E_1929_Zeitung_Nr.074
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74 — <strong>1929</strong> AUTOMOBIL-REVUE 15<br />
HDUOE<br />
ODILE EP<br />
Sie und Er<br />
Di© Gleichberechtigung zwischen Mann<br />
•und Frau wird in jeglicher Hinsicht heute<br />
vielfach als abgeschlossene Tatsache angesehen.<br />
Mag auch die Natur gegen manches<br />
sprechen, was heute als Errungenschaft der<br />
Frau bezeichnet wird, so bleibt doch «Gleichberechtigung»<br />
vorläufig modern. Mit besonderem<br />
Nachdruck wird die Ebenbürtigkeit<br />
der Frau von Dr. Elsa Herrmann verfochten.<br />
Sie meint, das Berufsleben bringe es mit<br />
sich, dass die moderne Frau nicht mehr wie<br />
die Frau vorangegangener Generationen<br />
im Manne den Machthaber erblickt, sondern<br />
ihn als gleichgeordnetes Wesen betrachtet.<br />
Die Frau lernt ihn im Lebenskampf als Ringenden,<br />
Siegenden oder Unterliegenden kennen,<br />
kurz als Menschen, wie sie selbst einer<br />
ist. Damit entfällt der Nimbus, der den Beschützer<br />
umstrahlt; und das Subordinationsgefühl,<br />
das die Schwachen den Starken gegenüber<br />
bedrückt, kann gar nicht erst zur<br />
Entfaltung kommen. Ganz von selber ergibt<br />
sich ein kameradschaftliches Verhältnis der<br />
Geschlechter zueinander. Die neuartige Einstellung<br />
der Frau von heute dem Manne gegenüber<br />
findet ihren äussersten Niederschlag<br />
in der striktesten Ablehnung aller<br />
übernommenen Formen der Höflichkeit. Denn<br />
•unser gesamtes gesellschaftliches Leben regelt<br />
sich heute immer noch nach dem Sittenkodex<br />
aus der Zeit von Kavalier und Dame.<br />
Die heute lebende Generation kann sich<br />
zum Teil noch sehr gut darauf besinnen, dass<br />
bei nicht allzu günstiger Finanzlage der Familie<br />
die Töchter auf ein persönliches Glück<br />
verzichten mussten, um ihren Brüdern eine<br />
liehen Nachkommen des Hauses die Existenz<br />
zu erleichtern: eine nur durch die Vorstellung<br />
der zweckheiligenden Mittel verständliche<br />
Massnahme, weil Frauenerwerbsaribeit an<br />
sich verpönt war, da sie Rückschlüsse auf<br />
das Unvermögen des Familienoberhauptes<br />
zuliess, seinen Unterhaltspflichten vollauf<br />
nachkommen zu können.<br />
Das heutige kameradschaftliche Verhältnis<br />
der Geschlechter zueinander verträgt weder<br />
die eigentliche Ritterlichkeit noch ihre Kehrseite,<br />
die Vernachlässigung der Frau. Die<br />
Frau von heute verlangt keine Gefälligkeit<br />
von einem Manne, die sie ihm gegebenenfalls<br />
nicht selbst erweisen würde. Ihre Auffassung<br />
geht dahin, dass jeder Mensch immer<br />
dem anderen da helfen sollte, wo es<br />
notwendig ist. Deshalb wird beispielsweise<br />
die moderne Frau auch einem (Manne Pakete<br />
abnehmen, wenn er überlastet ist, und wird<br />
für ihn Wege und Besorgungen erledigen,<br />
wenn sie ihm damit einen Dienst erweisen<br />
kann, während die Frau früherer Tage einem<br />
Fremden gegenüber jede derartige Gefälligkeit<br />
mit ihrem Damentum für unvereinbar,<br />
ja für unter ihrer Würde liegend, hielt.<br />
Weil der Frau unserer Tage nichts an der<br />
Hochhaltung formaler Beziehungen zwischen<br />
den Geschlechtern gelegen ist, sondern nur<br />
an der freien, vorurteilslosen Stellung zueinander,<br />
will sie auch im Tram, im Autobus,<br />
in den Wagen der Untergrundbahn usw. einen<br />
Sitzplatz nicht angeboten erhalten, zum<br />
mindesten nicht, bis diese Einrichtungen in<br />
der Lage sind, die von ihnen übernommene<br />
Beförderung reibungslos und menschenwürdig<br />
abzuwickeln. Sie wünscht vielmehr, dass<br />
die ihr zugedachten Aufmerksamkeiten alten,<br />
kranken und gebrechlichen Personen erwiesen<br />
werden. Ja, nicht einmal das «Eingeladenwerden»<br />
