Weiteren entschied der Anwaltssenat –<br />
zutreffend –, dass das Einstellen von Beiträgen<br />
auf einer eigenen Homepage keine zum Erhalt<br />
des Fachanwaltstitels berechtigende wissenschaftliche<br />
Publikation i.S.v. § 15 FAO sei, da ein<br />
derartiger Beitrag im freien Belieben des Homepageinhabers<br />
verändert oder ganz entfernt werden<br />
könne und daher weder eine nachhaltige<br />
Verfügbarkeit noch eine externe Absicherung des<br />
inhaltlichen Niveaus gewährleistet werde (BGH,<br />
Urt. v. 20.6.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg] 10/15, zustimmend<br />
HUFF K&R 20<strong>16</strong>, 606). Dieselbe Entscheidung zeigt<br />
zugleich interessante Möglichkeiten des Pflichtigen<br />
auf, eine einmal versäumte Fortbildung<br />
nachzuholen (dazu WACKER DStR 20<strong>17</strong>, <strong>17</strong>6). Um<br />
das verwaltungsrechtliche Verfahren der Fachanwaltszulassung<br />
ging es auch in der Entscheidung<br />
des Anwaltssenats vom 28.11.20<strong>16</strong> (Az. AnwZ<br />
[Brfg] 53/15): Nach ihr kann ein Anwärter auf<br />
einen Fachanwaltstitel die erforderlichen Fortbildungsnachweise<br />
noch im gerichtlichen Verfahren<br />
nach Erhalt eines Ablehnungsbescheids<br />
nachreichen; diese sollen dann einer eigenständigen<br />
gerichtlichen Prüfung zu unterziehen sein.<br />
2. Spezialistenbezeichnungen<br />
Trotz der immer größeren Möglichkeiten, einen<br />
Fachanwaltstitel zu erwerben, sind einige<br />
Rechtsanwälte weiterhin versucht, ihre Briefbögen<br />
mit selbst kreierten Fantasiebezeichnungen<br />
anzureichern, die sie als besonders qualifiziert<br />
für bestimmte Rechtsbereiche ausweisen sollen.<br />
Besonders beliebt scheint insofern die Selbstbezeichnung<br />
„Spezialist für … “ zu sein. Insoweit<br />
legen die Vorgaben des § 7 BORA, die auf eine<br />
Entscheidung des BVerfG zurückgehen (Beschl. v.<br />
28.7.2004 – 1 BvR 159/04), fest, dass Teilbereiche<br />
der Berufstätigkeit unabhängig von Fachanwaltsbezeichnungen<br />
nur benannt werden dürfen,<br />
wenn sowohl den Angaben entsprechende theoretische<br />
Kenntnisse und praktische Tätigkeiten<br />
nachgewiesen werden als auch die Gefahr einer<br />
Verwechslung mit Fachanwaltschaften oder<br />
sonstigen Irreführung ausgeschlossen ist.<br />
Entsprechen die Fähigkeiten eines Rechtsanwalts,<br />
der sich als Spezialist auf einem Rechtsgebiet<br />
bezeichnet, für das eine Fachanwaltschaft besteht,<br />
den an einen Fachanwalt zu stellenden<br />
Anforderungen, sollte nach einer Entscheidung<br />
des I. Zivilsenats gleichwohl keine Veranlassung<br />
bestehen, dem Rechtsanwalt die Führung einer<br />
entsprechenden Bezeichnung zu untersagen,<br />
selbst wenn beim rechtsuchenden Publikum die<br />
Gefahr einer Verwechslung mit der Bezeichnung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 843
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
„Fachanwalt für Familienrecht“ gegeben sei (BGH,<br />
Urt. v. 24.7.2014 – I ZR 53/13 m. krit. Anm.<br />
DECKENBROCK BerlAnwBl 2015, 124). Nunmehr hatte<br />
der Anwaltssenat über den ungewöhnlichen Fall<br />
zu entscheiden, dass sich ein „Fachanwalt für<br />
Erbrecht“ zusätzlich auch als „Spezialist für<br />
Erbrecht“ darstellen wollte (Urt. v. 5.12.20<strong>16</strong> –<br />
AnwZ [Brfg] 31/14, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 236/20<strong>17</strong>). Der<br />
Senat vertrat die Auffassung, dass insofern keine<br />
synonyme Verwendung der beiden Bezeichnungen<br />
vorliege. Vielmehr bringe derjenige, der<br />
bereits Fachanwalt sei, zum Ausdruck, dass er<br />
über Kenntnisse und praktische Erfahrungen<br />
verfüge, die diejenigen eines „Nur-Fachanwalts“<br />
nicht nur unerheblich überschreiten.<br />
Beide Entscheidungen stehen zueinander in einem<br />
nur schwer auflösbaren Spannungsverhältnis<br />
(zust. zu der Entscheidung des Anwaltssenats<br />
aber QUAAS BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 2, 9 f.): Es ist widersprüchlich,<br />
gerade für „echte“ Fachanwälte<br />
höhere Anforderungen an die Nutzung einer<br />
Spezialistenbezeichnung zu statuieren als für<br />
Nichtfachanwälte (vgl. DECKENBROCK <strong>ZAP</strong> F. 23,<br />
S. 1099, 1101; REMMERTZ NJW 2015, 707, 708;<br />
SAENGER/SCHEUCH BRAK-Mitt. 20<strong>16</strong>, 157, <strong>16</strong>4). Unklar<br />
bleibt zudem, wie ein Anwalt, der bereits als<br />
Fachanwalt für ein bestimmtes Gebiet theoretische<br />
Leistungsnachweise erbracht und erhebliche<br />
praktische Erfahrungen nachgewiesen hat,<br />
überhaupt noch dieses Niveau erheblich übersteigende<br />
Kenntnisse und Erfahrungen darlegen<br />
kann und in welchem Umfang dies erfolgen soll<br />
(OFFERMANN-BURCKART BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 10, 12 f.).<br />
Unabhängig davon steht auch nach der Entscheidung<br />
nicht rechtssicher fest, inwiefern sich Fachanwaltstitel<br />
und Spezialistenbezeichnung überhaupt<br />
vertragen oder ob sich nicht vielmehr aus<br />
§ 7 Abs. 2 BORA ein Abstandsgebot bzw. sogar ein<br />
Verbot der Doppelbezeichnung ableiten lässt<br />
(näher DECKENBROCK <strong>ZAP</strong> F. 23, S. 1099, 1102).<br />
VI. Anwaltshaftung<br />
1. Anwaltshaftung zugunsten von<br />
Vertretungsorganen des Mandanten<br />
Große Anwaltskanzleien sehen sich verstärkt Ermittlungsverfahren<br />
und Ansprüchen von Nichtmandanten<br />
ausgesetzt. Es bedarf daher klarer<br />
Abgrenzungskriterien, inwiefern ein Rechtsberater<br />
über die unmittelbare Anwalt-Mandanten-Beziehung<br />
hinaus für die Richtigkeit seiner Beratungsleistungen<br />
einzustehen hat. Eine Entscheidung des<br />
IX. Zivilsenats (Urt. v. 21.7.20<strong>16</strong> – IX ZR 252/15) bieet<br />
hierfür nunmehr eine wichtige Hilfestellung.<br />
Vertretungsbefugte Organwalter des Mandanten<br />
könnten, wie der BGH in konsequenter Fortführung<br />
seiner bisherigen restriktiven Rechtsprechung (vgl.<br />
BGH, Urt. v. 10.12.2015 – IX ZR 56/15; Urt. v. 18.2.20<strong>16</strong><br />
– IX ZR 191/13) zutreffend (näher DECKENBROCK EWiR<br />
20<strong>16</strong>, 663) ausführt, nur in eng begrenzten Fällen<br />
eigene Ansprüche gegen den Rechtsberater des<br />
Mandanten aufgrund einer pflichtwidrigen anwaltlichen<br />
Beratung herleiten. Insbesondere folgten<br />
solche Ansprüche regelmäßig nicht aus einer<br />
Qualifikation des Anwaltsvertrags als Vertrag mit<br />
Schutzwirkung zugunsten Dritter, da es am hierfür<br />
erforderlichen Näheverhältnis fehle. Ein Näheverhältnis<br />
bestehe nur, wenn die pflichtwidrige Beratung<br />
unmittelbar zu einer Haftung des auf sie<br />
fälschlich vertrauenden Vertreters im Innenverhältnis<br />
zum Mandanten führen könnte. Dies sei<br />
aber nicht der Fall, weil der Vertreter erst hafte,<br />
wenn ihm eine eigene Pflichtverletzung vorzuwerfen<br />
sei, er also insbesondere gar nicht auf die<br />
Richtigkeit der Beratung hätte vertrauen dürfen. In<br />
der Konsequenz wurde die Klage des ehemaligen<br />
baden-württembergischen Ministerpräsidenten<br />
MAPPUS gegen die Kanzlei, die das Bundesland<br />
im Zusammenhang mit dem geplanten Erwerb von<br />
EnBW-Aktien beraten hatte, abgewiesen. Nachdem<br />
der Aktienkauf sich als verfassungswidrig<br />
herausgestellt hatte, weil er ohne vorherige Genehmigung<br />
des Landtags von Baden-Württemberg<br />
durchgeführt worden war, war gegen den ehemaligen<br />
Ministerpräsidenten ein später eingestelltes<br />
staatsanwaltliches Verfahren wegen Untreue eingeleitet<br />
worden. Der Ministerpräsident hatte der<br />
Kanzlei vorgeworfen, durch eine Falschberatung<br />
einen Vermögensschaden (u.a. in Form der Prozesskosten<br />
für die Verteidigung im strafrechtlichen<br />
Ermittlungsverfahren) erlitten zu haben.<br />
2. Anwaltliche Sorgfaltspflichten<br />
Daneben hat der BGH sich mehrmals mit den<br />
haftungsrechtlichen Konsequenzen einer Versäumung<br />
der Berufungsbegründungsfrist beschäftigt.<br />
Der VII. Zivilsenat bekräftigte seine Rechtsprechung,<br />
dass derjenige, der gerichtliche Fristen bis<br />
zum letzten Tag ausschöpft, wegen des damit<br />
erfahrungsgemäß verbundenen Risikos eine erhöhte<br />
Sorgfalt aufwenden muss, um die Einhaltung<br />
der Frist sicherzustellen. Dieses Pflichtenprogramm<br />
führe aber nicht so weit, dass ein Rechtsanwalt<br />
auch in solchen Fällen eine anlasslose Funktions-<br />
844 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
prüfung seines privaten Faxgeräts durchführen<br />
müsse, sofern dieses nur wenige Tage vor dem<br />
Fristablauf noch funktioniert hat (vgl. BGH, Beschl.<br />
v. <strong>16</strong>.11.20<strong>16</strong> – VII ZB 35/14). Demgegenüber hatte<br />
sich der I. Zivilsenat mit einem defekten Gerichtsfax<br />
zu befassen; er stellte klar, dass ein Anwalt, dem es<br />
infolge eines Defekts nicht gelingt, die Berufungsbegründung<br />
per Telefax zu übermitteln, nicht gehalten<br />
ist, eine dem Pressesprecher des Gerichts<br />
zugewiesene Telefaxnummer ausfindig zu machen<br />
und den Schriftsatz zur Fristwahrung an diese<br />
Nummer zu versenden (vgl. BGH, Beschl. v. 26.1.20<strong>17</strong><br />
– I ZB 43/<strong>16</strong>). Nach einer Entscheidung des IX. Zivilsenats<br />
darf ein Anwalt grundsätzlich darauf vertrauen,<br />
dass einem ersten Antrag auf Fristverlängerung<br />
stattgegeben wird, sofern er erhebliche<br />
Gründe wie Arbeitsüberlastung oder Urlaubsabwesenheit<br />
dargelegt hat; er sei nicht verpflichtet, sich<br />
darüber zu vergewissern, ob dem Antrag stattgegeben<br />
worden ist (BGH, Beschl. v. 26.1.20<strong>17</strong> – IX<br />
ZB 34/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 227/20<strong>17</strong>; näher dazu KLOSE NJ<br />
20<strong>17</strong>, 15). Schließlich setzte sich der VI. Zivilsenat mit<br />
den Anforderungen an die Berufungsschrift auseinander.<br />
Diese müsse zwar durch den Prozessbevollmächtigten<br />
unterschrieben sein, auf die Lesbarkeit<br />
der Unterschrift komme es jedoch nicht an.<br />
Vielmehr sei nur die Abgrenzbarkeit von einer<br />
reinen Paraphe oder Abkürzung maßgeblich (BGH,<br />
Beschl. v. 29.11.20<strong>16</strong> – VI ZB <strong>16</strong>/<strong>16</strong>).<br />
VII. Rechtsdienstleistungsrecht<br />
In einer Entscheidung von Anfang 20<strong>16</strong> hatte sich<br />
der BGH mit der Reichweite des RDG zu beschäftigen<br />
(Urt. v. 14.1.20<strong>16</strong> u. Beschl. v. 3.11.20<strong>16</strong> – IZR<br />
107/14; näher hierzu HENSSLER/MARKWORTH <strong>ZAP</strong> F. 23,<br />
S. 1067; s. zur vorinstanzlichen Entscheidung<br />
HENSSLER/DECKENBROCK DB 2014, 2150). Der I. Zivilsenat<br />
hat dabei auf einer ersten Stufe den<br />
Anwendungsbereich des RDG geprüft und insoweit<br />
eine weite Auslegung des Begriffs der Rechtsdienstleistung<br />
(§ 2 Abs. 1 RDG) vertreten. Erfasst<br />
sei jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts<br />
unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen,<br />
die über eine bloß schematische Anwendung<br />
von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung<br />
hinausgeht; ob es sich um eine einfache oder<br />
schwierige Rechtsfrage handelt, sei dabei unerheblich.<br />
Auf der zweiten Stufe sei dann zu erörtern,<br />
inwieweit sich der Dienstleister auf einen Erlaubnistatbestand<br />
berufen könne. Zu denken ist dabei<br />
vor allem an § 5 RDG, der Unternehmern in<br />
größerem Umfang als noch unter dem früheren<br />
RBerG die Möglichkeit bietet, Rechtsdienstleistungen<br />
im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit<br />
zu erbringen, wenn sie als Nebenleistung zum<br />
Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. Der BGH hat<br />
nunmehr aber zu Recht klargestellt, dass insbesondere<br />
die Schadensregulierung im Auftrag<br />
des Versicherers im Regelfall nicht als Nebenleistung<br />
zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des<br />
Versicherungsmaklers gehört. Denn ein Versicherungsmakler<br />
übernimmt nach § 59 Abs. 3 VVG<br />
gewerbsmäßig für den Auftraggeber die Vermittlung<br />
oder den Abschluss von Versicherungsverträgen,<br />
ohne von einem Versicherer oder Versicherungsvertreter<br />
damit betraut zu sein. Der<br />
Versicherungsmakler ist danach Sachwalter des<br />
(zukünftigen) Versicherungsnehmers und steht „im<br />
Lager des Kunden“, eine Doppeltätigkeit des Versicherungsmaklers<br />
sowohl für den Versicherer als<br />
auch für den Versicherungsnehmer bei der Vermittlung<br />
von Versicherungsverträgen ist mit diesem<br />
gesetzlichen Leitbild unvereinbar.<br />
Zudem begründe die Schadensregulierung im<br />
Auftrag des Versicherers einen unzulässigen<br />
Interessenkonflikt i.S.d. § 4 RDG. Während der<br />
Versicherer eine möglichst niedrige Schadenssumme<br />
zahlen möchte, könne das vom Versicherungsmakler<br />
aufgrund seiner Haupttätigkeit zu<br />
wahrende Interesse des Versicherungsnehmers,<br />
etwa an der Vermeidung eines Rechtsstreits oder<br />
einer weiteren Belastung der Kundenbeziehung<br />
mit dem Anspruchsteller, darauf gerichtet sein,<br />
dass der Versicherer schnell eine deutlich höhere<br />
Schadenssumme leistet. Zudem sei es Teil<br />
des Pflichtenkatalogs des Versicherungsmaklers,<br />
dem Versicherungsnehmer ggf. wegen einer unbefriedigenden<br />
Schadensregulierung zu einem<br />
Wechsel des Versicherers (Umdeckung) zu raten.<br />
VIII. Berufsrechte und -pflichten<br />
1. Unzulässige Gebührenteilung – Vorfinanzierung<br />
von Reparaturkosten<br />
Der Gesetzgeber will vor dem Hintergrund, dass die<br />
Anwaltschaft kein Gewerbe ist, in dem Mandate<br />
„gekauft“ und „verkauft“ werden, vermeiden, dass<br />
Rechtsanwälte in einen Wettbewerb um den<br />
Ankauf von Mandaten treten. § 49b Abs. 3 S. 1<br />
BRAO untersagt dem Rechtsanwalt dementsprechend,<br />
für die Vermittlung von Aufträgen einen Teil<br />
der Gebühren zu zahlen oder sonstige Vorteile zu<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 845
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
gewähren. Dass dieses Verbot vielen vermeintlich<br />
cleveren neuen Geschäftsideen von Rechtsanwälten<br />
entgegensteht, zeigt ein aktuelles Urteil des Anwaltssenats<br />
(Urt. v. 20.6.20<strong>16</strong> u. Beschl. v. 25.8.20<strong>16</strong><br />
– AnwZ [Brfg] 26/14). Danach darf ein Rechtsanwalt<br />
Kfz-Werkstätten, Sachverständigen und Abschleppunternehmern<br />
nicht ihre Kosten in Höhe der<br />
geschätzten Haftungsquote verauslagen. Mit dieser<br />
Vorgehensweise strebe der Rechtsanwalt gerade<br />
unzulässigerweise an, dass die Dienstleister, die den<br />
ersten Kontakt mit Verkehrsunfallopfern mit spezifischem<br />
Beratungsbedarf haben, seine Kanzlei<br />
empfehlen, weshalb jeweils in einem konkreten Fall,<br />
in dem die Empfehlung zur Mandatierung des<br />
Anwalts führt, ein „sonstiger Vorteil“ gewährt werde<br />
(i.E., nicht aber in der Begründung zustimmend HUFF<br />
BRAK-Mitt. 20<strong>16</strong>, 237).<br />
2. Werbung für kostenlose Erstberatung<br />
In einem weiteren, in jeder Hinsicht begrüßenswerten<br />
Urteil zum anwaltlichen Gebührenrecht<br />
entschied der Anwaltssenat des BGH jüngst (Urt. v.<br />
3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 42/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5<strong>17</strong>/20<strong>17</strong>),<br />
dass das Angebot einer kostenlosen Erstberatung<br />
(im Verkehrsrecht) durch eine Rechtsanwaltskanzlei<br />
berufsrechtlich zulässig ist (s. auch <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin <strong>16</strong>/20<strong>17</strong>, S. 832). Damit hat der<br />
Senat die schon bislang unter den Instanzgerichten<br />
und im Schrifttum vorherrschende Ansicht höchstrichterlich<br />
abgesichert und Rechtssicherheit geschaffen.<br />
Ein Verstoß gegen das Verbot der<br />
Gebührenunterschreitung nach § 49b Abs. 1 S. 1<br />
BRAO sei nicht gegeben, weil das RVG in § 34<br />
Abs. 1 keine bestimmte Gebühr und damit auch<br />
keine Mindestgebühr für eine Erstberatung in<br />
außergerichtlichen Angelegenheiten vorsehe. Ein<br />
anderes Ergebnis folge auch nicht aus § 4 Abs. 1<br />
S. 1 u. 2 RVG, wonach eine in außergerichtlichen<br />
Angelegenheiten vereinbarte Gebühr in einem<br />
angemessenen Verhältnis zu Leistung, Verantwortung<br />
und Haftungsrisiko des Rechtsanwalts stehen<br />
muss. Die Norm setze eine gesetzlich vorgeschriebene<br />
Vergütung voraus und sei daher nicht auf den<br />
Bereich außergerichtlicher Beratung anwendbar.<br />
Sie bezwecke gerade nicht, vollständige Gebührenverzichte<br />
zugunsten einer allgemeinen Äquivalenzkontrolle<br />
außerhalb konkreter gesetzlicher<br />
Vergütungsvorgaben auszuschließen.<br />
3. Verstoß gegen das Verbot der Vertretung<br />
widerstreitender Interessen<br />
Nach einer Entscheidung des IX. Senats (Urt. v.<br />
12.5.20<strong>16</strong> – IX ZR 241/14) steht endlich fest, dass ein<br />
Verstoß gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender<br />
Interessen gem. § 43a Abs. 4 BRAO<br />
i.V.m. § 3 BORA zur Nichtigkeit des Anwaltsvertrags<br />
gem. § 134 BGB und damit auch zu einem<br />
Erlöschen der vertraglichen Erfüllungsansprüche<br />
führt. Diese Frage hatte der Senat in mehreren<br />
Entscheidungen zuvor immer wieder offengelassen.<br />
Es verbleiben jedoch Unsicherheiten. So ist<br />
weiterhin unklar, inwiefern die Nichtigkeitsfolge<br />
voraussetzt, dass der Berufspflichtverstoß schuldhaft<br />
erfolgte, und ob der Berufsträger trotz<br />
Nichtigkeit einen bereicherungsrechtlichen Wertersatzanspruch<br />
hat (vgl. dazu DECKENBROCK AnwBl<br />
20<strong>16</strong>, 595, 596; DERS. AnwBl 2010, 221 sowie LG<br />
Karlsruhe, Urt. v. 6.10.20<strong>16</strong>, dazu unten VIII. 4.).<br />
Darüber hinaus gilt es zu klären, inwieweit § 134<br />
BGB auch in Sozietätskonstellationen eingreift.<br />
Insoweit ist zu bedenken, dass der Senat seine<br />
Entscheidung maßgeblich damit begründet hat,<br />
dass das Verbot der Vertretung widerstreitender<br />
Interessen nicht dispositiv ist. Während dies für den<br />
Einzelanwalt, der in seiner Person auf beiden Seiten<br />
kollidierende Interessen vertritt, ausnahmslos gilt,<br />
können die betroffenen Parteien unter Beachtung<br />
der Voraussetzungen grundsätzlich gem. § 3 Abs. 2<br />
S. 2 BORA darin einwilligen, dass zwei personenverschiedene<br />
Rechtsanwälte der gleichen Sozietät<br />
widerstreitende Interessen vertreten (vgl. dazu<br />
DECKENBROCK AnwBl 20<strong>16</strong>, 595, 596).<br />
4. Interessenkollision nach Kanzleiwechsel:<br />
Keine Nachforschungspflicht<br />
Eine Entscheidung des LG Karlsruhe (Urt. v.<br />
6.10.20<strong>16</strong> – 10 O 219/<strong>16</strong> m. Anm. DECKENBROCK<br />
BRAK-Mitt. 20<strong>17</strong>, 35) offenbart, vor welchen<br />
tatsächlichen Schwierigkeiten Berufsausübungsgemeinschaften<br />
bei conflict checks stehen können.<br />
Eine Rechtsanwältin hatte ein Mandat<br />
übernommen, obwohl ihre frühere Sozietät –<br />
ohne ihre Kenntnis und ohne dass sich dies<br />
aus den Akten ergab oder sonst offengelegt war<br />
– den Gegner in derselben Rechtssache beraten<br />
hatte. Zu Recht verzichtet das LG hier darauf,<br />
die Hürden für eine sorgfältige Konfliktprüfung<br />
zu hoch zu setzen und von dem Sozietätswechsler<br />
ohne Anlass zu verlangen, Nachforschungen<br />
anzustellen. Eine verfassungskonforme<br />
Auslegung des § 43a Abs. 4 BRAO müsse zur<br />
Verneinung eines Tätigkeitsverbots führen, wenn<br />
den Rechtsanwalt kein Verschulden treffe und<br />
keine Interessenkollision und kein Nachteil für<br />
den Mandanten im konkreten Einzelfall entstanden<br />
sei. Möglich erscheint es in diesen Fällen<br />
846 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
zwar, zulasten der den Anwalt abgebenden<br />
Sozietät eine Informationspflicht zu begründen<br />
und diese dazu zu verpflichten, ihren Mandanten<br />
darüber zu informieren, dass einer ihrer Berufsträger<br />
zur Kanzlei des Gegners wechselt; er<br />
könnte dann darüber entscheiden, ob die Vorbefassung<br />
offengelegt wird (SV-Mat. 12/2006,<br />
BRAK-Mitt. 2006, 213, 2<strong>16</strong>). Allerdings stößt man<br />
in Fällen wie in dem vom LG Karlsruhe entschiedenen,<br />
in denen die abgebende Kanzlei das<br />
Kollisionsmandat längst niedergelegt hat, auch<br />
insofern an Grenzen.<br />
IX. Zulassungsrecht<br />
1. Versagung der Zulassung wegen<br />
strafrechtlicher Verurteilungen<br />
Großes mediales Interesse rief der Fall einer<br />
Bewerberin um eine Rechtsanwaltszulassung<br />
hervor. Diese wurde 2011 wegen Beleidigung zu<br />
einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt,<br />
nachdem sie während ihres Referendariats im<br />
Anschluss an eine vermeintlich unfaire Behandlung<br />
ihren ausbildenden Staatsanwalt mit drastischen<br />
Worten angegangen hatte (u.a. hieß es in<br />
der an den Staatsanwalt gerichteten E-Mail: „Sie<br />
sind ein provinzieller Staatsanwalt, der nie aus dem<br />
Kaff rausgekommen ist, in dem er versauert. Ihr<br />
Weltbild entspricht dem des typischen deutschen<br />
Staatsbürgers von 1940. Mit Ihrem Leben und Ihrer<br />
Person sind Sie so zufrieden wie das Loch vom<br />
Plumpsklo. Als Sie mich vor sich hatten, sind Sie vor<br />
Neid fast erblasst, ich konnte Ihren Hass geradezu<br />
sinnlich wahrnehmen. Am liebsten hätten Sie mich<br />
vergast, aber das ist ja heute out.“). Unter Berufung<br />
auf die Verurteilung wurde im Jahr 2015 der<br />
Zulassungsantrag der Bewerberin, die auch im<br />
weiteren Verlauf nicht von ihren Äußerungen<br />
abrückte, wegen Unwürdigkeit (§ 7 Nr. 5 BRAO)<br />
abgelehnt. Der BGH (Beschl. v. 27.6.20<strong>16</strong> – AnwZ<br />
[Brfg] 10/<strong>16</strong>) bestätigte die Entscheidung des AGH<br />
NRW, wonach die Versagung der Zulassung zwar<br />
die Berufswahlfreiheit erheblich einschränke, in<br />
diesem Fall aber gerechtfertigt sei, da die Bewerberin<br />
ihrer Gesamtpersönlichkeit nach für den<br />
Anwaltsberuf nicht tragbar sei (AGH NRW, Urt. v.<br />
30.10.2015 – 1 AGH 25/15).<br />
Auch wenn der Inhalt der E-Mail der Assessorin in<br />
keiner Weise gutgeheißen werden kann und ihrer<br />
späteren Rolle als Organ der Rechtspflege nicht<br />
einmal ansatzweise gerecht wird, die Verurteilung<br />
wegen Beleidigung also völlig zu Recht<br />
erfolgt ist, spricht doch viel dafür, dass die zzt.<br />
anhängige Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR<br />
1822/<strong>16</strong>) Erfolg haben wird. Denn die oben dargestellten<br />
Entscheidungen berücksichtigen die<br />
hohe Ausstrahlungswirkung des Grundrechts auf<br />
freie Berufswahl (Art. 12 GG) nicht hinreichend.<br />
Es erscheint unverhältnismäßig, ein langjähriges<br />
faktisches Berufsverbot allein mit einer einmaligen,<br />
bereits einige Jahre zurückliegenden Verurteilung<br />
zu rechtfertigen, von der die Kammer<br />
ohne das in § 41 Abs. 1 Nr. 9 BZRG vorgesehene<br />
Recht auf umfassende Auskunft überhaupt keine<br />
Kenntnis erlangt hätte. Zudem hätten sich<br />
Kammer und Gerichte damit auseinandersetzen<br />
müssen, welche Konsequenzen die Bewerberin zu<br />
erwarten gehabt hätte, wenn sie zum Zeitpunkt<br />
der Beleidigung schon als Rechtsanwältin zugelassen<br />
gewesen wäre. Denn jedenfalls lässt sich<br />
der jüngeren Gerichtspraxis nicht eine einzige<br />
Entscheidung entnehmen, in der eine einfache<br />
Beleidigung mit einer Strafe in dieser Höhe zum<br />
Verlust der Zulassung geführt hat (für eine<br />
Unverhältnismäßigkeit der Zulassungsversagung<br />
plädieren auch die BRAK [Stellungnahme Nr. 1/<br />
20<strong>17</strong> v. Januar 20<strong>17</strong>] und der DAV [Stellungnahme<br />
Nr. 8/20<strong>17</strong> v. Februar 20<strong>17</strong>]).<br />
Die verfassungsrechtlichen Zweifel an den Entscheidungen<br />
werden auch deutlich, wenn man<br />
diesen Fall mit dem Sachverhalt vergleicht, der<br />
dem Urteil des AGH NRW vom 7.10.20<strong>16</strong> (Az. 1<br />
AGH 23/<strong>16</strong>) zugrunde gelegen hat: Zwar wurde<br />
auch hier die Zulassung eines (ausländischen)<br />
Rechtsanwalts wegen Unwürdigkeit abgelehnt,<br />
in Rede standen jedoch sehr gravierende strafrechtliche<br />
Verurteilungen, die auf ein „massiv<br />
gestörtes Verhältnis zu Recht und Gesetz“ hindeuten.<br />
2. Widerruf der Zulassung<br />
Auch mit den Gründen für einen Widerruf der<br />
Anwaltszulassung musste sich der Anwaltssenat<br />
befassen (BGH, Urt. v. 7.11.20<strong>16</strong> – AnwZ [Brfg]<br />
58/14). Dem Senat zufolge gefährdet eine dienstabhängige<br />
Teilzeitbeschäftigung von 20 Stunden<br />
pro Woche nicht die gleichzeitige Zulassung als<br />
Rechtsanwalt, wenn aufgrund der Vereinbarungen<br />
mit dem Arbeitgeber eine ausreichend flexible<br />
Einteilung der Arbeitszeit möglich ist, die es<br />
bei Bedarf erlaubt, sowohl vormittags als auch<br />
nachmittags anwaltliche Termine wahrzunehmen.<br />
Eine zusätzliche, nicht einseitig wider-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 847
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
rufliche Freistellungserklärung des Arbeitgebers<br />
setzt der Anwaltssenat bei einer Teilzeitbeschäftigung<br />
nicht voraus. Bei einer erstberuflichen,<br />
nichtanwaltlichen Vollzeitbeschäftigung hatte es<br />
diesbezüglich immer wieder Streit gegeben (vgl.<br />
nur BGH, Beschl. v. 9.11.2009 – AnwZ [B] 83/08).<br />
Nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO ist die Zulassung<br />
eines Anwalts, der in Vermögensverfall geraten<br />
ist, zu widerrufen, es sei denn, dass dadurch die<br />
Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet<br />
sind; der Vermögensverfall wird insbesondere<br />
vermutet, wenn über das Vermögen des Anwalts<br />
ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Nach<br />
ständiger Rechtsprechung konnten die Vermögensverhältnisse<br />
erst dann wieder als geordnet<br />
angesehen werden, wenn dem Schuldner entweder<br />
durch Beschluss des Insolvenzgerichts die<br />
Restschuldbefreiung angekündigt wurde (§ 291<br />
InsO a.F.) oder ein vom Insolvenzgericht bestätigter<br />
Insolvenzplan (§ 248 InsO) oder angenommener<br />
Schuldenbereinigungsplan (§ 308 InsO)<br />
vorlag, bei dessen Erfüllung der Schuldner von<br />
seinen übrigen Forderungen gegenüber den Gläubigern<br />
befreit wird. Der Anwaltssenat hat nunmehr<br />
zu Recht klargestellt, dass die neue, bei Insolvenzeröffnung<br />
im Beschlusswege ergehende<br />
Eingangsentscheidung zur Restschuldbefreiung<br />
nach § 287a Abs. 1 S. 1 InsO die zum Zulassungswiderruf<br />
berechtigende gesetzliche Vermutung<br />
des Vermögensverfalls (vgl. § 14 Abs. 2 Nr. 7<br />
BRAO) nicht widerlegt; zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung<br />
könne von geordneten Vermögensverhältnissen<br />
eben noch keine Rede sein<br />
(Beschl. v. 29.12.20<strong>16</strong> und v. 9.3.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg]<br />
