02.03.2018 Aufrufe

ArcheTitanic

ArcheTitanic

ArcheTitanic

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Zum Aufführungsrecht<br />

• Das Recht zur Aufführung erteilt der<br />

teaterverlag elgg, CH-3123 Belp<br />

Tel. + 41 (0)31 819 42 09<br />

www.theaterverlage.ch / information@theaterverlage.ch<br />

Montag - Freitag von 09.00 bis 11.30 Uhr & 13.30 bis 17.00 Uhr<br />

• Der Bezug der nötigen Texthefte - Anzahl Rollen plus 1 - berechtigt<br />

nicht zur Aufführung.<br />

• Es sind darüber hinaus angemessene Tantièmen zu bezahlen.<br />

• Mit dem Verlag ist vor den Aufführungen ein Aufführungsvertrag<br />

abzuschliessen, der festhält, wo, wann, wie oft und zu welchen<br />

Bedingungen dieses Stück gespielt werden darf.<br />

• Auch die Aufführung einzelner Teile aus diesem Textheft ist<br />

tantièmenpflichtig und bedarf einer Bewilligung durch den Verlag.<br />

• Bei eventuellen Gastspielen mit diesem Stück, hat die aufführende<br />

Spielgruppe die Tantième zu bezahlen.<br />

• Das Abschreiben oder Kopieren dieses Spieltextes - auch<br />

auszugsweise - ist nicht gestattet (dies gilt auch für<br />

Computerdateien).<br />

• Übertragungen in andere Mundarten oder von der Schriftsprache in<br />

die Mundart sind nur mit der Erlaubnis von Verlag und Verfasser<br />

gestattet.<br />

• Dieser Text ist nach dem Urheberrechtsgesetz vom 1. Juli 1993<br />

geschützt. Widerhandlungen gegen die urheberrechtlichen<br />

Bestimmungen sind strafbar.<br />

• Für Schulen gelten besondere Bestimmungen.<br />

"Es gibt Leute, die ein Theaterstück als etwas "Gegebenes"<br />

hinnehmen, ohne zu bedenken, dass es erst in einem Hirn erdacht,<br />

von einer Hand geschrieben werden musste.“<br />

Rudolf Joho


Kurt Hutterli<br />

Arche Titanic<br />

Ein doppelter Untergang<br />

Besetzung:<br />

Bilder:<br />

2D/ 2H in gesamthaft 12 Rollen<br />

Andeutungsbühne<br />

«Die „Titanic“ ist unsinkbar, die schubst den Brocken doch<br />

einfach zur Seite.»<br />

Die Schriftstellerin Anna Wallau erfindet Figuren für ihr<br />

neues Stück. In ihrem Zimmer wird sichtbar, was sich in ihrer<br />

Vorstellung abspielt: An Bord eines seltsamen Schiffes, halb<br />

Arche, halb „Titanic“, treffen zwei Welten aufeinander. Was<br />

als Traum vom unsinkbaren Schiff und der Errettung vor der<br />

Sintflut beginnt, endet in einer doppelten Katastrophe –<br />

weder Noah noch Kapitän Smith sehen voraus, wohin sie<br />

gemeinsam steuern.<br />

Ein ungewöhnliches Stück, das einen uralten und einen<br />

modernen Mythos auf überraschende Weise miteinander<br />

verbindet.<br />

«Und der Arche kann schliesslich auch nichts passieren, da<br />

sorgt Gott persönlich dafür.»<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

elgger schaulust 23


«Die vorletzten Worte eines beleibten Herrn zum Beispiel, einem beleibten<br />

Herrn gegenüber kurz nach dem Auslaufen ahnungslos<br />

ausgesprochen: Nicht einmal Gottvater wäre imstande, diesen Kahn<br />

zu versenken – wir haben sie nicht gehört. Wir sind tot. Wir wussten<br />

von nichts.»<br />

Hans Magnus Enzensberger, „Der Untergang der Titanic“<br />

Personen<br />

1. Schauspielerin Sie spielt die heutige Schriftstellerin Anna<br />

Wallau, 46jährig, dazu Noahs Frau Lea und die<br />

Financiersgattin Lady Sterling.<br />

2. Schauspielerin Sie spielt die Schriftstellerin Franziska von<br />

Pflungk, im Jahre 1912 23jährig, dazu Noahs<br />

Tochter Rahel, den Bordfotografen Ronald<br />

Flash und den 1. Offizier William Brandy.<br />

1. Schauspieler Er spielt den Versicherungsagenten Harry<br />

Hirsch, den Financier Lord Sterling und den<br />

Kapitän der „Titanic“, Edward J. Smith.<br />

2. Schauspieler Er spielt den Briefträger Robert Althaus und<br />

Noah.<br />

Bühne<br />

Anna Wallau hat ihr Zimmer so eingerichtet, dass es im Spiel auch als<br />

Arche-Wohnküche und „Titanic“-Kabine dienen kann. Möbliert ist es<br />

mit einem runden Tisch, Stühlen, einem Schreibtischchen und einem<br />

Sofa.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

Art des Stückes<br />

Das Stück wird auf einen assoziativ raschen Szenenwechsel und – in<br />

den Szenen, die auf der imaginären Arche Titanic spielen – auf eine<br />

comicartige Überhöhung der Figuren und des Spiels hin angelegt, die<br />

auch an Stilelemente der Commedia dell’arte erinnern kann.<br />

- 2 -


Arche Titanic<br />

Anna Wallau<br />

1. Szene<br />

Wir sehen in das Zimmer von Anna Wallau. Sie<br />

überprüft den Dekor, legt Requisiten bereit, setzt sich<br />

ans Schreibtischchen, blättert in ihrem Manuskript.<br />

Sie heisst Franziska, ist das einzige Kind des Harald<br />

von Pflungk und der Dorothea, geborene von Edelfeldt.<br />

Sie hasst ihren Vater und verachtet ihre Mutter.<br />

Geboren wurde sie am 9. August 1889 in einer schlossähnlichen<br />

Villa in Berlin. Ich kann mir Franziska von<br />

Pflungk so leibhaftig deutlich vorstellen, dass sie in<br />

mein Zimmer tritt, als wäre es ihre Kabine an Bord der<br />

„Titanic“.<br />

Franziska von Pflungk tritt ein, entnimmt ihrem<br />

Gepäck Schreibutensilien, einen Notizblock, Manuskriptseiten,<br />

einen Männeranzug. Sie kleidet sich um,<br />

verwandelt sich in einen Reporter, erprobt dabei<br />

männliche Bewegungsart.<br />

Im April 1912 ist die junge Frau also fast 23jährig.<br />

Schriftstellerin, Dichterin will sie werden, nicht mehr<br />

und nicht weniger. Sie kann, sie will sich nicht als<br />

Kind ihrer Eltern fühlen. Harald von Pflungk stellt in<br />

seinen Fabriken Metallwaren her für den täglich<br />

Gebrauch, von der Schere bis zur Kanone, wie er sagt,<br />

und er hört es gern, wenn von ihm als dem Erz-Baron<br />

die Rede ist. So richtig hasst ihn seine Tochter erst seit<br />

ihrem siebzehnten Lebensjahr. Da war er nach einem<br />

feucht-fröhlichen Herrenabend vor ihr Bett getorkelt<br />

und hatte sie unbedingt umarmen wollen.<br />

Sie hatte sich diesem stinkigen, ekelhaft klebrig<br />

feuchten, schnaufenden Satyr entwinden können, sich<br />

in die Toilette geflüchtet und gekotzt. Das hatte sie ihm<br />

ja auch ins Gesicht geschrien, dass er zum Kotzen sei.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 3 -


Anna Wallau<br />

Und wie ihre Mutter will sie auf gar keinen Fall<br />

werden: eine saftlose Zierpflanze im Schatten eines<br />

selbstherrlichen Gatten, ein dekoratives Anhängsel,<br />

dessen Glanz mit den Jahren verblasst. Sie hat keine<br />

Skrupel, immer noch auf Kosten ihres Vaters zu leben.<br />

Als Weihnachtspräsent hat sie sich von ihm ein Ticket<br />

für die Jungfernfahrt der „Titanic“ schenken lassen.<br />

Luxuskabine erster Klasse, versteht sich. Schmerzensgeld<br />

nennt sie die grosszügigen elterlichen Zuwendungen.<br />

Sie will ein undankbares Biest sein. Alles<br />

andere schiene ihr verlogen. Und hier, an Bord des<br />

Prunkschiffes, das schon jetzt den Übernamen<br />

„Liebling der Millionäre“ trägt, will sie ihr erstes<br />

Theaterstück schreiben: „Arche Titanic“. Die „Titanic“<br />

ist für sie der Inbegriff des ewigen Männertraums von<br />

Erfolg, Reichtum, Ruhm und Macht, Macht vor allem:<br />

ein Kristallisationspunkt männlicher Überhebung. Aus<br />

Lust auf freche Parodie verkleidet sich die junge Frau<br />

als Reporter, um dieses Schiff der Schiffe zu erkunden,<br />

sich einzustimmen auf die Arbeit an ihrem boshaften<br />

Text.<br />

Franziska von Pflungk verlässt ihre Kabine. Anna<br />

Wallau hängt ein Fell in den Türrahmen und grobe<br />

Tücher an die Wände. Auf das Sofa legt sie eine<br />

handgewebte Decke orientalischer Art. Dann stellt sie<br />

eine Schüssel mit Stössel auf den Tisch, schüttet aus<br />

einem Säcklein Hirsekörner hinein. Sie verlässt den<br />

Raum, löscht das Licht.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 4 -


Arche Titanic<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

2. Szene<br />

Wir sehen in die Wohnküche von Noahs Arche.<br />

Franziska/Rahel tritt ein, geht zum Tisch, rückt die<br />

Schüssel zurecht, beginnt die Hirse zu zerstossen.<br />

Anna/Lea stellt sich an den imaginären Herd, feuert<br />

ein, macht sich ans Kochen.<br />

Wir haben doch allen Grund dankbar zu sein, Kind!<br />

Ich weiss, ich weiss.<br />

Wir sind die Einzigen, die diese Sintflut überleben<br />

dürfen, wir sind auserwählt. Begreifst du überhaupt,<br />

was das bedeutet, von Gott auserwählt zu sein?<br />

Mutter, kannst du dir vorstellen, wie die Welt aussieht,<br />

wenn wir aus der Arche steigen?<br />

Der Anblick wird schlimm sein; aber gemessen am<br />

Schicksal all jener, die jetzt draussen am Ertrinken<br />

sind...<br />

schluchzt auf. O Silpa, Aram, Dina – das ist so<br />

gemein, die sind doch nicht schlechter als wir – warum<br />

sollen die sterben, und wir, wir bleiben am Leben?<br />

Gottes Ratschluss ist unergründlich.<br />

grübelnd. Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, sie zu<br />

retten.<br />

Gott hat entschieden, und wir haben uns zu fügen.<br />

Es bräuchte Mut, aber...<br />

Versündige dich nicht, Kind!<br />

unbeirrt. Wir könnten alle an Deck gehen und Gott<br />

drohen...<br />

Rahel!<br />

Und ihm drohen, wir würden gemeinsam über Bord<br />

springen, wenn...<br />

entsetzt. Der Böse ist in dich gefahren!<br />

...wenn er die Sintflut nicht sofort rückgängig mache.<br />

packt Rahel, schüttelt sie. Du bist von Sinnen, Rahel,<br />

du willst Gott erpressen!<br />

Vielleicht hat Gott die Besinnung verloren.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 5 -


Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

- 6 -<br />

Du weisst nicht, was du sprichst, du stürzest uns alle<br />

ins Verderben, Gott wird...<br />

Gott ist jetzt auf uns angewiesen, wenn es mit seiner<br />

Schöpfung weitergehen soll.<br />

sinkt auf die Knie. Hör nicht, was sie sagt, gütiger<br />

Gott, es sind nicht ihre Worte, die Schlange spricht aus<br />

ihr!<br />

Wenn meine Mutter Dich schon anruft, dann sag ihr<br />

doch auch gleich, wo Du gewesen bist, als mein Vater<br />

mich zu sich aufs Lager zerrte.<br />

Halte Dir die Ohren zu, gnädiger Gott! – Wie oft muss<br />

ich es dir noch wiederholen, Kind: Männer sind nun<br />

einmal so, und wir Frauen können uns nicht früh genug<br />

daran gewöhnen.<br />

Gott ist auch ein Mann.<br />

Was willst du damit sagen?<br />

Dass eine Fraugott mich vor meinem Vater geschützt<br />

hätte und dass eine Himmelsmutter es nicht übers Herz<br />

brächte, ihre Kinder zu ersäufen.<br />

Barmherziger Gott, sag mir doch, wie ich ihr den<br />

Dämon austreiben kann!<br />

Wir brauchen die Männer nicht, Mutter, es reicht,<br />

wenn wir Frauen auf Deck steigen. Wir geben uns die<br />

Hand, rufen in den Himmel: Von einem Mördergott<br />

lassen wir uns das Leben nicht schenken! Einem Gott,<br />

der seine eigene Schöpfung ersäuft, wollen wir keine<br />

Kinder gebären! Wir springen über Bord, wenn Du die<br />

Wasser nicht sofort sinken lässt!<br />

verzweifelt. Grosser Gott im Himmel, befreie meine<br />

Tochter vom bösen Geist, der sie quält! Geht hinaus.<br />

Franziska/Rahel füllt die zerstossene Hirse in eine<br />

Schale. Anna/Lea kommt aufgeregt zurück.<br />

Da hat uns Gott prompt schon eine erste Warnung<br />

geschickt: Der Elefantenbulle hat einen fürchterlichen<br />

Durchfall. Das arme Tier ist schon ganz schrumpelig.<br />

kühl. Über Bord mit ihm!<br />

Rahel! Das ist doch nicht dein Ernst!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Franz./Rahel<br />

Anna/Lea<br />

Arche Titanic<br />

Ein Elefant mit Durchfall ist eine Fehlkonstruktion.<br />

Schreit. Und Fehlkonstruktionen haben kein Anrecht<br />

auf Rettung!<br />

Beruhige dich, Kind, du bist krank, du fieberst.<br />

Ja, ich bin krank. Ich höre Silpa um Hilfe rufen, ich<br />

sehe, wie sich Aram an einen Baumstamm klammert,<br />

wie Dina in den Wellen versinkt. Ich halte das nicht<br />

aus, ich bin eine Fehlkonstruktion, ich will mich von<br />

einem solchen Gott nicht retten lassen! Wechselt<br />

unvermittelt den Ton, sagt fast beiläufig sachlich.<br />

Gegen Durchfall hilft Pappelholzkohle. Hoffentlich<br />

haben wir genug mit, um einen Elefanten zu kurieren.<br />

Ich schaue rasch in der Medizinkammer nach. Geht ab.<br />

Armes Kind. Seit Noah ihr beigelegen hat, ist sie ganz<br />

durcheinander. – Ach ja, die Schmetterlinge! Vor<br />

lauter Aufregung hätte ich fast das Honigwasser für die<br />

Schmetterlinge vergessen. Mischt ein Töpfchen<br />

Honigwasser.<br />

tritt ein, verstört. Ich kann die Medizinkammer nicht<br />

mehr finden. Da ist plötzlich eine Tür aus Erz, die habe<br />

ich aufgestossen, und dahinter ist eine Treppe, die<br />

windet sich wie ein Schneckenhaus hinauf, und an den<br />

Wänden schweben Kugeln, die wie kleine Sonnen<br />

leuchten.<br />

seufzt. Der Dämon, mein Kind, er vernebelt dir den<br />

Geist!<br />

Licht aus.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 7 -


3. Szene<br />

Wir sehen ins Zimmer von Anna Wallau. Sie arbeitet<br />

am Schreibtischchen. Die Türglocke klingelt. Anna<br />

Wallau geht öffnen, führt den Versicherungsagenten<br />

Harry Hirsch ins Zimmer.<br />

Anna Wallau Ach, ich war so sehr ins Schreiben vertieft, dass ich<br />

unser Rendezvous ganz vergessen hatte.<br />

Harry Hirsch Das tut mir aber leid, dass ich Sie aus Ihrer Arbeit<br />

herausreisse. Soll ich vielleicht besser ein andermal...<br />

Anna Wallau Nein. Sie können ja wirklich nichts dafür. Nehmen Sie<br />

bitte Platz!<br />

Harry Hirsch Wie gesagt, wir fänden bestimmt einen anderen<br />

Termin. Schliesslich ist die Frage der Altersvorsorge<br />

für eine freischaffende Autorin eine zu wichtige<br />

Angelegenheit, als dass ich... dass wir...<br />

Anna Wallau Schon gut, bitte! Weist ihm einen Stuhl zu. Beide<br />

setzen sich an den Tisch. Harry Hirsch öffnet sein<br />

Aktenköfferchen, breitet Papiere aus. Vielleicht sind<br />

Sie zu einem günstigeren Zeitpunkt gekommen, als ich<br />

im ersten Augenblick dachte.<br />

Harry Hirsch Wie meinen Sie das?<br />

Anna Wallau Vielleicht ist eine Unterbrechung an diesem Punkt<br />

meiner Arbeit gar nicht so ungünstig.<br />

Harry Hirsch Woran arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?<br />

Anna Wallau Sie dürfen, Herr Hirsch. An einem Theaterstück.<br />

Harry Hirsch An einem Theaterstück? Ich liebe Theater. Vor allem<br />

Volksstücke und Operetten.<br />

Anna Wallau Das verwundert mich nicht.<br />

Harry Hirsch Nicht wahr, wer den Blick dafür hat, entdeckt sofort<br />

meinen musischen Kern, durch die Versicherungsagentenschale<br />

hindurch, gewissermassen.<br />

Anna Wallau Genau so ist es.<br />

Harry Hirsch Ist Ihr Stück eine Komödie oder eine Tragödie, wenn<br />

Sie mir diese Frage erlauben?<br />

Anna Wallau Ich erlaube. Eine Tragikomödie.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 8 -


Arche Titanic<br />

Harry Hirsch Ausgezeichnet. Im Hinblick auf Ihre Altersvorsorge –<br />

ich habe da übrigens, ausgehend von Ihrer bisherigen<br />

finanziellen Situation einen, glaube ich, ganz vernünftigen<br />

Vorschlag errechnet – also im Hinblick auf<br />

Ihre Altersvorsorge finde ich es sehr begrüssenswert,<br />

wenn Sie aufs Lachen und aufs Weinen bauen.<br />

Anna Wallau Ich stelle mir eine junge Schriftstellerin vor, die das<br />

Theaterstück schreibt, das ich mir vorstelle. Versinkt<br />

in ihre Gedanken, hört Harry Hirsch immer weniger<br />

zu.<br />

Harry Hirsch Hochinteressant. Wirklich vielversprechend! An Einfällen<br />

scheint es Ihnen ja vorläufig noch nicht zu<br />

fehlen. Vielleicht knüpfen wir hier am besten gleich<br />

mit Ihrer am Telefon geäusserten Frage an, ob sich das<br />

Risiko eines Imaginationsverlustes durch den Abschluss<br />

einer entsprechenden Versicherung abdecken<br />

lasse. Leider nicht, muss ich Ihnen da sagen, Frau<br />

Wallau, auch wenn ich persönlich durchaus Verständnis<br />

für Ihre Ansicht aufbringen kann, dass ein partieller<br />

oder gar totaler Verlust der Imaginationsfähigkeit für<br />

eine Schriftstellerin einer teilweisen oder gänzlichen<br />

beruflichen Invalidität gleichkommt. Ohne Ihnen im<br />

Geringsten etwas in dieser Richtung unterstellen zu<br />

wollen, muss ich doch darauf hinweisen, dass eine<br />

sogenannte Imaginationverlust-Versicherung wohl<br />

allzu leicht zu missbrauchen wäre. Denn wie sollte der<br />

Versicherer mit Sicherheit feststellen können, ob ein<br />

vom Versicherungsnehmer gemeldeter partieller oder<br />

totaler Imaginationsverlust tatsächlich – und wenn ja:<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

