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4 KULTUR JOKER THEATER<br />

Mit soviel Ansturm haben die<br />

Gastgeber nicht gerechnet: Im<br />

leergeräumten Wohnzimmer der<br />

Freiburger WG gibt es auf dem<br />

Teppich kein Plätzchen mehr,<br />

komfortablere Sitzgelegenheiten<br />

sind längst vergeben. Trotzdem<br />

bimmelt es munter weiter an der<br />

Haustür. Schließlich feiert das<br />

2017 von Schauspieler Michael<br />

Barop gegründete Theater Spielzimmer<br />

hier nach fast 50 privat<br />

gebuchten Vorstellungen die<br />

Premiere seiner vierten Produktion<br />

– mit Yasmina Rezas „Der<br />

Gott des Gemetzels“ ein echtes<br />

Kammerspiel (Regie: Leon Rüttinger).<br />

Hektisch hantieren Michael<br />

Barop und Carmen Sobotto als<br />

Ehepaar Houillé noch zwischen<br />

Küche und Klo herum, dann<br />

klingelt es noch einmal: Auftritt<br />

von Annette und Alain Reille<br />

(Jana Skolovski, Dominik Berberich).<br />

Die beiden haben sich<br />

schick gemacht, pflügen spürbar<br />

indigniert durch Schuh- und Jackenberge<br />

und bremsen abrupt<br />

beim vollgepackten Sofa: Wo<br />

bitte sollen sie hier sitzen? Der<br />

Grund ihres Besuches ist unangenehm<br />

genug: Zwei Schneidezähne<br />

hat ihr Sohn dem Sprössling<br />

der Houillés mit einem<br />

Stock ausgeschlagen – war das<br />

Kammerspiel im Wohnzimmer<br />

Theater Spielzimmer feierte Premiere mit Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“<br />