53/<strong>16</strong>; zustimmend AHRENS NJW 20<strong>17</strong>, 1183, 1184;<br />
KALLENBACH AnwBl 20<strong>17</strong>, 327). Der durch missverständliche<br />
Klammerzusätze in früheren Entscheidungen<br />
mehrmals erweckte Eindruck, die zu § 291<br />
InsO a.F. (Ankündigung der Restschuldbefreiung<br />
nach Beendigung des Insolvenzfahrens) ergangene<br />
Rechtsprechung werde auf die neue<br />
Rechtslage übertragen, kann sich daher nicht<br />
mehr weiter verfestigen.<br />
3. Zulassung zur BGH-Anwaltschaft<br />
Schließlich stand in den letzten Jahren einmal<br />
mehr das komplizierte Zulassungsverfahren<br />
(§§ <strong>16</strong>4 ff. BRAO; dazu DECKENBROCK AnwBl 2015,<br />
654) für Rechtsanwälte beim BGH auf dem<br />
Prüfstand des Anwaltssenats und anschließend<br />
des BVerfG. Der Kläger war zwar von der BRAK<br />
dem Wahlausschuss vorgeschlagen worden,<br />
wurde jedoch nicht auf der Vorschlagsliste für<br />
das BMJV berücksichtigt und dementsprechend<br />
auch nicht als BGH-Anwalt zugelassen.<br />
In dem facettenreichen Verfahren rügte der Kläger<br />
die Verfassungsmäßigkeit der nur noch beim BGH<br />
für Zivilsachen fortbestehenden Singularzulassung<br />
und kritisierte darüber hinaus, dass der Bedarf an<br />
neu zuzulassenden Anwälten vom Wahlausschuss<br />
zu knapp bemessen worden, die Kandidatenauswahl<br />
fehlerhaft erfolgt und das Verfahren mangels<br />
vollständiger Akteneinsicht (wegen diverser<br />
Schwärzungen) intransparent sei. Diesen Einwänden<br />
folgte der Anwaltssenat indes nicht (BGH, Urt.<br />
v. 2.5.20<strong>16</strong> – AnwZ 1/14), die gegen das Urteil<br />
eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde ebenfalls<br />
nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG,<br />
Beschl. v. 13.6.20<strong>17</strong> – 1 BvR 1370/15). Vielmehr<br />
betonten BGH und BVerfG, dass dem Wahlausschuss<br />
bei der Festlegung, wie viele Kandidaten die<br />
Vorschlagsliste zu enthalten habe, ein der gerichtlichen<br />
Kontrolle entzogener Ermessensspielraum<br />
zukomme. Im Übrigen sei zu bedenken, dass auch<br />
dem Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung<br />
des Wahlverfahrens ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum<br />
zukomme.<br />
X. Syndikusrechtsanwälte –<br />
Auswirkungen der gesetzlichen<br />
Neuregelung<br />
Zum 1.1.20<strong>16</strong> wurden die Zulassung von Unternehmensjuristen<br />
als Syndikusrechtsanwälte in<br />
§§ 46 ff. BRAO und die sich daran anschließende<br />
Befreiung von der Rentenversicherungspflicht<br />
neu geordnet (vgl. näher HENSSLER/DECKENBROCK DB<br />
20<strong>16</strong>, 215; OFFERMANN-BUCKART AnwBl 20<strong>16</strong>, 125;<br />
HUFF <strong>ZAP</strong> F. 23, 1045). Die zuvor angestrengten<br />
Verfassungsbeschwerden gegen die Syndikusurteile<br />
des BSG aus dem Jahr 2014 (Urt. v. 3.4.2014<br />
– B 5 RE 3/14 R; v. 3.4.2014 – B 5 RE 9/14 R; v.<br />
3.4.2014 – B 5 RE 13/14 R), die das Gesetzgebungsverfahren<br />
erst ins Rollen gebracht hatten, konnten<br />
dadurch nur noch für Altfälle Bedeutung<br />
erlangen. Immerhin ist der am 22.7.20<strong>16</strong> hierzu<br />
ergangenen Entscheidung des BVerfG (Az. 1 BvR<br />
2534/14) aber als wichtige Klarstellung zu entnehmen,<br />
dass unter die „einkommensbezogenen<br />
Beiträge“, deren Zahlung gemäß der Übergangsregelung<br />
in § 231 Abs. 4b S. 4 SGB VI als einzige zu<br />
einer rückwirkenden Befreiung von der Versiche-<br />
848 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Berufsrechtsreport<br />
rungspflicht für die Zeit auch vor dem 1.4.2014<br />
berechtigen soll, Mindest- und Pflichtbeiträge<br />
nach den jeweiligen Satzungen der Versorgungswerke<br />
fallen (für die Zeit danach wird dies im<br />
Gesetz ausdrücklich festgestellt). Auch Unternehmensjuristen,<br />
die bereits vor dem 1.4.2014<br />
Mitglied in Kammer und Versorgungswerk waren,<br />
können daher auf eine Rückzahlung ihrer an die<br />
DRV gezahlten Beiträge hoffen.<br />
Durchaus bemerkenswert ist daneben eine erst<br />
im Mai 20<strong>17</strong> bekannt gewordene Entscheidung<br />
des BSG vom Dezember 20<strong>16</strong> (Urt. v. 15.12.20<strong>16</strong> –<br />
B 5 RE 7/<strong>16</strong> R). Anwälte, die bei Steuerberatungsund<br />
Wirtschaftsprüfungsgesellschaften angestellt<br />
sind, können von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht<br />
selbst ohne gesonderte Zulassung<br />
als Syndikusrechtsanwalt befreit werden (s. hierzu<br />
POSEGGA NJW 20<strong>16</strong>, 1911). Das BSG wendet damit<br />
seine im April 2014 entwickelte Rechtsprechung auf<br />
diese Fallkonstellation nicht an, sondern geht davon<br />
aus, dass ein Rechtsanwalt, der als Angestellter bei<br />
einer Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />
für deren Mandanten tätig wird, anwaltliche<br />
Tätigkeiten erbringt, sofern die Rechtsberatung<br />
im Wesentlichen weisungsfrei erfolgt.<br />
Hinzuweisen ist zudem auf drei Entscheidungen des<br />
AGH NRW aus dem Jahr 20<strong>16</strong>, in denen der Senat die<br />
Voraussetzungen der §§ 46 ff. BRAO zu präzisieren<br />
versucht hat. Der AGH wies in zwei Fällen die gegen<br />
die Zulassung sog. Schadenanwälte als Syndikusrechtsanwälte<br />
gerichteten Klagen der Deutschen<br />
Rentenversicherung Bund zurück (Urt. v. 28.10.20<strong>16</strong><br />
– 1 AGH 33/<strong>16</strong>; v. 28.10.20<strong>16</strong> – 1 AGH 34/<strong>16</strong>, dazu<br />
THEUS BB 20<strong>17</strong>, 73). Ein Unternehmensjurist, der im<br />
Rahmen seiner eigentlichen Tätigkeit die gesetzlichen<br />
Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, jedoch<br />
seit geraumer Zeit als Betriebsrat freigestellt ist,<br />
kann nach dem AGH NRW hingegen nicht als<br />
Syndikusrechtsanwalt zugelassen werden (Urt. v.<br />
25.11.20<strong>16</strong> – 1 AGH 50/<strong>16</strong>; Revision anhängig unter<br />
Az. AnwZ [Brfg] 12/<strong>17</strong>). Das sich aus dem Betriebsverfassungsrecht<br />
ergebende Benachteiligungsverbot<br />
des Betriebsratsmitglieds vermittle lediglich<br />
einen Schutzanspruch gegenüber dem Arbeitgeber<br />
und nicht gegenüber der Rechtsanwaltskammer als<br />
Zulassungs- und Aufsichtsbehörde.<br />
Alle drei Entscheidungen bezogen sich auf Personen,<br />
die nicht unmittelbar in der Rechtsabteilung<br />
ihres Unternehmens beschäftigt sind. Hier<br />
bereitet die Abgrenzung, ob eine rein sachbearbeitende<br />
Tätigkeit vorliegt oder tatsächlich i.S.d.<br />
§ 46 Abs. 3 Nr. 1, 2 BRAO Rechtsfragen geprüft<br />
werden und Rechtsrat erteilt wird, fortwährend<br />
Schwierigkeiten, so dass weitere gerichtliche Streitigkeiten<br />
zu erwarten sind, bis sich eine einheitliche<br />
Rechtsprechungslinie herausgebildet hat. Insbesondere<br />
die letzte Entscheidung verdeutlicht,<br />
dass die Obergerichte sich nicht auf eine Prüfung<br />
dessen beschränken, was Arbeitsvertrag und innerbetriebliche<br />
Weisungen als Tätigkeitsbereich<br />
der fraglichen Person definieren, sondern allein<br />
die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit für maßgeblich<br />
erachten. Dies gilt auch für die seitens des<br />
Arbeitgebers zu gewährleistende Weisungsfreiheit<br />
des Syndikus als Ausdruck seiner fachlichen Unabhängigkeit<br />
(vgl. insofern AGH NRW, Urt. v.<br />
7.10.20<strong>16</strong> – 1 AGH 22/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 78/20<strong>17</strong>; v.<br />
10.2.20<strong>17</strong> – 1 AGH 20/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 306/20<strong>17</strong>).<br />
XI. Verschiedenes<br />
1. Erhöhtes Mitgliederinteresse an Belangen<br />
der Rechtsanwaltskammern<br />
Auf den Rechtsanwaltskammern lastet in letzter<br />
Zeit ein erhöhter Rechtfertigungsdruck gegenüber<br />
ihren Mitgliedern. Auffallend ist zunächst eine<br />
schwindende Akzeptanz gegenüber vermeintlich<br />
überhöhten und intransparenten Kammerausgaben.<br />
So musste die Zulässigkeit der durch die BRAK<br />
erhobenen Umlage für das 20<strong>16</strong> eingeführte elektronische<br />
Anwaltspostfach sogar höchstrichterlich<br />
geklärt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.20<strong>16</strong> –<br />
AnwZ [Brfg] 52/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. <strong>16</strong>7/20<strong>17</strong>). Ebenso<br />
verlangen die Mitglieder aber, dass einzelne Vorstandsentscheidungen<br />
gerechtfertigt werden: Generell<br />
kann über die Verwaltungstätigkeit der<br />
Rechtsanwaltskammern, unabhängig von einer<br />
eigenen Kammermitgliedschaft, jedermann Auskunft<br />
nach dem jeweils einschlägigen Landesinformationsfreiheitsgesetz<br />
(IFG) verlangen, weil es sich<br />
um juristische Personen des öffentlichen Rechts<br />
handelt (vgl. bereits AGH NRW, Beschl. v. 12.4.2013<br />
– 2 AGH 13/12). Für die BRAK gilt hingegen das IFG<br />
des Bundes (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl.<br />
v. 23.5.20<strong>17</strong> – OVG 12 N 72.<strong>16</strong>).<br />
Der BGH (Urt. v. 20.3.20<strong>17</strong> – AnwZ [Brfg] 46/15) hat<br />
auf die Klage eines Rechtsanwalts hin nunmehr<br />
entschieden, dass sich der aus dem IFG NRW<br />
resultierende Anspruch auf Akteneinsicht auch<br />
auf die protokollierten Ausführungen zum Beschlussgegenstand<br />
und abschließenden Beschluss-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 849
Berufsrechtsreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
ergebnis einer Kammervorstandssitzung bezieht,<br />
ohne dass dem die in § 76 BRAO enthaltene<br />
Verschwiegenheitsverpflichtung der Vorstandsmitglieder<br />
entgegensteht. Dabei spielt der zum<br />
Teil erhebliche Umfang der Protokolle im Einzelfall<br />
(streitgegenständlich ging es um 646 Seiten)<br />
grundsätzlich keine Rolle. Demgegenüber bleiben<br />
die Vorstandsberatungen, d.h. der eigentliche Austausch<br />
von Argumenten, Kammermitgliedern weiterhin<br />
verschlossen, da andernfalls keine unbelastete<br />
Auseinandersetzung mehr möglich wäre.<br />
2. Äußerungen eines Rechtsanwalts<br />
als Schmähkritik<br />
Wie schon einige Male in der jüngeren Vergangenheit<br />
– man denke nur an die Entscheidung<br />
zum „Winkeladvokaten“ (BVerfG, Beschl. v.<br />
2.7.2013 – 1 BvR <strong>17</strong>51/12) – musste sich das BVerfG<br />
mit der Abgrenzung von zulässiger Meinungsfreiheit<br />
und unzulässiger, weil beleidigender<br />
(und nach § 185 StGB strafbewehrter sowie<br />
nach § 43a Abs. 3 BRAO berufsrechtswidriger)<br />
Schmähkritik auseinandersetzen (Beschl. v.<br />
29.6.20<strong>16</strong> – 1 BvR 2646/15).<br />
Der Beschwerdeführer vertrat als Strafverteidiger<br />
einen Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren<br />
wegen Veruntreuung von Spendengeldern. Nachdem<br />
gegen den Beschuldigten auf Antrag der<br />
Staatsanwaltschaft Haftbefehl erlassen worden<br />
war, kam es bei der Haftbefehlsverkündung zu<br />
einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der<br />
mit dem Verfahren betrauten Staatsanwältin und<br />
dem Beschwerdeführer, der seinen Mandanten als<br />
zu Unrecht verfolgt ansah. Am Abend desselben<br />
Tages meldete sich ein Journalist, der eine Reportage<br />
über den Beschuldigten plante, telefonisch<br />
beim Beschwerdeführer. Dieser wollte mit dem ihm<br />
unbekannten Journalisten zwar eigentlich nicht<br />
sprechen, äußerte sich dann aber doch auf dessen<br />
hartnäckiges Nachfragen hin und aus Verärgerung<br />
über den Verlauf der Ermittlungen zum Verfahren<br />
und bezeichnete im Laufe des Telefonats die mit<br />
dem Verfahren betraute Staatsanwältin als „dahergelaufene<br />
Staatsanwältin“, „durchgeknallte Staatsanwältin“,<br />
„widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“<br />
und „geisteskranke Staatsanwältin“.<br />
Das BVerfG hat die Entscheidungen, mit denen der<br />
Anwalt wegen Beleidigung verurteilt wurde,<br />
aufgehoben. Äußerungen könnten nur dann<br />
als Schmähkritik eingeordnet und so bereits<br />
per se dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit<br />
entzogen werden, wenn sie „von vornherein<br />
außerhalb jedes in einer Sachauseinandersetzung<br />
wurzelnden Verwendungskontextes“ erfolgten.<br />
Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit sei hingegen<br />
eröffnet, sofern sich ein Strafverteidiger im<br />
Zusammenhang mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung<br />
diffamierend über eine Staatsanwältin<br />
äußere. In der Folge setze die Bejahung des<br />
Straftatbestands der Beleidigung in diesem Fall<br />
eine grundrechtliche Abwägung voraus. Es bedürfe<br />
daher in Auseinandersetzung mit der Situation<br />
näherer Darlegungen, dass sich die Äußerungen<br />
von dem Ermittlungsverfahren völlig gelöst hatten<br />
oder der Verfahrensbezug nur als mutwillig gesuchter<br />
Anlass oder Vorwand genutzt wurde, um<br />
die Staatsanwältin als solche zu diffamieren.<br />
In der Literatur wurde die Entscheidung zum<br />
Teil als zu weitgehend kritisiert, da sich der für<br />
die Schutzbereichseröffnung erforderliche Sachzusammenhang<br />
fast immer konstruieren lasse<br />
(GOSTOMZYK NJW 20<strong>16</strong>, 2871, 2872). Gleichzeitig<br />
wird vor einer zu starken Marginalisierung diffamierender<br />
Äußerungen gegenüber Staatsbediensteten<br />
gewarnt (vgl. HUFEN JuS 20<strong>17</strong>, 181,<br />
183; METZ NStZ-RR 20<strong>16</strong>, 309, 310). Es lassen sich<br />
jedoch auch Stimmen finden, die den durch das<br />
BVerfG postulierten Vorrang der Einzelabwägung<br />
befürworten (MUCKEL JA 20<strong>16</strong>, 797).<br />
850 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 137<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Arzthaftung: Wahl einer nicht allgemein anerkannten Therapieform<br />
(BGH, Urt. v. 30.5.20<strong>17</strong> – VI ZR 203/<strong>16</strong>) • Die Anwendung von nicht allgemein anerkannten Therapieformen<br />
ist rechtlich grds. erlaubt. Die Entscheidung des Arztes für die Wahl einer nicht allgemein anerkannten<br />
Therapieform setzt allerdings eine sorgfältige und gewissenhafte medizinische Abwägung von Vor- und<br />
Nachteilen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und des Wohls des konkreten Patienten<br />
voraus. Bei dieser Abwägung dürfen auch die Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten der<br />
Schulmedizin nicht aus dem Blick verloren werden. Je schwerer und radikaler der Eingriff in die körperliche<br />
Unversehrtheit des Patienten ist, desto höher sind die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit<br />
der gewählten Behandlungsmethode. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 494/20<strong>17</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Rücktritt vom Autokauf: Fehlende Neuwageneigenschaft<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 18.5.20<strong>17</strong> – 28 U 134/<strong>16</strong>) • Wird in der Auftragsbestätigung zu einem Autokauf als<br />
Erstzulassung „Neu/Tageszulassung“ und als Kilometerstand „Werkskilometer“ festgehalten, so darf der<br />
Käufer davon ausgehen, dass der Wagen bis dahin nur auf einen Handelsbetrieb zugelassen war und die<br />
Zulassungsdauer bei max. 30 Tagen lag. Sind diese Eigenschaften nicht gegeben, kann der Käufer vom<br />
Vertrag zurücktreten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 495/20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Modernisierungsvereinbarung: Widerruf<br />
(BGH, Urt. <strong>17</strong>.5.20<strong>17</strong> – VIII ZR 29/<strong>16</strong>) • Wird die zwischen einem Vermieter und einem Mieter in einer<br />
Haustürsituation geschlossene Modernisierungsvereinbarung von dem Mieter wirksam widerrufen,<br />
schuldet der Mieter nicht allein schon wegen der durch die nachfolgende Modernisierungsmaßnahme<br />
eingetretenen Steigerung des bisherigen Wohnwerts einen Wertersatz in Gestalt einer nunmehr höheren<br />
Miete. Dazu bedarf es vielmehr einer – lediglich für die Zukunft wirkenden – Nachholung des gesetzlichen<br />
Verfahrens zur Mieterhöhung bei Modernisierung. Die in § 357 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. enthaltene allgemeine<br />
Verweisung auf die entsprechende Anwendung der „Vorschriften über den gesetzlichen Rücktritt“ ist<br />
einschränkend dahin auszulegen, dass eine Anwendung dieser Vorschriften nicht zu Lasten des Verbrauchers<br />
und des ihm vom Gesetzgeber zugebilligten Schutzes gehen darf. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 496/20<strong>17</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 851
Fach 1, Seite 138 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />
Gewerberaummiete: Schriftformerfordernis bei Mieterhöhung<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 22.2.20<strong>17</strong> – 5 U 961/<strong>16</strong>) • Ist ein Mietvertrag befristet worden, so führt eine<br />
einseitige, auf die Erhöhung der Miete oder die Ausübung eines Optionsrechtes gerichtete<br />
Willenserklärung nicht zu einem Schriftformverstoß. Es bleibt damit bei der Wirksamkeit der Befristung.<br />
Hinweis: Befristete Mietverträge können auch mit einem Optionsrecht auf Verlängerung des<br />
Mietvertrags oder mit der Möglichkeit der Erhöhung der Miete versehen werden. Die Ausübung einer<br />
solchen Möglichkeit führt nicht zu einem Schriftformverstoß mit der Folge, dass die Befristung entfiele<br />
und damit das Kündigungsrecht auflebt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 497/20<strong>17</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Mängelbeseitigung: Anspruch des Auftraggebers auf Kostenerstattung<br />
(OLG Brandenburg, Urt. v. 30.3.20<strong>17</strong> – 12 U 71/<strong>16</strong>) • Dem Auftraggeber steht bei einem Bauvertrag bis<br />
zur vollständigen Mängelbeseitigung ein Leistungsverweigerungsrecht hinsichtlich noch zu zahlenden<br />
Restwerklohns zu. Der Auftragnehmer ist daher nicht berechtigt, die Mängelbeseitigung von der Zahlung<br />
des Restwerklohns abhängig zu machen. Für eine Mängelrüge ist es ausreichend, dass die jeweiligen<br />
Mangelerscheinungen (Symptome) hinreichend genau bezeichnet werden. Damit sind zugleich auch alle<br />
Ursachen für die bezeichneten Symptome erfasst. Dies gilt selbst dann, wenn die angegebenen Symptome<br />
des Mangels nur an einigen Stellen aufgetreten sind, während ihre Ursache und damit der Mangel des<br />
Werks das gesamte Gebäude erfasst (sog. Symptomtheorie). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 498/20<strong>17</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Flugbeförderung: Preistransparenz bei der Angabe von Flugpreisen<br />
(EuGH, Urt. v. 6.7.20<strong>17</strong> – C-290/<strong>16</strong>) • Zur Preistransparenz, wie sie nach der EU-Verordnung über die<br />
Durchführung von Luftverkehrsdiensten verlangt wird, zählt, dass Luftfahrtunternehmen die von den<br />
Kunden für die Steuern, die Flughafengebühren und die sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte<br />
geschuldeten Beträge bei der Veröffentlichung ihrer Flugpreise gesondert ausweisen müssen. Sie dürfen<br />
sie daher nicht – auch nicht teilweise – in den Flugpreis einbeziehen. Hinweis: Gescheitert ist damit Air<br />
Berlin mit einer Klausel in seinen AGB, wonach das Unternehmen nach Stornierung oder Nichtantritt<br />
eines Fluges durch den Reiseteilnehmer vom rückzuerstattenden Betrag ein Bearbeitungsentgelt von<br />
25 € einbehalten darf. Die EU-Verordnung über die Durchführung von Luftverkehrsdiensten, welche den<br />
Luftfahrtunternehmen Preisfreiheit einräumt, stehe, so der EuGH, dieser Verbraucherschutzregelung<br />
nicht entgegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 499/20<strong>17</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Veräußerung von Wohnungseigentum: Widerruf einer vom Verwalter erteilten Zustimmung<br />
(OLG München, Beschl. v. 31.5.20<strong>17</strong> – 34 Wx 386/<strong>16</strong>) • Ist in der Teilungserklärung vereinbart, dass die<br />
Zustimmung des Verwalters zur Übertragung von Wohnungseigentum erforderlich ist, so kann dieser<br />
seine Zustimmungserklärung bis zum Eingang des Umschreibungsantrags beim Grundbuchamt<br />
widerrufen. Unerheblich hierfür ist, ob die Zustimmung zum schuldrechtlichen Vertrag bereits wirksam<br />
erteilt war. Hinweis: Ist in der Teilungserklärung geregelt, dass eine Veräußerung von Wohnungseigentum<br />
der Zustimmung des Verwalters bedarf, so ist zu beachten, dass nach der hier vom OLG<br />
München vertretenen Auffassung die Zustimmung des Verwalters noch bis zum Eingang des<br />
Umschreibungsantrags beim Grundbuchamt widerrufen werden kann. Das gilt auch dann, wenn die<br />
Zustimmung zum schuldrechtlichen Vertrag bereits wirksam erteilt war. Diese Rechtsprechung ist<br />
allerdings nicht unumstritten, so dass man gespannt sein darf, wann der BGH sich mit der Angelegenheit<br />
befassen wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 500/20<strong>17</strong><br />
852 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 139<br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Darlehensvertrag: Unwirksamkeit einer Kontogebühr-Klausel<br />
(BGH, Urt. v. 9.5.20<strong>17</strong> – XI ZR 308/15) • Die in den von einer Bausparkasse für eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen<br />
vorformulierten Darlehensverträgen enthaltene Bestimmung „Kontogebühr: derzeit je<br />
Konto 9,48 € jährlich (gemäß ABB)“ sowie die in den von der Bausparkasse regelmäßig verwendeten und in<br />
die Darlehensverträge einbezogenen Allgemeinen Bausparbedingungen (ABB) enthaltene Bestimmung<br />
„Für ein Konto in der Darlehensphase beträgt die Kontogebühr 9,48 €.“ sind im Verkehr mit Verbrauchern<br />
gem. § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Die Klauseln weichen durch die Vereinbarung einer<br />
Kontogebühr für die „bauspartechnische Verwaltung, Kollektivsteuerung und Führung einer Zuteilungsmasse“<br />
in der Darlehensphase von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung ab. Dadurch<br />
werden die Bausparkunden auch unangemessen benachteiligt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 501/20<strong>17</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Fahrerlaubnis: Neuerteilung nach einmaliger Trunkenheitsfahrt mit BAK von weniger als 1,6 ‰<br />
(BVerwG, Urt. v. 6.4.20<strong>17</strong> – 3 C 24.15) • Ist nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration<br />
von weniger als 1,6 ‰ die Fahrerlaubnis durch das Strafgericht entzogen worden, darf<br />
die Fahrerlaubnisbehörde die Neuerteilung nicht allein wegen dieser Fahrerlaubnisentziehung von der<br />
Beibringung eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig machen. Anders liegt es,<br />
wenn zusätzliche Tatsachen die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründen. Hinweis: Klar statuiert<br />
das BVerwG hier, dass, wenn ein Strafgericht die Fahrerlaubnis unter Anwendung des § 3<strong>16</strong> StGB entzieht, der<br />
BAK-Wert jedoch unter 1,6 ‰ liegt, im Regelfall keine MPU im Neuerteilungsverfahren verlangt werden kann.<br />
Dies gilt jedenfalls bei Ersttätern und bei Fehlen weiterer konkreter Tatsachen für künftigen, verkehrsrechtlich<br />
relevanten Alkoholmissbrauch. Abweichungen im Einzelfall kann es bei Vorliegen konkreter Tatsachen<br />
aber geben. Von besonderem Interesse mit Blick auf die Fahrerlaubnis ist hier also das Strafbefehlsverfahren,<br />
da dieses regelmäßig keine solchen konkreten Tatsachenfeststellungen enthält, die später verwendet werden<br />
könnten. Darauf sollte insb. die Verteidigung ein Auge haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 502/20<strong>17</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Reiserücktrittsversicherung: Einordnung einzeln gebuchter Transport- oder Mietleistungen<br />
(BGH, Urt. v. 14.6.20<strong>17</strong> – IV ZR <strong>16</strong>1/<strong>16</strong>) • In Versicherungsbedingungen enthaltene Klauseln, bei denen<br />
mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen vertretbar sind, sind unklar gem. § 305c Abs. 2 BGB und<br />
daher unwirksam. Der Begriff „Mietleistungen“ in einer Reiserücktrittsversicherung ist so zu verstehen, dass<br />
er nur Nutzungsüberlassungen aufgrund eines Mietvertrags i.S.d. §§ 535 ff. BGB erfasst. Auch ein<br />
durchschnittlicher Versicherungsnehmer der Reiserücktrittsversicherung erkennt, dass der in diesem<br />
Begriff enthaltene Wortbestandteil der „Miete“ auf rechtliche Kategorien verweist und in Abgrenzung zu<br />
anderen Vertragstypen die vorübergehende Gebrauchsüberlassung einer Sache gegen Entgelt voraussetzt.<br />
Allerdings wird die Klausel durch die Aufnahme eines Klammerzusatzes, in dem u.a. eine Ferienwohnung<br />
beispielhaft genannt wird, unklar. Der Versicherungsnehmer kann den Klammerzusatz so verstehen, dass<br />
die Buchung des Aufenthalts in einer Ferienwohnung vom Begriff der versicherten Reise erfasst wird,<br />
unabhängig davon, auf welcher vertraglichen Grundlage sie erfolgt. Andererseits kann der Klammerzusatz<br />
aber auch so verstanden werden, dass die Buchung einer Ferienwohnung nur dann in den Versicherungsschutz<br />
einbezogen ist, wenn der ihr zugrunde liegende Vertrag ein miet- oder reiserechtliches Gepräge<br />
aufweist. Diese Unklarheit geht zu Lasten des Verwenders. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 503/20<strong>17</strong><br />
Familienrecht<br />
Betreuung: Sachverständigenbeweis zur Notwendigkeit und zum Umfang<br />
(BGH, Beschl. v. 10.5.20<strong>17</strong> – XII ZB 536/<strong>16</strong>) • Der Sachverständigenbeweis zur Notwendigkeit und zum<br />
Umfang der Betreuung ist verfahrensfehlerhaft erhoben, wenn der Sachverständige den Betroffenen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 853
Fach 1, Seite 140 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />
weder persönlich untersucht noch befragt hat. Ein ohne die erforderliche persönliche Untersuchung<br />
erstattetes Sachverständigengutachten ist grds. nicht verwertbar. Die Weigerung des Betroffenen,<br />
einen Kontakt mit dem Sachverständigen zuzulassen, ist kein hinreichender Grund, von einer<br />
persönlichen Untersuchung durch den Sachverständigen abzusehen. Wirkt der Betroffene an einer<br />
Begutachtung nicht mit, so kann das Gericht seine Vorführung anordnen. Wenn der Sachverständige<br />
seine Erkenntnisse nicht aus einer Befragung des Betroffenen schöpfen kann, setzt das Gesetz eine<br />
Untersuchung des Betroffenen zwingend voraus, die jedenfalls einen persönlichen Eindruck des<br />
Sachverständigen vom Betroffenen erfordert. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 504/20<strong>17</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Vorsorgevollmacht: Erledigung von Geldgeschäften durch Familienangehörige<br />
(OLG Karlsruhe, Urt. v. <strong>16</strong>.5.20<strong>17</strong>– 9 U <strong>16</strong>7/15) • Hebt eine Tochter aufgrund einer Generalvollmacht<br />
