ZAP-2018-08
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
8 <strong>2018</strong><br />
12. April<br />
30. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />
Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Ärztebewertungsportale: Was bringt die jameda‐Entscheidung des BGH? (S. 359)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Kaum noch Zuwachs bei den Anwaltszulassungen (S. 361) • Vorstoß für Englisch als<br />
Gerichtssprache (S. 362) • Neues Online‐Portal „Inkasso‐Check“ (S. 364)<br />
Aufsätze<br />
Börstinghaus, Rechtsprechungsübersicht zum Wohnraummietrecht (S. 375)<br />
Burhoff, Elektronische Geräte/Mobiltelefon im Straßenverkehr (S. 389)<br />
Hinweise für die Tätigkeit des Abwicklers (S. 401)<br />
Eilnachrichten<br />
EuGH: Kündigungsschutz von Schwangeren bei Massenentlassungen (S. 371)<br />
BVerfG: Pressefreiheit und Anspruch auf Gegendarstellung (S. 372)<br />
BGH: Kostenerstattung von Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts (S. 373)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 359–360<br />
Anwaltsmagazin – – 361–366<br />
Eilnachrichten 1 61–68 367–374<br />
Börstinghaus, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />
zum Wohnraummietrecht – 2. Halbjahr 2017 4 R 907–920 375–388<br />
Burhoff, Elektronische Geräte/Mobiltelefon im<br />
Straßenverkehr 9 987–998 389–400<br />
Hinweise für die Tätigkeit des Abwicklers –<br />
Stand März <strong>2018</strong> 23 1121–1126 401–406<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />
• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />
RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />
Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />
Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />
Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />
Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Ärztebewertungsportale: Was bringt die jameda-Entscheidung des BGH?<br />
Ich kenne den Dauerzankapfel Ärztebewertungsportale<br />
aus eigener anwaltlicher Erfahrung. Auf den<br />
Portalen – das bekannteste unter ihnen „jameda“ –<br />
benoten Patienten i.d.R. anonym Ärzte und Zahnärzte<br />
sowie ihre Praxen in allen denkbaren Kategorien.<br />
Jenseits des Äußerungsrechts sind dabei<br />
zwei Fragen entscheidend: (1.) Kann ein Bewerteter<br />
die Löschung seiner eigenen Daten von einer<br />
Plattform und (2.) die Herausgabe der persönlichen<br />
Daten der anonymen Nutzer von dem Betreiber<br />
verlangen? Die Antwort des BGH: Nein!<br />
Um mit der einfacheren, zweiten Frage zu<br />
beginnen: Der Argumentation des BGH bzgl. der<br />
Ablehnung eines Auskunftsanspruchs gegen den<br />
Provider (BGH, Urt. v. 1.7.2014 – VI ZR 345/13)<br />
vermag ich zu folgen. Das Telemediengesetz<br />
(TMG) muss zur Weitergabe von Daten an Dritte<br />
ausdrücklich ermächtigen. Den Bewertungsportalen<br />
ist die Weitergabe der Daten seiner Nutzer<br />
an die Bewerteten aber nicht ausdrücklich erlaubt,<br />
eine analoge Anwendung (z.B. von §§ 14<br />
Abs. 2, 15 Abs. 5 S. 4 TMG) kommt wegen des<br />
Gesetzesvorbehalts nicht in Betracht.<br />
Problematischer erscheint die erste Frage: Auf die<br />
Löschung seiner eigenen Daten gem. §§ 35 Abs. 2<br />
S. 2 Nr. 1; 29 Abs. 1 Nr. 1 BDSG hat der Bewertete<br />
keinen Anspruch. Die Erwägungen des BGH<br />
in seinem maßgeblichen Grundsatzurteil vom<br />
23.9.2014 (Az. VI ZR 358/13) liegen m.E. jedoch<br />
neben der Sache. Die vom BGH vorgenommene<br />
erforderliche Abwägung der betroffenen Grundrechte<br />
des Arztes einerseits (informationelle<br />
Selbstbestimmung und Berufsfreiheit) sowie der<br />
Nutzer und des Portals (Meinungs- und Kommunikations-<br />
sowie Berufsfreiheit) andererseits<br />
geht zulasten des Arztes aus. Der BGH konstatiert<br />
einleitend eine „nicht nur unerhebliche“ Missbrauchsanfälligkeit.<br />
Das ist ein prototypischer<br />
juristischer Euphemismus, der den Ton der Entscheidung<br />
vorgibt.<br />
Wenn der BGH zuerst ausführt, in Bezug auf seine<br />
Berufsausübung müsse sich jeder anders als in der<br />
Intimsphäre der Kritik einer breiten Öffentlichkeit<br />
stellen, vergisst er, dass ärztliche Tätigkeit – wie<br />
Gerichte sonst unermüdlich betonen – von persönlichem<br />
Vertrauen und persönlicher Leistungserbringung<br />
geprägt ist. Damit ist der Freiberufler<br />
Arzt Dr. X von der Privatperson X nicht in gleichem<br />
Maße sinnvoll abzugrenzen wie der Inhaber<br />
eines gewerblichen Unternehmens von dessen<br />
Produkten.<br />
Im Übrigen ist der BGH der Auffassung, es bestehe<br />
ein „erhebliches“ Interesse an öffentlichen Bewertungen<br />
ärztlicher Leistungen. Bewertungsportale<br />
stellten (laienhafte) „Leistungstransparenz“ im Gesundheitswesen<br />
her. Ich persönlich halte die Parkmöglichkeiten<br />
vor der Praxis meines Kardiologen<br />
oder die Qualität des Wartezimmerentertainments<br />
beim Hauszahnarzt (ja, das sind zu benotende<br />
Kategorien bei jameda) für wenig erheblich.<br />
Intellektuell schwer verdaulich sind vor allem aber<br />
die Erwägungen zum „Recht auf Anonymität der<br />
Bewertung“. Der BGH hält insoweit an seiner<br />
Meinung, die anonyme Nutzung sei dem Internet<br />
immanent, fest (so schon in seiner „Spick-mich“-<br />
Entscheidung v. 23.6.2009 – VI ZR 196/<strong>08</strong>). Das<br />
halte ich (relativ eifriger Nutzer sozialer Medien)<br />
– pardon – schlichtweg für Unfug. Zwar muss<br />
gem. § 13 Abs. 6 S. 1 TMG die anonyme Nutzung<br />
von Telemedien ermöglicht werden. Telos der<br />
Norm ist aber, die Speicherung missbrauchsanfälliger<br />
Daten bei dem Diensteanbieter zu verhindern.<br />
Der Gesetzgeber wollte verhindern, dass<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 359
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Provider meine Daten an die werbetreibende<br />
Wirtschaft verkaufen, nicht anonyme Pöbelei<br />
gegen meinen Hausarzt ermöglichen.<br />
Ich weiß, dass die Möglichkeiten anonymer Nutzung<br />
im Internet größer sind als in anderen<br />
Medien und deshalb online manches gepostet<br />
wird, was in einer realen Kommunikationssituation<br />
nicht einmal zu denken gewagt würde.<br />
Das wohnt dem Internet aber keineswegs per<br />
se inne, um beim Wortsinn der Immanenz zu<br />
bleiben. Jeder kann im Internet mit seinem Klarnamen<br />
kommunizieren. Und selbst wenn das<br />
anders wäre, ist das kein in der hier fraglichen<br />
Abwägung gegen den Bewerteten und seine<br />
Interessen streitendes Argument.<br />
Der BGH griff hier in seiner Spick-mich-Entscheidung<br />
auf einen merkwürdigen Gemeinplatz zurück:<br />
Die Zuordnung jeder öffentlich geäußerten<br />
Meinung zu einem Individuum könne „vorbeugende<br />
Selbstzensur“ zur Folge haben, weil man<br />
„aus Angst vor Repressalien“ von der Meinungsäußerung<br />
absehen könnte. Dem entgegenzuwirken,<br />
sei Sinn der Meinungsfreiheit.<br />
Da staunt nun der Experte und der Laie wundert<br />
sich. Das Argument, anonyme öffentliche Äußerungen<br />
seien vom Schutzbereich des Art. 5 GG<br />
umfasst, ist valide, gehört aber zur Schutzbereichseröffnung,<br />
nicht zur Abwägung widerstreitender<br />
Grundrechtspositionen. Ich halte es in diesem Kontext<br />
geradezu für ein Strohmannargument.<br />
Niemand (auch ich nicht) will oder kann anonyme<br />
Äußerungen per se dem Schutz des Art. 5 GG<br />
entziehen. Das steht auch nicht in Rede. Es geht<br />