ob definitiv oder nur temporär – eingetreten ist oder<br />

eben nur behauptet wird.<br />

Es tut mir leid, Ihnen in diesem Zusammenhang einen<br />

enttäuschenden Bescheid geben zu müssen; doch wie<br />

gesagt, was Ihre Altersvorsorge betrifft, sehe ich da<br />

durchaus eine Möglichkeit, die, Ihrer jetzigen finanziellen<br />

Situation Rechnung tragend, für Sie eine...<br />

- 9 -


Anna Wallau<br />

- 10 -<br />

Anna Wallau plötzlich wieder ganz präsent. Sie interessieren sich<br />

fürs Theater, haben Sie gesagt?<br />

Harry Hirsch überrumpelt. Ja, doch, ja, vor allem eben für Volksstücke,<br />

für...<br />

Dann sind Sie entschieden im richtigen Augenblick<br />

gekommen.<br />

Harry Hirsch vollständig aus dem Konzept gebracht. Das... da bin<br />

ich natürlich froh, dass ich Ihnen nicht... aber ich weiss<br />

nicht... ich meine, wie meinen Sie das?<br />

Anna Wallau Ich brauche Sie.<br />

Harry Hirsch Das freut mich aufrichtig. Findet wieder zum<br />

geschäftlichen Ton zurück. Und dazu ist es vernünftig<br />

von Ihnen. Unsere Versicherungsanstalt bietet Ihnen<br />

nämlich Gewähr für eine optimale Vorsorge.<br />

Anna Wallau Ich brauche Sie im Stück, das ich meine junge Autorin<br />

auf der „Titanic“ schreiben lasse.<br />

Harry Hirsch Mich? In Ihrem Stück? Ausgerechnet auf der<br />

„Titanic“? Das war doch eine Versicherungskatastrophe,<br />

dieses Schiff, da sind die Risiken, die eine<br />

freischaffende Schriftstellerin für unsere Versicherungsgesellschaft<br />

bedeutet, daneben gleich Null, selbst<br />

wenn sie – wie soll ich sagen, wenn sie...<br />

Anna Wallau Ebenfalls untergehen sollte?<br />

Harry Hirsch So hätte ich das selbstverständlich nicht ausgedrückt.<br />

Sie haben ja einen Humor, Frau Wallau! – Also, ich<br />

meine... ich muss zugeben, die Schauspielerei... das ist<br />

schon ein alter Wunschtraum von mir.<br />

Anna Wallau Ich habe es gleich gespürt, als Sie durch die Tür traten.<br />

Harry Hirsch Wirklich?<br />

Anna Wallau Ja. – Sie sind also bereit?<br />

Harry Hirsch Sie sehen mich tatsächlich in Ihrem Stück?<br />

Anna Wallau Unbedingt.<br />

Harry Hirsch Also in diesem Fall... die Frage ist mir überaus<br />

peinlich, aber Sie müssen verstehen, die Aufregung...<br />

Anna Wallau Fragen Sie ungeniert, Herr Hirsch!<br />

Harry Hirsch Darf ich... darf ich rasch Ihre Toilette benutzen?<br />

Anna Wallau Selbstverständlich, Herr Hirsch. Im Flur draussen die<br />

zweite Tür links.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Harry Hirsch<br />

Anna Wallau<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Arche Titanic<br />

Vielen Dank. Geht hinaus.<br />

Womit ich hier im Hinblick auf Ihren Einsatz ein paar<br />

Vorkehrungen treffen kann. – Herr Hirsch, Sie sind<br />

eindeutig im richtigen Moment aufgetaucht! Räumt<br />

Hirschs Unterlagen weg, verwandelt ihr Zimmer mit<br />

wenigen Requisiten in die „Titanic“-Luxuskabine<br />

von Lord und Lady Sterling. Zuletzt schiebt sie einen<br />

Rollstuhl in den Raum, geht hinaus, löscht das Licht.<br />

Man hört die Klo-Spülung.<br />

4. Szene<br />

Wir sehen in die Luxuskabine der Sterlings auf der<br />

„Titanic“. Harry Hirsch/Lord Sterling sitzt im<br />

Rollstuhl, Anna Wallau/Lady Sterling tritt zu ihm,<br />

stellt einen Drink bereit.<br />

Es muss ein erhebendes Gefühl sein, als Kapitän ein<br />

solches Schiff, d a s Schiff, wenn ich so sagen darf, zu<br />

befehligen.<br />

Bestimmt – wenn im Hintergrund der rechte Mann mit<br />

dem rechten Unternehmergeist und der entsprechenden<br />

Finanzkraft steht.<br />

provokativ. Stand, Darling, stand – seit einem Jahr<br />

sitzest du im Rollstuhl. Überreicht ihrem Mann ein<br />

Glas, hebt das zweite hoch. Auf die „Titanic“ und<br />

ihren wagemutigen Kapitän Edward Smith! Wie ich<br />

seine Kühnheit bewundere!<br />

Die „Titanic“ ist unsinkbar.<br />

aggressiv. Willst du damit sagen, irgendein Kapitänchen<br />

könnte mit diesem Schiff das Blaue Band...<br />

Meine Liebe, wir wissen genau, weshalb wir die<br />

„Titanic“ unserem geschätzten Smith anvertraut haben.<br />

mit einem schwärmerischen Augenaufschlag. Eben!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 11 -


Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

- 12 -<br />

gereizt. Du kannst ihn ja dann in New York gleich auf<br />

einen Denkmalsockel stellen, deinen bewunderten<br />

Smith!<br />

Du hast recht, Liebling – er wird dem berühmten John<br />

Brunelli nach unserer Ankunft Modell stehen.<br />

Wie ich den Meister kenne: splitternackt!<br />

Warum auch nicht, bei einem solchen Körperbau!<br />

Smith selbst sähe wohl lieber dich als barbusige<br />

Galionsfigur am Bug der „Titanic“. Aber die Zeiten der<br />

Galionsweiber sind genauso vorbei wie die der<br />

tollkühnen Kapitäne! Ein unsinkbarer Luxusdampfer<br />

wie die „Titanic“ ist eben keine abenteuerliche Fregatte<br />

mehr. Das grosse Abenteuer müssen wir bei einem<br />

solchen Schiff nicht auf der Fahrt suchen, das grosse<br />

Abenteuer findet bei einer „Titanic“ nicht auf hoher<br />

See statt, sondern in den Sitzungszimmern der<br />

Unternehmer und Bankiers. Und der wirkliche Held<br />

einer „Titanic“ steht nicht breitbeinig und vollbärtig<br />

auf der Kommandobrücke.<br />

Sondern hockt glattrasiert und zittrig in einem<br />

Rollstuhl.<br />

Dein Spott kann mich nicht treffen, Mary. Ich weiss,<br />

was ich geleistet habe, ich weiss, dass ich meine<br />

Gesundheit aufs Spiel gesetzt, mein Leben riskiert<br />

habe, damit die Menschen schnell, bequem und absolut<br />

sicher den Atlantik überqueren können.<br />

Ich weiss, ich weiss: ein moderner Held des<br />

Fortschritts stirbt an einem Herzinfarkt. Und ich bin<br />

mir durchaus bewusst, dass die Welt dieses Wunder<br />

von einem Schiff dem kapitalistischen Wagemut des<br />

Finanzgenies Lord Sterling verdankt. Wenn nach der<br />

triumphalen Ankunft der „Titanic“ ein Denkmal<br />

gesetzt werden soll, dann – dann stellen wir einen<br />

Geldsack in einem Rollstuhl auf den Sockel.<br />

Wenn du meinst, du könnest mich damit verletzen,<br />

täuschst du dich gründlich! Ich nehme den Geldsack im<br />

Rollstuhl ganz einfach nicht persönlich, sondern<br />

symbolisch: Das Kapital ist es, das den Fortschritt zum<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Arche Titanic<br />

Rollen bringt. Das Geld ist der Vater aller Dinge, ist<br />

die Kraft, die uns vorwärtstreibt.<br />

Anna/Lady bösartig, pathetisch. Es hat mich in deine Arme<br />

getrieben, es ist auch der Vater unserer Liebe, mein<br />

Schatz! – Wunderbar, diese Glut auf dem Meer! Wir<br />

fahren in den Sonnenuntergang.<br />

Harry/Lord Auf einem Schiff, das nicht untergehen kann – ein<br />

beruhigender Gedanke.<br />

Anna/Lady tritt hinter den Rollstuhl, nimmt dabei<br />

ihrem Mann das Glas ab.<br />

Anna/Lady Schauen wir gemeinsam aufs Meer hinaus! Bringt den<br />

Rollstuhl in eine entsprechende Position, entnimmt<br />

ihrem Kleid ein Döschen, streut rasch ein Pulver ins<br />

Glas ihres Mannes. Ein Bild, das man festhalten<br />

müsste, festhalten muss: Der Vater der „Titanic“ blickt<br />

zukunftsgläubig in den Sonnenuntergang. Drückt<br />

ihrem Mann das Glas wieder in die Hand. Ich hole<br />

den Bordfotografen. Geht ab.<br />

Harry/Lord Sie weiss genau, wie ich diese Ablichterei hasse, seit<br />

ich an den Rollstuhl gefesselt bin! Trinkt das Glas in<br />

einem Zug leer. Anna/Lady und Franziska/Flash<br />

treten ein.<br />

Anna/Lady stellt vor. Ronald Flash, diplomierter Bordfotograf –<br />

mein Mann, Lord Sterling, Vater der „Titanic“<br />

gewissermassen. Mit einem befriedigten Lächeln<br />

nimmt sie ihrem Mann das leere Glas aus der Hand.<br />

Franz./Flash verbeugt sich knapp. Es ist mir eine grosse Ehre und<br />

ein echtes Vergnügen, Mylord.<br />

Harry/Lord Und mir ist es ein Greuel!<br />

Franz./Flash stellt seinen Apparat auf, ungerührt. Die beste<br />

Voraussetzung für eine eindrückliche Aufnahme.<br />

Übringens: Wissen Mylord, wer der erste Kapitän aller<br />

Zeiten gewesen ist?<br />

Harry/Lord Das dürfte kaum auszumachen sein, schliesslich geht<br />

die Schifffahrt...<br />

Franz./Flash Die Antwort ist ganz einfach und eindeutig, Mylord,<br />

sie steht in der Bibel: Noah auf seiner Arche.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 13 -


Harry/Lord<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Franz./Flash<br />

Harry/Lord<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Franz./Flash<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

- 14 -<br />

lächelt fast. Nicht schlecht. Den werde ich dem guten<br />

Smith bringen.<br />

Stellen Sie sich vor, wir hätten auch so einen Zoo an<br />

Bord – vom Floh bis zum Elefanten, je ein Pärchen!<br />

Ein Lächeln huscht über Lord Sterlings Gesicht,<br />

Flash löst den Fotoblitz aus. Ein historisches Bild,<br />

absolut epochal! Danke, Mylord!<br />

Sie sind ein Glückspilz, Flash, die Zeitungen werden<br />

sich um das Bild reissen. Es wird mit ihrem Namen um<br />

die Welt gehen. Sie sind ein gemachter Mann.<br />

Ich weiss nicht, wie ich Ihnen danken soll, verehrteste<br />

Lady.<br />

Ich kann Sie beruhigen: Ich wüsste es an Ihrer Stelle<br />

auch nicht.<br />

Wenn Sie den Apparat schon aufgestellt haben,<br />

machen Sie doch gleich noch ein Bild von mir und<br />

meiner Frau. Das können Sie bestimmt auch glänzend<br />

verkaufen.<br />

Sie verwöhnen mich, Mylord!<br />

Ich will Ihnen das Noah-Witzchen honorieren. Bringen<br />

Sie meiner Frau Gemahlin einen Stuhl. Flash beeilt<br />

sich. Komm, setz dich zu mir, Darling. Lady Sterling<br />

tut es, beide lächeln gezwungen.<br />

drückt ab. Bezaubernd – ein solches Bild sagt mehr<br />

aus als viele Worte!<br />

Sie legen mir die ersten Abzüge sofort zur Beurteilung<br />

vor.<br />

Selbstverständlich, Mylady. Packt seine Ausrüstung<br />

zusammen. Mylady, Mylord, ich ziehe mich in die<br />

Dunkelkammer zurück. Verbeugt sich knapp, geht ab.<br />

sein Gesicht verkrampft sich. Liebling, ich...<br />

Lady Sterling lässt sich aufs Sofa fallen.<br />

Ja, Charles?<br />

Ich... das heisst, meine Blase, ich sollte...<br />

Wenn ich an unseren Kapitän denke...<br />

Ruf bitte Edna, ich muss dringend... und dazu ist mir<br />

schwindlig, ich möchte...<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Lord<br />