Bargeldbeträge vom Bankkonto der pflegebedürftigen Mutter ab, um diese Gelder für die Mutter zu<br />
verwenden, ist auf das Verhältnis zwischen der Tochter und der Mutter i.d.R. Auftragsrecht anwendbar.<br />
Verlangt der Erbe nach dem Tod der Mutter die Herausgabe der Bargeldbeträge, welche die Beklagte zu<br />
Lebzeiten vom Konto der Mutter abgehoben hat, muss die Tochter gem. § 670 BGB beweisen, dass sie die<br />
Gelder auftragsgemäß verwendet hat. Im Einzelfall kann dieser Beweis u.U. auch durch eine informatorische<br />
Anhörung der Beklagten erbracht werden. Hinweis: Wenn ein Familienangehöriger Geldgeschäfte für einen<br />
anderen Familienangehörigen im Rahmen einer Vorsorgevollmacht oder auch im Rahmen eines<br />
Einzelauftrags erledigt, wird man im Regelfall von einem Auftrag mit rechtlichen Verpflichtungen ausgehen<br />
müssen. Ein besonderes persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, wie<br />
zwischen Mutter und Tochter, spricht im Regelfall nicht gegen einen Auftrag i.S.v. § 662 BGB. Denn ein<br />
„besonderes Vertrauensverhältnis“ zwischen den Beteiligten ist der Regelfall eines Auftrags mit rechtlichen<br />
Verpflichtungen. Eine abweichende Bewertung kann nur ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände<br />
des Einzelfalls in Betracht kommen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 505/20<strong>17</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Berufungsbegründung: Vertrauen auf die Gewährung einer Fristverlängerung<br />
(BGH, Beschl. v. 1.6.20<strong>17</strong> – III ZB 77/<strong>16</strong>) • Reduziert der in erster Instanz voll unterlegene Kläger in seiner<br />
Berufung den Gesamtumfang der Klageforderung ohne anzugeben, wie sich der reduzierte Gesamtbetrag<br />
auf seine mehreren erstinstanzlich gestellten Klageanträge verteilt, so steht dies nicht der Zulässigkeit der<br />
Berufung, sondern allein der Zulässigkeit der Klage entgegen und betrifft somit einen Mangel, der auch<br />
noch nach dem Ablauf der Berufungsbegründungsfrist, nämlich bis zum Schluss der letzten mündlichen<br />
Verhandlung in der Berufungsinstanz, behoben werden kann. Dies steht in Einklang damit, dass der<br />
Berufungskläger sein Rechtsmittel noch bis zum Schluss der Berufungsverhandlung erweitern kann, soweit<br />
die fristgerecht vorgetragenen Berufungsgründe die Antragserweiterung decken. Die Verwerfung der<br />
Berufung als unzulässig kann auf einzelne Streitgenossen begrenzt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 506/20<strong>17</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Zwangsvollstreckung: Aufenthaltsermittlung des Schuldners<br />
(BGH, Beschl. v. 21.6.20<strong>17</strong> – VII ZB 5/14) • Voraussetzung für die Aufenthaltsermittlung des Schuldners nach<br />
§ 755 ZPO ist ein zugrunde liegender Vollstreckungsauftrag, der den Anforderungen des § 802a Abs. 2 ZPO<br />
genügen muss. Isolierte Aufenthaltsermittlungsaufträge sind unzulässig. Für dieses Verständnis spricht<br />
die dem Wortlaut in §§ 753, 754 ZPO entsprechende Formulierung in § 755 Abs. 1 ZPO, wonach der<br />
Gerichtsvollzieher „aufgrund des Vollstreckungsauftrags“ und unter „Übergabe der vollstreckbaren<br />
Ausfertigung“ Ermittlungen des Aufenthaltsorts des Schuldners vornehmen darf. Es handelt sich danach<br />
854 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 141<br />
nicht um ein separates und eigenständiges Verfahren, vielmehr steht die Aufenthaltsermittlung im<br />
Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung i.S.d. §§ 802a ff. ZPO und ist keine selbstständige<br />
Maßnahme der Zwangsvollstreckung, sondern nur eine den Gerichtsvollzieher bei den ihm zugewiesenen<br />
Vollstreckungsmaßnahmen unterstützende Hilfsbefugnis. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 507/20<strong>17</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
GmbH-Geschäftsführer: Missachtung der Kompetenzordnung der Gesellschaft<br />
(OLG München, Urt. v. 1.12.20<strong>16</strong> – 23 U 2755/13) • Bedarf die Komplementär-GmbH nach der Satzung der KG<br />
für Handlungen, die über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgeschäfts hinausgehen, in Übereinstimmung<br />
mit §§ 1<strong>16</strong> i.V.m <strong>16</strong>3, <strong>16</strong>1 Abs. 2 HGB der vorherigen Zustimmung der Gesellschafterversammlung,<br />
dann können, da hierunter grds. solche Geschäfte mit Ausnahmecharakter hinsichtlich ihrer Art und ihres<br />
Inhalt zu verstehen sind, auch einschneidende Änderungen von Organisation oder Vertrieb hierunter fallen,<br />
mithin also auch solche Änderungen, durch die eine weitere Ebene in der Vertriebsstruktur eingefügt wird.<br />
Hinweis: Der Senat sieht grds. den Abschluss von (einzelnen) Vertriebsvereinbarungen als vom<br />
Gesellschaftszweck gedeckt an, so dass in deren Abschluss allein zumindest solange keine Kompetenzverletzung<br />
des Geschäftsführers gesehen werden kann, wie es hierdurch nicht zur Einfügung einer (die<br />
Gewinnmarge reduzierenden) weiteren Vertriebsstufe kommt, selbst wenn mit dieser letztlich nicht die<br />
„Aufgabe des Eigenvertriebs“ verbunden sein sollte. Anhaltspunkte dafür, dass der (ehemalige) Geschäftsführer<br />
der beklagten Gesellschaft, eines weltweit agierenden Automobilzulieferers, beim Abschluss des<br />
alleinigen Vertriebsrechts für den „Independent Aftermarket“ bewusst zum Nachteil der Gesellschaft<br />
gehandelt oder sich über die Kompetenzordnung in einem Rechtsirrtum befunden hatte, lagen im Streitfall,<br />
der in einem prozessualen Punkt bereits den BGH in seinem Urteil vom 21.6.20<strong>16</strong> (Az. II ZR 305/14, NZG<br />
20<strong>16</strong>, 1032) sowie in kartellrechtlicher Hinsicht auch das OLG München in seinem Urteil vom 30.7.2015<br />
(Az. U 3028/14 Kart) beschäftigt hatte, nicht vor bzw. wurden nicht vorgetragen, so dass sein Handeln trotz<br />
fehlenden Gesellschafterbeschlusses nur noch dann hätte unschädlich für seine Haftungsinanspruchnahme<br />
sein können, wenn die Gesellschafter ohnehin zur Zustimmung verpflichtet gewesen wären (vgl. JICKELI,<br />
MüKo-HGB, 4. Aufl. 20<strong>16</strong>, § 1<strong>16</strong> Rn 41, § 115 Rn 39, 52). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 508/20<strong>17</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
E-Mail-Werbung: Wettbewerbsrechtliche Ansprüche bei unverlangter Zusendung<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 20.6.20<strong>17</strong> – 14 U 50/<strong>17</strong>) • Es kann ein Unterlassungsanspruch bestehen, wenn eine<br />
Werbe-E-Mail ohne vorherige ausdrückliche Einwilligung des Empfängers versandt wurde und sie eine<br />
unzumutbar belästigende und damit unerlaubte Werbung darstellt. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG ist<br />
„Mitbewerber“ jeder Unternehmer, der mit einem oder mehreren Unternehmern als Anbieter oder<br />
Nachfrager von Waren oder Dienstleistungen in einem konkreten Wettbewerbsverhältnis steht. Ein<br />
Unternehmer kann sich einem konkreten Wettbewerbsverhältnis nicht dadurch entziehen, dass er<br />
gleichartige Ware als nicht beworbenen Teil eines Gesamtangebots innerhalb desselben Abnehmerkreises<br />
vertreibt. Bei unzulässiger E-Mail-Werbung nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG erstreckt sich der<br />
Auskunftsanspruch nicht darauf, ob der Verletzer andere Marktteilnehmer in deren geschäftlicher oder<br />
privater Sphäre durch ähnliche Handlungen beeinträchtigt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 509/20<strong>17</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Mitbestimmung: Ausschluss von im Ausland Beschäftigten (TUI)<br />
(EuGH, Urt. v. 18.7.20<strong>17</strong> – C-566/15) • Das deutsche Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist mit<br />
dem Unionsrecht vereinbar. Der Ausschluss der außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines<br />
Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 855
Fach 1, Seite 142 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />
der deutschen Muttergesellschaft verstößt nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Hinweis: Der Fall<br />
betrifft den Reisekonzern TUI AG. Vergeblich hatte sich ein Aktionär gerichtlich gegen die Zusammensetzung<br />
des Aufsichtsrats in Deutschland gewandt. Der EuGH argumentiert, dass der Bereich der kollektiven<br />
Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen<br />
Rechts bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene<br />
war. Ein Mitgliedstaat sei daher nicht gehindert vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf<br />
die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung finden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 510/20<strong>17</strong><br />
Urlaubsanspruch: Kein Schadensersatz in Geld wegen nicht gewährter Urlaubstage<br />
(BAG, Urt. v. <strong>16</strong>.5.20<strong>17</strong> – 9 AZR 572/<strong>16</strong>) • Hat der Arbeitgeber den vom Arbeitnehmer rechtzeitig<br />
verlangten Urlaub nicht gewährt, wandelt sich der im Verzugszeitraum verfallene Urlaubsanspruch<br />
in einen Schadensersatzanspruch um, der die Gewährung von Ersatzurlaub zum Inhalt hat. Der<br />
Ersatzurlaubsanspruch tritt als Schadensersatzanspruch an die Stelle des ursprünglichen Urlaubsanspruchs.<br />
Dies hat zur Folge, dass der Ersatzurlaubsanspruch den Modalitäten des verfallenen<br />
Urlaubsanspruchs unterliegt. Dies gilt sowohl für die Inanspruchnahme als auch für die Abgeltung des<br />
Ersatzurlaubs. Hinweis: Ob auch in der Freistellungsphase weitere Urlaubsansprüche entstehen und<br />
eine Kürzung des Urlaubsanspruchs im Jahr des Wechsels in die Freistellungsphase überhaupt zulässig<br />
gewesen ist, hat der 9. Senat offen gelassen. Hier sollte die weitere Rechtsprechung beobachtet und in<br />
jedem Fall geprüft werden, ob am Ende der Freistellungsphase möglicherweise noch Urlaubsabgeltungsansprüche<br />
bestehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 511/20<strong>17</strong><br />
Sozialrecht<br />
Merkzeichen „G“: Zuerkennung bei erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit<br />
(LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.5.20<strong>17</strong> – L 13 SB 261/14) • Schwerbehinderte Menschen, die infolge<br />
ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind,<br />
haben Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer<br />
Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortsverkehr<br />
zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche<br />
Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben<br />
Stunde zurückgelegt wird. Kann diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum zurückgelegt<br />
werden, so reicht dies per se allerdings nicht für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ aus.<br />
Erforderlich ist vielmehr, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung<br />
des schwerbehinderten Menschen ist und diese Behinderung das Gehvermögen einschränkt (sog.<br />
doppelte Kausalität). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 512/20<strong>17</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Informationsfreiheitsgesetz: Zugang zu Akten im Besitz Dritter<br />
(BVerfG, Beschl. v. 20.6.20<strong>17</strong> – 1 BvR 1978/13) • Sind Akten, deren Einsicht begehrt wird, nie an das<br />
Bundesarchiv gelangt, muss sich ein Beschwerdeführer, der sich auf das Informationsfreiheitsgesetz<br />
beruft, zunächst an die für die Aktenführung zuständige Behörde halten und ggf. dieser gegenüber den<br />
Rechtsweg erschöpfen – denn wichtige einfachrechtliche Fragen des Informationszugangsrechts sind<br />
bislang ungeklärt. Hinweis: Verworfen wurde damit die Verfassungsbeschwerde einer Journalistin, die<br />
sich gegen die Versagung der Bereitstellung von Akten richtete, die sich in Archiven der Stiftungen<br />
politischer Parteien befinden. Das BVerfG betont, dass das Informationsfreiheitsgesetz keinen allgemeinen<br />
Beschaffungsanspruch von Akten begründet, die nie in den Bestand der Behörden gelangt<br />
sind. Bislang ungeklärt sei indes, ob das auch für die Frage der Wiederbeschaffung von Akten gilt, die<br />
zunächst bei der Behörde angefallen waren und später in den Gewahrsam Privater gelangt sind.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 513/20<strong>17</strong><br />
856 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Eilnachrichten 20<strong>17</strong> Fach 1, Seite 143<br />
Steuerrecht<br />
Umsatzsteuer-Vergütungsverfahren: Kopie einer Rechnungskopie ausreichend<br />
(BFH, Urt. v. <strong>17</strong>.5.20<strong>17</strong> – V R 54/<strong>16</strong>) • Auch die Kopie einer Rechnungskopie ist eine Kopie der Rechnung<br />
i.S.v. § 61 Abs. 2 S. 3 UStDV a.F. Für den Antrag auf Vergütung von Vorsteuerbeträgen reicht es somit aus,<br />
die Kopie einer Kopie des Originals auf elektronischem Weg zu übermitteln. Hinweis: Im Hinblick darauf,<br />
dass die Übermittlung eines Rechnungsdokuments auf elektronischem Weg gestattet wird, stellte sich<br />
ein Erfordernis, wonach die zu übersendende elektronische Kopie von dem Originaldokument<br />
vorgenommen werden muss, als völlig überflüssig dar, zumal praktisch kaum nachprüfbar sein dürfte,<br />
ob das Original oder die Kopie des Originals eingescannt wurde. Im vorliegenden Fall konnte dies nur<br />
deshalb festgestellt werden, weil die eingescannte Kopie als solche bezeichnet war (COPY1).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 514/20<strong>17</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Verabredung zum Verbrechen: Strafbarkeit des Sichbereiterklärens zu einem Verbrechen<br />
(BGH, Beschl. v. 23.3.20<strong>17</strong> – 3 StR 260/<strong>16</strong>) • Die Verabredung eines Verbrechens (§ 30 Abs. 2 Fall 3 StGB)<br />
setzt die Willenseinigung von mindestens zwei tatsächlich zur Tatbegehung Entschlossenen voraus,<br />
an der Verwirklichung eines hinreichend konkretisierten Verbrechens mittäterschaftlich mitzuwirken.<br />
Auch der selbst fest Entschlossene ist daher nicht der Verbrechensverabredung schuldig, wenn der<br />
oder die anderen den inneren Vorbehalt haben, sich tatsächlich nicht als Mittäter an der vereinbarten<br />
Tat beteiligen zu wollen. Das Sichbereiterklären zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Fall 1 StGB) ist<br />
hingegen unabhängig von der subjektiven Einstellung des Erklärungsempfängers, so dass dessen<br />
innerer Vorbehalt, die Tat nicht zu wollen, eine Strafbarkeit nach dieser Tatbestandsvariante nicht<br />
hindert. Hinweis: Der BGH stellt klar, dass ein Sichbereiterklären immer vorliegt, wenn eine Person<br />
verkündet, ein Verbrechen zu begehen, eine Verabredung hingegen nur dann, wenn die anderen die<br />
Tatbestandsverwirklichung auch wirklich wollen. Da die Feststellung der subjektiven Tatseite nun<br />
immer ein Fall für sich ist, ließe sich hier sicherlich die Verteidigung durchaus gestalten – unter dem<br />
Strich ist das Ergebnis aber auch nicht besser. Immerhin: Eine zusätzliche Strafbarkeit wegen<br />
Anstiftung gibt es laut BGH nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 515/20<strong>17</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Akteneinsicht: Neue Ermittlungsergebnisse während laufender Hauptverhandlung<br />
(BGH, Beschl. v. 10.5.20<strong>17</strong> – 1 StR 145/<strong>17</strong>) • Dem Tatgericht, dem zwischen Eröffnungsbeschluss und<br />
Hauptverhandlung oder während der laufenden Hauptverhandlung durch Polizei oder Staatsanwaltschaft<br />
neue verfahrensbezogene Ermittlungsergebnisse zugänglich gemacht werden, erwächst aus dem<br />
Gebot der Verfahrensfairness (Art. 6 MRK i.V.m. § 147 StPO) die Pflicht, dem Angeklagten und seinem<br />
Verteidiger durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den<br />
Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen. Der Pflicht zur Erteilung eines solchen Hinweises ist das<br />
Tatgericht auch dann nicht enthoben, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen selbst nicht für<br />
entscheidungserheblich hält. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5<strong>16</strong>/20<strong>17</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Rechtsanwaltsberatung: Kostenlose Erstberatung zulässig<br />
(BGH, Urt. v. 3.7.20<strong>17</strong> – AnwZ (Brfg) 42/<strong>16</strong>) • Es ist unzulässig, geringere Gebühren und Auslagen zu<br />
vereinbaren oder zu fordern, als das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vorsieht, soweit dieses nichts<br />
anderes bestimmt. Allerdings sieht das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz keine bestimmte Gebühr für<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 857
Fach 1, Seite 144 Eilnachrichten 20<strong>17</strong><br />
eine Erstberatung vor. Für einen mündlichen oder schriftlichen Rat oder eine Auskunft, die nicht<br />
mit einer anderen gebührenpflichtigen Tätigkeit zusammenhängen, soll der Rechtsanwalt auf eine<br />
Gebührenvereinbarung hinwirken, soweit im Vergütungsverzeichnis keine Gebühren bestimmt sind.<br />
Wenn keine Vereinbarung getroffen worden ist, erhält der Rechtsanwalt Gebühren nach den<br />
Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Schreibt das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz keine bestimmte<br />
Gebühr für eine Erstberatung vor, gibt es keine Mindestgebühr, die unterschritten werden könnte. Ein<br />
Rechtsanwalt darf daher kostenlose Erstberatungen für Personen anbieten, die einen Verkehrsunfall<br />
erlitten haben. Hinweis: Vgl. hierzu auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin <strong>16</strong>/20<strong>17</strong>, S. 832 und DECKENBROCK/<br />
MARKWORTH <strong>ZAP</strong> Berufsrechtsreport, S. 846 (jeweils in diesem Heft). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5<strong>17</strong>/20<strong>17</strong><br />
Berufungsbegründungsfrist: Rechtsanwalt kann beim ersten Antrag auf Verlängerung vertrauen<br />
(BGH, Beschl. v. 30.5.20<strong>17</strong> – VI ZB 54/<strong>16</strong>) • Ein Rechtsanwalt darf regelmäßig erwarten, dass einem<br />
ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn er einen<br />
erheblichen Grund (hier: Arbeitsüberlastung des sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten wegen<br />
vorrangiger Fristsachen) vorträgt. Deshalb ist er grds. auch nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs<br />
der Berufungsbegründungsfrist beim Gericht zu erkundigen, ob der Verlängerungsantrag rechtzeitig<br />
eingegangen ist und ob ihm stattgegeben werde. Hinweis: Zu einer wirksamen Fristenkontrolle<br />
gehört die Anordnung, dass die Erledigung von fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden<br />
Arbeitstages durch eine dazu beauftragte Bürokraft anhand des Fristenkalenders nochmals<br />
selbstständig überprüft wird. Dabei ist, ggf. anhand der Akten, auch zu prüfen, ob die im<br />
Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Schriftsätze tatsächlich abgesandt worden sind (vgl.<br />
BGH, Beschl. v. 15.12.2015 – VI ZB 15/15). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 518/20<strong>17</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Terminsgebühr: Besprechung zur Erledigung eines Verfahrens<br />
(BGH, Beschl. v. 9.5.20<strong>17</strong> – VIII ZB 55/<strong>16</strong>) • Ein Rechtsanwalt wirkt an einer „auf die Erledigung des<br />
Verfahrens gerichteten Besprechung ohne Beteiligung des Gerichts“ nur mit und verdient damit eine<br />
Terminsgebühr nach § 2 Abs. 2 RVG, wenn bei Beginn des Gesprächs eine Einigung der Parteien noch<br />
nicht erzielt worden war. Hinweis: Durch eine Einigung der Parteien erledigt sich noch nicht zwingend<br />
der Rechtsstreit, da das Verfahren auch u.U. mit den bisher gestellten Anträgen anhängig bleibt – auch<br />
wenn die Parteien untereinander eine Einigung treffen. Es muss dann noch geklärt werden, wie das<br />
Verfahren beendet werden soll, also ob auch das gesamte Verfahren durch einen Vergleich oder die<br />
Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt werden soll oder ob man über die Frage der<br />
Erledigung streiten will. Die bloße Einigung der Parteien steht einer nachfolgenden Erledigungsbesprechung<br />
der Anwälte nicht zwingend entgegensteht (s. N. SCHNEIDER AGS Spezial 20<strong>17</strong>, 267).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 519/20<strong>17</strong><br />
Pauschgebühr: Kommunikation in fremder Sprache<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.6.20<strong>17</strong> – P 302 AR <strong>17</strong>/<strong>17</strong>) • Die Bewilligung einer Pauschgebühr (§ 51 RVG)<br />
lässt sich nicht allein damit begründen, dass Verteidiger und Mandant in einer gemeinsamen<br />
nichtdeutschen Sprache kommunizieren können. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 520/20<strong>17</strong><br />
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858 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 891<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Wohnraummietrecht –<br />
1. Halbjahr 20<strong>17</strong><br />
Von RiAG Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Mietvertragsabschluss<br />
1. Schriftform<br />
2. Voraussetzungen für Vorkaufsrecht<br />
des Mieters<br />
III. Mietsicherheit<br />
1. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />
2. Vermieterpfandrecht<br />
IV. Betriebskosten<br />
1. Betriebskostenabrechnung<br />
2. Heizkostenabrechnung<br />
3. Gewährleistungsrechte<br />
V. Mieterhöhung<br />
1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />
2. Widerruf einer Zustimmung zu einer<br />
Modernisierungsmieterhöhung<br />
VI. Kündigung<br />
1. Kündigung wegen Eigenbedarfs durch<br />
eine GbR<br />
2. Kündigung wegen Berufs- oder<br />
Geschäftsbedarfs<br />
3. Schadensersatz wegen vorgetäuschten<br />
Eigenbedarfs<br />
4. Fortsetzung des Mietverhältnisses nach<br />
der Sozialklausel<br />
5. Kündigung wegen Zahlungsverzugs<br />
VII. Räumung/Nutzungsentschädigung<br />
VIII. Schadensersatzansprüche<br />
1. Verantwortlichkeit des Mieters für Wohnungsschäden<br />
nach Polizeieinsatz<br />
2. Regressverzicht in der Gebäudeversicherung<br />
IX. Prozessrecht<br />
1. Streitwerte<br />
2. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
3. Nachbesserung der Vermögensauskunft<br />
I. Einleitung<br />
Im Berichtszeitraum fanden die beiden großen mietrechtlichen Veranstaltungen des Jahres statt,<br />
nämlich der Deutsche Mietgerichtstag und die Fachgespräche des Evangelischen Bundesverbands<br />
für Immobilienwesen in Wissenschaft und Praxis (ESWiD). Der Mietgerichtstag begann aus Anlass des<br />
20-jährigen Bestehens des Vereins mit einem Symposium zu den Grundfragen der Mietpreisbildung.<br />
Literaturhinweis:<br />
Die beiden Fachvorträge GSELL „Die gerechte Miete“ und VOIGTLÄNDER „Effizienz staatlicher Wohnraumförderungsmodelle<br />
und ihr Einfluss aus das Mietpreisniveau“ sind in NZM 20<strong>17</strong>, 305 = WuM 20<strong>17</strong>, 305 und<br />
NZM 20<strong>17</strong>, 312 veröffentlicht; die übrigen Vorträge des Deutschen Mietgerichtstages können aus der<br />
neuen und umfangreichen Mietrechtsdatenbank des Deutschen Mietgerichtstages unter www.mietgerichtstag.de<br />
heruntergeladen werden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 859
Fach 4 R, Seite 892<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Bundespolitisch hat es mietrechtlich keine erwähnenswerten Entscheidungen gegeben. In NRW hat die<br />
neue CDU/FDP-Koalition ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Danach sollen in NRW sowohl die<br />
Mietpreisbremsen-VO, die Kappungsgrenzensenkungs-VO als auch die Zweckentfremdungs-VO<br />
aufgehoben werden. Ähnliches hat die sog. Jamaika-Koalition auch für Schleswig-Holstein vereinbart. In<br />
München und Hamburg wäre das – teilweise – gar nicht notwendig gewesen. Sowohl eine Abteilung<br />
des AG München (Urt. v. 21.6.20<strong>17</strong> – 414 C 26570/<strong>16</strong>) als auch eine des AG Hamburg-Altona (Urt. v.<br />
23.5.20<strong>17</strong> – 3<strong>16</strong> C 380/<strong>16</strong>) haben mit sehr ähnlichen Begründungen die jeweilige Landesverordnung für<br />
nichtig erklärt. Hintergrund ist, dass § 556d Abs. 2 BGB vorschreibt, dass die Verordnung begründet<br />
werden muss. In Hamburg hat der Senat versucht, mit dem Satz „Nach Feststellung des Senats liegt in<br />
Hamburg ein angespannter Wohnungsmarkt vor“ eine Begründung zu liefern, und im Übrigen allenfalls in<br />
nicht veröffentlichten Unterlagen weitere Daten geliefert. Beides reichte dem AG Hamburg-Altona<br />
nicht. In Bayern hat man zwar sehr sorgfältig offengelegt, was untersucht wurde oder werden sollte<br />
und wie das bewertet werden soll, nur ist dieser Methodenbericht abstrakt und enthält keinerlei Daten.<br />
Es soll aber auch Abteilungen am AG München geben, denen diese Angaben genügten und die deshalb<br />
davon ausgehen, dass in München die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete gelte. Weitere<br />
Verfahren sind in München anhängig. Der BayVerfGH (WuM 20<strong>17</strong>, 385) hatte zuvor in einem<br />
Popularklageverfahren einen Verstoß gegen die bayerische Verfassung verneint und „den Ball“ den<br />
Zivilgerichten zugespielt. Auch in Hamburg gibt es eine abweichende Meinung beim AG Hamburg-<br />
St. Georg (Urt. v. 22.6.20<strong>17</strong> – 913 C 2/<strong>17</strong>). Noch dreister ist die hessische Landesregierung mit ihren<br />
Bürgern und den Gerichten umgegangen: Sie hat gar keine Begründung veröffentlicht und ist der<br />
Auffassung, das auch nicht zu müssen, obwohl das Gesetz in § 556d Abs. 2 BGB genau das vorschreibt.<br />
Eigentlich können sich die hessischen Gerichte nur den Entscheidungen aus Bayern und Hamburg<br />
anschließen. Für Baden-Württemberg wurden in der Literatur schon Zweifel an der Stichhaltigkeit der<br />
Verordnungsbegründung geäußert (ZUCK NZM 20<strong>16</strong>, 657).<br />
II.<br />
Mietvertragsabschluss<br />
1. Schriftform<br />
Die Einhaltung der Schriftform ist für Vermieter zum Teil von existentieller Bedeutung. Auf die<br />
Einhaltung wird deshalb bei Abschluss des Vertrags großen Wert gelegt. Dies ist bei späteren<br />
Vertragsänderungen nicht immer der Fall. Auch sie unterliegen – selbst wenn sie nur geringfügig sind –<br />
der Schriftform (BGH WuM 20<strong>16</strong>, 28 = NJW 20<strong>16</strong>, 311 = MDR 20<strong>16</strong>, 146 = NZM 20<strong>16</strong>, 98 = GE 20<strong>16</strong>, 189 =<br />
MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 42 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 1/20<strong>16</strong> Anm.1; BIEBER<br />
jurisPR-MietR 8/20<strong>16</strong> Anm. 2; BURBULLA MietRB 20<strong>16</strong>, 35; SCHWEITZER NZM 20<strong>16</strong>, 101; DRASDO NJW-Spezial<br />
20<strong>16</strong>, <strong>16</strong>2). Damit es hier nicht zu bösen Überraschungen kommt, werden in der Praxis sog. doppelte<br />