vielmehr darum, ob der Patient in Abwägung mit<br />
dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des betroffenen<br />
Arztes gleichsam einen grundrechtlich<br />
verbrieften Anspruch auf asymmetrische Kommunikation<br />
hat.<br />
Der BGH bejaht das; die Möglichkeit anonymer<br />
Bewertung habe besonderes Gewicht, weil die<br />
namentliche Bewertung mit der Preisgabe sensibler<br />
Gesundheitsdaten verbunden sein könne.<br />
Müsse man als Patient seine Identität und damit<br />
Details zum Krankheitsverlauf preisgeben, könne<br />
dies Patienten von der Bewertung abschrecken.<br />
Ich sehe – offenbar anders als die entscheidenden<br />
Richter – jameda und Co. nahezu täglich ein. Die<br />
meisten Negativ-Einträge sind querulatorischallgemeiner<br />
Natur. Da wird gern das alte Klischee<br />
vom „Halbgott in Weiß“ wiederbelebt, der unfreundlich,<br />
herablassend oder ungeduldig gewesen<br />
sei. Eine Preisgabe von Behandlungsdetails<br />
findet in der Regel überhaupt nicht statt.<br />
Dazu wäre der Patient bei Nennung seines<br />
Namens auch in keiner Weise gezwungen. Ob<br />
der „ungeduldige“ Dr. Meier von Manfred Muster<br />
oder von Anonymus bewertet wird, macht keinen<br />
Unterschied. Der Bewertete dürfte Behandlungsdetails<br />
wegen der Schweigepflicht in Reaktion<br />
trotzdem nicht preisgeben.<br />
Ich halte die Argumentation auch für zirkelschlüssig:<br />
Warum die mit Identifizierbarkeit verbundene,<br />
vermeintliche Abschreckungswirkung<br />
rechtlich missbilligt sein soll bzw. ob sie nicht<br />
in Kauf zu nehmende Voraussetzung ist, um<br />
dem informationellen Selbstbestimmungsrecht<br />
des Arztes zur Geltung zu verhelfen, ist gerade<br />
eine der zur Abwägung stehenden Fragen.<br />
Würde sich ein dem Arzt bekannter Patient<br />
unmittelbar vor seine Praxis stellen und sich für<br />
einige hundert Passanten hörbar über seine Behandlung<br />
äußern, könnte der Arzt gerichtlich<br />
Unterlassung und ggf. Schadensersatz geltend<br />
zu machen versuchen. Stellt derselbe Patient die<br />
Behauptungen für potentiell Millionen Menschen<br />
zugänglich in einem Bewertungsportal auf, kann er<br />
dafür zivilrechtlich nicht belangt werden, weil dem<br />
Arzt die persönlichen Daten seines Gegners gar<br />
nicht bekannt sind.<br />
An dieser Albernheit hat sich (wohl) auch mit dem<br />
jüngsten jameda-Urteil (BGH, Urt. v. 20.2.<strong>2018</strong> –<br />
VI ZR 30/17) nichts verändert. Denn in dem dort<br />
verhandelten Fall hatte jameda aufgrund eines<br />
Werbeangebots etwas von seiner Rolle als „neutraler“<br />
Informationsmittler eingebüßt, so dass die<br />
Grundrechtsposition der klagenden Ärztin überwog<br />
und ein „schutzwürdiges Interesse an dem<br />
Ausschluss der Speicherung“ ihrer Daten bestand.<br />
Das dem zugrunde liegende Geschäftsgebaren<br />
(Werbung für zahlende Kunden auf dem Profil<br />
nicht zahlender Kunden) hat jameda allerdings<br />
sofort nach dem Urteil eingestellt und wird damit<br />
auf absehbare Zeit der hinlänglich bekannte Zankapfel<br />
bleiben.<br />
Rechtsanwalt ANNO HAAK, LL.M., Bonn<br />
360 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im April<br />
Im April sind einige Neuregelungen in Kraft<br />
getreten. Sie betreffen den Verbraucherschutz<br />
und Unternehmensneugründungen. Im Einzelnen:<br />
• Lebensmittelrecht<br />
Seit dem 11. April müssen Lebensmittelhersteller<br />
europaweit Auflagen für die Herstellung und<br />
Verarbeitung von Kartoffelerzeugnissen, Brot<br />
und Feinbackwaren, Frühstückscerealien, Säuglingsnahrung,<br />
Kaffee und Kaffeeersatzprodukten<br />
beachten. Dadurch soll in den Produkten der<br />
krebserzeugende Acrylamidgehalt sinken, der<br />
beim Backen, Braten, Frittieren und Rösten entsteht.<br />
• Nutzung von Online-Diensten im EU-Raum<br />
Kostenpflichtige Streaming-Dienste für Filme,<br />
Sport, Musik, eBooks und Videospiele lassen sich<br />
seit dem 1. April auch im EU-Ausland nutzen. Für<br />
das Streamen ohne EU-Grenzen dürfen die<br />
Anbieter keine zusätzlichen Gebühren erheben.<br />
Die Nutzung der Dienste ist auf vorübergehende<br />
Aufenthalte begrenzt. Ursprünglich sollte die<br />
Regelung bereits am 20. März in Kraft treten (vgl.<br />
<strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 6/<strong>2018</strong>, S. 266).<br />
• Anschubfinanzierung von Start-Up-<br />
Unternehmen<br />
Unternehmensneugründungen erhalten besseren<br />
Zugang zu Wagniskapital. Mit dem ERP-<br />
Wirtschaftsplangesetz <strong>2018</strong> soll die bisherige<br />
Finanzierungslücke in der Gründungsphase von<br />
Unternehmen geschlossen werden. Zur Verfügung<br />
stehen 790 Mio. € aus dem ERP-Sondervermögen.<br />
Das Gesetz ist rückwirkend zum<br />
1. Januar in Kraft getreten.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Kaum noch Zuwachs bei den<br />
Anwaltszulassungen<br />
Die 27 regionalen Rechtsanwaltskammern und<br />
die Rechtsanwaltskammer beim BGH verzeichneten<br />
zum 1.1.<strong>2018</strong> insgesamt 165.857 Mitglieder,<br />
davon 164.656 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.<br />
Dies ist gegenüber dem Vorjahr ein<br />
leichter Anstieg um 0,18 %.<br />
Damit bestätigt sich der Trend der vergangenen<br />
Jahre, in denen der Zuwachs stets abgenommen<br />
hatte. Von 2016 auf 2017 hatte sich die Anzahl der<br />
Mitglieder noch um 0,42 % erhöht. Zum 1.1.2015<br />
war der Zuwachs erstmals auf unter 1 % gefallen.<br />
Die Statistik zeigt auch, dass sich die Zusammensetzung<br />
der Mitglieder im Jahr 2017 weiter verschoben<br />
hat. Der Anteil der klassischen – niedergelassenen<br />
– Rechtsanwälte ging von zuvor<br />
154.711 auf nunmehr knapp 150.000 zurück. Die<br />
Zahlen der als reine Syndikusrechtsanwälte bzw.<br />
als Syndikusrechtsanwalt und Rechtsanwalt (sog.<br />
Doppelzulassung) zugelassenen Mitglieder stiegen<br />
dagegen deutlich an (von 957 auf 1.975 bzw.<br />
von 8.738 auf 12.079). Damit macht die Gesamtzahl<br />
von 14.054 Syndikusrechtsanwälten mittlerweile<br />
einen Anteil von 8,5 % an den insgesamt<br />
164.656 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten<br />
aus. Berücksichtigt man, dass die in Unternehmen<br />
und Verbänden tätigen Syndikusanwälte noch<br />
über eine alte Befreiung von der Versicherungspflicht<br />
in der Deutschen Rentenversicherung<br />
Bund verfügen und daher noch keine Zulassung<br />
als Syndikusrechtsanwalt beantragt haben, dürfte<br />
der Anteil der Syndikusrechtsanwälte bundesweit<br />
sogar bei gut 20–25 % liegen.<br />
Spitzenreiter, was den Mitgliederzuwachs angeht,<br />
ist die Rechtsanwaltskammer München, die<br />
eine Zunahme von 1,18 % verzeichnete. Schluss-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 361
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
lichter sind hingegen die Kammern in Mecklenburg-Vorpommern<br />
(- 2,26 %) und Sachsen<br />
(- 2,27 %). Insgesamt haben 17 Rechtsanwaltskammern<br />
einen Rückgang ihrer Mitglieder zu<br />
verzeichnen, nur 11 Kammern einen Zuwachs.<br />
Die größte Rechtsanwaltskammer ist weiterhin<br />
München mit 21.665 Mitgliedern, die kleinste ist<br />
Zweibrücken mit 1.433 Mitgliedern. Besonders<br />
interessant ist dabei, dass die sieben größten<br />
Rechtsanwaltskammern, mit über 10.000 Mitgliedern<br />
insgesamt, jetzt 62,9 % aller Rechtsanwälte<br />
vertreten (104.407 von 165.857), die<br />
