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MEDIAkompakt 23: Exit

Die Zeitung aus dem Studiengang Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart

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2/2018 LIFESTYLE<br />

15<br />

Bild: Katja Großmann<br />

Ein weiter Weg<br />

Die Füße schmerzen, die Wanderschuhe drücken, erste Blasen bilden sich. Hochsommer!<br />

Mitten in der stechenden Mittagssonne geht es über die Pyrenäen zum ersten Etappen-Ziel nach<br />

Roncesvalles, das Ankommende mit der Aufschrift „Santiago de Compostela 700 km“ begrüßt.<br />

VON KATJA GROßMANN<br />

Der Camino Francés ist der älteste und<br />

bekannteste aller Jakobswege und<br />

führt von dem kleinen Örtchen Saint-<br />

Jean-Pied-de-Port in den Pyrenäen<br />

nach Pamplona und durchquert das<br />

gebirgige La Rioja. Weiter geht es durch<br />

Kastillien&Léon, eine weite Meseta-Landschaft<br />

und schließlich nach Galicien.<br />

Die ersten zwei Wochen stellen eine große<br />

körperliche Herausforderung dar, sie bringen den<br />

Körper an seine Grenzen. Ich hatte Wasserblasen,<br />

dauerhaft schmerzende Füße und zum Frühstück<br />

gab es Ibuprofen, sagt Melanie. Erst da wurde ihr<br />

wirklich bewusst, worauf sie sich eingelassen<br />

hatte, erinnert sich die 24-Jährige, die 2011 auf<br />

dem Camino Francés pilgerte. Doch die härteste<br />

Prüfung stellt der Meseta- Streckenabschnitt dar. Er<br />

führt mit unendlichen Weiten und kilometerlangen<br />

schattenlosen Wegen durch die sengende<br />

Hitze Spaniens. Dort kommt auch der Geist an<br />

seine Grenzen. „Es verrinnt Minute um Minute,<br />

Stunde um Stunde, man läuft einfach immer<br />

weiter, ohne klar denken zu können.“ Doch<br />

irgendwann „gewöhnt man sich an das dauernde<br />

Laufen“, erinnert sich Laura. So wurde sie „mit der<br />

Zeit immer ruhiger und hatte Zeit für weitsichtige<br />

Reflexionen“. Sie bewältigte im August 2012 den<br />

ursprünglichsten und technisch anspruchsvollsten<br />

aller Jakobswege, den Camino Primitivo ab<br />

Oviedo, nachdem sie zuvor mehrere andere<br />

Jakobswege erfolgreich hinter sich gebracht hatte.<br />

Viele Pilger erleben, dass Schmerzen und<br />

Verzicht auf Luxus schnell durch Glücksgefühle<br />

ersetzt werden: Die Wahrnehmung ändert sich.<br />

Melanie führte „das einfache Leben eines Pilgers,<br />

das nicht viel forderte, aber einem alles gab“, sagt<br />

sie. Gerade die kleinen Dinge erhielten so einen<br />

ganz anderen Wert. War es für Melanie „frischer<br />

Milchkaffee am Morgen“, freute sich Laura<br />

besonders über das gemeinsame Kochen in der<br />

Herberge, und sie sei stolz über bezwungene<br />

Höhenmeter gewesen. Pilgerten die Menschen<br />

früher, um Gott um Vergebung für ihre Sünden zu<br />

bitten, laufen viele eher aus privaten Erwägungen.<br />

Auf dem Weg nehmen die Menschen sehr schnell die Identität des Pilgers an. Die Jakobsmuschel<br />

dient als offizielles Symbol. So ist die gelbe Muschel auf blauem Grund den Pilgern stets<br />

Wegweiser und entlang der gesamten Strecke in zahlreichen Variationen wieder zu finden.<br />

Zudem stellt sie Talisman und Erkennungszeichen dar, das viele Pilgerrucksäcke ziert. Neben der<br />

Jakobsmuschel tragen alle Pilger den Pilgerpass bei sich. Dabei handelt es sich um ein offizielles<br />

Schriftstück, das den Pilgern Unterkunft in den Herbergen gewährt und gegen dessen Vorlage es<br />

in Santiago die traditionelle Pilgerurkunde den offiziellen Beweis der Pilgerreise gibt.<br />

Sie sehen es als Chance, ihre Lebenssituation zu<br />

überdenken, persönliche Probleme aufzuarbeiten<br />

oder die sportliche Herausforderung zu suchen.<br />

Für Melanie war es eine Möglichkeit, das Leben<br />

fernab von allen Ablenkungen reflektieren zu<br />

können. Für Laura war es der sportliche Anreiz<br />

und das gemeinsame Ziel, auf das man<br />

hingearbeitet hat, durch das sie eine große<br />

Verbundenheit zu ihren Mitpilgern entwickelte.<br />

Besonders beeindruckend sei die Offenheit<br />

aller gewesen, sagt Melanie. Es pilgern Menschen<br />

unterschiedlichster Nationen. Am Etappenziel<br />

angekommen, werde zusammen gesungen, gekocht<br />

oder über das Leben philosophiert. „Auch<br />

wenn man nicht die gleiche Sprache spricht, man<br />

versteht sich trotzdem“. So sitzen am Abend<br />

Menschen zusammen, die sich völlig fremd, aber<br />

durch ihren Weg miteinander verbunden sind –<br />

wie eine große Familie“, schwelgt Melanie in<br />

Erinnerungen. Nach wochenlanger Anstrengung<br />

ist die Ankunft am Ziel der emotionalste und<br />

wichtigste Moment. Auch für Melanie: „Ich betrat<br />

die Kathedrale, das Orgelspiel setzte ein und ich<br />

weinte – eine Stunde lang. Vor Stolz und vor<br />

Freude, es geschafft zu haben. Aber auch vor<br />

Wehmut, dass es nun zu Ende war und ein wenig<br />

auch vor Angst, was zuhause auf mich zukommt.“<br />

Der Jakobsweg ist ein Weg, den jeder auf seine<br />

eigene Art und Weise bewältigt, ob alleine oder in<br />

der Gruppe. Er verändert die Menschen. Nicht<br />

von heute auf morgen, aber Schritt für Schritt,<br />

Kilometer für Kilometer – trotz Schmerzen,<br />

sengender Hitze und Blasen an den Füßen.

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