Schriftformklauseln (oder auch: qualifizierte Schriftformklausel) vereinbart. Nach ihnen bedürfen nicht<br />
nur alle Änderungen oder Ergänzungen des Vertrags der Schriftform, es wird zusätzlich ausdrücklich<br />
vereinbart, dass dies auch für eine Änderung der Schriftformklausel selbst gelten soll. Der Schutz ist aber<br />
eher lückenhaft, wie der XII. Senat jetzt entschieden hat. Eine solche Klausel kann nämlich im Falle ihrer<br />
formularmäßigen Vereinbarung wegen des Vorrangs der Individualvereinbarung nach § 305b BGB eine<br />
mündliche oder auch konkludente Änderung der Vertragsabreden nicht ausschließen (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />
131 = GE 20<strong>17</strong>, 289 = NJW 20<strong>17</strong>, 107 = NZM 20<strong>17</strong>, 189 = MDR 20<strong>17</strong>, 386 = ZfIR 20<strong>17</strong>, 272 = MietPrax-AK<br />
§ 550 BGB Nr. 43 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 5/20<strong>17</strong> Anm. 1; SCHNEEHAIN MietRB<br />
20<strong>17</strong>, 96; BUEB jurisPR-MietR 8/20<strong>17</strong> Anm. 4).<br />
2. Voraussetzungen für Vorkaufsrecht des Mieters<br />
Ein Vorkaufsrecht des Mieters entsteht nach § 577 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB, wenn nach der Überlassung der<br />
vermieteten Wohnräume an den Mieter Wohnungseigentum begründet worden ist und dieses dann an<br />
einen Dritten verkauft wird. Dass vor der Überlassung der Mietsache an den Mieter die für die<br />
Aufteilung in Wohnungseigentum erforderliche Teilungserklärung (§ 8 WEG) bereits notariell beurkundet<br />
worden ist, hindert das Entstehen des Vorkaufsrechts nach dieser Alternative nicht, weil die<br />
Teilung erst mit der Anlegung der Wohnungsgrundbücher wirksam wird. Die Entstehung eines<br />
Vorkaufsrechts nach § 577 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB ist davon abhängig, dass nach der Überlassung der<br />
860 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 893<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
vermieteten Wohnräume an den Mieter Wohnungseigentum begründet werden soll und das zukünftige<br />
Wohnungseigentum an einen Dritten verkauft wird. Ein Vorkaufsrecht besteht daher nach dieser<br />
Alternative nicht, wenn die Absicht, Wohnungseigentum zu begründen, schon vor der Überlassung der<br />
vermieteten Wohnräume an den Mieter gefasst worden ist und sich nach außen hinreichend<br />
manifestiert hat, etwa durch die notarielle Beurkundung einer Teilungserklärung (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />
36 = GE 20<strong>17</strong>, 222 = NZM 20<strong>17</strong>, 146 = ZMR 20<strong>17</strong>, 302 = MietPrax-AK § 577 BGB Nr. 12 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS; BECKER MietRB 20<strong>17</strong>, 126).<br />
III.<br />
Mietsicherheit<br />
1. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />
Ungeklärt war bisher die Frage, wem die Mietsicherheit nach Ende des Mietverhältnisses zusteht, wenn<br />
zuvor über das Vermögen des Mieters das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet worden war, der<br />
Insolvenzverwalter die Wohnung aber gem. § 109 InsO freigegeben hatte. Der Gesetzgeber hatte die<br />
Freigabe- oder Enthaftungserklärung eingeführt, um dem Mieter im Fall der Insolvenz die Wohnung<br />
zu erhalten. Es gab damals keine Fälle, in denen die Insolvenzverwalter das Mietverhältnis nur deshalb<br />
gekündigt hatten, um die Mietsicherheit zur Masse ausgezahlt zu bekommen. Unklar war seit der<br />
Neuregelung, ob der Gesetzgeber mit Schaffung des Rechtsinstituts der Freigabeerklärung die<br />
Mietsicherheit nunmehr aus der Massezugehörigkeit gelöst hatte, so dass diese an den Mieter<br />
ausgezahlt werden konnte.<br />
Nach Ansicht des Insolvenzsenats des BGH scheidet der Anspruch des Schuldners auf Rückzahlung<br />
einer Mietkaution mit dem Wirksamwerden der Enthaftungserklärung aus der Insolvenzmasse aus. Die<br />
mit der Erklärung nach § 109 Abs. 1 S. 2 InsO verbundene Freigabe erstrecke sich auf dasjenige<br />
Vermögen des Schuldners, das der weiteren Durchführung des Mietvertrags zuzuordnen sei. Der<br />
Anspruch des Schuldners auf Rückzahlung einer geleisteten Mietkaution entstehe zwar aufschiebend<br />
bedingt bereits mit der Leistung der Kaution, nach Sinn und Zweck der Mietkaution sei der Anspruch auf<br />
Rückzahlung jedoch der Fortsetzung des Mietverhältnisses nach dem Wirksamwerden der Enthaftungserklärung<br />
zuzuordnen. Die Kaution diene nach Maßgabe der getroffenen Sicherungsabrede bis zur<br />
Beendigung des Mietverhältnisses und der Rückgabe der Mietsache dazu, die mietvertraglichen<br />
Ansprüche des Vermieters zu sichern. Ein Anspruch auf Rückzahlung der Kaution bestehe nur, wenn der<br />
Schuldner auch nach der Freigabe des Mietverhältnisses seine mietvertraglichen Pflichten erfülle,<br />
insbesondere die geschuldete Miete samt Nebenkosten zahlt und die Mietsache nach der Beendigung<br />
des Mietverhältnisses in vertragsgemäßem Zustand zurückgibt. Erst dadurch erlangt das Recht des<br />
Mieters an der Kaution seinen endgültigen Wert. Das rechtfertige es, die Kaution dem Mieter<br />
zuzusprechen (BGH NZM 20<strong>17</strong>, 437 = WuM 20<strong>17</strong>, 296 = ZInsO 20<strong>17</strong>, 875 = WM 20<strong>17</strong>, 872 = ZIP 20<strong>17</strong>, 884 =<br />
GE 20<strong>17</strong>, 587 = NJW <strong>17</strong>47 = DWW 20<strong>17</strong>, 180 = ZMR 20<strong>17</strong>, 528 = MDR 20<strong>17</strong>, 728 = MietPrax-AK § 109 InsO<br />
Nr. 7 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 10/20<strong>17</strong> Anm. 1; BÖRSTINGHAUS NJW 20<strong>17</strong>, <strong>17</strong>48;<br />
FLATOW NZM 20<strong>17</strong>, 438; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 386; CYMUTTA/SCHÄDLICH NZI 20<strong>17</strong>, 445; HAIN jurisPR-InsR<br />
11/20<strong>17</strong> Anm. 2).<br />
2. Vermieterpfandrecht<br />
Das Vermieterpfandrecht spielt in der Wohnraummiete so gut wie keine Rolle, in der Gewerberaummiete<br />
manchmal. Es setzt u.a. voraus, dass die eingebrachten Sachen im Eigentum des Mieters<br />
stehen. Das kann man den Sachen i.d.R. nicht ansehen, so dass sich die Frage stellt, ob die gesetzliche<br />
Vermutung des § 1006 BGB hier helfen kann. Das hat der V. Senat des BGH als „Eigentumssenat“ jetzt<br />
bejaht (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 330 = GE 20<strong>17</strong>, 710 = DWW 20<strong>17</strong>, 227 = MDR 20<strong>17</strong>, 811 = MietPrax-AK § 1006<br />
BGB Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; LAMMEL jurisPR-MietR 11/20<strong>17</strong> Anm. 4; BURBULLA MietRB 20<strong>17</strong>, 188;<br />
DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 418). Im konkreten Fall wurde der Vermieter von einem Dritten, der sich des<br />
Eigentums der Einrichtungsgegenstände einer Pizzeria berühmte, auf Herausgabe von Einrichtungsgegenständen<br />
und Schadensersatz wegen der Verwertung einzelner Gegenstände in Anspruch<br />
genommen. Zwischen den Parteien war strittig, ob die Gegenstände im Eigentum des Mieters oder<br />
des klagenden Dritten standen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 861
Fach 4 R, Seite 894<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Anders als es noch das OLG vertreten hatte, hat der V. Senat angenommen, dass hier zunächst<br />
zugunsten des Mieters die Eigentumsvermutung des § 1006 BGB streitet. In einem zweiten Schritt hat<br />
der Senat dann gemeint, dass sich auch der Vermieter auf diese Vermutungswirkung, die zugunsten des<br />
Mieters streitet, berufen kann. Und schließlich hat der Senat dargelegt, dass diese gesetzliche<br />
Vermutung nicht nur entkräftet, sondern widerlegt werden muss.<br />
IV.<br />
Betriebskosten<br />
1. Betriebskostenabrechnung<br />
a) Vermietete Eigentumswohnung<br />
Die Vermietung einer Eigentumswohnung ist mietrechtlich eigentlich nichts Besonderes, trotzdem<br />
tauchen hier Probleme auf, die es ansonsten eher nicht gibt. Das betrifft bei der Betriebskostenabrechnung<br />
z.B. die Frage, welche Bedeutung der Beschluss der Wohnungseigentümergemeinschaft<br />
über die Jahresabrechnung für die Erstellung der mietrechtlichen Betriebskostenabrechnung hat. Hier<br />
stellt sich u.a. die Frage, ob der Vermieter bis zum Abrechnungsbeschluss eine verspätete Abrechnung<br />
nicht zu vertreten hat, mit der Folge, dass er bis zu drei Monate nach dem Beschluss noch die<br />
Betriebskostenabrechnung dem Mieter zukommen lassen könnte. Dies hat der VIII. Senat jetzt in<br />
zwei Entscheidungen aber anders gesehen. Danach hat der Vermieter einer Eigentumswohnung über<br />
die Betriebskostenvorauszahlungen des Mieters grundsätzlich auch dann innerhalb der Jahresfrist des<br />
§ 556 Abs. 3 S. 2 BGB abzurechnen, wenn zu diesem Zeitpunkt der Beschluss der Wohnungseigentümer<br />
gem. § 28 Abs. 5 WEG über die Jahresabrechnung (§ 28 Abs. 3 WEG) des Verwalters der<br />
Wohnungseigentümergemeinschaft noch nicht vorliegt. Ein solcher Beschluss ist nämlich keine<br />
(ungeschriebene) Voraussetzung für die Abrechnung der Betriebskosten gem. § 556 Abs. 3 BGB. Der<br />
Verwalter einer Wohnungseigentümergemeinschaft ist als solcher auch nicht Erfüllungsgehilfe des<br />
Wohnungseigentümers nach § 278 BGB in Bezug auf dessen mietvertragliche Pflichten hinsichtlich der<br />
Abrechnung der Betriebskosten. Der Vermieter muss sich im konkreten Einzelfall entschuldigen und<br />
darlegen, welche Bemühungen er unternommen hat, um eine rechtzeitige Abrechnung sicherzustellen<br />
(BGH WuM 20<strong>17</strong>, 138 = NZM 20<strong>17</strong>, 2<strong>16</strong> = GE 20<strong>17</strong>, 345 = MDR 20<strong>17</strong>, 385 = ZMR 20<strong>17</strong>, 303 = MietPrax-AK<br />
§ 556 BGB Nr. 123 m. Anm. EISENSCHMID; BEYER jurisPR-MietR 6/20<strong>17</strong> Anm. 1; BÖRSTINGHAUS jurisPR-<br />
BGHZivilR 6/20<strong>17</strong> Anm. 2; BÖRSTINGHAUS LMK 20<strong>17</strong>, 388495; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 290; BGH GE 20<strong>17</strong>,<br />
723 = MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 125 m. Anm. EISENSCHMID; BEYER jurisPR-MietR 13/20<strong>17</strong> Anm. 3).<br />
b) Zusammenfassung von Betriebskostenpositionen<br />
Eine Betriebskostenabrechnung, in der die Kostenposition Grundsteuer und Straßenreinigung<br />
zusammengefasst werden, ist formell nicht ordnungsgemäß (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 205 = GE 20<strong>17</strong>, 471 =<br />
MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 124 m. Anm. EISENSCHMID; DANIEL GE 20<strong>17</strong>, 456). Der Vermieter darf in einer<br />
Abrechnung nur die Positionen zusammenfassen, die auch in § 2 BetrKV unter einer Ziffer<br />
zusammengefasst sind. Das gilt z.B. für die verschiedenen Versicherungskosten (BGH GE 2009, 1428<br />
= WuM 2009, 669 = MM 2009, 369 = NJW 2009, 3575 = DWW 2009, 384 = NZM 2009, 906 = MDR<br />
2009, 1383 = ZMR 2010, 102 = MietPrax-AK § 5 556 BGB Nr. 42 m. Anm. EISENSCHMID; DERS. WuM 2010, 138;<br />
PFEIFER MietRB 2010, 5) sowie für Wasser und Schutzwasserkosten, wenn die Umlage dieser Kosten<br />
einheitlich nach dem durch Zähler erfassten Frischwasserverbrauch vorgenommen wird (BGH GE 2009,<br />
1037 = WuM 2009, 5<strong>16</strong> = NZM 2009, 698 = MDR 2009, 1098 = DWW 2009, 332 = ZMR 2009, 839 =<br />
MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 41 m. Anm. EISENSCHMID; DRASDO NJW-Spezial 2009, 657; PFEIFER MietRB 2009,<br />
313; SCHLÄGER ZMR 2010, 267).<br />
c) Vorwegabzug<br />
Nach bisheriger Rechtsauffassung muss bei der Betriebskostenabrechnung i.d.R. eine Kostentrennung<br />
zwischen den Betriebskosten, die auf die gewerblich genutzten Objekte entfallen, und denjenigen für<br />
den Wohnraum erfolgen, wenn sich die Wohnung in einem Gebäude befindet, das sowohl<br />
Gewerbeeinheiten wie auch Wohnungen enthält. Von diesem Grundsatz ist der BGH (WuM 20<strong>17</strong>, 399<br />
= MietPrax-AK § 556a BGB Nr. 13 m. Anm. EISENSCHMID) jetzt hinsichtlich der Umlage der Grundsteuer<br />
für ein gemischt genutztes Gebäude abgewichen. Es ging um ein Gebäude mit einer Wohn- und<br />
862 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 895<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Nutzfläche von rund 1.100 m 2 , wobei auf die gewerbliche Nutzung rund 56 % der Flächen und der Rest<br />
auf die Wohnnutzung entfielen. Im Mietvertag war die Umlage der Betriebskosten nach dem<br />
Wohnflächenschlüssel vereinbart. Die Grundsteuer war deshalb unstrittig höher als bei einer<br />
einheitlichen Wohnnutzung.<br />
Aus § 556a Abs. 1 S. 2 BGB lasse sich jedoch kein zwingender Vorwegabzug bei der Grundsteuer<br />
herleiten. Nach dieser Vorschrift sind Betriebskosten, die von einem erfassten Verbrauch oder von<br />
einer erfassten Verursachung durch die Mieter abhängen, nach einem Maßstab umzulegen, der dem<br />
unterschiedlichen Verbrauch oder der unterschiedlichen Verursachung Rechnung trägt. Diese<br />
Voraussetzungen seien aber bei der Grundsteuer gerade nicht gegeben. Ihre Höhe hänge nicht<br />
vom Nutzungsverhalten der Mieter ab. Grundsteuer werde aufgrund eines Grundsteuerbescheids<br />
erhoben, der wiederum auf dem Einheitswertbescheid zum letzten Feststellungsstichtag, dem<br />
1.1.1964, beruhe. Die Höhe der Grundsteuer werde also nie durch die Nutzung bestimmter Fläche<br />
zu gewerblichen Zwecken im Abrechnungszeitraum beeinflusst. Auch aus Billigkeitsgründen will<br />
der Senat keine Verpflichtung des Vermieters ableiten, einen Vorwegabzug für die Gewerbeeinheiten<br />
bei der Grundsteuer vorzunehmen. Eine solche Verpflichtung bestünde nur, wenn durch<br />
die gewerbliche Nutzung erhebliche Mehrkosten (pro m 2 ) entstünden. Das sei bei der Grundsteuer<br />
aber gerade nicht der Fall, da diese eine ertragsunabhängige Objektsteuer sei. Die in einem<br />
Abrechnungsjahr erhobene Steuer hänge grundsätzlich nicht von den in diesem Jahr erzielten<br />
Erträgen und ihrer Verteilung auf die Nutzung zu gewerblichen Zwecken einerseits und zu<br />
Wohnzwecken andererseits ab.<br />
2. Heizkostenabrechnung<br />
In Gebäuden, in denen die freiliegenden Leitungen der Wärmeverteilung überwiegend ungedämmt<br />
sind und deswegen ein wesentlicher Anteil des Wärmeverbrauchs nicht erfasst wird, kann der<br />
Wärmeverbrauch der Nutzer nach anerkannten Regeln der Technik bestimmt werden. Damit<br />
soll berücksichtigt werden, dass ein Großteil der Wärme genutzt wird, ohne dass eine messtechnische<br />
Erfassung erfolgt ist. Nach bestrittener Auffassung des BGH (WuM 20<strong>17</strong>, 320 = GE 20<strong>17</strong>, 709 =<br />
MietPrax-AK § 7 HeizKV Nr. 5 m. Anm. EISENSCHMID; PFEIFER jurisPR-MietR 12/20<strong>17</strong> Anm. 1; PFEIFER CuR<br />
20<strong>17</strong>, 11; WALL WuM 20<strong>17</strong>, 322) soll dies aber nicht gelten, wenn die Leitungen zwar ungedämmt<br />
sind, aber nicht freiliegen. Auf diesen Fall sei § 7 Abs. 1 S. 2 HeizkostenV auch nicht analog<br />
anwendbar.<br />
3. Gewährleistungsrechte<br />
Lärm ist der mit am schwierigsten darzulegende und auch zu beweisende Mangel der Mietsache.<br />
Häufig wird mit sog. Lärmprotokollen gearbeitet. Der BGH hatte schon 2012 (WuM 2012, 269 =<br />
GE 2012, 681 = NJW 2012, <strong>16</strong>45 = DWW 2012, <strong>17</strong>1 = GuT 2012, 125 = NZM 2012, 381 = ZMR 2012, 536 =<br />
MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 41 m. Anm. EISENSCHMID; JAHREIS jurisPR-MietR 9/2012 Anm. 1 = WuM 2012,<br />
309; KINNE GE 2012, 644; DRASDO NJW-Spezial 2012, 321; SCHMID MietRB 2012, <strong>16</strong>1 und <strong>16</strong>7; SCHRÖDER ZMR<br />
2012, 537; WETEKAMP NZM 2012, 441; BOOS LMK 8/2012 Anm. 2) entschieden, dass zur Darlegung<br />
wiederkehrender Beeinträchtigungen des Mietgebrauchs eine Beschreibung genügt, aus der sich<br />
ergibt, um welche Art von Beeinträchtigungen (Partygeräusche, Musik, Lärm durch Putzkolonnen auf<br />
dem Flur o.Ä.) es geht, zu welchen Tageszeiten, über welche Zeitdauer und in welcher Frequenz diese<br />
ungefähr auftreten; der Vorlage eines „Lärmprotokolls“ bedürfe es dafür aber nicht (dazu auch<br />
SCHNEIDER WuM 2013, 209). Daran hat der VIII. Senat jetzt noch einmal angeknüpft (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />
194 = MDR 20<strong>17</strong>, 448 = GE 20<strong>17</strong>, 413 = NZM 20<strong>17</strong>, 256 = ZMR 20<strong>17</strong>, 379 = NJW 20<strong>17</strong>, 1877 = MietPrax-AK<br />
§ 536 BGB Nr. 54 m. Anm. EISENSCHMID; BEYER jurisPR-MietR 11/20<strong>17</strong> Anm. 2; SUILMANN MietRB 20<strong>17</strong>, 154;<br />
BRUNS NJW 20<strong>17</strong>, 1879). Da die Minderung nach § 536 Abs. 1 BGB anders als im Kauf- oder<br />
Werkvertragsrecht kraft Gesetzes eintritt, genügt der Mieter seiner Darlegungslast schon mit der<br />
Darlegung eines konkreten Sachmangels, der die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen<br />
Gebrauch beeinträchtigt. Er muss weder das Maß der Gebrauchsbeeinträchtigung noch darüber<br />
hinaus die ihm häufig nicht bekannten Ursachen dieses Mangels darlegen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 863
Fach 4 R, Seite 896<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Hinweis:<br />
Das bedeutet, dass es in den Fällen, in denen sich ein Mieter in einem Mehrparteienhaus einer Lärmbelästigung<br />
durch Nachbarmieter ausgesetzt sieht, ausreicht, wenn er die Lärmbelastung (laute Klopfgeräusche,<br />
festes Getrampel, Möbelrücken usw.) ausreichend beschreibt. Er kann diese durch detaillierte<br />
„Lärmprotokolle“ konkretisieren, was aber bei ausreichender Beschreibung der wiederkehrenden Lärmbeeinträchtigungen<br />
noch nicht einmal zwingend erforderlich ist.<br />
V. Mieterhöhung<br />
1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />
a) Stichtagsdifferenz<br />
Dem Vermieter steht gegenüber dem Mieter ein Anspruch auf Zustimmung zu einer Mieterhöhung<br />
bis zur Höhe der ortsüblichen Vergleichsmiete, die zum Zeitpunkt des Zugangs des Mieterhöhungsverlangens<br />
gilt, zu. Da die ortsübliche Vergleichsmiete immer aus den Mieten der letzten<br />
vier Jahre, gerechnet vom Zugangszeitpunkt der Erklärung rückwärts, gebildet wird, ist sie nicht statisch,<br />
sondern vor allem in angespannten Wohnungsmärkten dynamisch. Deshalb können Mietspiegel<br />
bereits systemimmanent die ortsübliche Vergleichsmiete zum maßgeblichen Stichtag nicht<br />
angeben, da sie auf einer Datenerhebung zu einem anderen, mehr oder weniger weit, in der Vergangenheit<br />
liegenden Stichtag beruhen. Mietspiegel sind deshalb immer statisch. Im vorprozessualen<br />
Verfahren ist das unproblematisch, weil der Vermieter ggf. ein anderes Begründungsmittel verwenden<br />
kann.<br />
Dies gilt aber im Zustimmungsprozess nicht. Hier muss das Gericht die Höhe der ortsüblichen<br />
Vergleichsmiete zum Zeitpunkt des Zugangs des Erhöhungsverlangens mit den Beweismitteln der ZPO<br />
feststellen.<br />
Hinweis:<br />
Mietspiegel sind zwar keine Beweismittel im prozessualen Sinne, ihnen kommt aber entweder eine gesetzliche<br />
Vermutungswirkung (qualifizierte Mietspiegel) oder zumindest eine Indizwirkung (einfache<br />
Mietspiegel) zu.<br />
Hier kann es aber notwendig sein, die Werte eines älteren Mietspiegels zu „aktualisieren“ oder<br />
„fortzuschreiben“ (OLG Hamm, RE v. 30.8.1996, NJW-RR 1997, 142; OLG Stuttgart, RE v. 15.12.1993, NJW-<br />
RR 1994, 334 m. Anm. BLANK ZMR 1994, 137; LG Koblenz WuM 1998, 692; LG Berlin GE 1996, 1547;<br />
LG Hamburg WuM 1996, 45; LG München WuM 1992, 25; BÖRSTINGHAUS, in: SCHMIDT-FUTTERER, Mietrecht,<br />
12. Aufl., § 558 BGB Rn 67 m.w.N.). Dies kann im Prozess auf unterschiedliche Weise geschehen:<br />
• Gibt es zeitnah um den Zeitpunkt des Zugangs des Erhöhungsverlangens eine Datenerhebung für<br />
einen neuen Mietspiegel, bietet es sich an, bei der Beweiswürdigung im Zustimmungsprozess dessen<br />
Daten für die Ermittlung im Zustimmungsprozess zu verwenden (LG Berlin GE 2015, 126; GE 2010, 61;<br />
GE 2008, 1057; GE 2008, 334; GE 2006, 391; GE 2005, 1433; GE 2004, 483; GE 2003, 1022; ZMR 1998,<br />
<strong>16</strong>5; LG Dresden, Urt. v. 9.12.2014 – 4 S 53/14; LG Hamburg WuM 1991, 355; LG Bochum WuM 1982, 18;<br />
LG Wuppertal WuM 1982, 19; AG Charlottenburg GE 20<strong>16</strong>, 331; GE 2004, 52; AG Esslingen WuM 2015,<br />
<strong>16</strong>1, <strong>16</strong>3; AG Gelsenkirchen ZMR 2009, 129; AG Gelsenkirchen-Buer NZM 1998, 509; AG Dortmund<br />
NJW-RR 1995, 971; WuM 2003, 35; AG Frankfurt DWW 1993, 44). Es geht im Zustimmungsverfahren<br />
darum, die ortsübliche Vergleichsmiete möglichst auf den Tag genau festzustellen, und nicht darum,<br />
ob der Vermieter nach der Begründung des Mieterhöhungsverlangens einen Anspruch auf Zustimmung<br />
hatte.<br />
• Gibt es eine solche Datenerhebung zum maßgeblichen Stichtag nicht, kann man sich mit einer<br />
Interpolation der Mietspiegelwerte behelfen. Insofern hat der BGH die bisherige Handhabung in der<br />
Praxis gebilligt (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 208 = GE 20<strong>17</strong>, 472 = MDR 20<strong>17</strong>, 566 = NZM 20<strong>17</strong>, 321 = ZMR 20<strong>17</strong>,<br />
864 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 897<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
384 = MietPrax-AK § 558b BGB Nr. 4 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 8/20<strong>17</strong><br />
Anm. 2; FLEINDL NZM 20<strong>17</strong>, 325; SCHACH MietRB 20<strong>17</strong>, 155). Dabei sind wiederum zwei Fälle denkbar:<br />
• Gibt es einen neuen (ausgehandelten) Mietspiegel zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungsfindung,<br />
bietet sich die Interpolation der neuen und alten Mietspiegelwerte an. Dadurch<br />
kann ein Wert für den Zugangszeitpunkt des Erhöhungsverlangens ermittelt werden.<br />
• Gibt es keinen neuen Mietspiegel, dürfte eine Fortschreibung der alten Mietspiegelwerte mittels<br />
eines Index möglich sein. Selbst für qualifizierte Mietspiegel ist das Verfahren zur Fortschreibung<br />
gesetzlich in § 558d Abs. 2 BGB vorgesehen.<br />
Umstritten ist die Frage, ob der Vermieter zu den Mietspiegelwerten selbst einen solchen Zuschlag<br />
bereits im Erhöhungsverfahren hinzurechnen darf. Dies wurde bisher zu Recht verneint. Die einzelnen<br />
Begründungsmittel leiten ihre Überzeugungskraft aus unterschiedlichen Tatsachen ab. Beim Mietspiegel<br />
ist dies die Person des Mietspiegelerstellers. Dessen Autorität geht verloren, wenn der Vermieter den<br />
Mietspiegel eigenhändig fortschreibt. Allenfalls bei der Spanneneinordnung mag die Stichtagsdifferenz<br />
argumentativ genutzt werden. Diese bisher herrschende Auffassung ist aber neuerdings kritisiert worden<br />
(FLEINDL NZM 20<strong>17</strong>, 325). Nach dieser Auffassung kann der Vermieter mittels Stichtagsdifferenz auch die<br />
Mietspiegelwerte überschreiten und deshalb schon im Erhöhungsverlangen eine höhere Miete verlangen.<br />
b) Wohnfläche<br />
Die Miete für eine Wohnung wird errechnet aus der ortsüblichen Vergleichsmiete pro Quadratmeter<br />
multipliziert mit der Wohnfläche. Deshalb geht es im Zustimmungsverfahren gem. § 558b BGB immer<br />
auch um die Größe der Wohnung. Das bedeutet zunächst, dass der Vermieter in einem solchen<br />
Verfahren eine Wohnungsgröße vortragen muss. Dazu genügt es nach Ansicht des BGH (NZM 20<strong>17</strong>, 435<br />
= GE 20<strong>17</strong>, 774 = MietPrax-AK § 558b BGB Nr. 5 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 744; FLATOW<br />
jurisPR-MietR 14/20<strong>17</strong> Anm. 3; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 14/20<strong>17</strong>, Anm. 1), wenn der Vermieter eine<br />
konkrete Wohnfläche behauptet. Nun ist es Sache des Mieters, eine eigene Wohnfläche vorzutragen. Er<br />
darf sich nämlich nach Ansicht des BGH nicht auf ein Bestreiten mit Nichtwissen beschränken (so auch<br />
schon BGH WuM 2014, 744 = GE 2014, <strong>16</strong>49 = NZM 2015, 44 = NJW 2015, 475 = ZMR 2015, 205 =<br />
MietPrax-AK § 592 ZPO Nr. 7 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 24/2014 Anm. 1;<br />
LEHMANN-RICHTER MietRB 2015, 2; KINNE GE 2014, <strong>16</strong>19; BIEBER WuM 2015, 72; DRASDO NJW-Spezial 2015, 66;<br />
SCHMID ZMR 2015, 184). Nach § 138 Abs. 4 ZPO ist eine solche Erklärung mit Nichtwissen nur über<br />
Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen<br />
Wahrnehmung gewesen sind. Und genau das ist bei der Wohnfläche der Mieterwohnung der Fall.<br />
Der Mieter kann in aller Regel die Wohnfläche der gemieteten Wohnung überschlägig selbst vermessen<br />
und eine bestimmte abweichende Fläche vortragen. Das soll nach Ansicht des VIII. Senats selbst dann<br />
gelten, wenn die Wohnung Dachschrägen aufweist und eine Loggia hat. Die Berechnung mag in diesen<br />
Fällen kompliziert sein, der Mieter müsse aber das Ergebnis einer laienhaften, im Rahmen seiner<br />
Möglichkeiten liegenden Vermessung vortragen.<br />
Hinweise:<br />
1. Diese Substantiierungspflicht besteht zunächst einmal nur für die Wohnfläche der eigenen Wohnung.<br />
2. Bei der Betriebskostenabrechnung und der Modernisierungsmieterhöhung geht es aber immer auch<br />
um die Gesamtwohnfläche des Hauses. Hier sind die Anforderungen nicht so hoch. Aber auch hier muss<br />
der Mieter auf äußerlich erkennbare Flächenunterschiede hinweisen (Balkone, Loggien etc.).<br />
3. Die Entscheidung befasst sich nicht mit der umstrittenen Frage, wann der Mieter „Kenntnis“ von der<br />
Wohnfläche i.S.d. § 199 BGB hat, was für den Beginn der Verjährungsfrist des Rückforderungsanspruchs<br />
wegen Überzahlungen bei Flächenabweichungen bedeutsam ist.<br />
2. Widerruf einer Zustimmung zu einer Modernisierungsmieterhöhung<br />
Auch im Mietrecht sind die Vorschriften über den Widerruf von Verbraucherverträgen anwendbar. Das<br />
war schon zu Zeiten des Haustürwiderrufsgesetzes so und ergibt sich seit Inkrafttreten des Gesetzes zur<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 865
Fach 4 R, Seite 898<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie vom 20.9.2013 auch ganz deutlich aus § 312 Abs. 4 BGB, der<br />
für Mietverträge nur bestimmte Regelungen für anwendbar und für die Begründung von Mietverträgen<br />
nach Besichtigung davon wiederum weitere Regelungen für unanwendbar erklärt. Die Voraussetzungen<br />
und Rechtsfolgen eines Widerrufs haben sich aber über die Jahre mehrfach geändert.<br />
Zunächst bedeutet dies, dass der Mieter, wenn die situativen Voraussetzungen der §§ 312 ff. BGB<br />
vorliegen, seine Willenserklärung widerrufen kann. Voraussetzung ist hierfür:<br />
• der Vermieter muss Unternehmer sein,<br />
• der Mieter muss Verbraucher sein,<br />
• der Vertrag wurde „außer Haus“, früher: in einer Haustürsituation, geschlossen.<br />
Wenn eine wirksame Widerrufsbelehrung erfolgte, muss der Widerruf binnen 14 Tagen erfolgen,<br />
anderenfalls nach heutigem Recht binnen eines Jahres und 14 Tagen. Früher gab es im letzteren Fall<br />
keine Frist.<br />