übrigen 17 regionalen Kammern dagegen nur die<br />
restlichen 37,1 %.<br />
[mwh]<br />
Bundesjustizministerin will Schwerpunkt<br />
auf Verbraucherschutz legen<br />
Die neue Bundesjustizministerin Dr. KATARINA<br />
BARLEY will den Verbraucherschutz zu einem<br />
Schwerpunkt ihrer Amtstätigkeit machen. Dies<br />
kündigte sie in ihrer Antrittsrede an. KATARINA<br />
BARLEY hat am 14. März das Amt als neue Bundesministerin<br />
der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
angetreten. Sie folgt auf HEIKO MAAS, der das<br />
Ressort seit Dezember 2013 führte und nun zum<br />
Außenminister ernannt wurde.<br />
Zuvor war Frau Dr. BARLEY Bundesministerin für<br />
Familie, Senioren, Frauen und Jugend und leitete<br />
geschäftsführend das Bundesministerium für Arbeit<br />
und Soziales. Von Dezember 2015 bis Juni<br />
2017 war sie Generalsekretärin der SPD. Die<br />
gelernte Juristin ist seit 2013 Mitglied des Deutschen<br />
Bundestags. Zuvor arbeitete sie als Referentin<br />
im Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
des Landes Rheinland-Pfalz und<br />
als Richterin am Landgericht Trier sowie am<br />
Amtsgericht Wittlich.<br />
In ihrer Antrittsrede am 15. März kündigte sie an,<br />
sich neben der Rechtspolitik insbesondere auch<br />
für den Verbraucherschutz stark zu machen.<br />
Denn, so die Ministerin, wie eine starke Justiz sei<br />
auch ein wirkungsvoller Verbraucherschutz vor<br />
allem eine Frage der Gerechtigkeit. „Ich will –<br />
obwohl Juristin durch und durch – den Verbraucherschutz<br />
zu einem Schwerpunkt meiner zukünftigen<br />
Arbeit machen. Der Koalitionsvertrag hat im Bereich<br />
der Verbraucherpolitik viele Ziele definiert, die es nun<br />
zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger rasch und<br />
engagiert anzugehen gilt. Ich denke hier vor allem auch<br />
an die Umsetzung der Musterfeststellungsklage, um<br />
Verbraucherinnen und Verbraucher in der Auseinandersetzung<br />
mit Großkonzernen zu stärken, die Gerichte<br />
zu entlasten und gleichzeitig auch den Unternehmen<br />
mehr Rechtssicherheit zu geben.“, soKATARINA BARLEY.<br />
Daneben hat sie auch die sog. Mietpreisbremse<br />
im Visier, deren Wirksamkeit erhöht werden soll.<br />
Die Miete in Ballungszentren sei „das Problem<br />
Nummer eins“ vieler Menschen. Deshalb werde<br />
demnächst u.a. auch die Modernisierungsumlage<br />
abgesenkt, um Mieter zu entlasten.<br />
Eine regelrechte Offensive an neuen Gesetzesvorlagen<br />
ist von der neuen Ministerin aber offenbar<br />
nicht zu erwarten. In ihrer Rede dämpfte sie allzu<br />
große Erwartungen im Hinblick auf Regelungsinitiativen<br />
mit einem Zitat: „Von MONTESQUIEU wissen<br />
wir: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen,<br />
dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen“.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Vorstoß für Englisch als Gerichtssprache<br />
Der Bundesrat möchte, dass die Landgerichte<br />
Kammern für internationale Handelssachen einrichten<br />
dürfen, vor denen in englischer Sprache<br />
verhandelt wird. Im März beschloss er, dem Bundestag<br />
einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.<br />
Den Vorstoß begründete die Länderkammer damit,<br />
dass es in Deutschland zahlreiche Richter<br />
gibt, die hervorragend Englisch sprechen und in<br />
der Lage sind, eine mündliche Verhandlung sowie<br />
das Verfahren entsprechend zu führen. Obwohl<br />
das deutsche Recht und die deutsche Justiz<br />
international hohe Anerkennung genössen, leide<br />
der Gerichtsstandort Deutschland bisher darunter,<br />
dass noch immer nur Deutsch als Gerichtssprache<br />
bestimmt sei. Dies trage dazu bei, dass<br />
bedeutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten<br />
zumeist im Ausland ausgetragen würden – zum<br />
Nachteil des Gerichtsstandortes Deutschland und<br />
deutscher Unternehmen.<br />
Um diese bedeutenden und auch lukrativen<br />
Rechtsstreitigkeiten würden sich bereits jetzt<br />
andere Staaten, wie etwa die Niederlande, Belgien<br />
oder Frankreich, bemühen. Wer seinen gesamten<br />
362 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Geschäftsbetrieb auf Englisch organisiert habe, der<br />
wolle auch auf Englisch prozessieren, betonte auch<br />
der nordrhein-westfälische Justizminister PETER<br />
BIESENBACH, der maßgeblich am Zustandekommen<br />
der Bundesratsinitiative beteiligt war. Durch die<br />
Einführung von Englisch als zulässiger Gerichtssprache<br />
könne sowohl Deutschland als Gerichtsstandort<br />
als auch das deutsche Recht in hohem<br />
Maße an Attraktivität gewinnen.<br />
Schon zweimal hatte der Bundesrat einen entsprechenden<br />
Entwurf beim Deutschen Bundestag<br />
eingebracht: 2010 und 2014 beschlossen die<br />
Länder jeweils gleichlautende Gesetzentwürfe,<br />
die jedoch vom Bundestag nicht verabschiedet<br />
wurden und daher mit Ablauf der jeweiligen<br />
Wahlperiode der Diskontinuität unterfielen. Um<br />
dem Anliegen noch einmal Nachdruck zu verleihen,<br />
verabschiedete der Bundesrat nun zum<br />
dritten Mal eine entsprechende Initiative. Als<br />
nächstes wird sie nun über die Bundesregierung<br />
dem Bundestag zur Entscheidung vorgelegt.<br />
[Quelle: Bundesrat]<br />
Bundesbürger beklagen Überlastung<br />
der Gerichte<br />
Das deutsche Rechtssystem ist in der Bevölkerung<br />
weiterhin angesehen. Das ergab eine Untersuchung<br />
des Instituts für Demoskopie Allensbach,<br />
die für den Roland-Rechtsreport durchgeführt<br />
wurde. Mit dem Report wird regelmäßig die<br />
öffentliche Meinung zum deutschen Rechtssystem<br />
und zu ausgewählten rechtspolitischen Schwerpunktthemen<br />
ermittelt.<br />
Nach der jüngsten Erhebung der Allensbacher<br />
Forscher haben 68 % der Bürger „sehr viel“ oder<br />
„ziemlich viel“ Vertrauen in die Gesetze, 64 % in die<br />
Gerichte. Seit vielen Jahren bewegt sich das<br />
Vertrauen hier relativ stabil auf hohem Niveau.<br />
Noch stärker vertrauen die Bürger nur der Polizei<br />
(74 %) und kleinen und mittleren Unternehmen<br />
(78 %). Trotz der insgesamt positiven Wahrnehmung<br />
schätzen 77 % der Deutschen die Gerichte<br />
als überlastet ein. Nur rund jeder Vierte ist der<br />
Meinung, dass deutsche Gerichte gewissenhaft<br />
und gründlich arbeiten und hier alles mit rechten<br />
Dingen zugeht. Stattdessen bemängeln die Bürger<br />
wie schon im Vorjahr lange Verfahren, komplizierte<br />
Gesetze und zu milde Strafen. Zudem ist die<br />
Mehrheit (58 %) davon überzeugt, dass Urteil und<br />
Strafmaß stark vom zuständigen Gericht abhängen.<br />
66 % meinen, dass ein bekannter Anwalt die<br />
Chancen auf ein günstiges Urteil erhöht.<br />
Vor dem Hintergrund des Dieselskandals würden<br />
79 % der Bundesbürger die Einführung von Sammelklagen<br />
als juristisches Mittel begrüßen, lediglich<br />
6 % wären dagegen. Hatten die Forscher den<br />
Bürgern jedoch die Nachteile von Sammelklagen<br />
vor Augen geführt – nämlich, dass u.U. eine<br />
Klageindustrie entstehen kann, an der vor allem<br />
Anwaltskanzleien verdienen – fiel das Urteil anders<br />
aus: Die Gruppe der Befürworter schrumpfte<br />
auf 63 %, während die Gruppe der Gegner auf 21 %<br />
wuchs. Diese starke Beeinflussung des Meinungsbilds<br />
durch ein einziges Argument ist den Forschern<br />
zufolge häufig ein Hinweis darauf, dass sich<br />
die Bevölkerung noch nicht besonders stark mit<br />