Anna/Lady<br />

Franziksa<br />

Anna Wallau<br />

Arche Titanic<br />

rekelt sich lustvoll. Es gibt Körper, die nackt verewigt<br />

werden müssten – so elegant hat er das zu mir gesagt,<br />

gestern beim Tanz.<br />

Mary, ich bitte dich, wenn du nicht sofort das<br />

Mädchen... ich kann nicht länger, ich muss sonst...<br />

Ich fühle seine Lippen auf meinem Busen, meine Hand<br />

spürt seinen Leuchtturm, der in die Nacht meines<br />

Schosses dringen wird...<br />

zuckt auf. Du Hure, du Hexe – eine solche Schlange<br />

habe ich aus dem Bordell gerettet, ich Narr, ich... ich<br />

werde dich enterben, du gemeine Fotze, in der Gosse<br />

sollst du wieder landen, du... du... Stöhnt auf, schaut<br />

erschrocken auf seine nasse Hose, sinkt in sich<br />

zusammen.<br />

erhebt sich. Oje, mein Schlappschwänzchen hat vor<br />

Aufregung in die Hose gepisst. Zum Glück sind die<br />

Fotografien schon gemacht. – Mich gerettet, hast du<br />

vorhin gesagt? In deinen Besitz hast du mich<br />

genommen!<br />

wimmert. Ich bitte dich, ruf Edna, du kannst mich doch<br />

nicht so...<br />

Natürlich nicht, Charles! Edna wird dich waschen und<br />

ins Bett legen. Von jetzt an wirst du Windeln brauchen,<br />

Liebling.<br />

Licht aus.<br />

5. Szene<br />

Wir sehen ins Zimmer von Anna Wallau. Sie sitzt am<br />

Schreibtischchen, blättert in ihrem Manuskript,<br />

notiert etwas auf ein Blatt. Franziska von Pflungk<br />

tritt ein, im Negligé. Sie kommt offensichtlich aus<br />

dem Badezimmer ihrer Luxuskabine. Sie entdeckt<br />

Anna Wallau.<br />

Was erlauben Sie sich da? Wie kommen Sie überhaupt<br />

in meine Kabine?<br />

Indem ich sie mir vorstelle.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 15 -


Franziksa Wie bitte?<br />

Anna Wallau Ihre „Titanic“-Luxuskabine ist ein Produkt meiner<br />

Imagination, meiner Vorstellungskraft. Wie Sie selbst<br />

ja auch, Frau Pflungk!<br />

Franziksa Sie wollen damit sagen, dass Sie mich erfunden haben?<br />

Anna Wallau Spielen Sie doch nicht plötzlich die Ahnungslose!<br />

Franziksa Lassen wir das. – Aber Sie hätten mich wenigstens<br />

fragen dürfen!<br />

Anna Wallau Ob es erlaubt sei, in die Kabine einzutreten, die ich für<br />

Sie erfunden habe?<br />

Franziksa Ob sie m i c h erfinden dürften! Die Kabine ist<br />

Nebensache.<br />

Anna Wallau Als hätte ich die Wahl gehabt! Sie haben sich mir<br />

aufgedrängt!<br />

Franziksa Ich mich Ihnen aufgedrängt? Sie erfinden mich, ohne<br />

dass Sie mich um meine Erlaubnis gebeten hätten, und<br />

haben dann noch die Unverfrorenheit zu behaupten, ich<br />

hätte mich Ihnen aufgedrängt?<br />

Anna Wallau Ich habe Sie erfinden müssen, weil ich für die Niederschrift<br />

dieses Theatertextes Ihre Optik brauche – ich<br />

muss den Stoff durch Ihre Augen sehen!<br />

Franziksa I h r Stück? Durch m e i n e Augen? M e i n Stück ist<br />

das – ach so, langsam komme ich Ihnen auf die<br />

Schliche: Sie haben mich erfunden, um einen billigen<br />

Ghostwriter zu haben!<br />

Anna Wallau Was ich mir von Ihnen, über Sie, durch Sie für meinen<br />

Text verspreche, ist Ihre Unverblümtheit, die saloppe<br />

Frechheit, mit der Sie die Figuren und Situationen<br />

comicartig reduzieren.<br />

Franziksa Vielleicht haben Sie die Güte, mir zu erklären, w i e<br />

ich Figuren und Situationen reduziere? „Komisch<br />

artig“ habe ich verstanden, und das macht in meinen<br />

Augen keinen Sinn.<br />

Anna Wallau Comicartig! – Ach ja, natürlich, das kann für Sie 1912<br />

noch gar nichts bedeuten. – Ist Ihnen die italienische<br />

Commedia dell’arte ein Begriff?<br />

Franziksa Das hängt doch ganz von Ihnen ab!<br />

Anna Wallau Wie meinen Sie das?<br />

- 16 -<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Arche Titanic<br />

Franziksa Sie haben mich erfunden. Sie entscheiden, ob, und falls<br />

ja, wieviel ich von der Commedia dell’ arte weiss.<br />

Anna Wallau Ich habe Sie zwar erfunden, aber ich gestehe Ihnen<br />

durchaus Eigenständigkeit, Eigenleben zu.<br />

Franziksa D e n Gefallen erweise ich Ihnen nicht!<br />

Anna Wallau Welchen Gefallen?<br />

Franziksa während das Licht auf der Bühne langsam<br />

schwächer wird. Dass Sie sich für die Schöpferin eines<br />

eigen-ständigen Wesens halten könnten. – Nein, ich bin<br />

und bleibe Ihr Produkt, das Sie erfunden haben, um<br />

über mich leichter zu Ihrem Text zu kommen. Dass Sie<br />

mich erfunden haben, ist das Eingeständnis, dass Sie<br />

ange-sichts des Abgrunds, vor dem Sie stehen, mit<br />

Ihren eigenen sprachlichen Mitteln nicht mehr zurechtkommen.<br />

Sie spüren ganz genau, dass Sie nur noch mit<br />

sprunghafter Leichtfüssigkeit auf die unerträgliche<br />

Schwere der Situation reagieren können.<br />

Sie brauchen mich als Stimulans für Ihre Phantasie, als<br />

Jungbrunnen; Sie wollen durch mich Ihren runzelig fad<br />

psychologisierenden Stil straffen, bis Ihre Figuren so<br />

scharf umrissen, so frech typisiert, so schnell und grell<br />

sind wie Comic-Helden.<br />

Anna Wallau Der Begriff „Comic“ ist Ihnen plötzlich vertraut?<br />

Franziksa Ich habe von einem Augenblick gedanklicher<br />

Unachtsamkeit Ihrerseits profitiert und mich in Ihrem<br />

Kopf selbst bedient. Und ich verschwinde jetzt in der<br />

Dunkelheit Ihres ermüdeten Hirns.<br />

Das Licht auf der Bühne erlischt.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