Der BGH (WuM 20<strong>17</strong>, 406 = MietPrax-AK § 312 BGB Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS) musste sich in einem<br />
„Altfall“ (aus 2009) mit der Frage beschäftigen, ob der Mieter nach Ausübung des Widerrufs dem<br />
Vermieter Wertersatz in Höhe des objektiven Wertes der Modernisierung schuldet, wenn er nach<br />
Durchführung einer Modernisierungsmaßnahme die Modernisierungsmieterhöhungsvereinbarung<br />
widerruft. Heute ist dies in § 357 Abs. 8 BGB geregelt. Ein Anspruch besteht nur dann, wenn der Mieter<br />
die Leistung vor Ablauf der Widerrufsfrist verlangt und der Vermieter den Mieter auf die Verpflichtung<br />
zur Zahlung von Wertersatz in diesem Fall hingewiesen hat. Diese Verpflichtung gab es 2009 noch<br />
nicht. Nach Ansicht des BGH kommt ein solcher Anspruch auf Zahlung von Wertersatz in diesen<br />
Fällen nur dann in Betracht, wenn der Vermieter zuvor eine wirksame Mieterhöhungserklärung gem.<br />
§ 559b BGB abgegeben hatte. Erst diese Erklärung führe zur Zahlungspflicht für den „Modernisierungszuschlag“.<br />
Hinweis:<br />
Die fehlende Widerrufsbelehrung kann nachgeholt werden. In Altfällen beträgt die Widerrufsfrist in diesem<br />
Fall gem. § 355 BGB a.F. einen Monat, nach derzeit geltendem Recht 14 Tage.<br />
VI.<br />
Kündigung<br />
1. Kündigung wegen Eigenbedarfs durch eine GbR<br />
Der VIII. Senat hatte zunächst im Jahre 2007 entschieden, dass eine GbR wegen Eigenbedarfs für einen<br />
bei Abschluss des Mietvertrags existierenden Gesellschafter kündigen kann (BGH WuM 2007, 515 =<br />
NJW 2007, 2845 = NZM 2007, 679 = ZMR 2007, 772 = DWW 2007, 369 = MDR 2007, 1301 = MietPrax-AK<br />
§ 573 BGB Nr. 12 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; HÄUBLEIN NJW 2007, 2847; SCHUMACHER MietRB 2007, 253, 254;<br />
MÜLLER WuM 2007, 579; DRASDO NJW-Spezial 2007, 529). Vier Jahre später hat er diese Einschränkung<br />
fallengelassen und entschieden, dass eine GbR sich auf einen in der Person eines Gesellschafters<br />
bestehenden Eigenbedarf auch dann berufen kann, wenn dieser der Gesellschaft bei Abschluss des<br />
Mietvertrags oder bei Eintritt der Gesellschaft in einen bestehenden Mietvertrag noch nicht<br />
angehörte (BGH WuM 2012, 31 = GE 2012, 127 = NZM 2012, 150 = MDR 2012, 78 = NJW-RR 2012, 237 =<br />
ZfIR 2012, <strong>17</strong>7 = ZMR 2012, 264 = MietPrax-AK § 566 BGB Nr. 11 m. Anm. BÖRSTINGHAUS;SCHACH GE 2012, 98;<br />
SCHMID MietRB 2012, 34; DRASDO NJW-Spezial 2012, 129). Auf der anderen Seite hatte der Senat bereits<br />
zuvor entschieden, dass eine juristische Person (BGH ZMR 2003, 904 = GE 2003, 1488 = WuM 2003, 691<br />
= NJW-RR 2004, 12 = NZM 2004, 25 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 3 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; MACIEJEWSKI<br />
MM 2003, 445; ROTH NZM 2004, 129; LÜTZENKIRCHEN MietRB 2004, 4) und eine Personengesellschaft (BGH<br />
WuM 2011, 113 = GE 2011, 262 = NJW 2011, 993 = NZM 2011, 276 = ZMR 2011, 371 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />
Nr. 31 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; REINELT jurisPR-BGHZivilR 4/2011 Anm. 1; SCHACH MietRB 2011, 71; WIEK WuM<br />
2011, 146; DRASDO NJW-Spezial 2011, 194; EISENSCHMID LMK 4/2011 Anm. 3; CAMPOS BB 2011, 913) nicht wegen<br />
Eigenbedarfs ihrer Gesellschafter kündigen können.<br />
866 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 899<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Diese Rechtsprechung hat der BGH jetzt bestätigt und gegen Angriffe verteidigt (BGH MDR 20<strong>17</strong>, 142 =<br />
WuM 20<strong>17</strong>, 94 = GE 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>6 = NJW 20<strong>17</strong>, 547 = NZM 20<strong>17</strong>, 111 = ZMR 20<strong>17</strong>, 141 = DWW 20<strong>17</strong>, 51 =<br />
MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 62 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 3/20<strong>17</strong> Anm. 1;<br />
BÖRSTINGHAUS LMK 20<strong>17</strong>, 385346; DERLEDER WuM 20<strong>17</strong>, 104; SELK NJW 20<strong>17</strong>, 521; SINGBARTL NZM 20<strong>17</strong>, 119;<br />
ABRAMENKO MietRB 20<strong>17</strong>, 65/66; MEIER ZMR 20<strong>17</strong>, 150; SCHACH jurisPR-MietR 6/20<strong>17</strong> Anm. 2; DUBOVITSKAYA/<br />
WEITEMEYER NZM 20<strong>17</strong>, 201; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 194).<br />
Hinweis:<br />
Problematisch bleibt für die Praxis die Feststellung des Übergangs von einer GbR zu einer Personengesellschaft,<br />
also insbesondere einer OHG, der ja ohne Eintragung im Handelsregister allein durch die Ausweitung<br />
der Geschäfte möglich ist. Wenn dem Mietervertreter dieser Nachweis gelingt, scheidet eine Eigenbedarfskündigung<br />
aus.<br />
Der Senat hat in einer zweiten Entscheidung seine Auffassung noch einmal wiederholt (BGH NZM 20<strong>17</strong>,<br />
285 = WuM 20<strong>17</strong>, 288 = NJW-RR 20<strong>17</strong>, 583 = ZMR 20<strong>17</strong>, 380 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 63 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS).<br />
Mit der ersten Entscheidung (BGH MDR 20<strong>17</strong>, 142 = WuM 20<strong>17</strong>, 94 = GE 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>6 = NJW 20<strong>17</strong>, 547 = NZM<br />
20<strong>17</strong>, 111 = ZMR 20<strong>17</strong>, 141 = DWW 20<strong>17</strong>, 51 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 62) hat der Senat aber in einem<br />
Punkt eine Rechtsprechungsänderung vollzogen, und zwar was die Rechtsfolgen eines Verstoßes<br />
gegen die sog. Anbietpflicht angeht. Auch nach Ansicht des Senats hat der Vermieter als vertragliche<br />
Nebenpflicht die Verpflichtung, dem Mieter eine andere, ihm während der Kündigungsfrist zur<br />
Verfügung stehende vergleichbare Wohnung zur Anmietung anzubieten, sofern diese sich im selben<br />
Haus oder in derselben Wohnanlage befindet und er sie erneut vermieten will. In der Vergangenheit<br />
hatte der Senat aus diesem Unterlassen eines gebotenen Anbietens gefolgert, dass damit die Kündigung<br />
rechtsmissbräuchlich und damit unwirksam werde.<br />
An dieser Rechtsfolge will er jetzt nicht mehr festhalten. Der Vermieter verstoße nämlich allein durch<br />
die Eigenbedarfskündigung nicht gegen ein Gesetz. Erst dadurch, dass er eine ihm während der<br />
Kündigungsfrist zur Verfügung stehende geeignete Alternativwohnung nicht dem Mieter anbietet, liegt<br />
eine Nebenpflichtverletzung vor. Die Verletzung einer solchen Nebenpflicht mache aber die<br />
ursprünglich berechtigte Eigenbedarfskündigung nicht unwirksam. Der Mieter habe nur einen<br />
Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als wenn der Vermieter der Anbietpflicht nachgekommen<br />
wäre. Diesen Schaden muss der Vermieter dem Mieter ersetzen und zwar in Geld.<br />
Hinweise:<br />
Zum erstattungsfähigen Schaden können eventuell aufgewendete Umzugskosten gehören. Wäre der<br />
Mieter „nur“ im Haus umgezogen, wären diese eventuell gar nicht angefallen. Ebenso könnten auch<br />
Maklerkosten und höhere Fahrtkosten zur Arbeit dazugehören.<br />
2. Kündigung wegen Berufs- oder Geschäftsbedarfs<br />
a) (Frei-)Beruflicher oder gewerblicher Nutzungswunsch des Vermieters<br />
Der VIII. Senat hatte in der Vergangenheit durch einen sehr weit gefassten Leitsatz zumindest für<br />
erhebliche Missverständnisse, was die Kündigung wegen sog. Betriebsbedarfs angeht, gesorgt (BGH GE<br />
2012, <strong>16</strong>31 = WuM 2012, 684 = NZM 2013, 22 = NJW 2013, 225 = ZMR 2013, 107 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />
Nr. 43 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; SCHACH MietRB 2013, 2; BLANK WuM 2013, 47; BOTH jurisPR-MietR 2/2013 Anm.<br />
2; DRASDO NJW-Spezial 2013, 34; WIEK WuM 2013, 271). Damals hatte der Vermieter eine weitere Wohnung<br />
in dem Haus, in dem er mit seiner Frau lebte, gekündigt, damit dort seine Frau eine Anwaltskanzlei<br />
betreiben konnte. Diese Entscheidung wurde von der Praxis so verstanden, dass der Betriebsbedarf<br />
regelmäßig zu einer Kündigung nach der Generalklausel des § 573 Abs. 1 BGB berechtigt. Das wurde in der<br />
Literatur kritisiert (BLANK WuM 2013, 47; BOTH jurisPR-MietR 2/2013 Anm. 2; WIEK WuM 2013, 271).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 867
Fach 4 R, Seite 900<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Nunmehr hat der Senat (BGH GE 20<strong>17</strong>, 653 = WuM 20<strong>17</strong>, 333 = NZM 20<strong>17</strong>, 405 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />
Nr. 65 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGH-ZivilR 11/20<strong>17</strong> Anm. 3; HINZ NZM 20<strong>17</strong>, 412), wie<br />
er selbst schreibt, versucht, diese Missverständnisse seiner Rechtsprechung durch die Untergerichte<br />
auszuräumen, wobei dies durchaus auch als „Rechtsprechungsänderung“ (so die Überschrift des<br />
Urteilsabdrucks in NZM 20<strong>17</strong>, 405) verstanden wird, was der Senat aber selbst ausdrücklich bestreitet.<br />
Nach dem sehr allgemeinen Leitsatz der Entscheidung aus dem Jahre 2012 hat der Senat jetzt acht<br />
Leitsätze formuliert, die alleine schon fast die Länge eines amtsgerichtlichen Urteils haben. Damit wollte<br />
er wohl weitere Missverständnisse für die Zukunft vermeiden. Im konkreten Fall hatte eine Vermieterin<br />
eine sehr kleine Wohnung gekündigt, weil ihr Mann, der im gleichen Haus einer selbstständigen<br />
Tätigkeit nachging, dort Akten lagern wollte. Das war weder Eigenbedarf noch rechtfertigte es eine<br />
Kündigung wegen wirtschaftlicher Verwertung. Eine Verwertungskündigung setze voraus, dass der<br />
Vermieter durch das bestehende Wohnraummietverhältnis an einer wirtschaftlichen Verwertung „des<br />
Grundstücks“, also an einer Realisierung des diesem innewohnenden materiellen Werts gehindert sei.<br />
Eine solche Verwertung geschehe durch einen Verkauf oder eine Vermietung des Grundstücks. Die<br />
Vermietung sollte hier aber nicht der Erzielung eines höheren Ertrags dienen, sondern dem Betrieb des<br />
Ehemanns zugute kommen. In Betracht kam also allenfalls eine Kündigung nach der Generalklausel des<br />
§ 573 Abs. 1 BGB.<br />
Ob ein (frei-)beruflicher oder gewerblicher Bedarf eine Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses<br />
nach § 573 Abs. 1 S. 1 BGB rechtfertigt, lasse sich nicht allgemein beantworten. Es müsse in jedem<br />
Einzelfall festgestellt werden, ob der Vermieter ein „berechtigtes Interesse“ an der Kündigung habe.<br />
Dabei sei zu beachten, dass sowohl die Rechtsposition des Vermieters als auch das vom Vermieter<br />
abgeleitete Besitzrecht des Mieters von der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt<br />
seien. Wie diese Interessen zu gewichten seien, könne aus § 573 Abs. 2 BGB abgeleitet werden. Nach<br />
§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB reicht der Nutzungswunsch des Vermieters alleine aus, wenn er die Wohnung<br />
zu Wohnzwecken nutzen will. Geht es dagegen um eine wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks<br />
gem. § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB, erlaubt das Gesetz eine Kündigung nur bei erheblichen Nachteilen<br />
für den Vermieter. Das Interesse des Vermieters, die vermietete Wohnung zu (frei-)beruflichen oder<br />
gewerblichen Zwecken selbst zu nutzen, ist von der Interessenlage her zwischen den genannten<br />
typisierten Regeltatbeständen anzusiedeln. Es müsse deshalb jedesmal festgestellt werden, ob der<br />
konkrete Betriebsbedarf einen etwas größeren personalen Bezug habe oder näher an einer<br />
Verwertungskündigung zu sehen sei. Im letzteren Fall müssten dem Vermieter erhebliche Nachteile<br />
drohen. Und genau diese hat der Senat bei der vorliegenden Fallgestaltung verneint; ein solcher<br />
Nachteil von einigem Gewicht sei vorliegend nicht ansatzweise zu erkennen. Durch eine Auslagerung<br />
eines größeren Teils des Aktenbestands in andere, etwas entfernter gelegene Räumlichkeiten sei<br />
keine wirtschaftliche Einbuße von einigem Gewicht oder ein die Organisation des Unternehmers<br />
erheblich beeinträchtigender Nachteil erkennbar.<br />
b) Wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks<br />
In einer zweiten Entscheidung (BGH GE 20<strong>17</strong>, 769 = WuM 20<strong>17</strong>, 410 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 66 m.<br />
Anm. BÖRSTINGHAUS) hat der Senat diese von ihm jetzt neu entwickelten und dargestellten Grundsätze auf<br />
eine Fallgestaltung angewandt, bei der der Vermieter eine Wohnung gekündigt hatte, um sie einer ihm<br />
nahestehenden Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, die im ganzen Haus eine soziale Wohngruppe<br />
einrichten wollte. Für den erforderlichen Umbau sollte diese Gesellschaft staatliche Fördermittel<br />
erhalten, die aber wiederum von der Schaffung einer bestimmten Anzahl von Wohngruppenplätzen<br />
abhängig waren. Auch hier ist der Senat davon ausgegangen, dass allenfalls eine Kündigung nach der<br />
Generalklausel des § 573 Abs. 1 BGB in Betracht komme und dass hier wiederum eine größere Nähe zur<br />
Verwertungskündigung bestehe. Auch hier hat der Senat die erheblichen Nachteile auf Vermieterseite<br />
verneint. Zum einen sollte der Vermieter weder umbauen noch Fördermittel bekommen und zum<br />
anderen hatte der Vermieter bereits während des Räumungsprozesses begonnen, das Projekt zu<br />
realisieren und zu betreiben.<br />
868 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 901<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
c) Nutzung aus betrieblichen Gründen notwendig<br />
Und schließlich hat der Senat entschieden, dass eine Kündigung wegen Betriebsbedarfs voraussetzt,<br />
dass betriebliche Gründe die Nutzung gerade der gekündigten Wohnung notwendig machen. Die<br />
Wohnung muss deshalb für die betrieblichen Abläufe nach den Aufgaben der Bedarfsperson von<br />
wesentlicher Bedeutung sein. Dies sei etwa bei einem Angestellten, dem die Aufgaben eines<br />
„Concierge“ für ein Haus übertragen worden sind und der vor Ort sein muss, der Fall. Bei einem<br />
Hausmeister, der mehrere Objekte des Vermieters betreuen soll und ohnehin bereits in der Nähe eines<br />
der Objekte wohnt, sei diese Voraussetzung aber zu verneinen (BGH MDR 20<strong>17</strong>, 693 = GE 20<strong>17</strong>, 658 =<br />
WuM 20<strong>17</strong>, 342 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 64 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR<br />
12/20<strong>17</strong> Anm. 2; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 621; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 419).<br />
3. Schadensersatz wegen vorgetäuschten Eigenbedarfs<br />
Inzwischen häufen sich die Entscheidungen des BGH zum Schadensersatzanspruch wegen vorgetäuschten<br />
Eigenbedarfs. In der Praxis geht es in diesen Fällen zum einen darum zu entscheiden, ob der<br />
behauptete Bedarf überhaupt eine Kündigung rechtfertigt, und zum anderen geht es prozessual immer<br />
um die Frage, ob der Mieter bewiesen hat, dass dieser Kündigungsgrund nur vorgeschoben war. Nach<br />
Ansicht des BGH (MDR 20<strong>17</strong>, 693 = GE 20<strong>17</strong>, 658 = WuM 20<strong>17</strong>, 342 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 64 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS;BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 12/20<strong>17</strong> Anm. 2; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 621; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>,<br />
419) komme dem Mieter hier aber dann eine Beweiserleichterung zugute, wenn der Vermieter nach<br />
Auszug des Mieters den angekündigten Bedarf gar nicht umsetzt. In diesem Fall trifft den Vermieter eine<br />
sekundäre Darlegungslast zum nachträglichen Wegfall des Bedarfs. Setzt der Vermieter den behaupteten<br />
Selbstnutzungswillen nach dem Auszug des Mieters nicht um, liege nämlich der Verdacht nahe, dass der<br />
Bedarf nur vorgeschoben gewesen sei. Unter diesen Umständen sei es dem Vermieter zuzumuten,<br />
substantiiert und plausibel („stimmig“) darzulegen, aus welchem Grund der mit der Kündigung<br />
vorgebrachte Bedarf nachträglich entfallen sein soll; an diese Darlegung sind nach der Rechtsprechung<br />
des Senats (BGH WuM 20<strong>16</strong>, 743 = MDR 20<strong>17</strong>, 21 = NZM 20<strong>17</strong>, 23 = GE 20<strong>17</strong>, 97 = ZMR 20<strong>17</strong>, 32 = MietPrax-<br />
AK § 573 BGB Nr. 61 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 1/20<strong>17</strong> Anm. 2; SCHÜLLER NZM<br />
20<strong>17</strong>, 26; SUILMANN MietRB 20<strong>17</strong>, 35) strenge Anforderungen zu stellen.<br />
4. Fortsetzung des Mietverhältnisses nach der Sozialklausel<br />
Der Kündigungsschutz des sozialen Mietrechts ist vom Gesetzgeber dual ausgestaltet worden (vgl.<br />
STERNEL, Vortrag auf dem Deutschen Mietgerichtstag 20<strong>17</strong>, www.mietgerichtstag.de). Zunächst muss der<br />
Vermieter ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses haben. Auf dieser Ebene<br />
werden die Interessen des Mieters noch nicht berücksichtigt. Das „zweite Standbein“ des dualen<br />
Kündigungsschutzes ist der Fortsetzungsanspruch des Mieters gem. §§ 574 ff. BGB. Hier geht es um die<br />
Mieterinteressen. Dieser Anspruch spielte in der Vergangenheit in der gerichtlichen Praxis kaum eine<br />
Rolle.<br />
Gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des<br />
Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die<br />
Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter<br />
Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Der BGH (GE 20<strong>17</strong>,<br />
469 = DWW 20<strong>17</strong>, 134 = NJW 20<strong>17</strong>, 1474 = NZM 20<strong>17</strong>, 286 = WuM 20<strong>17</strong>, 285 = MDR 20<strong>17</strong>, 635 = ZMR 20<strong>17</strong>,<br />
382 = MietPrax-AK § 574 BGB Nr. 2 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; SINGBARTL/HENKE NZM 20<strong>17</strong>, 289; BÖRSTINGHAUS<br />
jurisPR-BGHZivilR 9/20<strong>17</strong> Anm. 2; SANDIDGE/WICHERT MietRB 20<strong>17</strong>, 153; BEYER jurisPR-MietR 12/20<strong>17</strong> Anm.<br />
2) verlangt von den Tatsachengerichten zu diesen Voraussetzungen eine gründliche und sorgfältige<br />
Sachverhaltsfeststellung und anschließend eine Gewichtung und Würdigung der beiderseitigen<br />
Interessen. Die Härte muss aber stärker sein als die mit einem Wohnungswechsel typischerweise<br />
verbundenen Unannehmlichkeiten. Behauptet der Mieter gesundheitliche Auswirkungen eines Umzugs,<br />
müsse das Tatsachengericht regelmäßig ein Gutachten einholen. Auf der anderen Seite müssten die<br />
Tatsachengerichte auch berücksichtigen, wie groß und dringlich das Vermieterinteresse an der<br />
Eigenbedarfskündigung letztendlich ist. Da es im vorliegenden Fall wohl eher um eine Erhöhung des<br />
„Wohnkomforts“ gegangen sei als um eine Beseitigung völlig unzureichender beengter Wohnverhält-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 869
Fach 4 R, Seite 902<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
nisse, sei das Vermieterinteresse, obwohl es generell eine Kündigung rechtfertige, bei der Abwägung der<br />
Interessen nicht so stark zu berücksichtigen. Auch das Vorhandensein von Alternativwohnraum könne<br />
bei der Abwägung der Interessen auf Vermieterseite zu berücksichtigen sein.<br />
Hinweise:<br />
Nach Ansicht des BGH ist es nicht erforderlich, dass der Mieter sein Fortsetzungsverlangen mittels Widerklage<br />
geltend macht. Die Tatsachengerichte haben im Rahmen des § 308a ZPO einen sehr weiten<br />
Gestaltungsspielraum hinsichtlich des Inhalts des Mietvertrags im Zusammenhang mit der Anordnung<br />
der Fortsetzung. In Betracht käme z.B. eine moderate Mieterhöhung oder die Zahlung einer angemessenen<br />
Kostenbeteiligung an der Umgestaltung von alternativen Räumen für die Befriedigung der Wohnbedürfnisse<br />
des Vermieters.<br />
5. Kündigung wegen Zahlungsverzugs<br />
Nach § 543 Abs. 2 Nr. 3 lit. b BGB kann ein Mietverhältnis gekündigt werden, wenn der Mieter in einem<br />
Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der Miete in Höhe eines<br />
Betrages in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht. Kann der Vermieter deshalb immer<br />
kündigen, wenn der Mieter die vollständige Miete für zwei zeitlich nicht aufeinanderfolge Monate<br />
nicht zahlt, wenn die Miete zwischenzeitlich erhöht wurde? Man möchte das bejahen. Konkret betrug<br />
die Miete bis Juni 20<strong>16</strong> in diesem Fall 449,90 € und ab Juli 20<strong>16</strong> 453,04 €. Der Mieter zahlte die Miete<br />
für Juni und August in voller Höhe nicht. Nach richtiger Ansicht des AG Lübeck (WuM 20<strong>17</strong>, 200 = ZMR<br />
20<strong>17</strong>, 405 m. Anm. MUMMENHOFF; jurisPR-MietR 13/20<strong>17</strong> Anm. 4) ist die Kündigung hier nicht möglich.<br />
Mit dem Begriff „Miete für zwei Monate“ sei der doppelte Betrag der zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung<br />
geschuldeten Miete gemeint. Durch die Mieterhöhung hat der Vermieter diese Grenze<br />
verschoben. Dass diese Auffassung richtig ist, ergibt folgende Kontrollüberlegung: Wenn der Mieter<br />
über viele Monate monatlich 50 € zu wenig zahlt, kann es nicht darauf ankommen, wie hoch die Miete<br />
zu irgendeinem Termin in der Vergangenheit war. Auch hier kommt es nur auf die Miete zum<br />
Zeitpunkt der Kündigung an.<br />
VII. Räumung/Nutzungsentschädigung<br />
Hält der Mieter die Mietsache nach Ende der Mietzeit dem Vermieter vor, indem er sie nicht zurückgibt,<br />
so schuldet er gem. § 546a BGB Nutzungsentschädigung. Dabei enthält das Gesetz eine Untergrenze<br />
und eine Obergrenze für diese Entschädigung. Als Mindestbetrag muss der Mieter die bisher<br />
vereinbarte Miete zahlen – unabhängig davon, wie hoch die Marktmiete zu dieser Zeit ist. Als<br />
Obergrenze für die Nutzungsentschädigung sieht das Gesetz die „ortsübliche Miete“ vor. Nach Ansicht<br />
des BGH (GE 20<strong>17</strong>, 221 = WuM 20<strong>17</strong>, 134 = NZM 20<strong>17</strong>, 186 = NJW 20<strong>17</strong>, 1022 = MDR 20<strong>17</strong>, 387 = ZMR 20<strong>17</strong>,<br />
300 = MietPrax-AK § 546a BGB Nr. 8 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisZivilR 4/20<strong>17</strong> Anm. 1; BEYER<br />
jurisPR-MietR 5/20<strong>17</strong> Anm. 1; Röck NZM 20<strong>17</strong>, 188; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 257; MONSCHAU MietRB 20<strong>17</strong>,<br />
125; ARTZ NZM 20<strong>17</strong>, 281; FLEINDL NZM 20<strong>17</strong>, 282) handelt es sich dabei um die aktuelle Marktmiete und<br />
nicht um die ortsübliche Vergleichsmiete. Anders als § 546a BGB, der Teil der für alle Mietverhältnisse<br />
geltenden allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen des Mietrechts ist und deshalb nicht nur für<br />
Wohnraummietverhältnisse gilt, gelten die Bestimmungen der §§ 558 ff. BGB über die Mieterhöhung bis<br />
zur ortsüblichen Vergleichsmiete nur für Bestandsmietverhältnisse über Wohnraum. Anzunehmen, dass<br />
der Gesetzgeber aber für die Vermietung anderer Sachen als Wohnungen einen anderen Begriff der<br />
ortsüblichen Miete einführen wollte, sei systemwidrig. Und schließlich sprechen der Sinn und Zweck des<br />
§ 546a Abs. 1 Alt. 2 BGB für die Neuvertragsmiete. Mit § 546a BGB solle Druck auf den Mieter ausgeübt<br />
werden, damit er seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Räumung nachkomme.<br />
Hinweise:<br />
1. Für die Geltendmachung der höheren Neuvertragsmiete anstatt der bisherigen Vertragsmiete ist keine<br />
Gestaltungserklärung des Vermieters erforderlich (BGHZ 142, 186, 189). Eine nachträgliche Geltendmachung<br />
ist zulässig.<br />
870 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 903<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
2. Die Nutzungsentschädigung wird aber auf die zulässige Wiedervermietungsmiete gem. §§ 556d bis<br />
556g BGB beschränkt. Der Vermieter soll durch den rechtswidrig unterbliebenen Auszug des Mieters<br />
nicht schlechter gestellt werden, aber er darf auch nicht besser gestellt werden. Insofern darf der<br />
Vermieter in Gebieten mit angespannter Wohnungsversorgung grundsätzlich nur 110 % der ortsüblichen<br />
Vergleichsmiete verlangen, es sei denn es liegt einer der vier Ausnahmetatbestände der<br />
§§ 556e und 556f BGB vor. In Betracht kommt vor allem eine höhere „Vormiete“.<br />
3. Die Nutzungsentschädigung mindert sich nicht, wenn die ehemalige Mietsache nach Ende des<br />
Mietverhältnisses erstmals mangelhaft wird (BGH WuM 2015, 493 = GE 2015, 1022 = MDR 2015, 998 =<br />
NJW 2015, 2795 = NZM 2015, 695 = ZfIR 2015, 653 = ZMR 2015, 754 = MietPrax-AK § 546a BGB Nr. 7<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BLANK LMK 2015, 37<strong>17</strong><strong>16</strong>; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 15/2015 Anm. 2; BURBULLA<br />
MietRB 2015, 265).<br />
VIII. Schadensersatzansprüche<br />
1. Verantwortlichkeit des Mieters für Wohnungsschäden nach Polizeieinsatz<br />
Bei vertragswidrigem Verhalten kann der Mieter sich gem. § 280 BGB schadensersatzpflichtig machen.<br />
Nach Ansicht des BGH überschreitet ein Mieter die Grenze vertragsgemäßen Gebrauchs und verstößt<br />
gegen seine mietvertragliche Obhutspflicht, wenn er in der angemieteten Wohnung illegale<br />
Betäubungsmittel aufbewahrt (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 10 = GE 20<strong>17</strong>, <strong>16</strong>5 = MDR 20<strong>17</strong>, 267 = NZM 20<strong>17</strong>, 144<br />
= ZMR 20<strong>17</strong>, 236 = MietPrax-AK § 280 BGB Nr. 4 m. Anm. EISENSCHMID; SCHACH GE 20<strong>17</strong>, 138; MONSCHAU<br />
MietRB 20<strong>17</strong>, 94; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>17</strong>, 226). Wenn die Polizei aber irrtümlich meint, dass der Mieter<br />
aus der Wohnung mit Betäubungsmitteln Handel treibt und deshalb bei einer Wohnungsdurchsuchung<br />
mit dem „43-Schlüssel“ (Fußtritt) die Wohnungstür öffnet und beschädigt, dann ist der Mieter nicht zum<br />
Schadenersatz verpflichtet, wenn sich der Verdacht nicht bestätigt, weil nur geringe Mengen zum<br />
Eigenverbrauch gefunden werden.<br />
2. Regressverzicht in der Gebäudeversicherung<br />
Der Eigentümer eines Einfamilienhauses muss seiner Versicherung keinen Ersatz leisten, weil diese ihm<br />
Versicherungsleistungen für leicht fahrlässig verursachte Schäden leistet oder wenn sie Dritten wegen<br />
eines solchen Verhaltens Schadensersatz leistet. Insofern ist in den Versicherungsbedingungen ein<br />
Regressverzicht vereinbart, denn gerade dafür werden ja Versicherungen abgeschlossen. Wenn der<br />
Mieter die Kosten der Versicherung über die Betriebskostenabrechnung zahlt und einen Schaden leicht<br />
fahrlässig verursacht, kann die Versicherung nach ganz herrschender Auffassung nach den Grundsätzen<br />
der ergänzenden Vertragsauslegung ebenfalls vom Mieter keinen Regress verlangen (dazu HINZ, Vortrag<br />