der entsprechenden Thematik auseinandergesetzt<br />
hat. Insofern hängt ihrer Einschätzung nach die<br />
Akzeptanz von Sammelklagen in der deutschen<br />
Bevölkerung sehr stark davon ab, wie diese Klageform<br />
in der Praxis ausgestaltet wäre.<br />
Die Möglichkeit der Mediation ist der Studie<br />
zufolge weiten Teilen der Bevölkerung (73 %)<br />
inzwischen bekannt. Obwohl gerade Menschen<br />
mit höherer (87 %) und mittlerer (72 %) Schulbildung<br />
das Mediationsverfahren kennen, hat die<br />
Bekanntheit bei Menschen mit einfacher Schulbildung<br />
am stärksten zugenommen. Sie steigerte<br />
sich im Vergleich zur ersten Erhebung im Jahr<br />
2010 um 18 % auf derzeit 60 %. Fast die Hälfte<br />
(49 %) der Bevölkerung denkt, dass sich durch die<br />
Mediation viele Streitigkeiten beilegen lassen.<br />
Lediglich 37 % sehen dies skeptisch. Personen,<br />
denen das Mediationsverfahren vorab bekannt<br />
war, schätzen es erfolgversprechender ein als<br />
Personen, die erst im Rahmen der Befragung<br />
davon erfahren haben.<br />
[Quelle: Roland-Rechtsreport]<br />
Richter gegen Änderungen im<br />
Sozialgerichtsprozess<br />
Der Bundesrat hat im Februar erneut seinen<br />
Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes<br />
auf den Weg gebracht, der wegen<br />
Ablaufs der vorangegangenen Wahlperiode der<br />
Diskontinuität unterfallen war. Mit dem Vorhaben<br />
will die Länderkammer die Sozialgerichte durch<br />
Vereinfachungen im Prozessrecht entlasten. So<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 363
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
sollen z.B. mehr Einzelrichter ohne Mitwirkung<br />
ehrenamtlicher Beisitzer entscheiden („konsentierter<br />
Einzelrichter“). Außerdem ist vorgesehen,<br />
die gerichtliche Überprüfungspflicht bei übereinstimmender<br />
Erklärung der Beteiligten auf Teile des<br />
Streitgegenstands zu beschränken, um unnötige<br />
Prüfungen unstreitiger Berechnungskomponenten<br />
zu vermeiden. Auch das Berufungsverfahren soll<br />
vereinfacht werden; u.a. sollen die Senate bei einer<br />
stattgebenden Berufungsentscheidung gegen das<br />
erstinstanzliche Urteil ohne mündliche Verhandlung<br />
durch Beschluss entscheiden dürfen.<br />
Gegen dieses Vorhaben der Länder hat sich jetzt<br />
der Deutsche Richterbund ausgesprochen. Zwar<br />
gestehen die Richter zu, dass die Belastungssituation<br />
der Sozialgerichtsbarkeit bundesweit<br />
nach wie vor anhaltend hoch ist. Das Bild sei<br />
jedoch in den Ländern uneinheitlich. Steigende<br />
Eingangszahlen seien nicht für alle Länder festzustellen.<br />
Insbesondere der starken Belastung<br />
durch den aufgelaufenen Verfahrensbestand träten<br />
einige Länder bereits heute durch Bemühungen<br />
entgegen, die seit Jahren unzureichende<br />
Personalausstattung der Gerichte auf das notwendige<br />
Maß anzuheben.<br />
Auch inhaltlich haben die Richter Bedenken geäußert.<br />
So sind sie der Meinung, dass die Reduzierung<br />
der Beteiligung ehrenamtlicher Richter deren<br />
Bedeutung in der Sozialgerichtsbarkeit nicht<br />
gerecht würde. Die geplante Beschränkung der<br />
gerichtlichen Überprüfung auf Teile des Streitgegenstands<br />
würde zudem zu unlösbaren dogmatischen<br />
Problemen führen. Stattdessen schlägt<br />
der Richterbund vor, neben einer besseren Personalausstattung<br />
bei den Sozialgerichten vor allem<br />
Vereinfachungen im materiellen Sozialrecht vorzunehmen.<br />
[Quelle: DRB]<br />
Neues Online-Portal<br />
„Inkasso-Check“<br />
Die Bundesregierung hat auf einen neuen Service<br />
der Verbraucherzentralen hingewiesen, der betroffenen<br />
Verbrauchern bei unberechtigten oder<br />
unklaren Zahlungsaufforderungen weiterhelfen<br />
soll.<br />
Einer Forsa-Umfrage zufolge haben 5,8 Mio.<br />
Verbraucher schon einmal eine Inkasso-Forderung<br />
erhalten. 65 % davon hielten sie für unberechtigt.<br />
Zugleich empfinden viele Menschen<br />
Inkassoschreiben aufgrund eindringlicher und<br />
teilweise aggressiver Formulierungen regelrecht<br />
bedrohlich, stellen die Verbraucherschützer fest.<br />
Betroffene sind deshalb häufig verunsichert darüber,<br />
wie sie sich weiter verhalten sollen.<br />
Ein neuer Online-Service der Verbraucherzentralen,<br />
der vom Bundesjustizministerium gefördert wird,<br />
soll hier weiterhelfen: Der „Inkasso-Check“ ermöglicht<br />
die kostenlose Überprüfung, ob überhaupt<br />
gezahlt werden muss und, wenn ja, ob wirklich die<br />
volle Höhe der Kosten fällig ist. Auf der Internetseite<br />
www.verbraucherzentrale.de/inkasso-check-start<br />
werden die Ratsuchenden online durch eine Reihe<br />
von Fragen geführt. Am Ende gibt es eine individuelle<br />
erste Einschätzung und falls nötig auch einen<br />
eigens generierten Brief an das Inkasso-Unternehmen.<br />
Bleiben Fragen offen oder ist der individuelle<br />
Sachverhalt sehr komplex, können sich Betroffene<br />
an eine Verbraucherzentrale oder einen Rechtsanwalt<br />
wenden.<br />
Die Bundesregierung weist darauf hin, dass<br />
zunehmend dubiose Firmen mit betrügerischen<br />
Absichten unterwegs sind, die die Unsicherheit<br />
vieler Menschen ausnutzen. Sie beschreiten dabei<br />
auch neue, digitale Wege. Gingen bisher Zahlungsaufforderungen<br />
als Brief ein, verschicken<br />
Betrüger diese nun auch per E-Mail oder SMS.<br />
So wurde im vergangenen Jahr auch vor Fällen<br />
sog. Fake-Inkassos gewarnt: Menschen in ganz<br />
Deutschland hatten Zahlungsaufforderungen per<br />
SMS erhalten. Die dahinter stehenden Forderungen<br />
waren frei erfunden. Und auch die angegebenen<br />
Inkasso-Unternehmen gab es nicht. Die<br />
Betrüger nutzten z.B. die Logos oder fälschten<br />
E-Mail-Adressen bestehender Unternehmen, um<br />
ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.<br />
Betroffene sollten laut Bundesregierung insbesondere<br />
auch auf die Bankverbindung des<br />
Inkassobüros achten: Wenn diese ins Ausland<br />
verweist – zu erkennen an den ersten beiden<br />
Buchstaben der IBAN –, sei Vorsicht geboten.<br />
Zudem sollten Betroffene prüfen, ob das Inkasso-<br />
Büro überhaupt berechtigt ist, Forderungen einzutreiben.<br />
Dafür steht das Rechtsdienstleistungsregister<br />
zur Verfügung (zu finden unter<br />
www.rechtsdienstleistungsregister.de). Denn wer als<br />
Inkasso-Firma Forderungen eintreiben will, muss<br />
dafür vom Amts- oder Landgericht zugelassen<br />
und registriert sein. [Quelle: Bundesregierung]<br />
364 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
EU will Einrichtung einer<br />
Europäischen Arbeitsbehörde<br />
Die EU-Kommission will den sozialen Schutz für<br />
Arbeitnehmer und Selbstständige in der EU<br />
stärken. Dazu hat sie Mitte März die Einrichtung<br />
einer Europäischen Arbeitsbehörde vorgeschlagen<br />
und eine Empfehlung vorgelegt, wie Arbeitnehmer<br />
und Selbstständige besseren Zugang<br />
zum Sozialschutz bekommen.<br />
Die Europäische Arbeitsbehörde soll den Bürgerinnen<br />
und Bürgern, den Unternehmen und<br />
den nationalen Verwaltungen helfen, die Chancen<br />
der Freizügigkeit optimal zu nutzen und eine<br />
faire Arbeitskräftemobilität zu gewährleisten. Es<br />
werden drei Ziele verfolgt:<br />
• Die Europäische Arbeitsbehörde soll die Bürgerinnen<br />
und Bürger sowie die Unternehmen<br />
über Arbeits-, Ausbildungs-, Mobilitäts-, Einstellungs-<br />