6. Szene<br />

Wir sehen in die Luxuskabine der Sterlings.<br />

Anna/Lady Sterling liegt auf dem Sofa.<br />

Harry/Kapitän Smith steht daneben und kraut sich<br />

unschlüssig im silbergrauen Vollbart.<br />

- 17 -


Harry/Smith Entschuldigen Sie bitte, ich bin ganz verwirrt. Das ist<br />

ja so unfassbar... kann ich Ihnen noch...<br />

Anna/Lady Sie können mir noch etwas Gesellschaft leisten, ja. Das<br />

ist bestimmt das Beste für meine Nerven. Harry/Smith<br />

setzt sich zögernd auf einen Stuhl. Anna/Lady<br />

schmachtend. Ob Sie mir aus dieser Entfernung<br />

genügend Trost spenden können?<br />

Harry/Smith erhebt sich, nimmt den Stuhl auf,<br />

nähert sich damit der Lady.<br />

Harry/Smith Sie meinen? Es klopft. Er bleibt ruckartig stehen.<br />

Anna/Lady Herein!<br />

Franziska/1.Offizier Brandy tritt ein, ist sichtlich<br />

erregt.<br />

Franz./Brandy Mein Kapitän! Salutiert, erblickt erst jetzt Lady<br />

Sterling. Entschuldigen Sie, Mylady, ich wollte nicht<br />

stören! Salutiert zu Lady Sterling hinüber. Also, ich...<br />

Wendet sich wieder dem Kapitän zu. Ist Ihnen<br />

bekannt, dass wir einen Zoo an Bord haben?<br />

Harry/Smith sehr bestimmt. Brandy, ich bitte Sie! Verschonen Sie<br />

uns mit solchen Spässen!<br />

Franz./Brandy beleidigt. Das ist kein Spass, mein Kapitän! Auf<br />

meinem Kontrollgang bin ich plötzlich auf eine grob<br />

gezimmerte Tür gestossen. Ich öffne sie – ein ätzender<br />

Gestank und wildes Fauchen schlagen mir entgegen.<br />

Harry/Smith scharf. Sie wissen genau, dass im Dienst ein striktes<br />

Alkoholverbot gilt!<br />

Franz./Brandy Ich versichere Ihnen, dass ich hundertprozentig<br />

nüchtern bin!<br />

Harry/Smith Eine grob gezimmerte Tür, ätzender Gestank, wildes<br />

Fauchen auf der „Titanic“? Sie halluzinieren, mein<br />

guter Brandy!<br />

Franz./Brandy Ich schwöre Ihnen, ich habe...<br />

Harry/Smith Falls Sie wirklich nicht getrunken haben, lassen Sie<br />

sich sofort von Doktor Maugham untersuchen! Ein Zoo<br />

an Bord, so ein Hirngespinst!<br />

Anna/Lady amüsiert. Schauen Sie doch auf dem Weg zum<br />

Untersuchungszimmer gleich noch einmal nach,<br />

- 18 -<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Arche Titanic<br />

vielleicht ist die seltsame Tür inzwischen verschwunden.<br />

Franz./Brandy gekränkt. Jawohl, Mylady. Ich werde gleich noch<br />

einmal nachschauen, ganz genau nachschauen werde<br />

ich, und zwar h i n t e r der Tür! Salutiert zweimal.<br />

Mylady, mein Kapitän, ich melde mich ab.<br />

Smith quittiert den Gruss. Lady Sterling schüttelt<br />

lächelnd den Kopf.<br />

Harry/Smith Was ist heute bloss in der Luft? Ihr Herr Gemahl bricht<br />

zusammen, mein 1. Offizier dreht durch.<br />

Anna/Lady verführerisch. Am besten schliessen Sie jetzt die Tür<br />

ab, mein lieber Smith!<br />

Harry/Smith Sie meinen? Geht zögernd zur Tür.<br />

Anna/Lady rekelt sich auf dem Sofa. Sie haben mich doch trösten<br />

wollen, Edward?<br />

Harry/Smith Ich… natürlich möchte ich...<br />

Anna/Lady ungeduldig. So drehen Sie doch endlich den Schlüssel<br />

und setzen Sie sich zu mir! Ich bin Ihre Galionsfigur.<br />

Knöpft ihre Bluse auf.<br />

Smith starrt sie wie gebannt an, dreht den Schlüssel,<br />

macht zwei Schritte auf sie zu. Es klopft. Smith fährt<br />

zusammen. Lady Sterling bedeutet ihm, die Tür nicht<br />

zu öffnen. Man hört die verzweifelte Stimme des 1.<br />

Offiziers.<br />

Franz./Brandy Lady Sterling! Mein Kapitän! Es ist entsetzlich. Sie<br />

müssen sofort kommen! Augenblicklich! Unbedingt!<br />

Anna/Lady Erhebt sich enttäuscht, knöpft die Bluse zu. Da bleibt<br />

uns wohl nichts anderes übrig.<br />

Smith öffnet die Tür, Brandy stürzt aufgelöst in die<br />

Kabine.<br />

Franz./Brandy Mylady, Ihr Herr Gemahl... ich glaube... ich fürchte, er<br />

ist tot!<br />

Anna/Lady theatralisch. O Gott, was geht mir und der Welt an<br />

diesem Mann verloren! Sie taumelt, Smith fängt sie<br />

auf.<br />

Harry/Smith erschüttert. Es darf nicht wahr sein – ausgerechnet e r<br />

auf der Jungfernfahrt der „Titanic“!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 19 -


Anna/Lady<br />

Reichen Sie mir den Arm, Kapitän! Smith tut es. Wir<br />

holen den Pfarrer.<br />

Sie gehen Arm in Arm ab.<br />

Licht aus.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 20 -


Arche Titanic<br />

7. Szene<br />

Wir sehen ins Zimmer von Anna Wallau. Sie sitzt am<br />

Schreibtischchen, ist in ihr Manuskript vertieft.<br />

Harry Hirsch hat auf dem runden Tisch wieder seine<br />

Versicherungsunterlagen ausgebreitet.<br />

Harry Hirsch Sie haben ja eine Art, einen in ihren Text hineinzuziehen,<br />

Frau Wallau – von einem drohenden Imaginationsverlust<br />

ist jedenfalls noch nicht die leiseste Spur<br />

zu bemerken!<br />

Anna Wallau schaut kurz auf. Das beruhigt mich, Herr Hirsch.<br />

Harry Hirsch Wenn ich Sie auch habe darauf hinweisen müssen, dass<br />

keine Versicherungsanstalt – und selbst unsere als<br />

grosszügig bekannte Gesellschaft kann da leider keine<br />

Ausnahme machen – dass also kein Versicherer eine<br />

Police anbieten kann, die das Risiko eines partiellen<br />

oder totalen Imginationsverlustes abdeckt, so gäbe es<br />

insofern doch eine Möglichkeit, einen solchen Fall<br />

gewissermassen abzufedern, indem wir eine Rente ins<br />

Auge fassen, die zu einem Zeitpunkt ausbezahlt würde,<br />

in welchem nach menschlichem Ermessen zumindest<br />

ein Nachlassen der Imaginationskraft wahrscheinlich<br />

sein könnte. Diesen Zeitpunkt müssten allerdings Sie<br />

selbst als Versicherungsnehmerin... Er hat sich so sehr<br />

in einen Eifer hineingeredet, dass er erst jetzt<br />

bemerkt, dass Franziska von Pflungk, als Reporter<br />

verkleidet, ins Zimmer getreten ist. Harry Hirsch<br />

verstummt perplex. Franziska von Pflungk zieht den<br />

Männeranzug aus, hüllt sich in einen Morgenrock.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

Harry Hirsch blickt ratlos zwischen ihr und Anna<br />

Wallau hin und her.<br />

Harry Hirsch Entschuldigen Sie vielmals, ich habe überhaupt nicht<br />

bemerkt... Sie hätten mir das wirklich unbedingt<br />

rechtzeitig sagen sollen, dass Sie Besuch erwarten,<br />

Frau Wallau. Das ist mir jetzt natürlich überaus<br />

peinlich, ich... wenn ich mich vorstellen darf? Steht<br />

- 21 -


auf. Franziska von Pflungk nimmt von ihm<br />

überhaupt keine Notiz.<br />

Anna Wallau Frau von Pflungk kann Sie als Harry Hirsch nicht<br />

wahrnehmen, weil... ja, weil ich es ganz einfach nicht<br />

vorgesehen habe.<br />

Harry Hirsch versteht die Welt nicht mehr. Sie haben es ganz<br />

einfach nicht vorgesehen? Setzt sich aufs Sofa, lockert<br />

die Krawatte.<br />

Anna Wallau unbeirrt. Frau von Pflungk erkundet zwischendurch<br />

die „Titanic“.<br />

Harry Hirsch Ach so, ja, natürlich, die „Titanic“. Reibt sich die<br />

Augen, erschrickt nachträglich. Die „Titanic“ haben<br />

Sie eben gesagt?<br />

Anna Wallau Ja. Und dass Frau Pflungk die Männer parodiert, hat<br />

damit zu tun, dass sie dieses Schiff – aber am besten<br />

lese ich Ihnen vor, was sie über die „Titanic“ in ihr<br />

Tagebuch eingetragen hat. Sucht die Manuskriptseite<br />

hervor.<br />

Harry Hirsch Aha, in ihr Tagebuch. Das ist bestimmt sehr<br />

aufschlussreich. Zieht ein Taschenspiegelchen hervor,<br />

betrachtet sich darin, schneidet Grimassen, klemmt<br />

sich in die Wange.<br />

Anna Wallau zitierend. Männliche Hybris hat diesen Koloss in sich<br />

selbst gezeugt und aus sich selbst heraus geboren. Er<br />

ist ein Eunuch. Doch er wird gigantische Brüder<br />

bekommen, die voll perverser Lust aus unzähligen<br />

Stahlpenes Tod und Verderben ejakulieren.<br />

Harry Hirsch in Panik. Entschuldigen Sie bitte, Frau Wallau, mir ist<br />

so... ich... ich habe plötzlich so etwas wie... Ringt nach<br />

Luft. ...wie Atemnot, ich... Beginnt zu hecheln.<br />

Anna Wallau erhebt sich ganz ruhig vom Schreibtischchen. Ich<br />

werde Sie auf den Balkon hinaus begleiten.<br />

Harry Hirsch stossweise. Es tut mir ja so leid... und ist mir überaus<br />

peinlich... dass Sie meinetwegen... solche Umstände<br />

haben, aber ich... ich weiss wirklich nicht, wie... wie...<br />

Anna Wallau hilft ihm auf die Beine. Kommen Sie, Herr Hirsch, die<br />

frische Luft wird Ihnen gut tun. Führt ihn aus dem<br />

- 22 -<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Arche Titanic<br />

Zimmer, kommt zurück, hält Noahs Rock und<br />

Wallebart in den Händen. Es läutet. Sie legt Rock<br />

und Bart aufs Sofa, öffnet die Wohnungstür. Der<br />

Briefträger Robert Althaus streckt ihr einen Brief<br />

entgegen.<br />

Anna Wallau Guten Tag, Herr Althaus, Sie kommen wie gerufen.<br />

Robert Althaus Freut mich, Frau Wallau, das zeigt doch wieder einmal,<br />

dass die Post besser ist als ihr Ruf. – Eingeschrieben.<br />

Zieht Buch und Kugelschreiber aus der umgehängten<br />

Ledertasche, schlägt das Buch auf. Ich bitte um Ihr<br />

wertes Autogramm. – Sie haben also auf den Brief<br />

gewartet?<br />

Anna Wallau unterschreibt, betrachtet dann den Briefumschlag.<br />

Nicht eigentlich. Von der Krankenkasse. Ich habe wohl<br />

die letzte Prämienrechnung übersehen. – Treten Sie<br />

bitte ein, Herr Althaus.<br />

Robert Althaus verblüfft. Wie meinen Sie?<br />

Anna Wallau nimmt ihn am Arm, zieht ihn mit sich ins Zimmer.<br />

Ohne Sie wären wir jetzt nämlich in einen personellen<br />

Engpass geraten.<br />

Robert Althaus Ich verstehe nicht... das heisst, Sie müssen verstehen,<br />

ich habe unbedingt noch weitere Briefe... Schlägt mit<br />

seiner Hand auf die Umhängetasche.<br />

Anna Wallau Besetzungsschwierigkeiten. Nimmt ihn bei beiden<br />

Händen.<br />

Robert Althaus erschrocken. Aber doch nicht einfach so... wie soll ich<br />

sagen... so am helllichten Tag!<br />

Anna Wallau lacht. Keine Angst, Herr Althaus, ich werde Sie nicht<br />

vergewaltigen. Schauen Sie mir in die Augen! Er<br />

schluckt verlegen, blickt sie kurz an, wendet den Kopf<br />

zur Tür. Ich habe es doch richtig geahnt: In Ihnen<br />

schlummert ein schauspielerisches Talent.<br />

Robert Althaus geschmeichelt. Nun... also... Schauspielerei kann man<br />

das natürlich nicht gerade nennen, aber es ist doch so,<br />

dass ich jedes Jahr an Weihnachten bei mehreren<br />

Familien als Sankt Nikolaus auftrete.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 23 -


