_flip_joker_2018-02
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4 KULTUR JOKER THEATER<br />
Mit soviel Ansturm haben die<br />
Gastgeber nicht gerechnet: Im<br />
leergeräumten Wohnzimmer der<br />
Freiburger WG gibt es auf dem<br />
Teppich kein Plätzchen mehr,<br />
komfortablere Sitzgelegenheiten<br />
sind längst vergeben. Trotzdem<br />
bimmelt es munter weiter an der<br />
Haustür. Schließlich feiert das<br />
2017 von Schauspieler Michael<br />
Barop gegründete Theater Spielzimmer<br />
hier nach fast 50 privat<br />
gebuchten Vorstellungen die<br />
Premiere seiner vierten Produktion<br />
– mit Yasmina Rezas „Der<br />
Gott des Gemetzels“ ein echtes<br />
Kammerspiel (Regie: Leon Rüttinger).<br />
Hektisch hantieren Michael<br />
Barop und Carmen Sobotto als<br />
Ehepaar Houillé noch zwischen<br />
Küche und Klo herum, dann<br />
klingelt es noch einmal: Auftritt<br />
von Annette und Alain Reille<br />
(Jana Skolovski, Dominik Berberich).<br />
Die beiden haben sich<br />
schick gemacht, pflügen spürbar<br />
indigniert durch Schuh- und Jackenberge<br />
und bremsen abrupt<br />
beim vollgepackten Sofa: Wo<br />
bitte sollen sie hier sitzen? Der<br />
Grund ihres Besuches ist unangenehm<br />
genug: Zwei Schneidezähne<br />
hat ihr Sohn dem Sprössling<br />
der Houillés mit einem<br />
Stock ausgeschlagen – war das<br />
Kammerspiel im Wohnzimmer<br />
Theater Spielzimmer feierte Premiere mit Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“<br />
Seelen-Striptease mit hohem Unterhaltungswert im Wohnzimmer<br />
nun brutale Gewalt<br />
oder nur eine harmlose<br />
Jungs-Keilerei?<br />
Da gehen die Meinungen<br />
natürlich weit<br />
auseinander, auch<br />
wenn die beiden Elternpaare<br />
fest dazu<br />
entschlossen sind, die<br />
unschöne Angelegenheit<br />
kultiviert beizulegen.<br />
Ha, von wegen!<br />
Wer die beißende Gesellschaftskritik<br />
von<br />
Yasmina Reza kennt,<br />
freut sich schon auf<br />
Seelen-Striptease<br />
mit hohem Unterhaltungswert.<br />
Hautnah ist das Publikum<br />
dabei, wenn in<br />
der folgenden Stunde<br />
aus verkrampftem<br />
Geplänkel verbissener<br />
Moralkrieg wird, Masken fallen,<br />
Zivilisationsfirnis bröselt, Alkohol<br />
und Tränen fließen. Es beginnt<br />
mit angespannter Aufgeräumtheit:<br />
Carmen Sobotto gibt<br />
sich als strahlender Gutmensch<br />
in blumigem Hippie-Style, unbeirrbar<br />
hackt sie ihre Anklageschrift<br />
in eine alte Schreibmaschine.<br />
Dazu passen Bällebad<br />
und getrocknete Kräuterbündel<br />
im WG-Wohnzimmer wunderbar.<br />
Michael Barop spielt den<br />
von soviel Moralin eingeschüchterten<br />
Ehemann mit friedfertiger<br />
Resignation und hemdsärmeliger<br />
Schlagfertigkeit: Erst ist<br />
er mit Frau und Opfersohn solidarisch,<br />
dann zaubert er eine<br />
Flasche hervor und verbrüdert<br />
sich mit Geschlechtsgenosse<br />
Alain, der parallel zum Sofakrieg<br />
einen skrupellosen Kampf<br />
für ein Pharmaunternehmen am<br />
Handy führt. Bis seine Frau die<br />
Faxen dicke hat, erst kotzt, sich<br />