und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />
informieren. Außerdem soll sie Informationen<br />
über Rechte und Pflichten bereitstellen, die mit<br />
dem Leben, Arbeiten und/oder der unternehmerischen<br />
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat<br />
der EU verbunden sind.<br />
• Die Behörde soll auch die Zusammenarbeit<br />
zwischen den nationalen Behörden bei grenzüberschreitenden<br />
Sachverhalten fördern. Sie<br />
soll sicherstellen, dass die EU-Rechtsvorschriften<br />
zur Mobilität leicht nachvollziehbar sind.<br />
• Schließlich soll die Europäische Arbeitsbehörde<br />
in grenzüberschreitenden Streitfällen vermitteln<br />
und auf Lösungen hinwirken.<br />
Ihre Arbeit als dezentrale EU-Agentur soll die<br />
Europäische Arbeitsbehörde nach Abschluss des<br />
entsprechenden EU-Gesetzgebungsverfahrens aufnehmen<br />
können.<br />
Der in der Kommission für den Euro und den<br />
sozialen Dialog zuständige Vizepräsident VALDIS<br />
DOMBROVSKIS erläuterte: „Europa ist nun auf stetigem<br />
Wachstumskurs und die Beschäftigungszahlen steigen,<br />
doch müssen wir dafür sorgen, dass das Wachstum<br />
inklusiver ist und allen zugutekommt. In diesem Paket<br />
werden eine Reihe von Maßnahmen zur Erreichung dieses<br />
Ziels aufgezeigt: sicherstellen, dass die Regeln für das<br />
Leben und Arbeiten in der Europäischen Union allgemein<br />
bekannt sind und durchgesetzt werden; die Umsetzung<br />
der europäischen Säule sozialer Rechte weiterverfolgen;<br />
generell starke Impulse für soziale Rechte geben; den<br />
Schwerpunkt auf den Zugang zu Sozialschutz legen. Ein<br />
stärkeres soziales Europa ist ein nachhaltigeres Europa.“<br />
MARIANNE THYSSEN, EU-Kommissarin für Beschäftigung,<br />
Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität,<br />
fügte hinzu: „Mit unserem Vorschlag für<br />
den Zugang zum Sozialschutz stellen wir außerdem gemeinsam<br />
mit den Mitgliedstaaten sicher, dass niemand<br />
zurückgelassen wird. Wir wollen gewährleisten, dass alle<br />
Menschen Zugang zu angemessenen Leistungen haben,<br />
unabhängig davon, wie sich die neue Arbeitswelt entwickelt.“<br />
Gleichzeitig hat die Kommission auch eine Empfehlung<br />
vorgelegt, wie die Mitgliedstaaten allen<br />
Arbeitnehmern und Selbstständigen Zugang zum<br />
Sozialschutz ermöglichen können. Insbesondere<br />
betrifft der Vorschlag diejenigen, die aufgrund<br />
ihres Beschäftigungsstatus bislang nicht ausreichend<br />
durch die Systeme der sozialen Sicherheit<br />
abgesichert sind. Die Empfehlung sieht vor:<br />
• formale Lücken bei der Absicherung zu schließen,<br />
so dass sich Arbeitnehmer und Selbstständige,<br />
die sich in vergleichbaren Situationen<br />
befinden, entsprechenden Sozialversicherungssystemen<br />
anschließen können;<br />
• ihnen eine angemessene tatsächliche Absicherung<br />
anzubieten, damit sie geeignete Ansprüche<br />
aufbauen/geltend machen können;<br />
• die Übertragung von Sozialversicherungsansprüchen<br />
von einem Arbeitsplatz zum nächsten<br />
zu erleichtern;<br />
• Arbeitnehmer und Selbstständige klar über<br />
ihre Sozialversicherungsansprüche und -verpflichtungen<br />
zu informieren.<br />
Die Kommission verweist darauf, dass sich derzeit<br />
fast 40 % der Beschäftigten in der EU entweder in<br />
einem atypischen Arbeitsverhältnis befinden oder<br />
selbstständig sind. Diese Beschäftigten seien sozial<br />
nicht immer gut abgesichert und hätten keine<br />
Arbeitslosenversicherung oder keinen Zugang zu<br />
Rentenansprüchen. Die Vorschläge der Kommission<br />
bedürfen noch der Zustimmung des EU-<br />
Parlaments bzw. des Rats, sollen nach ihrer Vorstellung<br />
aber bereits 2019 zur Einrichtung der<br />
Europäischen Arbeitsbehörde führen.<br />
[Quelle: EU-Kommission]<br />
Geldbußen nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz<br />
Am 1.11.2017 ist das Gesetz zur Verbesserung<br />
der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken<br />
(Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) in<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 365
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Kraft getreten (BGBl I, S. 3352). Das NetzDG, von<br />
vielen auch Facebook-Gesetz genannt, richtet<br />
sich gegen Hetze und gefälschte Meldungen<br />
(Fake News) in sozialen Netzwerken. Bei Verstößen<br />
gegen Verpflichtungen aus dem Gesetz<br />
sieht das NetzDG z.T. empfindliche Geldbußen<br />
(bis 50 Mio. €) gegen die Netzwerkbetreiber vor.<br />
Auf Grundlage von § 4 Abs. 4 S. 2 NetzDG hat nun<br />
das Bundesjustizministerium im Einvernehmen<br />
mit dem Bundesministerium des Innern, dem<br />
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie<br />
und dem Bundesministerium für Verkehr und<br />
digitale Infrastruktur allgemeine Verwaltungsgrundsätze<br />
über die Ausübung des Ermessens der<br />
Bußgeldbehörde bei der Einleitung eines Bußgeldverfahrens<br />
und bei der Bemessung der Geldbußen<br />
erlassen.<br />
Die konkrete Bußgeldzumessung geschieht in<br />
einem relativ komplizierten Verfahren, bei dem<br />
u.a. auch das betroffene soziale Netzwerk nach<br />
Größe zu klassifizieren ist und die Tatumstände<br />
und -folgen von „leicht“ bis „außerordentlich<br />
schwer“ einzuordnen sind. Hier geben die Leitlinien<br />
die nötigen Anhaltspunkte für die Ausübung<br />
des behördlichen Ermessens.<br />
Die NetzDG-Bußgeldleitlinien sind auf der Internetseite<br />
des Bundesjustizministeriums als PDF-<br />
Dokument veröffentlicht und können unter der<br />
Adresse www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/<br />
Themen/Fokusthemen/NetzDG_Bußgeldleitlinien.html<br />
abgerufen werden.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Überarbeiteter Leitfaden für die<br />
Abwicklung von Kanzleien<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer hat ihre „Hinweise<br />
für die Tätigkeit des Abwicklers“ überarbeitet.<br />
Die Hinweise geben einen Überblick<br />
über die Aufgaben des Abwicklers und seine<br />
Befugnisse. So wird etwa auf die Aspekte „Geldund<br />
Postverkehr“ (neuerdings einschließlich beA),<br />
Beschäftigten- und sonstige Vertragsverhältnisse,<br />
Mandate und Haftung sowie auch auf die Vergütung<br />
des Abwicklers eingegangen.<br />
Die Leitlinien der BRAK verstehen sich lediglich als<br />
Empfehlungen, stellen jedoch im Wesentlichen<br />
auch eine Zusammenfassung der Rechtslage dar.<br />
Erforderlich wurde die Aktualisierung durch eine<br />
Anpassung an die aktuelle Rechtsprechung und<br />
Gesetzeslage. Zu berücksichtigen waren u.a.:<br />
• die Ende 2016 in Kraft getretenen RAVPV<br />
sowie die jüngste BRAO-Reform,<br />
• die Verlängerung der Aktenaufbewahrungsfrist<br />
von fünf auf sechs Jahre,<br />
• die Rechtsprechung zum Verhältnis von Abwickler<br />
und Insolvenzverwalter.<br />
Die neuen Hinweise sind in <strong>ZAP</strong> F. 23, S. 1121 (in<br />
dieser Ausgabe) in vollständiger Fassung abgedruckt.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
Neues Rechtsanwalts- und ReNo-<br />
Fachangestellten-Merkblatt<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat darauf<br />
hingewiesen, dass sein Vereinsvorstand das<br />
aktualisierte „Rechtsanwalts- und ReNo-Fachangestelltenmerkblatt<br />
<strong>2018</strong>“ verabschiedet hat.<br />
Das Merkblatt wurde in wichtigen Punkten überarbeitet,<br />