durch einen Begleiter ist der<br />
heutigen Frau würdig, da es für sie, die sich<br />
standesgemässe Existenz zu ermöglichen.<br />
Nicht selten haben sie sogar heimlich durch<br />
Handarbeiten Geld verdient, um den männihr<br />
Geld selbst verdient oder sonst unabhängig<br />
ist, sogar unangenehm sein muss, sich<br />
auch nur einen Tee von jemanden bezahlen<br />
zu lassen, dem sie "nicht persönlich — gefühlsmässig<br />
oder verwandtschaftlich —<br />
nahesteht. Sie-fühlt sich durch eine Einladung,<br />
die sie wider Willen annehmen muss,<br />
sogar unfrei und trägt in dieser Stimmung<br />
sicher nicht zur Verschönerung des gemeinsamen<br />
Zusammenseins bei.<br />
Dr. Elsa Herrmann stellt diese Anschauungen<br />
in ihrem Buche «So ist die neue Frau!»<br />
(Ava'lun-Verlag, Hellerau) zur Diskussion.<br />
Das Mütterchen der<br />
Boheme<br />
Gestern ist in München KJati Kobus gestorben.<br />
Eine Frau, so innig mit den berühmten Zeiten der<br />
Münchener Boheme verknüpft, dass wohl auch sie<br />
einen Nachruf verdient. Keinen Künstler gibt es,<br />
keinen Studenten, der — und wäre er auch nur<br />
einen einzigen Tag in München gewesen — sie<br />
nicht gekannt hat, die Hausfrau in der berühmten<br />
Künsüerkneipe, dem jSimplizissimus. Niemand<br />
weiss genau, woher sie kam. Nach Laune pflegte<br />
sie ihre Geschichte zu erzählen, arber das war gar<br />
nicht wichtig. Wesentlich an Kaiti Kobus war<br />
nicht ihre Vergangenheit, sondern immer nur ihre<br />
rundliche Gegenwart, ihr Witz, ihr Sarkiasmus und<br />
ihre ehrliche Kunstbegeisterung. Viele Jahre blieb<br />
sie sich gleich, war dick, gesund, lebhaft und niemals<br />
müde, wenn es galt, in einem Kunststreit<br />
Partei zu ergreifen, wenn es galt, der Sache der<br />
Literatur zu einem Sieg gegen die Spiessbürger zu<br />
verhelfen. Sie war die fürsorgliche Mutter der<br />
Münchener Boheme, sie wax es, die für jeden Literaten,<br />
jungen Musiker, Vortragskünstler, aber<br />
auch für jeden Studenten, den sie liebgewonnen<br />
hatte, Rat und Tat, aber auch ein GJas Wein im<br />
Vorrat hatte.<br />
Im Bieler Strandbad!<br />
Ich erinnere mich der Zeit, schreibt ein ehemaliger<br />
Stammgast des «Simplizissimus» in einem.<br />
Wiener Blatt, da der inzwischen populär gewor-<br />
Mit dem Namen der hochbetagt gestorbenen<br />
Kati Kobus ist untrennbar das Wirken der «Elf dene Dichter und Vortragskünstler Joachim Ringelnatz<br />
bei der Kati Kobus im «Simnlizissimus»<br />
Scharfrichter> verbunden. Ohne sie war der berühmte<br />
Münchener Kreis, den Wedekind, Liliencron,<br />
Falke, Dehmel, Max Halbe. Johannes Ruch, nem Matrosenhabit, den er damals noch aus Ueber-<br />
seine ersten, verrückt-genialen Verse lallte. In sei-<br />
der Maler Holitzer und die vielen anderen bildeten, zeugung trug, stand er, zu einer hilflosen Gliederpuppe<br />
erstarrt, auf der Bühne, bis er, wenn er etwa<br />
nicht voll. Die Münchener Künstlerkneipe «Simplmssimus><br />
weist an ihren Wänden wertvolle Erinnerungen<br />
an diese Zeiten auf, an Maler, Dichter gen Bewegungen auslangte und zu Kati Kobus ewig<br />
seinen «Boxkampf» vortrug, dann plötzlich in ecki-<br />
und Musiker, die heute zum Grossteil schon nicht erneutem Vergnügen eeine imaginären Hiebe verteilte.<br />
Kati Kobus ging während seines Vortrages<br />
mehr leben. Vor Kati Kobus kritischem Auge aber<br />
begannen auch eine ganze Reihe von Kabarettgrässen,<br />
die von ihr zum Teil erst entdeckt wurklärte<br />
jedem einzelnen, was aus diesem Ringelnatz,<br />
unermüdlich von einem Gast zum andern und erden,<br />
sich von ihr gleichsam ausbilden liessen. diesem verrückten Matrosen, noch alles werden<br />
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