26.02.2018 Aufrufe

MEDIAkompakt 23: Exit

Die Zeitung aus dem Studiengang Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart

Die Zeitung aus dem Studiengang Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

28<br />

GESELLSCHAFT<br />

mediakompakt<br />

Kein Kaffee-Klatsch<br />

Bild: Sarah Fuchs<br />

Wer als Flüchtling in<br />

Stuttgart ankommt, hat es<br />

oft nicht leicht. Das Café<br />

Nachbarschafft im<br />

Generationenhaus Heslach<br />

ist ein idealer Treffpunkt,<br />

an dem Ehrenamtliche<br />

den Flüchtlingen helfen.<br />

VON SARAH FUCHS<br />

Draußen ist es dämmrig, als sich die Tür<br />

zum Café Nachbarschafft öffnet. Der<br />

Raum ist hell erleuchtet, es herrscht<br />

angenehmes Gemurmel. Doch die<br />

Stimmung ist nicht ausgelassen wie in<br />

einem normalen Café, sondern konzentriert. Hier<br />

wird gearbeitet, nicht Kaffeeklatsch gehalten. An<br />

vielen Tischen sitzen zwei bis drei Personen und<br />

unterhalten sich, auf manchen sind Unterlagen<br />

ausgebreitet. Ein Mann mit dunkler Haut beugt<br />

sich über ein Buch und fährt mit dem Finger über<br />

die Zeilen, die er vorliest. Eine ältere Frau<br />

verbessert ihn: „Neujahr. Das ist der erste Januar,<br />

und das ist ein Feiertag.“ Auf der anderen Seite des<br />

Raumes steht eine Theke, dahinter sitzt ein junger<br />

Mann und unterhält sich mit einer zierlichen Frau<br />

mit Kopftuch. Die Frau trägt ein Namensschild an<br />

der Brust, „Renate, Gastgeberin“ steht darauf.<br />

Renate Vischer ist für die Organisation des<br />

Cafés zuständig und seit März im Freundeskreis<br />

Flüchtlinge Süd aktiv. Mittlerweile gibt es zu jeder<br />

Flüchtlingsunterkunft in Stuttgart einen<br />

Freundeskreis, in dem ehrenamtlich engagierte<br />

Bürgern aktiv sind. An jedem geöffneten Tag des<br />

Café Nachbarschafft übernimmt der Freundeskreis<br />

Süd von 17 bis 20 Uhr den Thekendienst.<br />

In dieser Zeit sind insbesondere Flüchtlinge<br />

willkommen. Ehrenamtliche des Freundeskreises<br />

oder auch andere Freiwillige kümmern sich dann<br />

um Flüchtlinge. Tagsüber ist jeder Besucher<br />

herzlich willkommen. „Der Thekendienst ist in<br />

Teams eingeteilt. Insgesamt sind das 30 bis 35<br />

Ehrenamtliche. Dazu kommen noch sechs<br />

Personen für Sprachunterricht“, erklärt Renate<br />

Vischer. Wenn die Flüchtlinge in Deutschland<br />

ankommen, müssen sie eine Sprachschule<br />

besuchen. Oftmals vermittelt der Unterricht aber<br />

nur Basiswissen, es bleibt wenig Zeit für Übungen.<br />

Um die Lücke zu schließen, kommen die<br />

Flüchtlinge ins Café. Sie bringen die Unterlagen<br />

aus dem Kurs mit. Die Ehrenamtlichen gehen mit<br />

ihnen die Aufgaben durch.<br />

An einem Tisch in der Mitte des Raumes sitzt<br />

eine fröhliche junge Frau mit blonden Locken<br />

und einem strahlenden Lächeln, umringt von<br />

zwei jungen Männern. Sarah ist eigentlich<br />

Lehrerin für Geschichte und Englisch an einem<br />

Gymnasium und engagiert sich seit zwei Jahren<br />

im Café. „Die Sprachhilfe hier mit Flüchtlingen ist<br />

etwas ganz anderes als Schulunterricht“, sagt sie.<br />

„Ich finde es regelrecht entspannend, das ist ein<br />

guter Ausgleich.“ Heute hilft sie Ryad und<br />

Tekeleab bei einigen Aufgaben. Ryad ist ein sehr<br />

kontaktfreudiger Syrer und schreibt prompt<br />

seinen vollen Namen in schönen Druckbuchstaben<br />

auf ein Blatt Papier. Die Worte<br />

sprudeln nur so aus ihm heraus: „Ich lebe seit über<br />

zwei Jahren in Deutschland. Ich will viel Deutsch<br />

lernen und brauche Übung. Und ich brauche<br />

noch Frau. Sind Sie frei?“ Er lacht herzlich und<br />

notiert sofort seine Handynummer auf dem Blatt.<br />

In seiner Heimat war Ryad Krankenpfleger<br />

und er möchte seinen Beruf auch in Deutschland<br />

ausüben. Wenn er den B2-Kurs besteht, darf er ein<br />

Praktikum beginnen. „Es ist nicht einfach mit den<br />

Deutschkursen. Ich musste über ein Jahr warten,<br />

bevor ich einen Kurs machen durfte. Da habe ich<br />

mir im Internet etwas Deutsch beigebracht“,<br />

erzählt Ryad. Mit Sarah geht Ryad ein Heft mit<br />

Fragen für einen Einbürgerungstest durch. Das<br />

Heft trägt den Titel „Leben in Deutschland“ und<br />

umfasst 300 Fragen. Dann steht Sarah auf und sagt<br />

zu Ryad und Tekeleab: „Wir spielen jetzt ein<br />

Spiel.“ Sie geht an die Theke und kommt mit einer<br />

Kiste Papierkarten zurück. Es ist ein<br />

Memory-Spiel. Sarah verteilt die Karten auf dem<br />

ganzen Tisch. Es gibt Karten mit Bildern und<br />

Karten mit Wörtern. Tekeleab ist ziemlich fix bei<br />

dem Spiel und findet schnell den passenden<br />

Begriff zum jeweiligen Bild.<br />

Inzwischen ist der Geräuschpegel im Café<br />

deutlich angestiegen. „Jeder ist willkommen“,<br />

sagt Renate Vischer. „Aber besonders im Winter<br />

haben wir etwas Probleme mit den Obdachlosen.<br />

Da muss man mit Nachdruck die Leute zum<br />

Gehen bitten.“ Nicht nur bei Sprachübungen<br />

helfen die Ehrenamtlichen gerne. Auch wenn es<br />

um Behördengänge oder Wohnungssuche geht.<br />

„Für diese Angelegenheiten gibt es Mitarbeiter,<br />

die sich damit besser auskennen.“<br />

Einige im Café haben mit dem Lernen<br />

aufgehört und unterhalten sich. Sarah versucht<br />

mit unermüdlicher Fröhlichkeit Tekeleab das<br />

Wort „verkaufen“ zu erklären: „Du hast das Wort<br />

kaufen. Vor dem Wort gibt es nur einen einzigen<br />

Parkplatz. Wenn du ver davor stellst, ist der<br />

Parkplatz voll. Du kannst nicht ge-ver-kaufen<br />

machen.“ Alle am Tisch lachen herzlich und Ryad<br />

sagt begeistert: „Ah, so ist das.“<br />

Bild: Sarah Fuchs

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!