26.02.2018 Aufrufe

MEDIAkompakt 23: Exit

Die Zeitung aus dem Studiengang Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart

Die Zeitung aus dem Studiengang Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

30<br />

GESELLSCHAFT<br />

mediakompakt<br />

Endstation Grab?<br />

Die Totenruhe stören, um einen<br />

menschlichen Körper nach dem<br />

<strong>Exit</strong>us für Geld zu verkaufen –<br />

das ist eine Praxis mit<br />

historischen Wurzeln, die auch<br />

heute noch ausgeübt wird. Ein<br />

Beitrag über „Knochenjobs”<br />

und unfreiwillige Spender.<br />

VON LAURA DIEMAND<br />

Bild: Pexels.com / Skitterphoto<br />

Ein Gerichtsaal in New Jersey, 2008. Der<br />

Angeklagte im khakifarbenen Hemd hat<br />

soeben auf schuldig plädiert. Er kommt<br />

für mindestens 18 Jahre ins Gefängnis.<br />

Sein Verbrechen? Der frühere Zahnarzt<br />

Michael Mastromarino handelte von 2001 bis<br />

2005 mit Gewebe und Knochen toter Menschen –<br />

ohne dass deren Verwandte zugestimmt hatten.<br />

Versteckt hinter einer bürgerlichen Fassade, hatte<br />

er über Jahre ein millionenschweres Unternehmen<br />

aufgebaut, das sich auf ein Netzwerk<br />

kooperierender Leichenhäuser stützte. Darunter<br />

waren Körperteile von HIV-Infizierten und<br />

Krebs-Toten.<br />

2012 wurde in der Ukraine ein ähnlicher Fall<br />

durch den inländischen Geheimdienst aufgedeckt.<br />

In einem Auto fand man unzählige,<br />

illegal entnommene Leichenteile. Zum Leidwesen<br />

der Angehörigen, sie hatten nur eingewilligt, eine<br />

Achillessehne oder die Hornhaut der Augen zu<br />

spenden. Die damit im Zusammenhang stehende<br />

Firma Tutogen Medical GmbH hat bis heute einen<br />

Sitz in Deutschland. Das Geschäft mit menschlichem<br />

Gewebe verspricht große Gewinne. Laut<br />

dem Magazin „Stern“ betrug der Umsatz 2008<br />

bereits mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr in<br />

den USA. Dies verlockt dazu, auch unlautere Wege<br />

zu gehen.<br />

Diese spektakulären Einzelfälle sind Beispiele<br />

für die wirtschaftliche Nutzung von Leichen. Es<br />

Bild: Pixabay.com / kasperfeyring<br />

gab Zeiten, in denen das Plündern von Toten<br />

geradezu grassierte und noch weitaus<br />

organisierter stattfand. Blicken wir dazu zurück<br />

ins Europa im Zeitalter der Aufklärung.<br />

Tiefe Nacht. Ein Friedhof in einem Städtchen<br />

nahe London, 17. Jahrhundert. Ein schlichter<br />

Holzsarg wird von zwei Männern langsam in die<br />

vorbereitete Grube abgesenkt. Kleine Atemwölkchen<br />

erheben sich vom dunklen Schleier der<br />

stark schluchzenden Frau im mittleren Alter. Das<br />

Grab wird gefüllt. Sie ist die einzige Trauernde am<br />

Grab. Dunkelheit senkt sich über die Friedhofsmauern<br />

auf die Siedlungen. Im Schein des<br />

Mondes ein Rascheln. Dieselbe Frau, nun<br />

ungleich flinker, huscht an Gräbern vorbei über<br />

das Gelände. Gefolgt von zwei kräftigen Gestalten<br />

bleibt sie am frischen Grab stehen, sofort wird d<br />

beginnen die anderen mit höchster Geschwindigkeit<br />

zu graben. Der Sarg kommt zum<br />

Vorschein, wird mit einem dumpfen Knacken<br />

aufgebrochen, ein schlaffer Körper in einen<br />

Leinensack geschoben. Bepackt mit der Last wird<br />

das Trio vom schwarzen Umriss des angrenzenden<br />

Waldes verschluckt.<br />