Anna Wallau<br />

So etwas spüre ich sofort. Sie sind für Rollen mit<br />

langen Bärten wie geboren! Nimmt ihm die Tasche ab<br />

und überreicht ihm Noahs Bart.<br />

Licht aus.<br />

8. Szene<br />

Wir sehen in die Wohnküche von Noahs Arche.<br />

Franziska/Brandy stiehlt sich in den Raum, eine<br />

Hand an der Pistolentasche. Er schaut sich halb<br />

ängstlich, halb neugierig um, versteckt sich dann<br />

unter dem Tisch. Robert/Noah tritt auf, streicht<br />

seinen Patriarchenbart glatt, mischt sich einen<br />

Stärkungs-trank.<br />

Robert/Noah Vergib mir, Herr, dass ich manchmal so kleingläubig<br />

bin und mir Sorgen mache um meine Tochter! – Eine<br />

gewundene Treppe wie ein Schneckenhaus und eine<br />

eherne Tür! Dabei hat sie die Medizinkammer später ja<br />

gefunden. Und trotzdem behauptet sie weiter – wo<br />

steckt sie eigentlich so lange? Sicher sucht sie wieder<br />

diese blöde Erztür. Schlürft den Trank.<br />

Anna/Lea tritt unter die Tür, freudig. Dem Elefantenbullen geht<br />

es ganz offensichtlich besser. Eben hat er einen<br />

wohlgeformten Haufen produziert.<br />

Robert/Noah Ich danke Dir, Herr! Wie habe ich um dieses Tier<br />

gebangt und gezittert. – Ja? Hält die Hand ans Ohr,<br />

lauscht nach oben.<br />

Anna/Lea Was hörst du?<br />

Robert/Noah verzückt. Gott hat mir so nett „Bitte schön!“ gesagt.<br />

Franziska/Brandy kriecht mit gezückter Pistole unter<br />

dem Tisch hervor.<br />

Franz./Brandy Wir haben nicht nur einen Zoo, wir haben gleich auch<br />

noch ein Irrenhaus an Bord! Richtet die Pistole auf<br />

Noah.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 24 -


Robert/Noah<br />

Arche Titanic<br />

zu Tode erschrocken, während Lea blitzartig hinter<br />

dem Sofa in Deckung geht. O Gott, wir haben den<br />

Teufel an Bord, er hat sich aus der Sintflut zu uns<br />

gerettet!<br />

Franz./Brandy Halt! Hände hoch, oder ich schiesse!<br />

Robert/Noah<br />

Herr, stehe mir bei, auf dass ich ihn... Greift nach<br />

einem Messer, Brandy gibt einen Warnschuss ab,<br />

Noah erschrickt fürchterlich.<br />

Franz./Brandy Ich habe Sie gewarnt! Hände hoch!<br />

Robert/Noah Es gibt keinen Zweifel mehr: Es ist der Böse, der Blitze<br />

aus seinen Fingern schleudert. Gott, was soll ich tun,<br />

ich... Hält langsam die Arme hoch.<br />

Franz./Brandy Los, stellen Sie sich gegen die Wand! Während er<br />

Noah gegen die Wand treibt, greift Lea beherzt nach<br />

einem Stössel, schleicht sich an Brandy heran,<br />

betäubt ihn mit einem Schlag auf den Kopf.<br />

Robert/Noah aufatmend. Gott hat deinen Arm geführt, mein Weib!<br />

Anna/Lea Ich glaube, ich habe da ganz allein zugeschlagen.<br />

Robert/Noah aufgeregt. Rasch, ein Seil, wir müssen den Teufel<br />

fesseln, bevor er wieder zu sich kommt! Lea reicht<br />

ihm ein Seil, sie fesseln Brandy, setzen ihn gegen die<br />

Wand. Noahs Blick fällt auf die Pistole. Wir sollten<br />

wohl die Blitzschleuder sicherheitshalber entfernen.<br />

Bückt sich, richtet sich wieder auf, zu Lea. Vielleicht<br />

ist es besser, wenn du mit deinen feinen Händen...<br />

Lea zögert, nimmt die Pistole schliesslich behutsam<br />

auf. Aber pass auf, wer weiss, vielleicht kann dieses<br />

Teufelszeug auch ohne sein Dazutun losgehen! Lea<br />

legt die Pistole auf den Tisch. Decke sie mit einer<br />

Schale zu! Lea tut es. Noah schaut sich den<br />

gefesselten Brandy genau an. – So sieht Satan also in<br />

natura aus. Entsetzlich! Am besten hängen wir ihm<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

gleich den kleineren Mühlstein um den Hals und<br />

werfen ihn über Bord.<br />

Franz./Brandy kommt wieder zu sich, Noah und Lea schrecken<br />

zurück. Wer zum Teufel seid ihr beiden?<br />

- 25 -


Robert/Noah Da haben wir die Bescherung! Zu Lea. Es ist wohl<br />

klüger, wenn du mit deiner sanften Stimme uns bei ihm<br />

vorstellst.<br />

Anna/Lea Das ist Noah, und ich bin seine Frau Lea.<br />

Franz./Brandy Blinde Passagiere also, Schausteller nehme ich an. Es<br />

nimmt mich ja wunder, wie ihr euch mit euerer<br />

Menagerie habt an Bord der „Titanic“ schmuggeln<br />

können!<br />

Robert/Noah baut sich mutig auf. Im Namen Gottes, des<br />

Allmächtigen, fahre aus meiner Arche, böser Geist!<br />

Franz./Brandy O Gott, er ist wahnsinnig!<br />

Robert/Noah perplex. Er wagt es, den Namen Gottes in den Mund zu<br />

nehmen? Dann ist er etwa doch nicht der Leibhaftige?<br />

Franz./Brandy begreift den Zusammenhang sofort. Mein grosser<br />

Gott und Vater im Himmel, errette mich aus den<br />

Händen dieses gottlosen Wüterichs, amen!<br />

Robert/Noah schaut unschlüssig zu Lea. Dann kann es ihn doch<br />

nicht sein. Lea zuckt mit den Schultern. Wer bist du<br />

denn, dass du dich an Bord meiner Arche hast retten<br />

können und dass du über ein Werkzeug verfügst, dass<br />

Blitz und Donner schleudert?<br />

Franz./Brandy Ich bin William Brandy, 1. Offizier auf der „Titanic“.<br />

Robert/Noah „Titanic“? Ist das auch ein Schiff?<br />

Franz./Brandy stolz. Das schnellste, sicherste und komfortabelste<br />

Schiff der Welt.<br />

Robert/Noah Ich beginne zu verstehen: Gott hat in einem fernen<br />

Land noch ein zweites Schiff bauen lassen, und das ist<br />

jetzt gesunken, und du hast dich zu uns – aber warum<br />

bist du nicht nass?<br />

Franz./Brandy beleidigt. Weil du gar nichts verstehst! Gesunken, die<br />

„Titanic“? So ein geschmackloser Witz! Doch ich<br />

werde dir alles erklären, sobald du mir die Fesseln<br />

abgenommen hast.<br />

Noah blickt wieder unschlüssig zu Lea.<br />

Robert/Noah Vielleicht ist es besser, wenn du mit deinen zarten<br />

Händen...<br />

Anna/Lea Wie du meinst. Befreit Brandy, wickelt das Seil auf.<br />

- 26 -<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Arche Titanic<br />

Franz./Brandy rappelt sich auf, streicht sich die Uniform glatt,<br />

salutiert. Ich danke Ihnen, meine Dame! Zu Noah.<br />

Und Ihnen, Herr Noah, kann ich eigentlich nur<br />

mitteilen, dass Sie sich aus für mich noch<br />

unerfindlichen Gründen an Bord der „Titanic“<br />

befinden.<br />

Robert/Noah Der Schlag auf den Kopf muss Sie verwirrt haben, Herr<br />

– wie haben Sie nur schon gesagt?<br />

Franz./Brandy Brandy, William Brandy, 1. Offizier auf der „Titanic“.<br />

Robert/Noah Also, Herr William Brandy, vormals 1. Offizier auf der<br />

„Titanic“, ich sage Ihnen hiermit im Namen Gottes: Sie<br />

befinden sich an Bord der Arche. Der Allmächtige hat<br />

Sie aus mir noch unerfindlichen Gründen mit uns<br />

zusammen vor der Sintflut gerettet. Brandy vermisst<br />

seine Pistole, blickt suchend um sich. Sie suchen wohl<br />

Ihre Blitzschleuder. Wir haben... das heisst, wir<br />

wussten nicht so recht... Hebt die Schale auf dem<br />

Tisch.<br />

Franz./Brandy behändigt seine Pistole, sichert sie, steckt sie ins<br />

Halfter zurück. Zum Glück haben Sie damit keine<br />

Dummheiten angestellt!<br />

Robert/Noah Aber wo denken Sie hin, Herr 1. Offizier?!<br />

Franz./Brandy Wie wäre es, wenn wir jetzt zusammen dem Herrn<br />

Kapitän Smith unsere Aufwartung machen würden?<br />

Robert/Noah Kapitän Smith?<br />

Franz./Brandy Ja. Er ist der oberste Chef hier an Bord.<br />

Robert/Noah Aha, ich verstehe – Gott hat viele Namen.<br />

Licht aus.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

9. Szene<br />

Wir sehen in die Luxuskabine der Sterlings.<br />

Anna/Lady Sterling, ganz in Schwarz, bedeckt den<br />

Tisch mit einem schwarzen Tuch, stellt eine<br />

- 27 -


Anna/Lady<br />

Harry/Smith<br />

Anna/Lady<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Franz./Flash<br />

Harry/Smith<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Franz./Flash<br />

Anna/Lady<br />

Harry/Smith<br />

Anna/Lady<br />

sargförmige Schachtel und Trauerflor darauf. Dann<br />

überprüft sie im Spiegel ihr Make-up, bringt<br />

Retuschen an. Auf dem Schreibtischchen liegen<br />

Anna Wallaus Manuskript, ein paar unbeschriebene<br />

Blätter und Schreibzeug.<br />

Kapitän Smith hat nicht übertrieben: Die „Titanic“ ist<br />

wirklich für jeden Todesfall ausgerüstet – Särge<br />

verschiedener Preisklassen, Kunstblumengebinde,<br />

Trauerflor. Kein Bestattungsinstitut auf dem Festland<br />

könnte eine grössere Auswahl bieten. Es klopft.<br />

Herein!<br />

Harry/Smith und Franziska/Flash treten ein.<br />

mit Trauerbinde am Arm. Sollen wir, Mylady?<br />

Bitte, ich bin bereit.<br />

Mylady, ich möchte Ihnen mein tiefempfundenes<br />

Beileid ausdrücken.<br />

Danke, Herr Bordfotograf.<br />

Ja, wer hätte das gedacht: Kaum habe ich Sie voll<br />

Lebensglück auf die Platte gebannt, und schon...<br />

Es ist unvorstellbar traurig, Mylady!<br />

Lady Sterling beugt sich theatralisch schluchzend<br />

über die Sargschachtel.<br />

unsicher. Dann wollen wir also gleich?<br />

Je rascher, je lieber!<br />

Ich beeile mich. Stellt den Apparat auf. Lady Sterling<br />

beugt sich noch tiefer über die Sargschachtel.<br />

So?<br />

Absolut ergreifend! Nur den Kopf nicht zu stark<br />

senken, sonst... Genau so! Blitzt, wechselt die Platte.<br />

Darf ich sicherheitshalber noch eine zweite Aufnahme<br />

machen?<br />

Bitte. Und eine dritte dann zusammen mit dem Herrn<br />

Kapitän. Schliesslich ist er...<br />

Es blitzt, Flash wechselt die Platte.<br />

zögert. Ich weiss nicht, ich...<br />

Kommen Sie, mein lieber Smith. Mein Mann ist Ihnen<br />

im Leben so verbunden gewesen!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 28 -