so bestand Aktualisierungsbedarf insbesondere<br />
im Hinblick auf die Vergütung der<br />
Überstunden, die Arbeitszeitmodelle sowie beim<br />
Urlaubsanspruch. Auch der vom DAV erarbeitete<br />
Musterarbeitsvertrag wurde an die aktuellen<br />
gesetzlichen Vorgaben angepasst.<br />
Das DAV-Merkblatt soll eine Orientierungshilfe<br />
für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte im<br />
Hinblick auf die Beschäftigung, Vergütung und<br />
Förderung der Weiterbildung des Kanzleipersonals<br />
bieten. So enthält es u.a. eine Liste der<br />
Mindestbestandteile für einen Arbeitsvertrag,<br />
Vorschläge für die wöchentliche Arbeitszeit (laut<br />
DAV 38–40 Stunden) und zur Mindestvergütung<br />
(ab 1.800 €/Monat bei einer 40-Stundenwoche,<br />
wobei der DAV selbst zugesteht, dass<br />
dieser gesetzliche Mindestlohn für das qualifizierte<br />
Kanzleipersonal keine angemessene Vergütung<br />
darstellt) sowie für etwaige Sonderzahlungen,<br />
Urlaub und Fortbildung.<br />
Das neue Merkblatt sowie einen Musterarbeitsvertrag<br />
finden Interessierte auf der Internetseite<br />
des DAV unter https://anwaltverein.de/de/reno#-<br />
panel-merkblaetter.<br />
[Quelle: DAV]<br />
366 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 61<br />
Eilnachrichten<br />
Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Reitunfall: Haftung des Tierhalters<br />
(OLG Saarbrücken, Urt. v. 31.1.<strong>2018</strong> – 2 U 30/15) • Nach § 833 S. 2 BGB tritt die Ersatzpflicht des Tierhalters<br />
nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder<br />
dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung<br />
des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat oder der Schaden auch bei<br />
Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde. Ein von einer gemeinnützigen GmbH in einer<br />
Jugendhilfeeinrichtung zum heilpädagogischen Reiten eingesetztes Pferd unterliegt nicht dem Nutztierprivileg<br />
des § 833 S. 2 BGB. Der Haftung des Tierhalters gegenüber demjenigen, der ein Pferd zweimal<br />
wöchentlich im Rahmen einer auf Honorarbasis ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit bereitet, kann nicht<br />
entgegengehalten werden, das Bereiten erfolge auf eigene Gefahr. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 217/<strong>2018</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Abgasskandal: Rücktrittsrecht<br />
(LG Bonn, Urt. v. 7.3.<strong>2018</strong> – 19 O 327/17) • Eine Motorsteuerung, die erkennt, ob das Fahrzeug sich auf<br />
einem Prüfstand befindet, und die in diesem Fall einen Motorbetrieb bewirkt, bei dem die Abgasrückführung<br />
gegenüber dem Betrieb im Straßenverkehr zu einem niedrigeren Schadstoffausstoß führt,<br />
begründet einen erheblichen Mangel des Fahrzeugs, der gegenüber dem Händler zum Rücktritt<br />
berechtigt. Bereits der Umstand, dass das Kraftfahrt-Bundesamt prüfen muss, ob eine Entziehung der<br />
Betriebserlaubnis geboten ist, wenn der Hersteller nicht innerhalb einer angemessenen Frist für Abhilfe<br />
sorgt, belegt, dass die Software-Manipulation zu weitreichenden Folgen bis hin zu einer Fahrzeugstilllegung<br />
führen kann. An der Erheblichkeit des Mangels besteht daher keinerlei Zweifel. Der Hersteller des<br />
betreffenden Motors begeht durch dessen Vertrieb eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung des<br />
Erwerbers eines Fahrzeugs, in welchem dieser Motor verbaut ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 218/<strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Gewerberaummiete: Richtige Adressierung eines Kündigungsschreibens<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 28.2.<strong>2018</strong> – 5 U 1439/17) • Der Erklärungsempfänger ist verpflichtet, unter<br />
Berücksichtigung aller ihm erkennbaren Umstände zu prüfen, was der Erklärende gemeint hat. Für das<br />
Wirksamwerden einer empfangsbedürftigen Willenserklärung ist erforderlich, dass sie mit Willen des<br />
Erklärenden in den Verkehr gelangt ist und der Erklärende damit rechnen konnte und gerechnet hat,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 367
Fach 1, Seite 62 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
dass sie den richtigen Empfänger erreichen werde. Hinweis: Auch dann, wenn ein Kündigungsschreiben<br />
den richtigen Empfänger erreicht, muss dieser aber u.U. nicht davon ausgehen, dass es auch an ihn<br />
gerichtet ist, wenn es nicht an ihn adressiert ist. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass<br />
Mietverhältnisse oft über einen langen Zeitraum laufen, empfiehlt es sich, vor der Formulierung von z.B.<br />
Vertragskündigungen zu prüfen, ob ggf. der Mietvertrag aufgrund einer Umfirmierung mit einer<br />
anderen Person besteht oder mehrere Mietverträge mit unterschiedlichen Personen betroffen sind, um<br />
sicherzustellen, dass das Schreiben den richtigen Empfänger erreicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 219/<strong>2018</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Bauüberwachung: Kostenerstattung<br />
(LG Frankfurt/M., Urt. v. 7.3.<strong>2018</strong> – 2-01 S 10/17) • Im Baurecht ist anerkannt, dass die Kosten der<br />
Bauüberwachung nur erstattungsfähig sind, wenn sie im Hinblick auf den Umfang und die Intensität der<br />
Maßnahme bei verständiger Würdigung angemessen sind. Nicht erstattungsfähig sind insoweit die<br />
Kosten für die Überwachung des Objekts. Mit dem auch im Baurecht nach § 241 Abs. 2 BGB bestehenden<br />
Grundsatz gegenseitiger Rücksichtnahme wäre es unvereinbar, wenn dem Besteller für die Überwachung<br />
des Unternehmers generell ein Kostenerstattungsanspruch zustünde. Der Besteller kann vom<br />
Unternehmer daher keinen Verdienstausfall für seine bloße Anwesenheit während der Werkausführung<br />
in einer Privatwohnung verlangen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 220/<strong>2018</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Reiserecht: Kündigung nach erheblicher Änderung einer Reiseleistung<br />
(BGH, Urt. v. 16.1.<strong>2018</strong> – X ZR 44/17) • Nach § 651a Abs. 5 S. 2 BGB kann der Reisende bei einer Erhöhung<br />
des Reisepreises um mehr als 5 % oder einer erheblichen Änderung einer wesentlichen Reiseleistung vom<br />
Reisevertrag zurücktreten. Das Kündigungsrecht des Reisenden setzt voraus, dass eine wesentliche<br />
Reiseleistung vom Reiseveranstalter erheblich geändert wird. Es ist damit grds. nicht davon abhängig, ob<br />
der Reiseveranstalter zur Änderung der Reiseleistung berechtigt ist. Ob Änderungen des vertraglichen<br />
Leistungsbilds für den Reisenden zumutbar sind, ist aufgrund einer Abwägung der Interessen der<br />
Vertragsparteien zu beurteilen. Es sind nur Leistungsänderungen zulässig, die den Gesamtcharakter der<br />
Reise nicht verändern. Hinweis: Nach der hier vom BGH vertretenen Auffassung sind nur Leistungsänderungen<br />
zumutbar, die den Gesamtcharakter der Reise nicht verändern und aufgrund von<br />
Umständen notwendig werden, die nach Vertragsschluss eintreten und dem Reiseveranstalter bei<br />
Vertragsschluss nicht bekannt und für ihn bei ordnungsgemäßer Prüfung der Durchführbarkeit der<br />
Reiseplanung auch nicht vorhersehbar waren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 221/<strong>2018</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Nachbarrecht: Ausgleichsanspruch nach Brand durch Reparaturarbeiten<br />