dann betrinkt und schließlich<br />
das Handy im Klo versenkt.<br />
Da ist es dann auch mit seiner<br />
Gockelei vorbei – eindrücklich<br />
und sehr komisch wie Dominik<br />
Berberich den Zusammenbruch<br />
des bauernschlauen, dickfelligen<br />
Anwalts spielt. Facettenreich<br />
und mit nervöser Energie<br />
gibt auch Jana Skolovski ihre<br />
Annette: Ganz festgezurrte<br />
Disziplin,<br />
in deren Rissen viel<br />
Gefühl und Unglück<br />
lauern.<br />
Blitzschnell bilden<br />
sich so immer neue<br />
Allianzen und Kriege,<br />
dabei geht es um Bildung,<br />
Kultur, Elternschaft,<br />
sozialen Status<br />
oder Geschlechterrollen.<br />
Vor allem aber<br />
um dunkle Seiten und<br />
Peinlichkeiten. Wie<br />
dieser Abend dann<br />
auf engstem Raum<br />
und mit hohem Tempo<br />
eskaliert, ist ebenso<br />
böse wie lustig, weil<br />
fantastisch gespielt.<br />
Die wichtigste Requisite<br />
dabei: Der WG-<br />
Staubsauger. Werden<br />
doch bei jeder Aufführung neu<br />
spezifische Raumbegebenheiten<br />
und Wohnungselemente eingebaut,<br />
die Ausstattung passt in<br />
einen Rucksack.<br />
Theater Spielzimmer ist buchbar<br />
für private Wohnzimmer und<br />
Gärten. Infos: www.spielzimmer-freiburg.de<br />
oder 0761/612<br />
504 89. Kosten: Gästekasse oder<br />
Festpreis.<br />
Marion Klötzer<br />
Die erste Fassung von Verdis<br />
Oper „Simon Boccanegra“ im<br />
Jahr 1857 in Venedig fiel wegen<br />
der verworrenen Handlung glatt<br />
durch. Für die zweite Fassung<br />
von 1881 überarbeitete Arrigo<br />
Boito das Libretto. Rund ein<br />
Drittel komponierte Verdi neu;<br />
den Rest kürzte und verdichtete<br />
er zu seinem gehaltvollen, melodisch<br />
eher kargen Spätstil.<br />
Aber auch die am Badischen<br />
Staatstheater Karlsruhe gespielte<br />
Zweitfassung ist eine Herausforderung:<br />
musikalisch wie<br />
szenisch. Die Badische Staatskapelle<br />
brauchte unter dem in<br />
Freiburg geborenen Dirigenten<br />
Johannes Willig ein wenig, um<br />
Geschichte wiederholt sich<br />
Johannes Willig dirigiert, David Hermann inszeniert „Simon Boccanegra“ in Karlsruhe<br />
die notwendige Konturenschärfe<br />
zu entwickeln. Trotzdem ist<br />
diese sensible, sehr bewegliche<br />
Verdi-Interpretation in jedem<br />
Moment hörenswert. Vor allem<br />
legt Willig großen Wert auf<br />
die richtige Balance. Die dynamische<br />
Bandbreite der gerade<br />
in den Holzbläsern exquisit besetzten<br />
Badischen Staatskapelle<br />
ist groß, das Farbspektrum<br />
ebenfalls. Das Orchester entwickelt<br />
einen erzählerischen<br />
Ton, der hilft, die komplizierte<br />
Geschichte, die im von Adelsfamilien<br />
umkämpften Genua in<br />
der Mitte des 14. Jahrhunderts<br />
spielt, zu entflechten. Regisseur<br />
David Hermann schafft<br />
gemeinsam mit seinem Ausstatter<br />
Christof Hetzer durch<br />
konzeptionelle Eingriffe klarere<br />
Strukturen. Die Titelfigur sieht<br />
er als Bürgermeister von Genua.<br />
Der Prolog mit der Vorgeschichte<br />
wird als Traumvision<br />