auf dem Deutschen Mietgerichtstag 20<strong>17</strong>, www.mietgerichtstag.de). Wie der BGH nun entschieden hat, ist<br />
diese Rechtsprechung aber nicht im Hinblick auf das neue VVG und dessen Abkehr vom „Alles-odernichts-Prinzip“<br />
auf Fälle der grob fahrlässigen Herbeiführung des Schadens zu übertragen (BGH VersR<br />
20<strong>17</strong>, 36 = NJW-RR 20<strong>17</strong>, 22 = NZM 20<strong>17</strong>, 29 = GE 20<strong>17</strong>, 290 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 71 m. Anm.<br />
EISENSCHMID).<br />
IX.<br />
Prozessrecht<br />
1. Streitwerte<br />
a) Unterverpachtung<br />
Verlangt der Unterpächter gegenüber dem Unterverpächter und dem Generalverpächter/Grundstückseigentümer<br />
– als Streitgenossen – die Feststellung, dass der Unterpachtvertrag mit ihm selbst und der<br />
Generalpachtvertrag zwischen den beiden Beklagten ungekündigt fortbestehen, und geht es ihm hierbei<br />
ausschließlich darum, sein Besitzrecht an der von ihm genutzten Parzelle gegen Herausgabeansprüche<br />
der beiden Beklagten zu verteidigen, so bemessen sich der Zuständigkeits- und Rechtsmittelstreitwert<br />
gem. §§ 8, 9 ZPO nach dem dreieinhalbfachen und der Gebührenstreitwert gem. § 41 Abs. 1 GKG nach<br />
dem einfachen Jahresbetrag des vom Kläger für seine Parzelle zu entrichtenden Pachtzinses.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 871
Fach 4 R, Seite 904<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 20<strong>17</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Hinweis:<br />
Ein gegen einfache Streitgenossen ergangenes Feststellungsurteil entfaltet im Verhältnis unter diesen<br />
keine Rechtskraftwirkung (BGH MietPrax-AK § 8 ZPO Nr. 15 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
b) Berufung<br />
Eine zunächst zulässige Berufung eines Berufungsführers, dessen Beschwer die Wertgrenze des § 511<br />
Abs. 2 Nr. 1 ZPO erreicht, kann unzulässig werden, falls dieser willkürlich seinen Berufungsantrag auf<br />
einen unterhalb der Berufungssumme liegenden Wert beschränkt. Mit „willkürlich“ sind diejenigen Fälle<br />
gemeint, in denen der Berufungsführer aus eigener Entschließung, also nicht als Reaktion auf ein<br />
Verhalten seines Gegners, seinen Berufungsantrag auf einen die Berufungssumme unterschreitenden<br />
Wert beschränkt (Bestätigung von Großer Senat für Zivilsachen des Reichsgerichts, RGZ <strong>16</strong>8, 355, 358,<br />
360; BGHZ 1, 29, 31; BGH NJW 1966, 598; BGH NJW-RR 2009, 126).<br />
Wendet sich der Mieter mit seiner Berufung nicht gegen eine ausgeurteilte Zahlungsverpflichtung als<br />
solche, sondern begehrt er mit dem Rechtsmittel lediglich eine Verurteilung Zug um Zug gegen<br />
Erteilung einer ordnungsgemäßen Betriebskostenabrechnung, bemisst sich der Wert des geltend<br />
gemachten Beschwerdegegenstands gem. §§ 2, 3 ZPO nach dem Interesse des Mieters an einem sich<br />
möglicherweise aus der Abrechnung ergebenden Rückzahlungsanspruch, der ggf. nach Erfahrungswerten<br />
zu schätzen und mangels konkreter Anhaltspunkte i.d.R. nur mit einem Bruchteil der geleisteten<br />
Vorauszahlungen anzusetzen ist (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 220 = GE 20<strong>17</strong>, 588 = NZM 20<strong>17</strong>, 358 = MietPrax-AK<br />
§ 511 ZPO Nr. 5 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
c) Beschwer bei Räumung von Wohnraum<br />
Der Wert der Beschwer in einer Streitigkeit über die Räumung von Wohnraum bemisst sich gem. §§ 8, 9<br />
ZPO nach dem dreieinhalbfachen Jahreswert der Nettomiete, wenn es sich um ein Mietverhältnis auf<br />
unbestimmte Zeit handelt und sich deshalb die „streitige“ Zeit nicht bestimmen lässt (BGH WuM 20<strong>17</strong>,<br />
<strong>16</strong>2 = MietPrax-AK § 26 Nr. 8 EGZPO Nr. 28 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
2. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kommt dann nicht in Betracht, wenn das<br />
Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat. Dazu muss die Nichtzulassungsbeschwerde zulässig sein,<br />
also die Beschwer mehr als 20.000 € betragen (BGH WuM 20<strong>17</strong>, 293 = MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 31 m.<br />
Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
3. Nachbesserung der Vermögensauskunft<br />
Der Gläubiger kann die Nachbesserung einer Vermögensauskunft verlangen, wenn der Schuldner ein<br />
äußerlich erkennbar unvollständiges, ungenaues oder widersprüchliches Verzeichnis vorgelegt hat.<br />
Einem Verlangen auf Nachbesserung einer Vermögensauskunft gem. § 802c ZPO fehlt das Rechtsschutzbedürfnis,<br />
wenn der Gläubiger Auskunft über Erstattungsforderungen für Betriebs- und<br />
Heizkosten verlangt, die der Sozialhilfeträger für einen Empfänger von Leistungen nach dem SGB II<br />
an dessen Vermieter geleistet hat. Ein solches Auskunftsbegehren ist mutwillig, weil diese Ansprüche<br />
nicht der Pfändung unterliegen. Hat der Schuldner die Frage nach Ansprüchen aus Pacht-, Miet- und<br />
Leasingverträgen verneint, so bedarf die Frage, ob er die Kaution in Raten an das Jobcenter zurückzahlt,<br />
keiner Beantwortung, weil die Frage nach Ansprüchen aus dem Mietverhältnis bereits zusammenfassend<br />
verneint worden ist und somit kein berechtigtes Interesse an der Frage nach weiteren<br />
Einzelheiten eines Kautionsrückzahlungsanspruchs besteht (BGH MietPrax-AK § 802c ZPO Nr. 2<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS; MONSCHAU MietRB 20<strong>17</strong>, 10).<br />
872 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1255<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Individualarbeitsrecht<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Von Rechtsanwalt Dr. BENJAMIN MÜLLER, Köln<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Gesetzlicher Urlaubsanspruch<br />
1. Anspruchsvoraussetzungen<br />
2. Ausschluss von Doppelansprüchen nach<br />
Arbeitgeberwechsel<br />
3. Urlaubsdauer<br />
4. Teilurlaub<br />
5. Gesetzliche Kürzungsmöglichkeiten<br />
6. Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs<br />
7. Gewährung des Urlaubsanspruchs<br />
8. Urlaubsentgelt<br />
9. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
III. Gesetzliche Urlaubsansprüche außerhalb<br />
des BUrlG<br />
IV. Übergesetzlicher Urlaub<br />
V. Bildungsurlaub<br />
VI. Unbezahlter Sonderurlaub<br />
VII. Prozessuales<br />
1. Leistungsklage<br />
2. Feststellungsklage<br />
3. Einstweiliger Rechtsschutz<br />
VIII. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats<br />
IX. Fazit<br />
I. Einleitung<br />
Nach Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) hat jeder Arbeitnehmer<br />
das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />
ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub darüber hinaus als ein besonders<br />
bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft anzusehen, von dem nicht abgewichen<br />
werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG<br />
selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen (EuGH EuZW 2009, 147, 149).<br />
Im deutschen Recht folgt der Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub unmittelbar aus § 1 des<br />
Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz – BUrlG). Wie der vollständige Titel<br />
des Gesetzes bereits zum Ausdruck bringt, regelt das Bundesurlaubsgesetz nur den Mindestanspruch<br />
auf Erholungsurlaub. Dem Arbeitgeber steht es daher frei, dem Arbeitnehmer über den gesetzlichen<br />
Mindesturlaub hinaus Mehrurlaub zu gewähren. Abweichungen zuungunsten der Arbeitnehmer sind<br />
hingegen grundsätzlich nicht bzw. nur in engen Grenzen in Tarifverträgen zulässig, § 13 Abs. 1 BUrlG.<br />
II.<br />
Gesetzlicher Urlaubsanspruch<br />
1. Anspruchsvoraussetzungen<br />
a) Anspruchsberechtigung<br />
Der Urlaubsanspruch nach § 1 BUrlG setzt voraus, dass der Anspruchsinhaber Arbeitnehmer im Sinne<br />
des Bundesurlaubsgesetzes ist. Dies sind gem. § 2 S. 1 BUrlG „Arbeiter und Angestellte“ sowie die zu ihrer<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 873
Fach <strong>17</strong>, Seite 1256<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Arbeitsrecht<br />
Ausbildung Beschäftigten. Mit dem Begriff der Arbeiter und Angestellten wird der Begriff des Arbeitnehmers<br />
indes nicht definiert. Vielmehr gilt die allgemeine Arbeitnehmerdefinition (vgl. § 611a Abs. 1<br />
BGB). Daneben steht gem. § 2 S. 2 BUrlG auch arbeitnehmerähnlichen Personen ein gesetzlicher<br />
Mindesturlaubsanspruch zu; ausgenommen hiervon sind nach § 2 S. 2 Hs. 2 BUrlG Heimarbeiter, die<br />
zwar auch arbeitnehmerähnliche Personen sind, für die der Gesetzgeber aber eine Spezialregelung in<br />
§ 12 BUrlG getroffen hat.<br />
Hinweis:<br />
Da der Urlaub auf Freistellung von der höchstpersönlich zu erbringenden Arbeitsleistung gerichtet ist, ist<br />
der Urlaubsanspruch nicht vererblich (BAG NZA 2012, 326; zur Vererblichkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs<br />
s. unten II. 9. a).<br />
b) Erfüllung der Wartezeit<br />
Der volle Urlaubsanspruch wird erst nach einem sechsmonatigen Bestehen des Arbeitsverhältnisses<br />
erworben, § 4 BUrlG. Die Wartezeit beginnt regelmäßig mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme<br />
und berechnet sich nach den §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 BGB. Mit Ablauf der Wartezeit entsteht der volle<br />
Urlaubsanspruch für das gesamte Urlaubsjahr und nicht etwa nur für die bis dahin abgelaufenen sechs<br />
Monate. Das Entstehen des Urlaubsanspruchs ist nicht von einem im Einzelfall festzustellenden<br />
„Erholungsbedürfnis“ des Arbeitnehmers abhängig. Der Urlaubsanspruch entsteht daher auch dann,<br />
wenn der Arbeitnehmer nicht arbeitet (BAG NZA 2012, 12<strong>16</strong>, 12<strong>17</strong>). Aus § 13 Abs. 1 BUrlG folgt, dass die<br />
Wartezeit nur tarifvertraglich zuungunsten der Arbeitnehmer verlängert werden kann.<br />
c) Teilurlaub vor Ablauf der Wartezeit<br />
Vor Ablauf der Wartezeit kann dem Arbeitnehmer unter den besonderen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1<br />
lit. a oder lit. b BUrlG nur ein Anspruch auf Teilurlaub zustehen. Danach hat der Arbeitnehmer Anspruch<br />
auf 1 / 12 des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses:<br />
1. für Zeiten eines Kalenderjahres, für die er wegen Nichterfüllung der Wartezeit keinen vollen<br />
Urlaubsanspruch erwirbt.<br />
Das ist der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers am 1.7. eines Kalenderjahres oder<br />
später beginnt. In diesem Fall kann die sechsmonatige Wartezeit bis zum Ablauf des Kalenderjahres<br />
nicht mehr erfüllt werden.<br />
2. wenn er vor Erfüllung der Wartezeit ausscheidet.<br />
Das ist der Fall, wenn bereits absehbar ist, dass das Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Wartezeit enden<br />
(z.B. aufgrund einer Befristung) oder das unbefristete Arbeitsverhältnis innerhalb der Probe-/<br />
Wartezeit vorzeitig beendet wird.<br />
d) Entstehungszeitpunkt<br />
Der erstmalige volle Urlaubsanspruch entsteht nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit. Danach<br />
entsteht der volle Urlaubsanspruch immer am jeweiligen Jahresbeginn (vgl. BAG AP BUrlG § 3<br />
Rechtsmissbrauch Nr. <strong>17</strong>).<br />
e) Fälligkeit<br />
Die Fälligkeit des Urlaubsanspruchs richtet sich mangels anderweitiger Regelung nach § 271 Abs. 1 BGB. Der<br />
Arbeitnehmer kann seinen Urlaubsanspruch daher sofort nach seinem Entstehen verlangen. Im ersten<br />
Beschäftigungsjahr kann der Arbeitnehmer seinen vollen Urlaubsanspruch also nach Ablauf der sechsmonatigen<br />
Wartezeit verlangen. Ist die Wartezeit abgelaufen, kann der Arbeitnehmer in allen folgenden<br />
Kalenderjahren den für das jeweilige Kalenderjahr entstehenden Urlaubsanspruch am 1. Arbeitstag des<br />
jeweiligen Kalenderjahres geltend machen (ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 1 BUrlG Rn 21). Erwirbt der<br />
Arbeitnehmer einen Teilurlaubsanspruch nach § 5 Abs. 1 lit. a BUrlG, weil er in seinem 1. Beschäftigungsjahr<br />
bis zum Ablauf des Kalenderjahres die sechsmonatige Wartezeit nicht mehr erfüllen kann, wird der<br />
Teilurlaubsanspruch mit Ablauf des ersten vollen Monats des Bestehens des Arbeitsverhältnisses fällig.<br />
874 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1257<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
2. Ausschluss von Doppelansprüchen nach Arbeitgeberwechsel<br />
Um nach einem Arbeitgeberwechsel doppelte Urlaubsansprüche in einem Kalenderjahr auszuschließen,<br />
bestimmt § 6 Abs. 1 BUrlG, dass ein Urlaubsanspruch nicht besteht, soweit dem Arbeitnehmer für das<br />
laufende Kalenderjahr bereits von einem früheren Arbeitgeber Urlaub gewährt worden ist. Es genügt<br />
allerdings nicht, dass dem Arbeitnehmer gegen den früheren Arbeitgeber nur ein Anspruch auf Urlaub<br />
zustand (BAG NZA 2015, 827, 830). § 6 Abs. 1 BUrlG enthält eine negative Anspruchsvoraussetzung.<br />
Hinweis:<br />
Es gelten die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast. Es obliegt zunächst dem Arbeitnehmer<br />
vorzutragen, dass die Voraussetzungen, unter denen § 6 Abs. 1 BUrlG eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen<br />
vorsieht, nicht vorliegen. Bestreitet der Arbeitgeber den Vortrag des Arbeitnehmers (ggf. mit<br />
Nichtwissen), hat der Arbeitnehmer seine Darlegungen zu substantiieren. Stellt der Arbeitgeber den Vortrag<br />
des Arbeitnehmers in Abrede, hat der Arbeitnehmer für seine Angaben Beweis anzubieten. Neben anderen<br />
Beweismitteln kommt insbesondere die Urlaubsbescheinigung gem. § 6 Abs. 2 BUrlG, die der alte Arbeitgeber<br />
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitnehmer unaufgefordert auszustellen hat, in Betracht. Legt<br />
der Arbeitnehmer eine solche vor, obliegt es dem Arbeitgeber, den besonderen Beweiswert dieser Bescheinigung<br />
durch konkreten Sachvortrag zu erschüttern (BAG NZA 2015, 827, 830 f.).<br />
3. Urlaubsdauer<br />
a) Grundsatz: Vier Wochen Mindesturlaub pro Kalenderjahr<br />
Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beträgt der Urlaub jährlich mindestens 24 Werktage. Als Werktage gelten alle<br />
Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage sind, § 3 Abs. 2 BUrlG. Der Gesetzgeber geht<br />
damit von einer sog. Sechs-Tage-Woche aus. Arbeitet der Arbeitnehmer an mehr oder weniger als an<br />
sechs Tagen in der Woche, erhöht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch daher entsprechend. Bei<br />
einer Verteilung der Arbeitszeit auf fünf Tage in der Woche ergibt sich etwa ein Urlaubsanspruch von<br />
20 Tagen (24/6 × 5 = 20). Im Ergebnis verfügt damit jeder Arbeitnehmer über einen gleich langen Urlaub<br />
von vier Wochen (BAG NZA 2001, 1254, 1256). Dies entspricht auch der europarechtlichen Vorgabe zum<br />
Mindestjahresurlaub in der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Ergeben sich bei der Umrechnung<br />
Bruchteile von Urlaubstagen, ist der Mindestjahresurlaub weder ab- noch aufzurunden, sondern genau<br />
im ermittelten Umfang zu gewähren. Die für den Teilurlaub in § 5 Abs. 2 BUrlG geltende gesetzliche<br />
Aufrundungsregel ist nicht anwendbar, weil es sich hier um Bruchteile von Vollurlaubstagen handelt<br />
(BAG NZA 1995, <strong>17</strong>4, <strong>17</strong>5).<br />
Beispiel:<br />
Tarifvertraglich stehen den Arbeitnehmern bei Unternehmen U bei einer Fünf-Tage-Woche 26 Urlaubstage<br />
zu. Der Arbeitnehmer A arbeitet bei U in Teilzeit drei Tage pro Woche. Er hat demnach Anspruch auf 15,6<br />
Urlaubstage pro Kalenderjahr (26 Urlaubstage / 5 Tage x 3 Tage = 15,6). § 5 Abs. 2 BUrlG findet keine Anwendung.<br />
b) Berechnung bei unregelmäßig verteilter Arbeitszeit<br />
Ist die regelmäßige Arbeitszeit nicht gleichmäßig auf alle Kalenderwochen verteilt, ist auf den<br />
Zeitabschnitt abzustellen, in dem im Durchschnitt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit erreicht<br />
wird (BAG AP BUrlG § 3 Fünf-Tage-Woche Nr. 13).<br />
Beispiel:<br />
Der Arbeitnehmer arbeitet wöchentlich wechselnd drei und vier Tage die Woche, d.h. an sieben Tagen in<br />
zwei Wochen. Es kann daher ein Zeitabschnitt von zwei Wochen zugrunde gelegt werden. Sein gesetzlicher<br />
Urlaubsanspruch beträgt demnach 7/12 des Vollurlaubsanspruchs im Vergleich zu einer Sechs-Tage-Woche,<br />
d.h. 14 Urlaubstage pro Kalenderjahr (24/12 × 7).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 875
Fach <strong>17</strong>, Seite 1258<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Arbeitsrecht<br />
Wiederholt sich ein Arbeitsrhythmus innerhalb eines Jahres nicht, ist der Umrechnung die Jahresarbeitszeit<br />
zugrunde zu legen. Dabei ist grundsätzlich auf 312 Werktage im Kalenderjahr abzustellen. Dies folgt aus § 11<br />
Abs. 1 S. 1 BUrlG, der (abweichend von § 191 BGB) ein Vierteljahr mit 13 Wochen, ein Jahr demnach mit 52<br />
Wochen und 364 Tagen bemisst (vgl. BAG AP BGB § 611 Arbeitnehmerähnlichkeit Nr. 12). Knüpft etwa eine<br />
tarifvertraglich vereinbarte Urlaubsdauer nicht an eine Sechs-, sondern an eine Fünf-Tage-Woche an, sind<br />
demnach 260 Arbeitstage zugrunde zu legen (52 Wochen x 5 Arbeitstage = 260 Arbeitstage).<br />
Zwei Kalendertage überlappende Arbeitsschichten gelten als ein Arbeitstag. Sonn- und Feiertage, an<br />
denen eine Arbeitspflicht besteht, werden wie Werktage berücksichtigt. Dem steht die in § 3 Abs. 2<br />
BUrlG getroffene Definition der Werktage als Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage<br />
sind, nicht entgegen, da hiermit nur der gesetzliche Freistellungszeitraum gesichert werden soll (BAG AP<br />
BGB § 611 Arbeitnehmerähnlichkeit Nr. 12). Da an Freischichttagen keine Arbeitspflicht besteht, bleiben<br />
diese bei der Berechnung der Arbeitstage wiederum außer Betracht (BAG NZA 1997, 555 f.).<br />
c) Teilzeitarbeit<br />
Da der Urlaub in Tagen und nicht in Stunden bemessen wird, kommt es auf die pro Tag geleisteten<br />
Arbeitsstunden nicht an. Keine Unterschiede in der Berechnung der Urlaubstage ergeben sich daher,<br />
wenn ein Arbeitnehmer bei gleichbleibender Anzahl von Arbeitstagen in Voll- oder Teilzeit arbeitet.<br />
Beispiel:<br />
Der Arbeitnehmer, der bisher montags bis freitags in Vollzeit gearbeitet hat, arbeitet künftig nur noch<br />
halbtags. Da die Anzahl der Arbeitstage gleich bleibt, ändert sich die Anzahl der dem Arbeitnehmer zustehenden<br />
Urlaubstage nicht.<br />
d) Umrechnung bei Reduzierung der Arbeitstage<br />
Bei einem Wechsel von einer Vollzeit- zu einer Teilzeitbeschäftigung mit damit verbundener<br />
Reduzierung der Arbeitstage ist der Urlaubsanspruch hingegen zeitratierlich zu berechnen: Die<br />
während der Vollzeitbeschäftigung erworbenen Urlaubstage bleiben zeitratierlich in vollem Umfang<br />
erhalten und können nach dem Wechsel in Teilzeit nicht gekürzt werden (BAG NZA 2015, 1005 ff. unter<br />
Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung, nach der die Urlaubstage nach einer Verringerung der Anzahl<br />
der Arbeitstage umzurechnen waren).<br />
Beispiel (nach BAG NZA 2015, 1005 ff.):<br />
Der Arbeitgeber gewährt seinen Arbeitnehmern bei einer Fünf-Tage-Woche 30 Tage Urlaub (= sechs Wochen<br />
Urlaub). Der Arbeitnehmer arbeitet in der ersten Jahreshälfte Vollzeit in einer Fünf-Tage-Woche. In<br />
der zweiten Jahreshälfte wechselt der Arbeitnehmer in Teilzeit und arbeitet nur noch an vier Tagen in der<br />
Woche.<br />
Der Arbeitnehmer hat in der ersten Jahreshälfte demnach zeitratierlich 15 Urlaubstage erworben (30 Urlaubstage<br />
pro Jahr geteilt durch 2). In der zweiten Jahreshälfte hat der Arbeitnehmer wegen seiner Vier-Tage-<br />
Woche zeitratierlich weitere 12 Urlaubstage erworben (30 Urlaubstage pro Jahr geteilt durch 5 (Tage/Woche) x<br />
4 (Tage/Woche) geteilt durch 2 = 12). Dem Arbeitnehmer stehen daher (15 + 12 =) 27 Urlaubstage zu.<br />
Sofern der Arbeitnehmer in der ersten Jahreshälfte noch keinen Urlaub genommen hat, stünden ihm in<br />
dieser Konstellation aufgrund des Wechsels in eine Vier-Tage-Woche effektiv mehr als sechs Wochen<br />
Erholungserlaub zu.<br />
e) Umrechnung bei Erhöhung der Arbeitstage<br />
Hat ein Arbeitnehmer bisher in Teilzeit gearbeitet und wechselt er nunmehr unter Erhöhung der<br />
Arbeitstage in Vollzeit, findet ebenfalls eine zeitratierliche Nachberechnung statt (EuGH NZA 2015, 1501 ff.).<br />
Beispiel:<br />
Der Arbeitgeber gewährt seinen Arbeitnehmern bei einer Fünf-Tage-Woche den gesetzlichen Mindesturlaub<br />
von 20 Tagen (= vier Wochen Urlaub). Der Arbeitnehmer arbeitet in der ersten Jahreshälfte Teilzeit<br />
876 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1259<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
an vier Tagen in der Woche. In der zweiten Jahreshälfte wechselt der Arbeitnehmer in Vollzeit und arbeitet<br />
somit an fünf Tagen in der Woche.<br />
Der Arbeitnehmer hat in der ersten Jahreshälfte demnach zeitratierlich 8 Urlaubstage erworben (20 Urlaubstage<br />
pro Jahr geteilt durch 5 (Tage/Woche) x 4 (Tage/Woche) geteilt durch 2). In der zweiten Jahreshälfte<br />
erwirbt der Arbeitnehmer zeitratierlich 10 Urlaubstage (20 Urlaubstage pro Jahr geteilt durch 2).<br />
Dem Arbeitnehmer stehen insgesamt mithin (8 + 10 =) 18 Urlaubstage zu.<br />
Sofern der Arbeitnehmer in der ersten Jahreshälfte noch keinen Urlaub genommen hat, stünden ihm in<br />
dieser Konstellation aufgrund des Wechsels in eine Fünf-Tage-Woche effektiv weniger als vier Wochen<br />
Erholungserlaub zu.<br />
4. Teilurlaub<br />
In den Fällen des § 5 Abs. 1 BUrlG hat der Arbeitnehmer lediglich Anspruch auf ein Zwölftel des<br />
Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Dies betrifft die Fälle:<br />
1. für Zeiten eines Kalenderjahres, für die ein Arbeitnehmer wegen Nichterfüllung der Wartezeit in<br />
diesem Kalenderjahr keinen vollen Urlaubsanspruch erwirbt;<br />
2. wenn der Arbeitnehmer vor erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet sowie<br />
3. wenn der Arbeitnehmer nach erfüllter Wartezeit in der ersten Hälfte eines Kalenderjahres aus dem<br />
Arbeitsverhältnis ausscheidet.<br />
Im Unterschied zu Nr. 1 und 2 (s. hierzu bereits oben II. 1. c) regelt § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG keinen Anspruch<br />
auf Teilurlaub, sondern einen gekürzten Vollurlaubsanspruch. Denn anders als in den ersten beiden<br />
Fällen hatte der Arbeitnehmer in Nr. 3 zu Jahresbeginn bereits einen Vollurlaubsanspruch erworben, der<br />
nachträglich gekürzt wird, wenn der Arbeitnehmer bis zum 30.6. eines Kalenderjahres aus dem<br />
Arbeitsverhältnis ausscheidet.<br />
Für alle Fälle des Teilurlaubs ordnet § 5 Abs. 2 BUrlG an, dass sich aufgrund der zeitanteiligen Umrechnung<br />
ergebende Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, auf volle Urlaubstage<br />
aufzurunden sind.<br />
Beispiel:<br />
Das am 1.1.20<strong>16</strong> begonnene Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers wird zum Ablauf des 30.6.20<strong>17</strong> gekündigt.<br />
Dem Arbeitnehmer steht ein vereinbarter Jahresurlaub von 27 Tagen zu. Der Urlaubsanspruch<br />
für das Kalenderjahr 20<strong>17</strong> ist am 1.1.20<strong>17</strong> in voller Höhe entstanden. Aufgrund der vorzeitigen Beendigung<br />
des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.20<strong>17</strong> ist der Vollanspruch nach § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG um 6 / 12 ( 1 / 2 )zu<br />
kürzen und beträgt demnach 13,5 Urlaubstage. Wegen der Aufrundungsregel in § 5 Abs. 2 BUrlG erhöhen<br />
sich die Urlaubstage auf 14 Tage.<br />
Bruchteile von Urlaubstagen, die nicht nach § 5 Abs. 2 BUrlG aufgerundet werden müssen, sind<br />
entsprechend ihrem Umfang dem Arbeitnehmer durch Befreiung von der Arbeitspflicht zu gewähren<br />
(BAG NZA 1989, 756 ff.).<br />
Beispiel:<br />
Das am 1.1.20<strong>17</strong> unbefristet eingegangene Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers wird vorzeitig zum Ablauf des<br />
28.2.20<strong>17</strong> gekündigt. Vereinbart ist nur der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Tagen bei einer Fünf-Tage-Woche.<br />
Wegen Nichterfüllung der sechsmonatigen Wartezeit erwirbt der Arbeitnehmer nur einen Teilurlaubsanspruch<br />
nach § 5 Abs. 1 lit. b BUrlG i.H.v. 2 / 12 ( 1 / 6 ) des Jahresurlaubs. Dies entspricht 3,33 Urlaubstagen, die exakt in diesem<br />
Umfang vom Arbeitgeber zu gewähren (bzw. nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten) sind.<br />
Hat der Arbeitnehmer im Falle des § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG bereits Urlaub über den ihm zustehenden<br />
Umfang hinaus erhalten, so kann der Arbeitgeber das dafür gezahlte Urlaubsentgelt nicht zurückfordern,<br />
§ 5 Abs. 3 BUrlG. Es handelt sich um eine Sondervorschrift zum Bereicherungsrecht, die es dem<br />
Arbeitnehmer erspart, der Forderung des Arbeitgebers mit dem Einwand der Entreicherung begegnen<br />
zu müssen (BAG AP BUrlG § 5 Nr. 19).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 877
Fach <strong>17</strong>, Seite 1260<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Arbeitsrecht<br />
Hinweis:<br />
Kein Fall des § 5 Abs. 3 BUrlG liegt vor, wenn das Urlaubsentgelt vor Inanspruchnahme des Urlaubs, der auch<br />
nicht mehr angetreten wird, ausgezahlt wird. In diesem Fall kann der Arbeitgeber das gezahlte Urlaubsentgelt<br />
aufgrund des nachträglich weggefallenen Rechtsgrunds nach den §§ 812 ff. BGB kondizieren (vgl. BAG AP<br />
BUrlG § 5 Nr. 19).<br />
Genauso kann der Arbeitgeber – solange der Arbeitnehmer seinen Urlaub noch nicht angetreten hat –<br />
die nachträglich nicht mehr durch den Urlaubsanspruch gedeckte Freistellungserklärung mit der Folge<br />
kondizieren, dass der Arbeitnehmer entgegen seinen ursprünglichen Wünschen zur Arbeit verpflichtet<br />
ist und dafür das geschuldete Entgelt erhält (BAG NZA 1997, 265, 266). Nach § 13 Abs. 2 S. 1, 3 BUrlG<br />
können die Tarifvertragsparteien zuungunsten des Arbeitnehmers von dem Rückzahlungsverbot<br />
abweichen (BAG AP BUrlG § 5 Nr. 10).<br />
5. Gesetzliche Kürzungsmöglichkeiten<br />
In bestimmten Sonderfällen stehen dem Arbeitgeber Möglichkeiten zur Kürzung des Urlaubsanspruchs zu:<br />
• § <strong>17</strong> Abs. 1 BEEG regelt die Kürzungsmöglichkeit für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um 1 / 12<br />
(gilt nicht bei Elternzeit in Teilzeit).<br />
• § 4 Abs. 1 ArbPlSchG regelt die Kürzungsmöglichkeit für jeden vollen Kalendermonat, in dem der<br />
Arbeitnehmer Wehrdienst leistet.<br />
Ausfallzeiten wegen mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote zählen hingegen als Beschäftigungszeiten,<br />
so dass in diesem Fall keine Kürzungsmöglichkeit besteht, vgl. § <strong>17</strong> S. 1 MuSchG.<br />
6. Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs<br />
a) Grundsatz<br />
Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss der Urlaub im laufenden Kalenderjahr und im Fall seiner Übertragung in das<br />
nächste Kalenderjahr in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und<br />