Arche Titanic<br />

Harry/Smith tritt neben sie an die Sargschachtel. Ich verdanke ihm<br />

so unendlich viel!<br />

Anna/Lady wankt. Halten Sie mich! Smith tut es. Drücken Sie ab,<br />

Herr Bordfotograf.<br />

Es blitzt.<br />

Franz./Flash Absolut erschütternd!<br />

Anna/Lady Und jetzt bitte ich die beiden Herren, mich mit meinem<br />

Mann allein zu lassen.<br />

Harry/Smith Sie werden ungestört bleiben, solange Sie es<br />

wünschen, Mylady. Salutiert.<br />

Anna/Lady Ich danke Ihnen für Ihr feinfühliges Verständnis. Zu<br />

Flash. Sie legen mir dann die ersten Abzüge wie<br />

gewohnt zur Beurteilung vor.<br />

Franz./Flash Selbstverständlich, Mylady!<br />

Smith und Flash gehen ab, Lady Sterling wartet, bis<br />

die Schritte im Gang verhallt sind.<br />

Anna/Lady zu ihrem toten Mann in der Sargschachtel. Aus dem<br />

lebenden Stück Aas ist jetzt ein totes Stück Aas<br />

geworden. Und dass ich bei dieser Verwandlung ein<br />

wenig habe nachhelfen müssen, ist gewiss nicht meine<br />

Schuld. Hättest du mir nicht mit meiner Enterbung<br />

gedroht! Reine Notwehr ist es gewesen, mein Lieber.<br />

Ich musste dir das Pülverchen ins Glas streuen. Du hast<br />

mir keine andere Wahl gelassen. Aus der Hölle des<br />

Bordells habest du mich gerettet, hast du dich immer<br />

wieder gebrüstet – so nimm es jetzt für ein Zeichen der<br />

Dankbarkeit, dass ich dich ins Paradies befördert habe.<br />

Lacht böse. Oder bist du etwa nicht dort gelandet? Hat<br />

dich der Teufel geschnappt, weil du mich immer wie<br />

eine Hure behandelt hast, weil für dich alle Menschen<br />

Huren gewesen sind, du Ekel, du verdammtes<br />

Scheusal, du himmeltrauriger Geldsack?! Bald wird die<br />

bessere Gesellschaft auf diesem Schiff an dir<br />

vorbeiziehen, dir die letzte Ehre erweisen – als ob du<br />

überhaupt je eine gehabt hättest! Und dann werden wir<br />

dich im Kühlraum unten aufs Eis legen, du widerlicher<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 29 -


Fleischklumpen, bis dich die amerikanischen Würmer<br />

fressen können!<br />

Die Tür wird aufgerissen. Franziska/Rahel tritt mit<br />

zerzaustem Haar und wildem Blick ein, hält eine<br />

Heugabel in der Hand; Lady Sterling fährt auf, stösst<br />

einen Schrei aus.<br />

Anna/Lady O Gott, der Leibhaftige! Weicht zurück. Verschone<br />

mich, ich bin ja weissgott auch kein Engel, aber er... er<br />

hat mich... Franziska/Rahel macht ein paar Schritte<br />

auf die Sargschachtel zu, starrt sie an. Ja, spiess ihn<br />

nur auf deine Gabel, brat ihn im Höllenfeuer, er hat es<br />

wahrhaftig verdient! Stürzt an Rahel vorbei zur Tür<br />

hinaus, schreit durch den Gang. Der Teufel holt ihn,<br />

endlich holt ihn der Teufel! Bricht in ein irres<br />

Gelächter aus. Rahel steht wie angewurzelt vor der<br />

Sargschachtel. Smith stürmt in den Salon.<br />

Harry/Smith Stehenbleiben! Rahel weicht zurück, hält die<br />

Heugabel abwehrend vor sich. Ich tue Ihnen nichts,<br />

junge Dame. Seien Sie doch vernünftig und werfen Sie<br />

dieses Ding da weg! Rahel blickt ihn verstört an, hält<br />

die Heugabel umklammert. Wo haben Sie überhaupt<br />

dieses gefährliche Instrument her? Rahel starrt ihn<br />

unverwandt an. Sie sind doch nicht etwa eine... ich<br />

meine, Sie sind doch bei Sinnen, mein Kind, Sie... Sie<br />

haben es doch nicht auf die Leiche von Lord Sterling<br />

abgesehen? Zieht rasch eine Pistole aus seiner<br />

Jackentasche, versteckt sie auf dem Rücken. Sagen<br />

Sie doch endlich etwas!<br />

Franz./Rahel stossweise. Ich... auf Deck... Ausschau habe ich halten<br />

wollen... ob sich die Sintflut endlich senke, habe ich<br />

nachschauen wollen, und da...<br />

Harry/Smith Ausschau wollten Sie halten, mit dieser Gabel in der<br />

Hand?<br />

Rahel nickt.<br />

Franz./Rahel Die habe ich mitgenommen, weil ich... damit ich mich<br />

notfalls... Ängstlich. ...bist du ein Racheengel oder bist<br />

Du gar... Gott selbst?<br />

- 30 -<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


Harry/Smith<br />

Franz./Rahel<br />

Harry/Smith<br />

Franz./Rahel<br />

Harry/Smith<br />

Franz./Rahel<br />

Harry/Smith<br />

Franz./Rahel<br />

Harry/Smith<br />

Franz./Rahel<br />

Harry/Smith<br />

Franz./Rahel<br />

Anna Wallau<br />

Arche Titanic<br />

unterdrückt ein erstauntes Lachen. Ich bin nur der<br />

Kapitän dieses Schiffes. Lässt die Pistole wieder in<br />

seine Jackentasche gleiten.<br />

Aber dieses Schiff gehört doch meinem Vater!<br />

Ihrem Vater?<br />

Ja, meinem Vater Noah. Und wir haben viele Tiere an<br />

Bord, von jeder Sorte ein Paar.<br />

zu sich selbst. Dann hätte Brandy mit seinem<br />

Tierfauchen und dem Mistgestank doch Recht gehabt?<br />

Wo steckt er eigentlich die ganze Zeit? Zu Rahel. Wie<br />

sind Sie denn mit all den Tieren an Bord der „Titanic“<br />

gekommen?<br />

„Titanic“?<br />

Ja, so heisst unser Schiff, der schnellste, sicherste und<br />

komfortabelste Luxusdampfer der Welt.<br />

schüttelt energisch den Kopf. Unser Schiff heisst nicht<br />

so, unser Schiff heisst Arche!<br />

Aha. Und Ihr Vater ist also ebenfalls an Bord?<br />

Ja, meine Mutter auch.<br />

Ausgezeichnet, mein Fräulein. Dann würde ich fürs<br />

Erste gern mit Ihrem Herrn Vater sprechen. Wenn Sie<br />

die Güte haben, mich unverzüglich mit ihm bekanntzumachen...<br />

Komplimentiert sie mit einer entsprechenden<br />

Geste zur Tür hinaus.<br />

zögernd. Wenn ich mich in den Gängen nur nicht<br />

wieder verirre! Beide gehen ab. Anna Wallau tritt ein,<br />

setzt sich ans Schreibtischchen, ordnet die Manuskriptseiten,<br />

nimmt ein unbeschriebenes Blatt und<br />

einen Bleistift. Sie denkt nach, beginnt zu schreiben,<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