erzählt, wenn im Renaissance-<br />
Rathaus plötzlich Figuren in historischen<br />
Kostümen lebendig<br />
werden und den Bürgermeister<br />
zum ersten Dogen Genuas machen.<br />
Politische Intrigen sind<br />
zeitlos!<br />
Daneben durchzieht Hermann<br />
die Opernproduktion mit christlicher<br />
Symbolik, was er mit<br />
den zahlreichen kirchenmusikalischen<br />
Einsprengseln wie<br />
einem Miserere-Chor und der<br />
auf Vergebung setzenden Politik<br />
des Dogen begründet. Dass<br />
der Mob am Ende des ersten<br />
Aktes als frühchristliches Volk<br />
in bodenlangen Leinengewändern<br />
die Szenerie stürmt und<br />
die unter dem Namen Amelia<br />
Grimaldi auftretende, verschollen<br />
geglaubte Tochter Boccanegras<br />
als Gottesmutter Maria mit<br />
hellblauem Mantel erscheint, ist<br />
dann doch ein wenig plakativ.<br />
Für das Schlussbild des Aktes<br />
schart Simon Boccanegra<br />
wie einst Jesus auf Leonardo<br />
da Vincis Gemälde „Das<br />
Abendmahl“ seine Jünger<br />
an der langen Tafel um sich.<br />
Der Verräter, den Boccanegra<br />
sucht, heißt hier nicht Judas,<br />
sondern Paolo. Für die drastische<br />
Musik Verdis, die den<br />
Fluch des Dogen illustriert, ist<br />
das ein starkes Bild, wenn auch<br />
die Einbindung ins Geschehen<br />
nur begrenzt gelingt und auch<br />
handwerkliche Ungenauigkeiten<br />
auftreten.<br />
Musikalisch gehört die Szene<br />
zum Eindrucksvollsten.<br />
Das neue Ensemblemitglied<br />
Nicholas Brownlee macht mit<br />
seinem dunklen, immer wieder<br />
metallisch gehärteten Bassbariton<br />
aus Paolo Albiani einen<br />
fiesen Günstling, dessen kriminelles<br />
Potential in jeder Phrase<br />
durchschimmert. Seun-Gi Jung<br />
zeichnet Simon Boccanegra<br />
viel weicher, verbindlicher, geschmeidiger.<br />
Jungs feines Legato<br />
erzählt vom Friedenswillen<br />
dieses Herrschers, der am Ende<br />
einem Giftanschlag Paolos zum<br />
Opfer fällt. Barbara Dobrzanskas<br />
mächtiger Sopran, der über<br />
unendliche Reserven verfügt,<br />
macht aus Boccanegras Tochter<br />
Maria (alias Amelia Grimaldi)<br />
eine hochemotionale Frau, die<br />
sich in der düsteren Männerwelt<br />
mit Verve behaupten kann. Marias<br />
Geliebter Gabriele Adorno<br />
(wuchtig: Rodrigo Porras Garulo)<br />
ist da nicht ganz auf Augenhöhe.<br />
Nach der Pause inszeniert<br />
David Hermann das Drama auf<br />
der klug eingesetzten Drehbühne<br />
als dichtes Kammerspiel. Am<br />
Ende kommen die Gegenspieler<br />
Simon Boccanegra und Jacopo<br />
Fiesco (mit schwarzem Bass:<br />
Konstantin Gorny) ein letztes<br />
Mal an einem langen, mit Kerzenleuchtern<br />
und Monstranz<br />
geschmückten Altar zusammen,<br />
ehe der Doge stirbt. Zum<br />
Nachfolger wird Gabriele Adorno<br />
bestimmt. Der Mörder Paolo<br />
ist mit seinem Kumpanen Pietro<br />
(Yang Xu) aber wieder als<br />
Günstling am Start. Geschichte<br />
wiederholt sich.<br />
Die nächsten Vorstellun-gen:<br />
8.2., 20.3., 7./11./29.4., 25.5.<br />
<strong>2018</strong>, Staatstheater Karlsruhe<br />
Georg Rudiger