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Wir begannen uns einzurichten in unserem Rodach, das auf drei Seiten von Thüringen<br />
umgeben war und Alt-Bürgermeister Kurt Hofmann die „Stadt im toten Winkel“ nannte.<br />
Die Zeiten waren längst vorbei, dass meine Mutter, während des Krieges mit dem Zug aus<br />
Berlin kommend, in Grimmenthal bei Meiningen aussteigen und mitten in der Nacht warten<br />
musste, bis sie der Günthers Adolf, der Rodacher Fotograf in der Gartenstraße, mit<br />
dem Auto abholte. Oder dass meine Großmutter, die in Berlin lebte, im Sommer 1945, als<br />
der Krieg zu Ende war, auf Güterzügen, Pferdefuhrwerken oder zu Fuß bis Hildburghausen<br />
reiste und im Morgengrauen bei Lempertshausen über die Grenze schlich, um zu ihren<br />
in Rodach lebenden Töchtern zu gelangen, von deren Schicksal bei Kriegsende sie<br />
nichts wusste. Eine Bauersfrau soll damals das Fenster geöffnet und auf Fränkisch gerufen<br />
haben: „Wo komma Sie denn har?“, und sie soll auf Sächsisch geantwortet haben:<br />
„Von driehm, von driehm!“<br />
Wenn man heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, nach Adelhausen fährt, merkt<br />
man nicht mehr, wo Franken aufhört und Thüringen anfängt. Wenn man anhält<br />
und aussteigt, kann man noch den feinen Haarstrich sehen, wo der graue Teer<br />
aufhört und der schwarze beginnt.<br />
Auch meine Leipziger Tante Inge Arnold hat uns auf diese Weise mehrmals in Rodach<br />
besucht in den ersten Nachkriegsjahren, zuletzt 1955. Ich sehe sie noch, wie sie mit Hartmut<br />
von Berg, dem Rodacher Holzhändler, der sich im Wald auskannte, auf einem Feldweg<br />
zum Reith hinaufschritt, wo er sie über die Grenze nach Thüringen brachte. In den<br />
Sommerferien 1954 und 1955 fuhr ich selbst nach Thüringen, zu meinem Patenonkel, der<br />
in Wasungen bei Meiningen <strong>Land</strong>arzt war. Heute, nachdem der SED-Staat 1989/90 untergegangen<br />
ist, braucht man von Bad Rodach nach Meiningen, immer an der Werra entlang,<br />
eine gute Stunde. Zehn Jahre nach dem Krieg aber musste man gewaltige Umwege<br />
auf sich nehmen, die Reise ging zunächst ostwärts nach Coburg und Lichtenfels, wo man<br />
den Interzonenzug München-Berlin bestieg. Dann kam der Grenzübergang Ludwigsstadt-<br />
Probstzella. Von dort fuhr man über Saalfeld und Arnstadt nach Meiningen und erreichte<br />
Wasungen am Spätnachmittag. Eine Tagesreise, nur weil Deutschland geteilt war!<br />
Aber Thüringen, das versperrte <strong>Land</strong>, wurde uns immer fremder, mit den Jahrzehnten<br />
der Teilung änderte sich auch die Rodacher Mundart, da das Thüringer Hinterland fehlte.<br />
Manche Wörter starben aus, auch wenn es in Rodach noch Straßen gab wie die Heldburger<br />
und die Hildburghäuser, die angeblich nach Thüringen führten, aber im Nichts endeten.<br />
Als ich mit meinem Freund Peter Holz, dem Sohn unseres Hausarztes, im Herbst 1947<br />
<strong>ganz</strong> weit draußen in der Hildburghäuser Straße Kastanien einsammelte, war der Asphalt<br />
noch glatt wie auf anderen Straßen auch. Aber schon in den Fünfzigerjahren begann hinter<br />
der Kreuzung, wo es rechts nach Lempertshausen und links nach Roßfeld geht, der<br />
Asphalt aufzubrechen. Wasser drang ein, der Frost sprengte die Straße auf, die nicht<br />
mehr befahren wurde, außer manchmal vom Bundesgrenzschutz. Es begannen Gras und