spricht halblaut.<br />

Flash schleicht in die Kabine. Er hält Abzüge seiner<br />

Fotos in der Hand, nähert sich auf den Zehenspitzen<br />

dem Sarg, spricht den Toten an:<br />

Entschuldigen Sie die Störung, Mylord, aber ich<br />

möchte meine Fotografien diesmal Ihnen und nicht<br />

Ihrer Frau zur Beurteilung vorlegen. Ja, Sie haben jetzt<br />

so viel Distanz zu allem, Sie werden ein objektiver<br />

- 31 -


Franz./Flash<br />

Begutachter sein. Ich habe Ihnen... Während sie<br />

spricht und schreibt, tritt Franziska/Flash ein. Anna<br />

Wallau bemerkt ihn, verstummt, schreibt wie ihn<br />

Trance weiter.<br />

Entschuldigen Sie die Störung, Mylord, aber ich<br />

möchte meine Fotografien diesmal Ihnen und nicht<br />

Ihrer Frau zur Beurteilung vorlegen. Ja, Sie haben jetzt<br />

so viel Distanz zu allem, Sie werden ein objektiver<br />

Begutachter sein. Öffnet die Sargschachtel, hält die<br />

Fotos darüber. Da haben Sie noch gelebt, Mylord, und<br />

– sehen Sie – Ihre Frau hat hinter Ihrem Rücken dem<br />

Kapitän mehr als nur schöne Augen gemacht! –<br />

Irgendwie beneide ich Sie um die Ruhe, die Sie jetzt<br />

haben. Sie brauchen sich um nichts mehr zu kümmern.<br />

All diese Verlogenheit und Selbstsucht, all diese<br />

miesen Geschäfte, diese ganze stinkfeine Gesellschaft,<br />

all das geht Sie nichts mehr an! Und ich, ich verkaufe<br />

mich weiter: Ein entzückendes Bild, absolut bezaubernd,<br />

Mylady, und so beeindruckend, Mylord, so<br />

erschütternd! Wird heftig. Überall Raubtiere, von<br />

Hyänen und Geiern begleitet – und in meiner<br />

Verzweiflung erträume ich mir ein anderes Leben, ein<br />

M e n s c h e n leben! Ein Schwächling bin ich, ein<br />

Heuchler, ein himmeltrauriger Mitmacher, ein Arschlecker.<br />

Über Bord springen sollte ich! Legt die Fotos<br />

auf die offene Sargschachtel, verschwindet.<br />

Licht aus.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 32 -


Arche Titanic<br />

10. Szene<br />

Wir sehen in die Kabine von Kapitän Smith.<br />

Harry/Smith und Robert/Noah treten ein.<br />

Harry/Smith Bitte sehr, Herr Noah! Komplimentiert den Gast zum<br />

Tisch, bietet ihm einen Stuhl an; die beiden setzen<br />

sich. Eine Zigarre? Noah blickt fragend, winkt dann<br />

ab. Smith zündet sich nach allen Regeln der Kunst<br />

eine Luxuszigarre an. Noah schaut ihm interessiert<br />

zu, nimmt eine Möhre aus dem Gewand, schält sie<br />

mit einem Bronzemesserchen. Während Smith seine<br />

Zigarre raucht, kaut Noah an der Möhre.<br />

Robert/Noah Ich hätte nie erwartet, dass Gott die Arche eigenhändig<br />

auf so grossartige Weise ausbauen würde, und dies erst<br />

noch nach dem Stapellauf!<br />

Harry/Smith Und ich hätte nie damit gerechnet, im Bauch der<br />

„Titanic“ auf die Arche zu stossen!<br />

Robert/Noah Gottes Ratschlüsse sind unergründlich.<br />

Harry/Smith Ein Wunderschiff im wahrsten Sinne des Wortes!<br />

Robert/Noah Ein Zeichen dafür, dass Gott uns eine grosse Zukunft<br />

bereithält!<br />

Harry/Smith Und dass er dabei auf den technologischen Fortschritt<br />

der Menschheit baut. Wirft einen Blick aufs Porträt<br />

von Lord Sterling, das an der Wand hängt. – Und auf<br />

das Kapital, das diesen Fortschritt finanziert. Es klopft.<br />

Herein!<br />

Franz./Brandy tritt ein, salutiert, aufgeregt. Entschuldigen Sie die<br />

Störung, meine Herren, aber eben hat man mir<br />

gemeldet, der Bordfotograf sei über Bord gesprungen!<br />

Robert/Noah interessiert. Vielleicht hat er schon Land gesichtet.<br />

Das würde das Ende der Sintflut bedeuten!<br />

Harry/Smith mit leisem Spott. Da müsste er allerdings übernatürlich<br />

weitsichtig sein! Nein, ich fürchte, das schlechte<br />

Gewissen hat den Bedauernswerten ins Wasser<br />

getrieben.<br />

Franz./Brandy Sein schlechtes Gewissen?<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 33 -


Harry/Smith<br />

Franz./Brandy Fotografien?<br />

Harry/Smith<br />

- 34 -<br />

Er hat Lord Sterling ein paar Fotografien in den Sarg<br />

gelegt.<br />

Höchst unpassende Aufnahmen! Dieser pietätlose<br />

Einfall hat Lady Sterling tief verletzt. Sie hat Flash mit<br />

einem Prozess gedroht.<br />

Franz./Brandy Trotzdem, wir müssen sofort die Maschinen stoppen!<br />

Harry/Smith Leider können wir uns das nicht leisten, Brandy, schon<br />

gar nicht im Fall von Freitod.<br />

Franz./Brandy Aber...<br />

Harry/Smith scharf. Es gibt hier kein Aber! Wir dürfen unseren<br />

Rekord nicht aufs Spiel setzen!<br />

Brandy würgt seinen Protest hinunter, wendet sich zu<br />

Noah.<br />

Robert/Noah Hoffnungslos! Mit der Sintflut lässt sich nicht spassen.<br />

Franz./Brandy Aber Sie, gerade Sie, Herr Noah, Sie müssten doch...<br />

Robert/Noah Ich werde die Arche auch nicht stoppen. Gott weiss<br />

genau, warum er diesen Mann hat über Bord springen<br />

lassen.<br />

Franz./Brandy resigniert. Sie tragen die Verantwortung, meine<br />

Herren! Will gehen.<br />

Harry/Smith versöhnlich zu Brandy. Leisten Sie uns ruhig noch<br />

etwas Gesellschaft, Brandy! Drückt die Zigarre aus,<br />

stellt drei Gläser auf den Tisch, schenkt Whisky ein.<br />

Noah steckt die Möhre wieder ein. Sie greifen nach<br />

den Gläsern. Auf das Blaue Band!<br />

Robert/Noah Auf unsere sichere Landung!<br />

Franz./Brandy Auf eine Fahrt ohne weitere Zwischenfälle! Sie stossen<br />

an und trinken.<br />

Robert/Noah Auf Gott!<br />

Harry/Smith Und den Fortschritt! Nimmt wieder einen tüchtigen<br />

Schluck. Zu Brandy. Mit etwas Eis wäre er besser.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

Franz./Brandy dienstbeflissen. Wird geholt! Geht ab.<br />

Robert/Noah nimmt einen tüchtigen Schluck, bekommt einen<br />

Hustenanfall. Das... das brennt ja wie Feuer!<br />

Harry/Smith amüsiert. Ja, ja, ein ganz schön starkes Wässerchen!<br />

Brandy fällt fast mit der Tür in die Kabine.


Arche Titanic<br />

Franz./Brandy Ein Eisberg, direkt vor uns!<br />

Harry/Smith lachend. Ich habe mir schon gedacht, Brandy gebe sich<br />

nicht mit ein paar Eiswürfelchen zufrieden!<br />

Noah fällt ins Lachen ein.<br />

Franz./Brandy begreift nichts mehr. Wir halten mit Volldampf auf<br />

den Eisberg zu!<br />

Harry/Smith Na und, Brandy? Die „Titanic“ ist unsinkbar, die<br />

schubst den Brocken doch einfach zur Seite.<br />

Robert/Noah Und der Arche kann schliesslich auch nichts passieren,<br />

da sorgt Gott persönlich dafür.<br />

Franz./Brandy verzweifelt. Mein Kapitän, Sie müssen unbedingt<br />

selbst...<br />

Harry/Smith verärgert, scharf. Holen Sie jetzt unverzüglich das Eis,<br />

Brandy!<br />

Brandy wendet sich zur Tür. Es kracht und gibt einen<br />

fürchterlichen Ruck. Das Licht flackert. Noah und<br />

Smith kippen von ihren Stühlen, die Gläser klirren.<br />

Brandy kann sich an der Tür festklammern.<br />

Franz./Brandy O Gott! Stürzt davon. Noah und Smith rappeln sich<br />

auf.<br />

Robert/Noah Was war das?<br />

Harry/Smith Scheint doch ein rechter Eisbrocken zu sein. Bückt<br />

sich nach den zerbrochenen Gläsern.<br />

Robert/Noah Scherben bringen Glück, sagt man bei uns.<br />

Harry/Smith Scherben sammelnd. Offenbar ein sehr altes Sprichwort.<br />

Robert/Noah Wahrscheinlich hat die Arche aufgesetzt. Sinkt auf die<br />

Knie. Herrgott, ich danke Dir!<br />

Franz./Brandy stürmt in die Kabine, ausser sich vor Schreck. Mein<br />

Kapitän, eben wurde aus dem Bug gemeldet, der<br />

Eisberg habe den Schiffsbauch aufgeschlitzt! Lässt<br />

sich verzeifelt aufs Sofa fallen. Smith zündet sich<br />

seelenruhig die Zigarre wieder an. Noah klaubt die<br />

Möhre aus seinem Gewand.<br />

Harry/Smith Brandy, Sie wissen haargenau, dass die „Titanic“ nicht<br />

sinken kann! Lässt genüsslich ein Rauchringlein<br />

aufsteigen.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 35 -


Robert/Noah<br />

Gott lässt doch seine Arche nicht im Stich! Kaut<br />

selbstzufrieden an der Möhre.<br />

Licht aus.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 36 -


Arche Titanic<br />

11. Szene<br />

Wir sehen ins Zimmer von Anna Wallau. Franziska<br />

von Pflungk sitzt, als Reporter gekleidet, am<br />

Schreibtischchen und überfliegt ihr Manuskript.<br />

Harry Hirsch, wieder Versicherungsagent, und<br />

Robert Althaus, wieder Briefträger, lassen sich leise<br />

stöhnend aufs Sofa fallen. Anna Wallau setzt sich<br />

neben sie auf einen Stuhl.<br />

Anna Wallau ruhig. Wenn Ihnen nicht besser wird, meine Herren,<br />

können wir immer noch den Notfalldienst benachrichtigen.<br />

Harry Hirsch Ich fühle mich so... so mitgenommen, irgendwie, als<br />

wäre ich... es tönt abstrus, ich weiss... als wäre ich<br />

hellwach in einen Traum abgestürzt.<br />

Robert Althaus In meinem Kopf ist es... wie soll ich sagen? ...wie wenn<br />

es ein riesiger Kopf voll kleiner Köpfe wäre.<br />

Anna Wallau Ich kenne das Gefühl. Sie sind beide auf dem besten<br />

Weg, dichterische Phantasie zu entwickeln.<br />

Harry Hirsch richtet sich kurz auf, erblickt Franziska von Pflungk.<br />

Ach! Jetzt sehe ich d i e wieder! Sinkt zurück.<br />

Anna Wallau Franziska von Pflungk, ja. Es ist der 15. April 1912,<br />

ein Montag, kurz vor zwei Uhr morgens. Frau von<br />

Pflungk hatte sich zu den Küchen hinunter begeben,<br />

um nach einer gut verschliessbaren Flasche mit weitem<br />

Hals zu fragen. Doch bevor sie überhaupt eingetreten<br />

war, hatte sie den Gedanken, ihr Theaterstück als<br />

Flaschenpost den Wellen anzuvertrauen, bereits wieder<br />

als zu romantisch verworfen.<br />

Sie war dann zum oberen Deck hinaufgestiegen, hatte<br />

zugeschaut, wie die letzten Rettungsboote abgefiert<br />

wurden, und war durch den Palmengarten und das<br />

Foyer erster Klasse in ihre Kabine zurückgekehrt. –<br />

Die „Titanic“ neigt sich jetzt immer stärker. Frau von<br />

Pflungk rollt ihr Manuskript ein, klemmt es sich unter<br />

den Arm und verlässt die Kabine. Franziska von<br />

Pflungk geht, die Manuskriptrolle unter dem Arm,<br />

- 37 -<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.


aus dem Zimmer. Im eiskalten Wasser, davon ist sie<br />

überzeugt, wird sie nur kurz zu leiden haben.<br />

Robert Althaus schiesst auf, erregt. Warum halten Sie die Frau nicht<br />

auf? Sie müssen sie doch zurückhalten!<br />

Anna Wallau Wozu denn, Herr Althaus? Es ist schon 2 Uhr 18. Die<br />

Schiffsbeleuchtung flackert noch einmal kurz auf. Das<br />

Bühnenlicht flackert, erlischt. Anna Wallau spricht<br />

den letzten Satz in die Finsternis. Dann bricht die<br />

„Titanic“ entzwei.<br />

*<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 38 -

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!