Seelen-Striptease mit hohem Unterhaltungswert im Wohnzimmer<br />

nun brutale Gewalt<br />

oder nur eine harmlose<br />

Jungs-Keilerei?<br />

Da gehen die Meinungen<br />

natürlich weit<br />

auseinander, auch<br />

wenn die beiden Elternpaare<br />

fest dazu<br />

entschlossen sind, die<br />

unschöne Angelegenheit<br />

kultiviert beizulegen.<br />

Ha, von wegen!<br />

Wer die beißende Gesellschaftskritik<br />

von<br />

Yasmina Reza kennt,<br />

freut sich schon auf<br />

Seelen-Striptease<br />

mit hohem Unterhaltungswert.<br />

Hautnah ist das Publikum<br />

dabei, wenn in<br />

der folgenden Stunde<br />

aus verkrampftem<br />

Geplänkel verbissener<br />

Moralkrieg wird, Masken fallen,<br />

Zivilisationsfirnis bröselt, Alkohol<br />

und Tränen fließen. Es beginnt<br />

mit angespannter Aufgeräumtheit:<br />

Carmen Sobotto gibt<br />

sich als strahlender Gutmensch<br />

in blumigem Hippie-Style, unbeirrbar<br />

hackt sie ihre Anklageschrift<br />

in eine alte Schreibmaschine.<br />

Dazu passen Bällebad<br />

und getrocknete Kräuterbündel<br />

im WG-Wohnzimmer wunderbar.<br />

Michael Barop spielt den<br />

von soviel Moralin eingeschüchterten<br />

Ehemann mit friedfertiger<br />

Resignation und hemdsärmeliger<br />

Schlagfertigkeit: Erst ist<br />

er mit Frau und Opfersohn solidarisch,<br />

dann zaubert er eine<br />

Flasche hervor und verbrüdert<br />

sich mit Geschlechtsgenosse<br />

Alain, der parallel zum Sofakrieg<br />

einen skrupellosen Kampf<br />

für ein Pharmaunternehmen am<br />

Handy führt. Bis seine Frau die<br />

Faxen dicke hat, erst kotzt, sich<br />

dann betrinkt und schließlich<br />

das Handy im Klo versenkt.<br />

Da ist es dann auch mit seiner<br />

Gockelei vorbei – eindrücklich<br />

und sehr komisch wie Dominik<br />

Berberich den Zusammenbruch<br />

des bauernschlauen, dickfelligen<br />

Anwalts spielt. Facettenreich<br />

und mit nervöser Energie<br />

gibt auch Jana Skolovski ihre<br />

Annette: Ganz festgezurrte<br />

Disziplin,<br />

in deren Rissen viel<br />

Gefühl und Unglück<br />

lauern.<br />

Blitzschnell bilden<br />

sich so immer neue<br />

Allianzen und Kriege,<br />

dabei geht es um Bildung,<br />

Kultur, Elternschaft,<br />

sozialen Status<br />

oder Geschlechterrollen.<br />

Vor allem aber<br />

um dunkle Seiten und<br />

Peinlichkeiten. Wie<br />

dieser Abend dann<br />

auf engstem Raum<br />

und mit hohem Tempo<br />

eskaliert, ist ebenso<br />

böse wie lustig, weil<br />

fantastisch gespielt.<br />

Die wichtigste Requisite<br />

dabei: Der WG-<br />

Staubsauger. Werden<br />

doch bei jeder Aufführung neu<br />

spezifische Raumbegebenheiten<br />

und Wohnungselemente eingebaut,<br />

die Ausstattung passt in<br />

einen Rucksack.<br />

Theater Spielzimmer ist buchbar<br />

für private Wohnzimmer und<br />

Gärten. Infos: www.spielzimmer-freiburg.de<br />

oder 0761/612<br />

504 89. Kosten: Gästekasse oder<br />

Festpreis.<br />

Marion Klötzer<br />

Die erste Fassung von Verdis<br />

Oper „Simon Boccanegra“ im<br />

Jahr 1857 in Venedig fiel wegen<br />

der verworrenen Handlung glatt<br />

durch. Für die zweite Fassung<br />

von 1881 überarbeitete Arrigo<br />

Boito das Libretto. Rund ein<br />

Drittel komponierte Verdi neu;<br />

den Rest kürzte und verdichtete<br />

er zu seinem gehaltvollen, melodisch<br />

eher kargen Spätstil.<br />

Aber auch die am Badischen<br />

Staatstheater Karlsruhe gespielte<br />

Zweitfassung ist eine Herausforderung:<br />

musikalisch wie<br />

szenisch. Die Badische Staatskapelle<br />

brauchte unter dem in<br />

Freiburg geborenen Dirigenten<br />

Johannes Willig ein wenig, um<br />

Geschichte wiederholt sich<br />

Johannes Willig dirigiert, David Hermann inszeniert „Simon Boccanegra“ in Karlsruhe<br />