(BGH, Urt. v. 9.2.<strong>2018</strong> – V ZR 311/16) • Ein Grundstückseigentümer, der einen Handwerker<br />
Reparaturarbeiten am Haus vornehmen lässt, ist als Störer i.S.d. § 1004 Abs. 1 BGB verantwortlich,<br />
wenn das Haus infolge der Arbeiten in Brand gerät und das Nachbargrundstück beschädigt wird. Dass<br />
der Handwerker sorgfältig ausgesucht wurde, ändert daran nichts. Die Störereigenschaft folgt nicht<br />
allein aus dem Eigentum oder Besitz an dem Grundstück, von dem die Einwirkung ausgeht.<br />
Erforderlich ist vielmehr, dass die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks wenigstens mittelbar auf<br />
den Willen des Eigentümers oder Besitzers zurückgeht. Ob dies der Fall ist, kann nicht begrifflich,<br />
sondern nur in wertender Betrachtung von Fall zu Fall festgestellt werden. Entscheidend ist, ob es<br />
jeweils Sachgründe gibt, dem Grundstückseigentümer oder -besitzer die Verantwortung für ein<br />
Geschehen aufzuerlegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 222/<strong>2018</strong><br />
368 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 63<br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Negativzinsen: Wirksamkeit von AGB<br />
(LG Tübingen, Urt. v. 26.1.<strong>2018</strong> – 4 O 187/17) • Allgemeine Geschäftsbedingungen einer Bank, mit denen<br />
bei Sicht-, Termin- und Festgeldeinlagen im Verhältnis zu Verbrauchern Negativzinsen eingeführt<br />
werden, sind dann nach § 307 BGB unwirksam, wenn davon auch Altverträge erfasst werden, die ohne<br />
eine Entgeltpflicht des Kunden geschlossen wurden. Hinweis: Mit diesem Urteil wird bei bestehenden<br />
Altverträgen den Sparern die Sicherheit gegeben, dass nicht einseitig eine Einführung von negativen<br />
Strafzinsen erfolgen kann. Nicht geklärt ist hingegen weiterhin, ob eine Einführung für die Institute<br />
ökonomisch überhaupt notwendig ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 223/<strong>2018</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Rettungsfahrzeug: Betriebsgefahr<br />
(OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.2.<strong>2018</strong> – 1 U 112/17) • Auch wenn ein bei Grün in eine Kreuzung einfahrender<br />
Verkehrsteilnehmer i.d.R. darauf vertrauen darf, dass der Querverkehr Rotlicht beachten muss und<br />
deshalb stillsteht, und ein Kraftfahrer auch nicht ständig mit dem Auftauchen eines Fahrzeugs rechnen<br />
muss, dem freie Bahn einzuräumen ist, entbindet ihn dies nicht davon, auf ein plötzlich auftauchendes<br />
Einsatzfahrzug umgehend zu reagieren. Von einem Rettungswagen, der unter Inanspruchnahme von<br />
Sonderrechten trotz Rotlicht in eine Kreuzung einfährt, geht eine hohe Gefährdung aus, da die anderen<br />
Verkehrsteilnehmer sich erst auf diese unvermittelt geschaffene Verkehrssituation einstellen müssen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 224/<strong>2018</strong><br />
Geschwindigkeitsüberschreitung: Abstand zwischen Verkehrszeichen und Messstelle<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.<strong>2018</strong> – 2 Rb 9 Ss 794/17) • Durch Verwaltungsvorschriften ist in Baden-<br />
Württemberg seit dem 1.7.2015 kein bestimmter Abstand zwischen dem die Geschwindigkeitsbeschränkung<br />
anordnenden Verkehrszeichen und der Messstelle mehr vorgeschrieben. Ob dieser Abstand Einfluss<br />
auf die Bewertung des Verstoßes hat, ist danach einzelfallabhängig und deshalb keine Grundlage für die<br />
Zulassung der Rechtsbeschwerde. Schrittgeschwindigkeit (Zeichen 325.1) lässt keine höhere Geschwindigkeit<br />
als 7 km/h zu. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 225/<strong>2018</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Lebensversicherung: Verjährung des Rückabwicklungsanspruchs<br />
(BGH, Urt. v. 21.2.<strong>2018</strong> – IV ZR 304/16) • Der Verjährungsbeginn setzt gem. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB aus<br />
Gründen der Rechtssicherheit und Billigkeit grds. nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden<br />
Umstände voraus. Nicht erforderlich ist i.d.R., dass der Gläubiger aus den ihm bekannten Tatsachen die<br />
zutreffenden rechtlichen Schlüsse zieht. Ausnahmsweise kann die Rechtsunkenntnis des Gläubigers den<br />
Verjährungsbeginn aber hinausschieben, wenn eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, die<br />
selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig einzuschätzen vermag. In diesen Fällen fehlt es an der<br />
Zumutbarkeit der Klageerhebung als übergreifender Voraussetzung für den Verjährungsbeginn. Der<br />
Beginn der Verjährungsfrist für einen Rückabwicklungsanspruch nach einem Rücktritt gem. § 8 VVG a.F.<br />
war nicht wegen einer unsicheren und zweifelhaften Rechtslage hinausgeschoben.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 226/<strong>2018</strong><br />
Familienrecht<br />
Sorgerechtsprozess: Unterbliebene Kindesanhörung<br />
(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 29.12.2017 – 9 UF 54/17) • Gemäß § 159 Abs. 2 FamFG ist ein Kind, das das<br />
14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, persönlich durch das Familiengericht anzuhören, wenn die Neigungen,<br />
Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn eine persönliche<br />
Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist. Die erste Voraussetzung liegt bei einem Verfahren<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 369
Fach 1, Seite 64 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
nach § 1671 BGB (Übertragung der Alleinsorge bei Getrenntleben der Eltern) regelmäßig vor. Diese<br />
Anhörung kann mangels vergleichbaren Verfahrensgegenstands grds. nicht durch eine vorangegangene<br />
Anhörung in einem Umgangsrechtsverfahren ersetzt werden. Der wesentliche Inhalt einer durchgeführten<br />
Anhörung ist nach § 28 Abs. 4 FamFG in einem schriftlichen Vermerk festzuhalten. Die zu Unrecht<br />
unterbliebene Kindesanhörung begründet einen schwerwiegenden Verfahrensfehler, der auf entsprechenden<br />
Antrag hin die Aufhebung und Zurückverweisung gem. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG rechtfertigt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 227/<strong>2018</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Pflichtteilsergänzungsansprüche: Feststellung der Abstammung<br />
(OLG Düsseldorf, Urt. v. 1.12.2017 – 7 U 151/16) • Der Kläger kann aufgrund § 1600d Abs. 4 BGB grds. erst mit<br />
der rechtskräftigen Feststellung seiner Abstammung von dem Erblasser Pflichtteilsansprüche gegen seine<br />
Halbgeschwister als Miterben geltend machen. Zuvor steht seine Abstammung und damit auch sein<br />
Pflichtteilsrecht nicht fest. Die kurze dreijährige Verjährungsfrist des Pflichtteilsergänzungsanspruchs<br />
beginnt mit dem Erbfall, also mit dem Tod des Erblassers. Durch die Verjährungsregelung ist zwar die<br />
verfassungsrechtlich normierte Erbrechtsgarantie betroffen, da diese Regelung die Durchsetzbarkeit des<br />
Pflichtteilsrechts einschränkt. Der Eingriff in den Schutzbereich ist aber nicht verfassungswidrig.<br />
Typischerweise wird mit der erforderlichen Erkennbarkeit des Anspruchs innerhalb der dreijährigen Frist<br />
seit dem Todesfall zu rechnen sein. Der Umstand, dass die Vaterschaft erst posthum, und dazu erst nach<br />
Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist festgestellt wird, stellt nicht die Regel dar. Darüber hinaus ist eine<br />