So oder ähnlich könnte sich ein Leichenraub<br />

in England damals abgespielt haben. Der tote,<br />

noch nicht zu stark verweste Körper eines<br />

verstorbenen Menschen war zu der Zeit sehr<br />

gefragt. Sowohl in den neuen Kolonien als auch in<br />

Europa machte die Medizin und damit die<br />

Chirurgie stetig Fortschritte. Die wachsende<br />

Anzahl an Lehrinstitutionen war mit einem<br />

Mangel an Kadavern fürs Sezieren konfrontiert.<br />

Zu dieser Zeit stammten Körperspenden meist<br />

von Mördern oder anderen Kriminellen. Den<br />

„Sündern“ sollte so die letzte Ruhe verwehrt<br />

werden. Freiwillige Spender unter der gläubigen<br />

Bevölkerung waren selten. Gleichzeitig verwesten<br />

die wenigen Körper viel zu schnell und wurden so<br />

unbrauchbar für die Lehre. Es mangelte an<br />

Mitteln für die Kühlung. Auch die Konservierungsmethoden<br />

waren noch nicht weit genug<br />

fortgeschritten, um den Verfall zu verlangsamen.<br />

In diese makabre Marktlücke traten Leichendiebe,<br />

im alten England auch „Resurrectionists”<br />

oder „Bodysnatchers” genannt. Sie<br />

stahlen Körper aus Friedhöfen und anonymen<br />

Massengräbern der Armen, die sich keine<br />

Bestattung leisten konnten. Die Lehrstühle der<br />

Mediziner zahlten einen guten Preis. Teilweise<br />

wurden Toten zuvor die Haare geschoren und die<br />

Zähne entnommen, um diese an Perückenmacher<br />

und Zahnärzte für Gebisse zu verkaufen.<br />

Manche unglückliche Menschen fanden ihre<br />

letzte Ruhe auf dem Seziertisch, noch bevor man<br />

sie bestattet hatte. Die schottischen Serienmörder<br />

Willliam Burke und William Hare etwa zählen zu<br />

den berüchtigtsten Beispielen für Leichendiebe,<br />

die vom Ausgraben zum Töten übergingen, um<br />

sich die Körper zu verschaffen. Innerhalb des<br />

Jahres 1828 verkauften sie ganze 16 Mordopfer an<br />

einen Lehrenden der Anatomie, bevor man sie<br />

fassen konnte und zum Tode verurteilte.<br />

In der Öffentlichkeit schürten solche Vorfälle<br />

vor allem die Angst unter den Armen. Es<br />

entwickelten sich Methoden zur Abwehr der<br />

Leichendiebe. Wer es sich leisten konnte und<br />

besonders misstrauisch war, ließ in einen eisernen<br />

Gitterkäfig über der Grabstätte des verstorbenen<br />

Familienmitglieds installieren. Für weniger Geld<br />

gab es die Möglichkeit, Wache zu stehen oder die<br />

Körper vor der Bestattung planmäßig soweit<br />

verwesen zu lassen, sodass sich der Diebstahl<br />

nicht mehr lohnen würde.<br />

Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich<br />

reagierte die Politik, es wurden Gesetze erlassen,<br />

die es Familien erleichterten, die Körper ihrer<br />

Verwandten der Wissenschaft zu überlassen.<br />

Außerdem wurde es legal für Mediziner und<br />

Lehrende der Anatomie, Leichen, die niemand zu<br />

seiner Familie zugehörig erklärte, für das Sezieren<br />

zu nutzen. Die Nachfrage nahm ab.<br />

Leichendiebstähle wurden seltener. Durch den<br />

laufenden Fortschritt in der Konservierung von<br />

Körpern konnten in späteren Jahrzenten Subjekte<br />

immer länger für die Lehre genutzt werden.<br />

Wie jedoch die moderne Zeit zeigt, ist es nicht<br />

vollständig zu Ende mit dem Handwerk der<br />

Leichenfledderer. Ein Grab ist immer noch nicht<br />

für alle die Endstation.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!