genommen werden. Danach erlischt er (BAG NZA 2012, 12<strong>16</strong>, 1219).<br />
Hinweis:<br />
Die gesetzlichen Sonderregelungen in § <strong>17</strong> S. 2 MuSchG und § <strong>17</strong> Abs. 2 BEEG bestimmen abweichend von<br />
§ 7 Abs. 3 BUrlG, dass der Urlaub nicht im laufenden Jahr gewährt und genommen werden muss, sondern<br />
auch im Folgejahr genommen werden kann. Dies ist dann das für das Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG<br />
maßgebliche Urlaubsjahr (BAG NZA 20<strong>16</strong>, 433 ff.).<br />
Eine Übertragung des Urlaubs bis zum 31.3. des Folgejahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche<br />
oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG.<br />
Ist dies nicht der Fall und war der Arbeitnehmer in der Lage, seinen Urlaub im Urlaubsjahr zu nehmen,<br />
geht sein Anspruch auf Erholungsurlaub am Ende des Urlaubsjahres unter. Dies gilt auch dann, wenn er<br />
von seinem Arbeitgeber rechtzeitig vor Ablauf des Urlaubsjahres die Gewährung des Urlaubs verlangt<br />
hatte. Allerdings führt dies nicht zu einem Verlust des Anspruchs auf bezahlte Freistellung von der<br />
Arbeitsleistung. Gewährt nämlich der Arbeitgeber trotz eines rechtzeitigen Urlaubsantrags des<br />
Arbeitnehmers diesem keinen Urlaub, tritt an die Stelle des verfallenen Urlaubsanspruchs ein<br />
Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers auf Gewährung von Ersatzurlaub. Der Arbeitnehmer hat<br />
dann Anspruch darauf, dass ihm der Ersatzurlaub im Umfang des verfallenen Urlaubs gewährt wird<br />
(BAG NZA 20<strong>17</strong>, 271, 272; das Bundesarbeitsgericht hat die Frage der Vereinbarkeit dieser Gesetzeslage<br />
mit der Arbeitszeitrichtlinie dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt).<br />
b) Abweichende Rechtslage bei Arbeitsunfähigkeit<br />
Aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG ist § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtskonform<br />
dahingehend auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht vor Ablauf von 15 Monaten nach dem<br />
878 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1261<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des<br />
Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. In diesen Fällen geht der gesetzliche<br />
Urlaubsanspruch daher erst mit Ablauf des 31.3. des zweiten Folgejahres unter (BAG NZA 2012, 12<strong>16</strong>, 1221).<br />
Geht der aus dem Vorjahr übertragene Urlaubsanspruch nach Ablauf des Übertragungszeitraums nicht<br />
unter, weil der Arbeitnehmer wegen andauernder krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit gehindert war,<br />
den Urlaub in Anspruch zu nehmen, teilt er das rechtliche Schicksal des Urlaubsanspruchs, den der<br />
Arbeitnehmer zu Beginn des neuen Urlaubsjahres erworben hat. Der Arbeitnehmer, der nach seiner<br />
Genesung an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, muss deshalb seinen übertragenen Urlaubsanspruch<br />
genauso wie seinen im neuen Kalenderjahr erworbenen Urlaubsanspruch bis zum Ende des Kalenderjahres<br />
bzw. des Übertragungszeitraums geltend machen, damit sie nicht erlöschen (BAG NZA 2012, 29 ff.).<br />
7. Gewährung des Urlaubsanspruchs<br />
a) Unwiderrufliche Freistellungserklärung des Arbeitgebers<br />
Urlaubsgewährung ist nach § 7 Abs. 1 BUrlG die Befreiung von der Arbeitspflicht für einen bestimmten<br />
zukünftigen Zeitraum. Die Freistellung zum Zwecke der Gewährung von Erholungsurlaub erfolgt durch<br />
einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung des Arbeitgebers, die als solche mit Zugang beim<br />
Arbeitnehmer nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam wird (BAG NZA 2011, 1032, 1033). Die Erfüllung eines<br />
Anspruchs auf Erholungsurlaub setzt voraus, dass der Arbeitnehmer im Voraus durch eine<br />
unwiderrufliche Freistellungserklärung des Arbeitgebers zu Erholungszwecken von seiner sonst<br />
bestehenden Arbeitspflicht befreit wird (BAG AP BUrlG § 7 Nr. 65). Eine nachträgliche Urlaubsgewährung<br />
scheidet aus (BAG NZA 1995, 591).<br />
Hinweis:<br />
Eine eigenmächtige Selbstbeurlaubung durch den Arbeitnehmer sieht das BUrlG nicht vor. Bleibt ein<br />
Arbeitnehmer eigenmächtig der Arbeit fern, etwa weil er sich nach einem abgelehnten Urlaubsantrag<br />
selbst beurlaubt hat, stellt dies sogar einen an sich wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung<br />
dar (BAG NZA 1998, 708, 709 f.).<br />
Der Arbeitgeber kann den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers auch dadurch erfüllen, dass er dem<br />
Arbeitnehmer das Recht einräumt, die konkrete Lage des Urlaubs innerhalb eines bestimmten<br />
Zeitraums selbst zu bestimmen. Ist der Arbeitnehmer damit nicht einverstanden, weil er ein<br />
Annahmeverweigerungsrecht geltend macht, hat er dies dem Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen.<br />
Unterbleibt eine solche Mitteilung, kann der Arbeitgeber davon ausgehen, der Arbeitnehmer lege die<br />
Urlaubszeit innerhalb des bestimmten Zeitraums selbst fest (BAG NZA 2007, 36, 38).<br />
Bei einer vorsorglichen Freistellungserklärung in einem Kündigungsschreiben für den Fall, dass die<br />
erklärte außerordentliche oder ordentliche Kündigung unwirksam ist, liegt eine wirksame Urlaubsgewährung<br />
ferner nur vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zugleich die Urlaubsvergütung vor<br />
Antritt des Urlaubs zahlt oder vorbehaltlos zusagt (BAG NZA 2015, 998, 999).<br />
b) Berücksichtigung der Urlaubswünsche des Arbeitnehmers<br />
Damit der Urlaubsanspruch nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt, trifft den Arbeitnehmer die Obliegenheit,<br />
seine Urlaubswünsche gegenüber dem Arbeitgeber rechtzeitig geltend zu machen. Dabei ist der<br />
Arbeitnehmer berechtigt, einen jahresübergreifenden Urlaub zu wünschen, indem er im laufenden<br />
Urlaubsjahr neben dem aus diesem Jahr resultierenden Urlaub auch bereits den Urlaub aus dem<br />
Folgejahr beantragt (BAG NZA 2011, 1032, 1033). Der Arbeitgeber ist umgekehrt als Schuldner des<br />
Urlaubsanspruchs verpflichtet, nach § 7 Abs. 1 Hs. 1 BUrlG die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu<br />
berücksichtigen und daher den Urlaub für den vom Arbeitnehmer angegebenen Termin festzusetzen,<br />
jedenfalls dann, wenn die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Hs. 2 BUrlG nicht gegeben sind.<br />
Hinweis:<br />
Ein Recht des Arbeitgebers zur beliebigen Urlaubserteilung im Urlaubsjahr oder zur Erteilung des Urlaubs<br />
nach billigem Ermessen besteht nicht (BAG NZA 1987, 379).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 879
Fach <strong>17</strong>, Seite 1262<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Arbeitsrecht<br />
c) Dem Urlaubswunsch entgegenstehende Gründe<br />
Der Arbeitgeber muss die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers nicht berücksichtigen, wenn dringende<br />
betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den<br />
Vorrang verdienen, dem entgegenstehen, § 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BUrlG. Ihm steht in diesem Fall ein<br />
Leistungsverweigerungsrecht zu. Dringende betriebliche Belange im Sinne dieser Vorschrift sind solche<br />
Umstände, die in der betrieblichen Organisation, im technischen Arbeitsablauf, der Auftragslage und<br />
ähnlichen Umständen ihren Grund haben (BAG AP BetrVG 1972 § 87 Urlaub Nr. 2). In der Praxis werden dies<br />
i.d.R. saison- oder krankheitsbedingte Personalengpässe sein (vgl. SCHAUB/LINCK, <strong>16</strong>.Aufl. 2015, § 104 Rn 79).<br />
Daneben können auch Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer einer Urlaubsgewährung durch den<br />
Arbeitgeber entgegenstehen. Die hierbei zu berücksichtigenden sozialen Gesichtspunkte können verschiedenartig<br />
sein, etwa die Urlaubsmöglichkeiten des Partners und der Kinder (Stichwort: Schulferien), eine<br />
bisherige Urlaubsgewährung in besonders beliebten Zeiten, Alter und Betriebszugehörigkeit, erstmaliger<br />
oder wiederholter Urlaub in dem Kalenderjahr oder die Erholungsbedürftigkeit der anderen Arbeitnehmer<br />
z.B. wegen intensiver Arbeiten oder Erkrankung (nach ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 7 BUrlG Rn 19).<br />
d) Pflicht zur Gewährung von „Schonungsurlaub“<br />
Verlangt der Arbeitnehmer im unmittelbaren Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen<br />
Vorsorge oder Rehabilitation (früher Kuren oder Heilverfahren genannt) Urlaub, ist der Arbeitgeber<br />
nach § 7 Abs. 1 S. 2 BUrlG verpflichtet, den Urlaub zu gewähren. Ein Leistungsverweigerungsrecht nach<br />
§ 7 Abs. 1 S. 1 BGB steht dem Arbeitgeber nicht zu (ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 7 BUrlG Rn 20).<br />
e) Urlaubserteilung ohne Äußerung von Urlaubswünschen<br />
Der Arbeitgeber ist nach § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG ohne zuvor geäußerten Urlaubswunsch nicht dazu verpflichtet,<br />
den Arbeitnehmer anzuhören oder seine Urlaubswünsche zu erfragen. Ein dem Arbeitgeber mitgeteilter<br />
Urlaubswunsch ist nicht Voraussetzung des Rechts des Arbeitgebers, die zeitliche Lage des Urlaubs<br />
festzulegen. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG hat der Arbeitgeber die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers bei der<br />
Urlaubserteilung dennoch zu berücksichtigen. Die ohne einen solchen Wunsch des Arbeitnehmers erfolgte<br />
zeitliche Festlegung des Urlaubs durch den Arbeitgeber ist rechtswirksam, wenn der Arbeitnehmer auf<br />
die Erklärung des Arbeitgebers hin keinen anderweitigen Urlaubswunsch äußert (BAG NZA 2009, 538, 540).<br />
Äußert der Arbeitnehmer keine (abweichenden) Urlaubswünsche, kann der Arbeitgeber die Freistellung<br />
auch im Vorgriff auf das kommende Urlaubsjahr erklären und dem Arbeitnehmer jahresübergreifend<br />
Erholungsurlaub gewähren (BAG NZA 2011, 1032, 1033). In betriebsratslosen Betrieben kann der<br />
Arbeitgeber ferner Betriebsferien kraft Direktionsrecht anordnen (LAG Düsseldorf LAGE § 7 BUrlG Nr. 40;<br />
LAG Rheinland-Pfalz BeckRS 2012, 74686). In Betrieben mit Betriebsrat ist die Einführung von Betriebsferien<br />
nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG mitbestimmungspflichtig (BAG NZA 1988, 889, 890).<br />
f) Gebot des zusammenhängenden Urlaubs<br />
Bei der Urlaubsgewährung ist zu beachten, dass der gesetzliche Urlaub zusammenhängend zu gewähren<br />
ist, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende<br />
Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen, § 7 Abs. 2 S. 1 BUrlG. Hinsichtlich der betrieblichen<br />
Gründe gelten dieselben Grundsätze wie bei § 7 Abs. 1 Hs. 2 BUrlG (s. oben unter c). Liegt ein<br />
Teilungsgrund vor und hat der Arbeitnehmer noch Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen,<br />
so muss einer der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfolgende Werktage umfassen, § 7 Abs. 2 S. 2<br />
BUrlG. Das Gebot des zusammenhängenden Urlaubs wird in der Praxis regelmäßig missachtet. Ein<br />
Verstoß hat grundsätzlich zur Folge, dass der Urlaubsanspruch nicht rechtswirksam erfüllt wird (BAG<br />
NJW 1965, 2<strong>17</strong>4 f.; vgl. auch LAG Düsseldorf LAGE § 7 BUrlG Nr. 41).<br />
g) Erteilung und Erfüllbarkeit<br />
Hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer freigestellt, also die Leistungszeit bestimmt, in der der<br />
Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers i.S.v. § 362 Abs. 1 BGB erfüllt werden soll, und das dem<br />
Arbeitnehmer mitgeteilt, hat der Arbeitgeber als Schuldner des Urlaubs die für die Erfüllung dieses<br />
Anspruchs erforderliche Leistungs- bzw. Erfüllungshandlung i.S.v. § 7 Abs. 1 BUrlG vorgenommen (BAG<br />
NZA 2001, 100, 101 f.).<br />
880 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1263<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Hinweis:<br />
An die einmal erklärte Freistellung ist der Arbeitgeber gebunden; er kann den Arbeitnehmer nicht mehr aus<br />
dem Urlaub zurückrufen. Eine Vereinbarung, in der sich der Arbeitnehmer gleichwohl verpflichtet, den Urlaub<br />
abzubrechen und die Arbeit wieder aufzunehmen, verstößt gegen § 13 Abs. 1 BUrlG und ist rechtsunwirksam<br />
(BAG NZA 2001, 100, 101 f.).<br />
Die Erfüllbarkeit des gesetzlichen Urlaubsanspruchs hängt allerdings von dem Bestehen einer im<br />
Freistellungszeitraum ansonsten bestehenden Arbeitspflicht ab: Wer etwa arbeitsunfähig krank ist,<br />
kann durch Urlaubserteilung von seiner Arbeitspflicht nicht mehr befreit werden (BAG AP BUrlG § 7<br />
Nr. 72). Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, so werden ferner die durch ärztliches Zeugnis<br />
nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet, § 9 BUrlG.<br />
Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer bereits vor Urlaubsantritt arbeitsunfähig erkrankt. In diesen Fällen<br />
kann der Arbeitnehmer die Erfüllung seines Urlaubsanspruchs innerhalb der gesetzlichen oder<br />
tariflichen Befristung nachfordern (BAG NZA 1989, 137).<br />
Ebenso wenig kann der Urlaubsanspruch in einer Zeit erfüllt werden, in der der Arbeitnehmer an<br />
Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation teilnimmt, für deren Dauer der<br />
Arbeitnehmer bereits einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nach den gesetzlichen<br />
Vorschriften über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (EFZG) hat, vgl. § 10 BUrlG.<br />
8. Urlaubsentgelt<br />
a) Grundsätzliches<br />
Während des Urlaubszeitraums schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Fortzahlung des<br />
Arbeitsentgelts als Urlaubsentgelt nach § 11 BUrlG. Das Urlaubsentgelt ist zu unterscheiden von der<br />
Urlaubsabgeltung sowie vom Urlaubsgeld, das manche Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern als zusätzliche<br />
Vergütung zahlen. Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst,<br />
das der Arbeitnehmer in den letzten dreizehn Wochen vor dem Beginn des Urlaubs erhalten hat,<br />
mit Ausnahme des zusätzlich für Überstunden gezahlten Arbeitsverdienstes, § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG.<br />
b) Fälligkeit<br />
Nach § 11 Abs. 2 BUrlG ist das Urlaubsentgelt vor Urlaubsantritt auszuzahlen. Die Vorschrift, von der<br />
nach § 13 Abs. 1 BUrlG nur durch Tarifvertrag wirksam zuungunsten von Arbeitnehmern abgewichen<br />
werden kann, wird bisweilen in der Praxis regelmäßig ignoriert, indem das Urlaubsentgelt regelmäßig<br />
mit dem regulären Gehaltslauf (am Monatsende) zur Auszahlung kommt. Ein Verstoß gegen<br />
die Fälligkeitsregelung in § 11 Abs. 2 BUrlG hat jedoch auf die Wirksamkeit der Urlaubserteilung keinen<br />
Einfluss, sondern bedeutet nur, dass sich der Arbeitgeber in Verzug befindet, wenn er nicht<br />
vor Urlaubsantritt das für die Urlaubszeit weiter zu gewährende Entgelt auszahlt (BAG NZA 1987,<br />
633, 633).<br />
c) Keine Kürzung bei Verstoß gegen § 8 BUrlG<br />
§ 8 BUrlG regelt das Verbot, dass ein Arbeitnehmer während des Urlaubs keine dem Urlaubszweck<br />
widersprechende Erwerbstätigkeit leisten darf. Dem Arbeitnehmer wird mit dieser Regelung eine<br />
gesetzlich bedingte Pflicht aus seinem Arbeitsverhältnis auferlegt, während des Urlaubs jedenfalls<br />
urlaubszweckwidrige Tätigkeiten gegen Entgelt zu unterlassen, gleichgültig, ob sie in einem Arbeitsoder<br />
einem anderen Vertragsverhältnis ausgeübt werden (BAG NZA 1988, 607, 608).<br />
Ein Verstoß gegen § 8 BUrlG begründet jedoch weder ein Recht des Arbeitgebers, das Urlaubsentgelt im<br />
Umfang des gesetzlichen Urlaubsanspruchs aus diesem Anlass zu kürzen, noch entfällt damit der<br />
Anspruch auf Zahlung des Urlaubsentgelts (BAG NZA 1988, 607, 608). Bei Verstößen kommen für den<br />
Arbeitgeber „nur“ die Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs und arbeitsrechtlich insbesondere<br />
die Abmahnung oder ggf. die Kündigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 881
Fach <strong>17</strong>, Seite 1264<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Arbeitsrecht<br />
Hinweis:<br />
§ 8 BUrlG ist im Rahmen des gesetzlichen Mindesturlaubs nicht abdingbar, vgl. § 13 Abs. 1 BUrlG. Tarifvertragsparteien<br />
sind jedoch nicht gehindert, für einen tariflichen Mehrurlaubsanspruch den Wegfall des Entgeltanspruchs<br />
vorzusehen, wenn der Arbeitnehmer ohne Zustimmung des Arbeitgebers während des Urlaubs<br />
erwerbstätig wird (BAG NZA 1988, 607, 609).<br />
9. Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
a) Urlaubsabgeltungsanspruch<br />
Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt<br />
werden, so ist er nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung entsteht mit<br />
Beendigung des Arbeitsverhältnisses – anders als nach der inzwischen aufgegebenen Surrogationstheorie –<br />
als reiner Geldanspruch. Ist er entstanden, ist er nicht mehr Äquivalent zum Urlaubsanspruch, sondern bildet<br />
einen Teil des Vermögens des Arbeitnehmers und unterscheidet sich in rechtlicher Hinsicht nicht von anderen<br />
Zahlungsansprüchen des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber (BAG NZA 20<strong>16</strong>, 37, 39). Aus der Einordnung<br />
des Urlaubsabgeltungsanspruchs als reiner Geldanspruch folgt, dass dieser Anspruch weder von der<br />
Erfüllbarkeit oder Durchsetzbarkeit des Urlaubsanspruchs abhängt noch mit dem Tod des Arbeitnehmers<br />
untergeht. Vielmehr ist er vererbbar (BAG NZA 20<strong>16</strong>, 37, 39). Stirbt der Arbeitnehmer jedoch im laufenden<br />
Arbeitsverhältnis, geht der Urlaubsanspruch ohne Umwandlung in einen Abgeltungsanspruch unter, so<br />
dass ein Urlaubsabgeltungsanspruch auch nicht Teil der Erbmasse nach § 1929 Abs. 1 BGB werden kann.<br />
Hinweis:<br />
Ob gleichwohl aus der Arbeitszeitrichtlinie oder aus Art. 31 Abs. 2 GRC ein Anspruch der Erben auf finanziellen<br />
Ausgleich für den dem Arbeitnehmer vor seinem Tod zustehenden Mindestjahresurlaub zusteht, ist derzeit<br />
Gegenstand eines vom Bundesarbeitsgericht eingeleiteten Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof<br />
(BAG NZA 20<strong>17</strong>, 207 ff.).<br />
Während im laufenden Arbeitsverhältnis wegen § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG ein Verzicht des Arbeitnehmers auf<br />
Geltendmachung seines (künftigen) Urlaubsabgeltungsanspruchs rechtlich nicht möglich ist, ist ein nach<br />
Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschlossener Vergleich mit einer Ausgleichsklausel, der zufolge<br />
sämtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis „erledigt“ sind, wirksam (BAG NZA 2013, 1098, 1099).<br />
Der Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegt den im Einzelfall geltenden arbeitsvertraglichen und<br />
tariflichen Ausschlussfristen. Die Verjährung richtet sich nach §§ 195, 199 BGB und beträgt drei Jahre.<br />
b) Ausstellen einer Urlaubsbescheinigung<br />
Der Arbeitgeber ist nach § 6 Abs. 2 BUrlG verpflichtet, bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem<br />
Arbeitnehmer eine Bescheinigung über den im laufenden Kalenderjahr gewährten oder abgegoltenen<br />
Urlaub auszuhändigen. Die schriftlich auszustellende Bescheinigung ist vom Arbeitgeber unaufgefordert<br />
am letzten Arbeitstag (auf einer gesonderten Urkunde) zur Verfügung zu stellen (ErfK/GALLNER, <strong>17</strong>. Aufl.<br />
20<strong>17</strong>, § 6 BUrlG Rn 4 f.). Dem Arbeitgeber steht kein Zurückbehaltungsrecht zu. Legt der Arbeitnehmer<br />
seinem neuen Arbeitgeber keine Urlaubsbescheinigung vor, kann dieser die Erfüllung des bei ihm<br />
entstehenden Urlaubsanspruchs mit der Begründung des § 6 Abs. 1 BUrlG verweigern (s. oben II. 2.).<br />
III. Gesetzliche Urlaubsansprüche außerhalb des BUrlG<br />
Das BUrlG wurde im Laufe der Zeit durch weitere gesetzliche Vorschriften für besondere Arbeitnehmergruppen<br />
ergänzt. So haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen<br />
Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr, § 125 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Weitere Spezialvorschriften finden<br />
sich insbesondere in<br />
• § 19 JArbSchG, der den Urlaubsanspruch für Jugendliche degressiv nach Lebensalter staffelt (von 25<br />
bis zu 33 Urlaubstagen pro Kalenderjahr);<br />
882 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Arbeitsrecht Fach <strong>17</strong>, Seite 1265<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
• § 13 Abs. 1 BFDG, der das JArbSchG und das BUrlG für Tätigkeiten im Rahmen von Bundesfreiwilligendiensten<br />
für entsprechend anwendbar erklärt;<br />
• § <strong>16</strong>d Abs. 7 S. 2 Hs. 2 SGB II, der für sog. Ein-Euro-Jobber die entsprechende Anwendbarkeit des<br />
BUrlG mit Ausnahme der Regelungen über das Arbeitsentgelt regelt;<br />
• §§ 56 ff. SeeArbG, die für Besatzungsmitglieder spezielle Urlaubsregelungen unter ergänzender<br />
Anwendung des Bundesurlaubsgesetzes vorsehen (vgl. § 56 Abs. 2 SeeArbG).<br />
IV. Übergesetzlicher Urlaub<br />
Die Arbeitsvertrags-/Tarifvertragsparteien können – da arbeitnehmergünstig – Urlaubsansprüche, die über<br />
den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen sollen, frei regeln. Für einen Regelungswillen, der zwischen<br />
gesetzlichen und übergesetzlichen vertraglichen Ansprüchen unterscheidet, müssen jedoch deutliche<br />
Anhaltspunkte bestehen (BAG NZA 2009, 538 ff.; NZA 2011, 1050 ff.). Fehlen deutliche Anhaltspunkte, dass<br />
die Arbeits-/Tarifvertragsparteien für vereinbarten Mehrurlaub ein abweichendes Fristenregime vereinbart<br />
haben, ist von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf Mehrurlaub<br />
auszugehen (BAG NZA-RR 2015, 399, 401). Ein Gleichlauf ist hingegen nicht gewollt, wenn die Vertragsparteien<br />
entweder bei der Befristung und Übertragung bzw. beim Verfall des Urlaubs zwischen<br />
gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterschieden oder sich vom gesetzlichen<br />
Fristenregime gelöst und eigenständige, vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Regelungen zur Befristung<br />
und Übertragung bzw. zum Verfall des Urlaubsanspruchs getroffen haben (BAG NZA-RR 2015, 399, 401).<br />
Muster zur Regelung von Mehrurlaub:<br />
(nach KÜTTNER/RÖLLER, Personalbuch 20<strong>17</strong>, M 9.2):<br />
(1) Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf einen gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Werktagen<br />
(Arbeitstagen) pro Kalenderjahr. Der Arbeitgeber gewährt dem Arbeitnehmer zusätzlich zu dem gesetzlichen<br />
Mindesturlaub einen vertraglichen Urlaub von weiteren 10 Arbeitstagen.<br />
(2) Der Urlaub ist möglichst zusammenhängend zu nehmen. Bei der Gewährung von Urlaub wird zuerst<br />
der gesetzliche Urlaub eingebracht. Für den vertraglichen Urlaub gilt abweichend von dem gesetzlichen<br />
Mindesturlaub, dass der Urlaubsanspruch nach Ablauf des Übertragungszeitraumes auch dann verfällt,<br />
wenn er wegen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht genommen werden kann. Der gesetzliche<br />
Mindesturlaub verfällt in einem solchen Fall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres. (…)<br />
V. Bildungsurlaub<br />
Bildungsurlaub dient der Arbeitnehmerweiterbildung und ist eine besondere Form des bezahlten<br />
Urlaubs. Da der Bundesgesetzgeber den Bildungsurlaub im Bundesurlaubsgesetz nicht geregelt hat,<br />
haben bis auf Bayern und Sachsen die jeweiligen Bundesländer aufgrund der konkurrierenden<br />
Gesetzgebungsbefugnis (Art. 74 Nr. 12, Art. 72 Abs. 1 GG) jeweils eigene Gesetze zur Regelung von<br />
Bildungsurlaub geschaffen.<br />
Hinweis:<br />
Eine Übersicht der jeweiligen Regelungen der Bundesländer findet sich etwa bei KORTSTOCK, in: NIPPERDEY,<br />
Lexikon Arbeitsrecht, 30. Ed. 20<strong>16</strong>, Bildungsurlaub.<br />
VI. Unbezahlter Sonderurlaub<br />
Eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers, einem Arbeitnehmer unbezahlten Sonderurlaub zu<br />
gewähren, besteht nicht. Den Arbeits-/Tarifvertragsparteien steht es aber frei, sich außerhalb des<br />
Bundesurlaubsgesetzes auf einen unbezahlten Sonderurlaub zu einigen. Allerdings hat der Arbeitgeber<br />
zu beachten, dass die mit der Gewährung unbezahlten Urlaubs bewirkte Suspendierung der<br />
wechselseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis das Entstehen des gesetzlichen Urlaubs-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 883
Fach <strong>17</strong>, Seite 1266<br />
Grundzüge des Urlaubsrechts<br />
Arbeitsrecht<br />
anspruchs nicht hindert. Der Urlaubsanspruch nach dem BUrlG steht nicht unter der Bedingung, dass<br />
der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat (BAG NZA 2014, 959, 960 f.).<br />
VII. Prozessuales<br />
1. Leistungsklage<br />
Will der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch gerichtlich durchsetzen, kann er grundsätzlich<br />
Leistungsklage auf Erteilung von Urlaub in einem bestimmten Zeitraum erheben. Diese Leistungsklage<br />
ist auf Abgabe einer bestimmten Willenserklärung i.S.v. § 894 ZPO gerichtet, da der Arbeitgeber zur<br />
Erfüllung des Urlaubsanspruchs den Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht freizustellen hat. Häufig wird<br />
der vom Arbeitnehmer begehrte Urlaubszeitraum bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen<br />
Verfahrens jedoch bereits verstrichen sein. Dadurch wird die Leistungsklage unzulässig, weil sie auf eine<br />
inzwischen unmöglich gewordene Leistung gerichtet ist (BAG NZA 1987, 379, 379). Das Bundesarbeitsgericht<br />
erachtet jedoch auch solche Klagen, mit denen der Arbeitgeber zur Gewährung einer<br />
bestimmten Anzahl von Urlaubstagen ab einem in der Zukunft liegenden, nicht näher genannten<br />
Zeitpunkt verurteilt werden soll, als zulässig (BAG AP BUrlG § 7 Nr. 72). Bei einer solchen Leistungsklage<br />
ohne bestimmte Zeitangabe verzichtet der Arbeitnehmer jedoch auf sein Recht gem. § 7 Abs. 1 BUrlG,<br />
den Urlaub nach seinen Wünschen zeitlich festzulegen, da die Klage dahin auszulegen wäre, dass der<br />
Arbeitnehmer seinem beklagten Arbeitgeber die zeitliche Festlegung des Urlaubs überlassen wolle (BAG<br />
NZA 2011, 1050, 1051).<br />
2. Feststellungsklage<br />
Zulässig ist ferner die Erhebung einer Feststellungsklage bezüglich des Bestehens eines Urlaubsanspruchs<br />
aus einem in der Vergangenheit liegenden Urlaubsjahr. Stellt der Arbeitgeber den erhobenen<br />
Urlaubsanspruch in Abrede, besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Der<br />
Feststellungsklage steht nicht der Vorrang der Leistungsklage entgegen, da auch durch eine<br />
Feststellungsklage eine sachgemäße, einfache Erledigung der Streitpunkte zu erreichen ist und<br />
prozesswirtschaftliche Erwägungen gegen einen Zwang zur Leistungsklage sprechen (ausführlich<br />
dazu BAG NZA 2011, 1050, 1051).<br />
3. Einstweiliger Rechtsschutz<br />
Schließlich kann ein Arbeitnehmer unter den Voraussetzungen der §§ 935, 940 ZPO einen Antrag auf<br />
Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen, wenn der Arbeitgeber sich weigert, den vom Arbeitnehmer<br />