die notwendige Konturenschärfe<br />

zu entwickeln. Trotzdem ist<br />

diese sensible, sehr bewegliche<br />

Verdi-Interpretation in jedem<br />

Moment hörenswert. Vor allem<br />

legt Willig großen Wert auf<br />

die richtige Balance. Die dynamische<br />

Bandbreite der gerade<br />

in den Holzbläsern exquisit besetzten<br />

Badischen Staatskapelle<br />

ist groß, das Farbspektrum<br />

ebenfalls. Das Orchester entwickelt<br />

einen erzählerischen<br />

Ton, der hilft, die komplizierte<br />

Geschichte, die im von Adelsfamilien<br />

umkämpften Genua in<br />

der Mitte des 14. Jahrhunderts<br />

spielt, zu entflechten. Regisseur<br />

David Hermann schafft<br />

gemeinsam mit seinem Ausstatter<br />

Christof Hetzer durch<br />

konzeptionelle Eingriffe klarere<br />

Strukturen. Die Titelfigur sieht<br />

er als Bürgermeister von Genua.<br />

Der Prolog mit der Vorgeschichte<br />

wird als Traumvision<br />

erzählt, wenn im Renaissance-<br />

Rathaus plötzlich Figuren in historischen<br />

Kostümen lebendig<br />

werden und den Bürgermeister<br />

zum ersten Dogen Genuas machen.<br />

Politische Intrigen sind<br />

zeitlos!<br />

Daneben durchzieht Hermann<br />

die Opernproduktion mit christlicher<br />

Symbolik, was er mit<br />

den zahlreichen kirchenmusikalischen<br />

Einsprengseln wie<br />

einem Miserere-Chor und der<br />

auf Vergebung setzenden Politik<br />

des Dogen begründet. Dass<br />

der Mob am Ende des ersten<br />

Aktes als frühchristliches Volk<br />

in bodenlangen Leinengewändern<br />

die Szenerie stürmt und<br />

die unter dem Namen Amelia<br />

Grimaldi auftretende, verschollen<br />

geglaubte Tochter Boccanegras<br />

als Gottesmutter Maria mit<br />

hellblauem Mantel erscheint, ist<br />

dann doch ein wenig plakativ.<br />

Für das Schlussbild des Aktes<br />

schart Simon Boccanegra<br />

wie einst Jesus auf Leonardo<br />

da Vincis Gemälde „Das<br />

Abendmahl“ seine Jünger<br />

an der langen Tafel um sich.<br />

Der Verräter, den Boccanegra<br />

sucht, heißt hier nicht Judas,<br />

sondern Paolo. Für die drastische<br />

Musik Verdis, die den<br />

Fluch des Dogen illustriert, ist<br />

das ein starkes Bild, wenn auch<br />

die Einbindung ins Geschehen<br />

nur begrenzt gelingt und auch<br />

handwerkliche Ungenauigkeiten<br />

auftreten.<br />

Musikalisch gehört die Szene<br />

zum Eindrucksvollsten.<br />

Das neue Ensemblemitglied<br />

Nicholas Brownlee macht mit<br />

seinem dunklen, immer wieder<br />

metallisch gehärteten Bassbariton<br />

aus Paolo Albiani einen<br />

fiesen Günstling, dessen kriminelles<br />

Potential in jeder Phrase<br />

durchschimmert. Seun-Gi Jung<br />

zeichnet Simon Boccanegra<br />

viel weicher, verbindlicher, geschmeidiger.<br />

Jungs feines Legato<br />

erzählt vom Friedenswillen<br />

dieses Herrschers, der am Ende<br />

einem Giftanschlag Paolos zum<br />

Opfer fällt. Barbara Dobrzanskas<br />

mächtiger Sopran, der über<br />

unendliche Reserven verfügt,<br />

macht aus Boccanegras Tochter<br />

Maria (alias Amelia Grimaldi)<br />

eine hochemotionale Frau, die<br />

sich in der düsteren Männerwelt<br />

mit Verve behaupten kann. Marias<br />

Geliebter Gabriele Adorno<br />

(wuchtig: Rodrigo Porras Garulo)<br />

ist da nicht ganz auf Augenhöhe.<br />

Nach der Pause inszeniert<br />

David Hermann das Drama auf<br />

der klug eingesetzten Drehbühne<br />

als dichtes Kammerspiel. Am<br />

Ende kommen die Gegenspieler<br />

Simon Boccanegra und Jacopo<br />

Fiesco (mit schwarzem Bass:<br />

Konstantin Gorny) ein letztes<br />

Mal an einem langen, mit Kerzenleuchtern<br />

und Monstranz<br />

geschmückten Altar zusammen,<br />

ehe der Doge stirbt. Zum<br />

Nachfolger wird Gabriele Adorno<br />

bestimmt. Der Mörder Paolo<br />

ist mit seinem Kumpanen Pietro<br />

(Yang Xu) aber wieder als<br />

Günstling am Start. Geschichte<br />

wiederholt sich.<br />

Die nächsten Vorstellun-gen:<br />

8.2., 20.3., 7./11./29.4., 25.5.<br />

<strong>2018</strong>, Staatstheater Karlsruhe<br />

Georg Rudiger

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