für einen bestimmten Zeitraum gewünschten Urlaub zu gewähren.<br />
VIII. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats<br />
Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bestehen nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG. Danach sind<br />
Mitbestimmungsrechte bei der Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans<br />
sowie bei der Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer gegeben, wenn<br />
zwischen dem Arbeitgeber und den beteiligten Arbeitnehmern kein Einverständnis erzielt wird (wegen<br />
der Einzelheiten s. etwa ErfK/KANIA, <strong>17</strong>. Aufl. 20<strong>17</strong>, § 87 BetrVG Rn 42 ff.). Das Mitbestimmungsrecht<br />
bezieht sich nicht nur auf den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern auf jede Art von Urlaub.<br />
IX. Fazit<br />
Das deutsche Urlaubsrecht wird immer mehr durch europarechtliche Vorgaben dominiert. Das führt seit<br />
vielen Jahren dazu, dass sich das Bundesarbeitsgericht immer wieder mit Grundsatzfragen des<br />
Urlaubsrechts beschäftigen und mitunter seine bisherige Rechtsprechung abändern muss. Für die<br />
anwaltliche Praxis empfiehlt sich daher, stets auch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs im Auge<br />
zu behalten.<br />
884 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1113<br />
Kanzlei-Leitbild<br />
Anwaltsbüro<br />
Kanzlei-Leitbild: Erfolgreiche Weiterentwicklung und Marktpositionierung<br />
der Sozietät<br />
Von Dipl.-Psych. KATRIN VOLKMER-JÄGER, Achim<br />
Inhalt<br />
I. Braucht eine Kanzlei ein Leitbild?<br />
II. Funktionen oder Merkmale von Leitbildern<br />
1. Grundlage für die Identitätsfindung<br />
2. Steigerung der Mitarbeitermotivation<br />
3. Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft<br />
4. Klare Positionierung<br />
5. Hohe Mandantenorientierung<br />
6. Potenzielle Mandanten/Bewerber<br />
7. Vertrauensbildung<br />
III. Definition<br />
IV. Erstellen eines Leitbildes<br />
1. Visionen<br />
2. Bausteine<br />
3. Formulierungshinweise<br />
4. Dynamisches Leitbild<br />
V. Wertschätzende Leitbildinhalte<br />
VI. Auswirkungen auf die Kanzlei<br />
VII. Fazit<br />
I. Braucht eine Kanzlei ein Leitbild?<br />
Schon lange sind Leitbilder in Organisationen ein großes – wenn auch mitunter umstrittenes – Thema.<br />
Befürworter eines Leitbildes sehen darin eine Möglichkeit, organisationsintern eine gemeinsame<br />
Orientierung und Motivation zu schaffen. Ziele, Werte und Grundhaltungen werden definiert und<br />
schriftlich festgehalten. Extern vermittelt es einen positiven Einfluss auf die Darstellung und das Image<br />
einer Organisation. Kritiker von Leitbildern bemängeln, dass es sich dabei nur um eine Ansammlung<br />
formulierter Phrasen handele: „Meine Mitarbeiter halten sich sowieso nicht an das, was im Leitbild steht!“ oder:<br />
„Das sind alles nur leere Worthülsen, die gleich nach ihrer Entstehung wieder in der Schublade landen!“<br />
Lohnt sich also der Aufwand, ein Leitbild für die Kanzlei zu erstellen? Um es vorwegzunehmen: Ja.<br />
Insbesondere mittelständische und große Kanzleien sollten dieses Instrument nutzen, um sich mit<br />
einem klaren Konzept am Markt zu präsentieren. Aber auch kleine Kanzleien können davon profitieren,<br />
wenn sie sich einmal mit den Inhalten eines Leitbildes auseinandersetzen: Was sind die Kernkompetenzen<br />
der Kanzlei? Wo sind Stärken, wo Schwächen?<br />
Jede Fehlentscheidung im Kanzleialltag kostet Geld, Nerven und schlimmstenfalls auch Mandanten.<br />
Daher ist es wichtig, bei schwierigen Entscheidungen oder Konfliktsituationen auf ein kanzleiinternes<br />
Navigationssystem zurückgreifen zu können, das alle Kanzleimitglieder unterstützt und wegweisend ist<br />
– denn das ist die Aufgabe eines Leitbildes. BLEICHER versteht das Leitbild als ein „realistisches Idealbild“,<br />
ein Leitsystem, an dem sich das gesamte organisatorische Handeln orientiert (BLEICHER, Das Konzept<br />
Integriertes Management, 7. Aufl., S. 431 ff.).<br />
Dabei sollte das Leitbild die Kanzlei zu 100 Prozent abbilden. Echte Leitbilder spiegeln den Kanzleialltag<br />
wider; mit den Formulierungen und verwendeten Begriffen sollten tatsächliche Werte, gemeinsame<br />
Ziele, konkrete Tätigkeitsabläufe und vieles mehr erfasst werden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 885
Fach 23, Seite 1114<br />
Kanzlei-Leitbild<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Hinweis:<br />
Mit der Verwendung nicht ernst gemeinter Floskeln oder Worthülsen werden unter Umständen Erwartungen<br />
bei Mitarbeitern und Mandanten hervorgerufen, die bei Nichteinhaltung mehr schaden als nutzen.<br />
Für die Entwicklung eines Leitbildes ist es wichtig, dass alle – Berufsträger und Mitarbeiter – an der<br />
Erstellung und Umsetzung beteiligt sind. Ein Leitbild, das alleine von der Kanzleiführung entwickelt wird,<br />
wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich sein. Genauso wichtig ist es, dass<br />
die Führungskräfte die Inhalte vorleben. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann das gemeinsam<br />
entwickelte und erfolgreich umgesetzte Kanzlei-Leitbild die Basis für eine positive Weiterentwicklung<br />
der Kanzlei bedeuten: Mit einer (wirtschaftlich) erfolgreichen Marktpositionierung und einem<br />
motivierten Kanzlei-Team, das weiß und versteht, was zu tun ist und welchen wertschöpfenden<br />
Beitrag jeder Einzelne leistet. Die Arbeit erhält eine Richtung und damit einen weiteren Sinn.<br />
II. Funktionen oder Merkmale von Leitbildern<br />
Ein Leitbild sollte damit kanzleiintern und –extern, also auch gegenüber Dritten, Antworten auf die<br />
folgenden Fragen geben:<br />
• Wer sind wir?<br />
• Wem nutzen wir?<br />
• Was wollen wir gemeinsam erreichen?<br />
• Wie wollen wir zusammenarbeiten?<br />
Zur Beantwortung dieser Fragen erfüllt das Leitbild zahlreiche Funktionen. Es dient den Kanzleimitgliedern<br />
als Grundlage für die Identitätsfindung. Zudem kann es einen Beitrag zur Steigerung der<br />
Mitarbeitermotivation leisten und eignet sich als Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft.<br />
Außerdem erleichtert es die Positionierung der Kanzlei am Markt, schafft eine hohe Mandantenorientierung,<br />
eignet sich zur Mandanten- und Bewerberakquise und schafft Vertrauen. Die einzelnen<br />
Funktionen für die Kanzlei werden im Folgenden erläutert.<br />
1. Grundlage für die Identitätsfindung<br />
Ein Leitbild und dessen Entwicklungsprozess führen i.d.R. zu einer Stärkung des „Wir-Gefühls“ der<br />
Kanzleimitglieder: Es findet eine Identifizierung mit der Sache und mit den Kollegen statt; die Grundlage<br />
für die tägliche Arbeit wird entwickelt und damit die Voraussetzung geschaffen, sich auf dem<br />
umkämpften Anwaltsmarkt zu behaupten.<br />
Hinweis:<br />
Die Beteiligung aller Mitarbeiter über sämtliche Hierarchieebenen hinweg an dem Entwicklungsprozess<br />
bewirkt, dass sich alle mit der Kanzlei identifizieren können, sich gegenseitig wertschätzen und Respekt<br />
füreinander aufbringen.<br />
2. Steigerung der Mitarbeitermotivation<br />
Das gemeinsame Erreichen des Ziels und die im Leitbild festgehaltene Vision wirken motivierend auf die<br />
Kanzleimitglieder.<br />
Hinweis:<br />
Der Berufsträger sollte als Führungskraft die im Leitbild verankerte Führungskultur und die enthaltenen<br />
Werte vorleben. Dies steigert die Motivation und regt zur Nachahmung an.<br />
3. Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft<br />
Das Leitbild bildet den Rahmen für das Tagesgeschäft. Wird es konkret formuliert, kann es<br />
handlungsleitend sein.<br />
886 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1115<br />
Kanzlei-Leitbild<br />
Praxishinweis:<br />
Verwendete Methoden oder Maßnahmen zum Erreichen der Ziele sollten gegenüber Dritten nicht<br />
preisgegeben werden – ebenso wenig wie die verfolgten Strategien. Das ist „Geschäftsgeheimnis“!<br />
4. Klare Positionierung<br />
Leitmotto und Leitmotiv (s. unten IV. 2.) bringen die Vorzüge der Kanzlei auf den Punkt. Das gesamte<br />
Leitbild ist individualisiert und authentisch und schafft so eine klare Positionierung im Markt:<br />
Kernkompetenzen und Werte der Kanzlei werden dargestellt.<br />
5. Hohe Mandantenorientierung<br />
Ein gutes Leitbild gibt den Mandanten eine Antwort auf die Frage „Was können wir von der Kanzlei<br />
erwarten?“ Anhand des Leitbildes werden die Kanzlei-Werte einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt. Im<br />
Umkehrschluss heißt das: Mandanten können sich auch darauf berufen.<br />
Hinweis:<br />
Gleichzeitig legt das Leitbild die Handlungsanweisungen für die in der Kanzlei tätigen Personen gegenüber<br />
den Mandanten in Bezug auf die Kundenorientierung fest.<br />
6. Potenzielle Mandanten/Bewerber<br />
Potenzielle Mandanten oder Bewerber auf eine Stelle in Ihrer Kanzlei prüfen mit einem Blick auf der<br />
Kanzlei-Homepage, ob die Zielsetzung und die dargestellten Werte mit den eigenen gesetzten Zielen<br />
und Werten übereinstimmen. Daher beinhaltet das Leitbild auch Informationen, die diesen Personen<br />
vermittelt, welche Tätigkeitsschwerpunkte und welche Ziele in der Kanzlei verfolgt werden.<br />
7. Vertrauensbildung<br />
Das Leitbild schafft Vertrauen, indem über Qualitätsstandards, wie z.B. eine Zertifizierung, informiert wird.<br />
Hinweis:<br />
Insbesondere ist es vertrauensbildend, wenn das, was hier formuliert wird, auch mit dem tatsächlich im<br />
Kanzleialltag gelebten Verhalten übereinstimmt.<br />
Zusammengefasst werden die Funktionen und Inhalte von Leitbildern in den nachfolgenden Definitionen.<br />
III. Definition<br />
Folgt man der Kurzerklärung des Gabler-Wirtschaftslexikons, ist ein Leitbild ein „Element des normativen<br />
Rahmens eines Unternehmens, in dem es den Zweck seines Daseins in Form von Nutzenversprechen gegenüber seinen<br />
Anspruchsgruppen darlegt (…)“ (s. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/<strong>16</strong>056/unternehmensleitbild-v7.html).<br />
Eine etwas ausführlichere Definition bietet das Online-Verwaltungslexikon (s. http://www.olev.de/, unter<br />
„Leitbild“):<br />
„Das Leitbild einer Organisation formuliert kurz und prägnant den Auftrag (Mission), die strategischen Ziele<br />
(Vision) und die wesentlichen Orientierungen für Art und Weise ihrer Umsetzung (Werte). Es soll damit allen<br />
Organisationsmitgliedern eine einheitliche Orientierung geben und die Identifikation mit der Organisation<br />
unterstützen. Es (…) ist wesentliches Element einer Corporate Identity.“<br />
Anders ausgedrückt: Ein Leitbild für eine Kanzlei ist eine Erklärung aller Kanzleiangehörigen über:<br />
• ihr Selbstverständnis,<br />
• ihre Grundprinzipien oder Werte,<br />
• ihr angestrebtes Ziel,<br />
• ihre Mission,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 887
Fach 23, Seite 11<strong>16</strong><br />
Kanzlei-Leitbild<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
• ihre Vision,<br />
• ihre Führungskultur und<br />
• ihre Regeln für den Umgang miteinander und das Verhalten gegenüber Dritten (z.B. Mandanten,<br />
Dienstleistern).<br />
Es empfiehlt sich, diese Punkte schriftlich zu fixieren. Damit dient es Mitarbeitern, Mandanten,<br />
Kooperationspartnern sowie potenziellen Mandanten und Bewerbern als Orientierung.<br />
IV.<br />
Erstellen eines Leitbildes<br />
1. Visionen<br />
Um ein Leitbild erstellen zu können, muss das Kanzlei-Team eine Vorstellung/eine Vision davon haben,<br />
was die Kanzlei langfristig ausmachen wird, wie das Miteinander im Team gestaltet werden soll, welche<br />
Werte das tägliche Handeln bestimmen, was das Team zur Arbeit motiviert, welche gemeinsamen Ziele<br />
verfolgt werden, was die Kanzlei für die Mandanten besonders macht usw. Wer Visionen hat, weiß,<br />
warum und wofür er etwas tut. Visionen bestimmen das tägliche Handeln – daran wird der<br />
Kanzleialltag ausgerichtet. Fehlt die Vision, ist das Ziel der Arbeit unklar.<br />
Daher ist das Herausfinden und Benennen der Kanzlei-Visionen wichtig! Sie müssen transparent für<br />
Mitarbeiter und Mandanten sein. Nur so können sie in strategisches Handeln umgewandelt werden. Das<br />
betrifft alle – hierarchieübergreifend –, so dass alle Kanzleimitglieder an diesem Prozess beteiligt und die<br />
Erfahrungen aller Mitarbeiter genutzt werden sollten (zur Erarbeitungsmethode solcher Visionen s. unten V.).<br />
2. Bausteine<br />
Aus den Visionen entstehen die Inhalte der Bausteine eines jeden Leitbildes: Leitmotto, Leitmotiv und<br />
Leitsätze.<br />
a) Leitmotto<br />
Das Leitmotto beschreibt die Kanzlei kurz und prägnant anhand eines Satzes. Dieser gleicht einem<br />
Werbeslogan und spiegelt den Grundgedanken des Leitbildes wider.<br />
Beispiel:<br />
Der Mensch ist unser Mittelpunkt!<br />
b) Leitmotiv<br />
Das Leitmotiv ist eine Art Vorwort und bringt anhand einiger Stichworte auf den Punkt, warum die<br />
Kanzlei existiert. Häufig finden sich hier die Gründungsideen wieder, die den Nutzen der Kanzlei für die<br />
Mandanten und die Gesellschaft formulieren.<br />
Beispiele:<br />
• Der Einzelne ist für uns wichtig!<br />
• Unsere Arbeit macht das Leben lebenswerter!<br />
c) Leitsätze<br />
Leitsätze sind Regeln, die aus den gemeinsamen Visionen der Kanzlei abgeleitet werden. Es sollte sich<br />
dabei um leicht verständliche und kurze Aussagen handeln. Zudem sollten sie umsetzbar sein. Für den<br />
internen Kanzleigebrauch können auch zusätzliche Erläuterungen formuliert werden.<br />
Die Leitsätze sind für alle Kanzleimitglieder verbindlich. Damit sie im Alltag auch zur Anwendung<br />
kommen, müssen<br />
• daraus konkrete Handlungsanweisungen abgeleitet und verschriftlicht werden,<br />
• sich alle – über alle Hierarchieebenen hinweg – dazu verpflichten, die Regeln als verbindlich anzusehen,<br />
• Sanktionen auf Regelverstöße folgen, die ebenfalls gemeinsam festgelegt werden,<br />
888 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 11<strong>17</strong><br />
Kanzlei-Leitbild<br />
• Verantwortliche bestimmt werden, die prüfen, ob sich alle im Sinne des Leitbildes verhalten,<br />
• sich alle darüber klar sein, dass ein Leitbild stets weiterentwickelt werden muss, wenn geänderte<br />
Bedingungen eine Anpassung erforderlich machen, z.B. wenn ein neuer Partner in die Kanzlei kommt<br />
oder sich die Ziele bzw. Visionen ändern: Leitbilder sind lebendig (s. unten IV. 4.)!<br />
Beispiele:<br />
• Wir bieten Mandanten und Mitarbeitern mehr als sie erwarten.<br />
• Jeder Mitarbeiter wird individuell gefördert, wir führen insbesondere regelmäßig Soft Skill-Schulungen<br />
durch.<br />
• Bei uns wird nicht mehr gearbeitet als vertraglich vereinbart.<br />
Die folgende Grafik fasst die Zusammenhänge zwischen Visionen, Leitmotiv, Leitmotto und Leitsätzen<br />
noch einmal zusammen. Die gemeinsamen Visionen aller Kanzleimitglieder zeigen auf, welcher<br />
Zielzustand zusammen angestrebt wird. Geprägt sind die Visionen durch gemeinsame Werte.<br />
Leitmotto und -motiv bringen den Grundgedanken und den Nutzen der Kanzlei für die Gesellschaft<br />
auf den Punkt. In den Leitsätzen ist formuliert, wie die Vision erreicht werden kann, sie geben die<br />
Mission an und sind gleichzeitig Regeln für den Umgang miteinander und gegenüber Dritten. Unter den<br />
einzelnen Bausteinen bestehen wechselseitige Beziehungen. Die Visionen prägen so die Leitsätze,<br />
umgekehrt führen Leitsätze aber auch dazu, dass die Vision zur Realität wird.<br />
Praxisbeispiel:<br />
Eine Kanzlei möchte die hanseatische Lebenshaltung leben. So findet sich im Leitmotto das Wort<br />
„Hanseatisch!“ wieder. Im Leitmotiv wird formuliert: „Auf unsere Zusagen können Sie vertrauen!“<br />
Daraus entstehen Leitsätze, wie: „Gegebene Zusagen halten wir ein.“ Für alle Mitarbeiter gilt, dass ein<br />
Handschlag oder eine mündliche Zusage genauso verbindlich sind wie ein schriftlicher Vertrag. Dies gilt<br />
kanzleiintern sowie -extern.<br />
3. Formulierungshinweise<br />
Folgende Hinweise helfen bei der Formulierung des Leitbildes:<br />
• Nehmen Sie ausschließlich authentische Aussagen auf (beschreiben Sie nur etwas, was auch<br />
tatsächlich vorhanden ist).<br />
• Formulieren Sie kurze und eindeutige Sätze.<br />
• Treffen Sie zukunftsweisende Aussagen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 889
Fach 23, Seite 1118<br />
Kanzlei-Leitbild<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
• Wählen Sie die direkte Ansprache.<br />
• Formulieren Sie für alle verständlich (Mitarbeiter und Mandanten).<br />
• Verwenden Sie bildhafte Sprache.<br />
4. Dynamisches Leitbild<br />
Ein Leitbild kann niemals statisch sein. Ändern sich bestimmte Faktoren, so muss das Leitbild daran<br />
angepasst werden. Beispielsweise kann die Kanzlei expandieren, ein neuer Wettbewerber hinzukommen,<br />
die Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs oder der Erwerb eines neuen<br />
Fachanwaltstitels anstehen. Auf solche Veränderungen muss die Kanzlei reagieren und sich strategisch<br />
neu ausrichten oder thematische Schwerpunkte neu formulieren.<br />
Beispiel:<br />
Wird ein weiterer Partner in die Kanzlei aufgenommen oder neues Personal eingestellt, kann dies Einfluss<br />
auf bestimmte Inhalte des Leitbildes haben. Ein neuer Partner legt vielleicht besonderen Wert auf<br />
Dienstleistungsprozesse, eine neue Bürovorsteherin sorgt für eine neue Kanzleistruktur usw.<br />
Die Gültigkeit des Leitbildes sollte stets überprüft werden, und ggf. notwendige Änderungen, sollten<br />
gemeinsam mit dem gesamten Kanzleiteam vorgenommen werden.<br />
Hinweis:<br />
Auf ein konkretes Beispiel eines ausformulierten Kanzlei-Leitbildes wird hier bewusst verzichtet. Dieses<br />
muss immer individuell erarbeitet werden, damit es sich nicht um eine Ansammlung leerer Floskeln handelt.<br />
V. Wertschätzende Leitbildinhalte<br />
Um gemeinsam mit dem gesamten Kanzlei-Team die Inhalte, die in dem Kanzlei-Leitbild abgebildet<br />
werden sollten, zu erarbeiten, eignet sich die Methode der „wertschätzenden Entdeckung“. Die sog.<br />
wertschätzende Entdeckung ist eine Workshop-Methode zur Veränderung von Organisationen, die in<br />
den achtziger Jahren von DAVID COOPERRIDER in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde (vgl.<br />
COOPERRIDE/WHITNEY/STAVROS, Appreciative Inquiry Handbook: For Leaders of Change, 2003). Mit ihrer<br />
Hilfe kann das positive Potenzial herausgearbeitet werden, das in der Kanzlei und einzelnen<br />
Kanzleimitgliedern vorhanden ist. Diese Methode basiert auf der Annahme, dass Menschen mehr<br />
erreichen, wenn sie an sich glauben und sich mehr zutrauen. Wenn sie wissen, was sie können, können<br />
sie die Vision von der Zukunft mittragen.<br />
Hinweis:<br />
Häufig werden in der Praxis defizit-orientierte Methoden verwendet, um Veränderungsprozesse in Gang<br />
zu bringen, z.B. um die Mängel einer Kanzlei aufzudecken. Doch solche Methoden führen oft dazu, dass<br />
man um alte Probleme kreist, anstatt Lösungen für die Zukunft zu finden.<br />
Jede wertschätzende Entdeckung beginnt in einem ersten Schritt mit einem Partnerinterview, das die<br />
Wahrnehmung zum Positiven lenkt. Hierbei werden positive Erfahrungen und Erlebnisse aus der<br />
Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft genutzt. Aus den Ergebnissen der Interviews werden<br />
Wünsche, Ziele und Visionen für die Zukunft abgeleitet.<br />
Beispiele für Leitfragen aus einer wertschätzenden Entdeckung:<br />
1. Beschreiben Sie eine Arbeitssituation, in der Sie sich besonders gut/motiviert/lebendig/engagiert<br />
gefühlt haben. Erinnern Sie sich an ein besonderes Erlebnis in der Kanzlei oder an einen ehemaligen<br />
Arbeitsplatz: Was oder wer hat es so besonders gemacht?<br />
890 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1119<br />
Kanzlei-Leitbild<br />
2. Was gefällt Ihnen besonders<br />
• an sich selbst als Kollege/Kollegin/Chef/Chefin,<br />
• an Ihrer Tätigkeit in der Kanzlei,<br />
• an der Kanzlei?<br />
3. Wenn Sie jetzt an unsere Kanzlei denken: Was macht die Kanzlei aus? Was macht uns für unsere<br />
Mandanten besonders? Warum kommen sie zu uns? Was ist es, durch das wir unverwechselbar sind?<br />
4. Welche Wünsche haben Sie für unsere Kanzlei, damit wir mehr Erfolg, mehr Arbeitsfreude und ein<br />
vertrauensvolles Miteinander erreichen/beibehalten können?<br />
In einem zweiten Schritt werden diese Situationen/Geschichten verdichtet. Die Leitfrage kann dabei<br />
sein: „Welche Aspekte sind hier besonders bedeutend?“ Jeder Teilnehmer stellt seinen Interviewpartner und<br />
dessen Geschichte in eigenen Worten kurz vor. Der Interviewte kann korrigieren, falls erforderlich.<br />
Zusammen wird ein Name für die Geschichte gefunden. Nachdem alle Situationen vorgestellt wurden,<br />
werden Gemeinsamkeiten (Aussagen/Richtungen/Werte/Themen etc.) zwischen den Geschichten<br />
gefunden. Es entsteht eine Art Mind-Map, die die einzelnen Situationen miteinander verbindet. Am<br />
Ende kann eine Quintessenz abgeleitet werden, z.B. eine Richtung, ein Ziel oder eine Kernaussage,<br />
welche auch auf die Arbeit in der Kanzlei übertragbar ist. Diese Aussage wird explizit formuliert.<br />
Zusätzlich wird die Leitfrage gestellt: „Was können wir daraus lernen?“ So finden sich Lehren für eine<br />
erfolgreiche Zusammenarbeit in der Kanzlei, die aus den Situationen/Geschichten abgeleitet werden<br />
können.<br />
Beispiel: Beruflicher Wiedereinstieg<br />
• Eine Mitarbeiterin beschreibt in einem Interview ihren beruflichen Wiedereinstieg nach der Erziehungspause.<br />
Besonders positiv nahm sie wahr, dass eine ältere Kollegin ihr den Einstieg dadurch erleichterte,<br />
dass sie ihr alle nach dem zwischenzeitlichen Ausscheiden aufgetretenen Änderungen in<br />
Ruhe erklärt hat. Auch im Anschluss war die Kollegin immer wieder bereit, Fragen zu beantworten<br />
und Arbeitsabläufe zu zeigen. Zusätzlich konnte die Mitarbeiterin im aktuellen Kanzlei-Handbuch<br />
nachschlagen. Die hilfsbereite und freundliche Art der Kollegin hat der Mitarbeiterin den beruflichen<br />
Wiedereinstieg leicht gemacht und dazu geführt, dass sie sich schnell integrieren und ihre Arbeit<br />
sogleich mit Freude ausführen konnte. Die Interviewpartnerin findet einen Namen für die Geschichte:<br />
Mentoring für Berufsrückkehrerinnen.<br />
• Eine weitere Mitarbeiterin berichtet sehr positiv von ihrem Neueinstieg in die Kanzlei. Auch bei ihr<br />
war es eine engagierte Kollegin, die ihr den Start leicht gemacht und eine schnelle Einarbeitung<br />
ermöglicht hat. Der Name für die Situation: Begleiteter beruflicher Neueinstieg.<br />
Die Gruppe zieht aus beiden Situationen die Kernaussage, dass eine enge Begleitung durch eine erfahrene<br />
Kollegin für den beruflichen Neu- oder Wiedereinstieg die Einarbeitung deutlich erleichtert. In Zukunft<br />
sollen neue Mitarbeiter und Rückkehrer durch ein Mentoring unterstützt werden.<br />
In einem dritten Schritt werden Visionen formuliert, die das Leitbild tragen. Beispielsweise sollen sich<br />
die Mitarbeiter die Kanzlei im Jahre 2020 vorstellen – die Kanzlei hat sich so entwickelt, wie sie es sich<br />
ausgemalt hatten. Sie werden jetzt dazu aufgefordert, zu beschreiben, wie ihre Arbeitswelt nun<br />
aussieht. Es werden die wichtigsten Themen der zukünftigen Arbeit gesammelt und im Anschluss<br />
konkrete Zukunftsaussagen daraus abgeleitet. Diese Zukunftsaussagen sind die Leitsätze des Leitbildes.<br />
Beispiel „Kommunikation“:<br />
• Wir sprechen offen und ehrlich miteinander.<br />
• Wir teilen Informationen innerhalb der Kanzlei verantwortungsbewusst.<br />
Jetzt können Projekte generiert werden: Was ist zu tun, damit diese Zukunft auch Wirklichkeit wird?<br />
Projektgruppen zu verschiedenen Themen werden gebildet und ein Umsetzungs- und Handlungsplan<br />
festgelegt: Was genau muss erledigt werden? Wer macht was mit wem und bis wann? An dieser Stelle<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong> 891
Fach 23, Seite 1120<br />
Kanzlei-Leitbild<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
sollte auch eine Erfolgskontrolle eingeplant werden: Eine Person wird bestimmt, die zu einem<br />
festgesetzten Zeitpunkt kontrolliert, ob das Geplante auch umgesetzt wurde.<br />
Es empfiehlt sich, den Umsetzungs- und Handlungsplan wie in folgendem Beispiel in tabellarischer<br />
Form festzuhalten:<br />
Aufgabe Priorität Dauer Bis wann? Wer? Erledigt?<br />
Erstellung eines Einarbeitungsplans<br />
hoch 2 Tage 31.8. Frau Müller<br />
Praxishinweis:<br />
Lassen Sie einen solchen Workshop von einem externen Moderator begleiten. Viele Themen sind sehr<br />
persönlich, und alle Mitglieder einer Kanzlei stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Nicht<br />
selten kommt es zu hitzigen Diskussionen, die ein neutraler und geschulter Workshop-Leiter besser<br />
auffangen kann.<br />
VI. Auswirkungen auf die Kanzlei<br />
Ein solcher Prozess hat Auswirkungen auf alle Facetten einer Kanzlei. Es kann sein, dass z.B. im<br />
Anschluss das Organigramm neu aufgestellt werden muss. Damit verbunden sind oft auch Änderungen<br />
der Personalplatzierung und der strukturellen Abläufe. Gegebenenfalls wird die Personalauswahl<br />
anders gestaltet. Nicht selten ergeben sich direkt Implikationen für die Personalentwicklung: Fachliche<br />
Weiterbildungen werden unter Umständen benötigt, ein Bedarf an zusätzlichen Soft Skill-Qualifikationen<br />
wird festgestellt usw. Vielleicht werden Internetseiten mit neuen Inhalten gefüllt. Es werden die<br />
Maßnahmen ergriffen, um die im Leitbild definierten Ziele erreichen zu können.<br />
Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Kanzlei-Handbuch zu. Es empfiehlt sich,<br />
dass die für das tägliche Handeln notwendigen Wissensinhalte und Regeln in einem Kanzlei-Handbuch<br />
detailliert abgebildet werden. So kann es als Nachschlagewerk für alle Mitarbeiter dienen. Wichtig ist<br />
dies insbesondere auch für die Einarbeitung neuer Mitarbeiter. Es enthält neben der Darstellung sich<br />
wiederholender Arbeitsabläufe/-prozesse – wie z.B. der Vergabe von Besprechungsterminen,<br />
Einholung von Mandanten-Feedback – genaue Anleitungen dafür, wie in der Kanzlei mit Mandantenbeschwerden<br />
umgegangen wird, wie die Einarbeitung neuer Mitarbeiter erfolgt und vieles mehr.<br />
VII. Fazit<br />
Es lohnt sich, gemeinsam ein „echtes“ Leitbild für die eigene Kanzlei zu schaffen, um nicht genutztes<br />
Potential zu erkennen, Personal- und Mandantenfluktuation vorzubeugen und wirtschaftlich erfolgreicher<br />
zu werden. Die Umsetzung der im Leitbild formulierten Ziele und Werte hat Einfluss auf alle<br />
organisatorischen Prozesse und kann damit positive Auswirkungen auf das Kanzleiklima sowie die<br />
gesamte Kanzleikultur haben. Letztendlich entscheidet das alltägliche Arbeitsverhalten aller Kanzleimitglieder<br />
darüber, ob das Leitbild ein Erfolgsgarant der Kanzlei ist.<br />
892 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 9.8.20<strong>17</strong>