Benachteiligung durch die fehlende Vaterschaftsfeststellung nicht gegeben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 228/<strong>2018</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Berufung: Anwendbarkeit der Präklusionsvorschrift<br />
(BGH, Beschl. v. 27.2.<strong>2018</strong> – VIII ZR 90/17) • Nach § 531 Abs. 1 ZPO bleiben Angriffs- und Verteidigungsmittel,<br />
die im ersten Rechtszug zu Recht zurückgewiesen worden sind, auch für die Berufungsinstanz<br />
ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist aber nur anwendbar, soweit Angriffs- und Verteidigungsmittel in<br />
erster Instanz nach § 296 Abs. 1, 2 oder 3 ZPO zurückgewiesen worden sind. Die Vorschrift ist daher nicht<br />
anwendbar, wenn in erster Instanz Vorbringen nach § 296a ZPO unberücksichtigt geblieben ist. Um ein<br />
von § 531 Abs. 2 ZPO erfasstes neues Vorbringen in der Berufungsinstanz handelt es sich dann, wenn ein<br />
(streitiger) Vortrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz nicht vorgebracht und<br />
daher im erstinstanzlichen Urteil zu Recht gem. § 296a ZPO unberücksichtigt geblieben ist. Anders liegen<br />
die Dinge jedoch, wenn das Vorbringen durch ein nach § 283 S. 1 ZPO gewährtes Schriftsatzrecht gedeckt<br />
und damit zu dem nach § 296a S. 2 ZPO zu beachtenden erstinstanzlichen Prozessstoff gehört.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 229/<strong>2018</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Pfändungsschutz: Freigabe selbstständiger Tätigkeit des Schuldners<br />
(BGH, Beschl. v. 25.1.<strong>2018</strong> – IX ZA 19/17) • Gibt der Insolvenzverwalter die selbstständige Tätigkeit des<br />
Schuldners frei, steht dem Schuldner für Forderungen aus seiner selbstständigen Tätigkeit, die von der<br />
Freigabe der selbstständigen Tätigkeit umfasst sind, im Verhältnis zur Masse kein Pfändungsschutz für<br />
sonstige Einkünfte zu. Bezogen auf den Neuerwerb aus der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit<br />
findet § 850i ZPO im Verhältnis zur Masse keine Anwendung. Kann der Schuldner seinen Unterhalt und<br />
den seiner Familie nicht aus seiner freigegebenen selbstständigen Tätigkeit erwirtschaften, kann er<br />
Unterhaltsansprüche weiterhin gegen die Insolvenzmasse geltend machen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 230/<strong>2018</strong><br />
Zwangsvollstreckung: Einstellung aus einem Urteil des Arbeitsgerichts<br />
(LAG Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.12.2017– 17 Sa 84/17) • Auch wenn erst nach Einlegung der<br />
Berufung ein Umstand eintritt, der einem Weiterbeschäftigungsanspruch entgegenstehen könnte, kann<br />
370 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 65<br />
die Zwangsvollstreckung nur vorläufig eingestellt werden, wenn die Vollstreckung dem Beklagten einen<br />
nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Ein nicht zu ersetzender Nachteil ist dann gegeben, wenn<br />
die Zwangsvollstreckung zu einem nicht wiedergutzumachenden Schaden führen würde. Nicht<br />
wiedergutzumachen ist nur, was nicht mehr rückgängig gemacht oder ausgeglichen werden kann.<br />
Bei einem auf Beschäftigung eines Arbeitnehmers gerichteten Urteil ist nicht allein schon darin ein<br />
unersetzbarer Nachteil zu sehen, dass eine stattgefundene Beschäftigung nicht rückgängig gemacht<br />
werden kann. Vielmehr muss die Beschäftigung sonstige Schäden in einem Ausmaß befürchten lassen,<br />
dass aller Wahrscheinlichkeit nach vom Arbeitnehmer kein Ersatz zu erlangen sein wird.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 231/<strong>2018</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Beendigung GbR: Kein vertraglicher Anspruch auf Gewinnanteil<br />
(OLG Frankfurt, Beschl. v. 15.2.<strong>2018</strong> – 3 U 176/15) • Nach der Beendigung einer Gesellschaft bürgerlichen<br />
Rechts (GbR) steht dem einzelnen Gesellschafter für zurückliegende Zeiträume kein vertraglicher<br />
Anspruch auf seinen Gewinnanteil mehr zu, sondern nur noch ein Anspruch auf seinen Anteil am<br />
Auseinandersetzungsguthaben. Etwas anderes gilt nicht schon dann, wenn sich die Auseinandersetzung<br />
wegen der Unnachgiebigkeit der Gesellschafter lange hinzieht. Die Auflösung einer GbR führt ebenso<br />
wie das Ausscheiden eines Gesellschafters grds. dazu, dass ein Gesellschafter die ihm gegen die<br />
Gesellschaft und die Mitgesellschafter zustehenden Ansprüche nicht mehr selbstständig im Wege der<br />
Leistungsklage durchsetzen kann (Durchsetzungssperre). Diese sind vielmehr als unselbstständige<br />
Rechnungsposten in die Schlussrechnung aufzunehmen, deren Saldo ergibt, wer von wem noch etwas<br />
zu fordern hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 232/<strong>2018</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Betriebsgeheimnis: Verwendungsverbot<br />
(BGH, Urt. v. 16.11.2017 – I ZR 161/16) • Eine unter Verstoß gegen § 17 UWG erlangte Kenntnis von<br />
Betriebsgeheimnissen dürfen in keiner Weise verwendet werden. Ergebnisse, die der Verletzer durch<br />
solche Kenntnisse erzielt, sind von Anfang an und – jedenfalls i.d.R. – dauernd mit dem Makel der<br />
Wettbewerbswidrigkeit behaftet. Das Verwendungsverbot bezieht sich allerdings nicht auf jegliche, nur<br />
mittelbar mit der Verletzung von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen zusammenhängende wettbewerbliche<br />
Vorteile, sondern nur auf den unter Verletzung des Betriebsgeheimnisses hergestellten<br />
Gegenstand und dessen Verwertung. So darf der Verletzer eine technische Anlage, die durch Benutzung<br />
von unter Verstoß gegen § 17 UWG wettbewerbswidrig erworbenen Kenntnissen erstellt wurde, nicht<br />
verwenden. Gleiches gilt für Werkzeuge, die anhand von unbefugt verwerteten Zeichnungen hergestellt<br />
worden sind. Ferner hat der Verletzer den Gewinn herauszugeben, der durch den Einsatz von unter<br />
Verwendung geheimen Know-hows hergestellten Werkzeugen erzielt wurde. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 233/<strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Mutterschutz: Kündigung von Schwangeren bei Massenentlassungen<br />
(EuGH, Urt. v. 22.2.<strong>2018</strong> – C-103/16) • Die Richtlinie 92/85/EWG v. 19.10.1992 über die Durchführung von<br />
Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen,<br />
Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen (ABl 1992, L 348, S. 1) steht einer<br />
nationalen arbeitsrechtlichen Regelung nicht entgegen, wonach die Kündigung einer schwangeren<br />
Arbeitnehmerin aufgrund einer Massenentlassung zulässig ist. Jedoch verlangt die Richtlinie, dass der<br />
Arbeitgeber (a) die nicht in der Person der schwangeren Arbeitnehmerin liegenden Gründe schriftlich<br />
darlegt, aus denen er die Massenentlassung vornimmt (nämlich wirtschaftliche, technische oder sich auf<br />
Organisation oder Produktion des Unternehmens beziehende Gründe), und (b) der betroffenen<br />
Arbeitnehmerin die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer nennt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 234/<strong>2018</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 371
Fach 1, Seite 66 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
Jobcenter: Bereicherungsrechtlicher Anspruch gegen den Vermieter<br />
(BGH, Urt. v. 31.1.<strong>2018</strong> – VIII ZR 39/17) • Hat das Jobcenter das dem Wohnungsmieter zustehende<br />
Arbeitslosengeld II als Bedarf für Unterkunft und Heizung versehentlich auch noch nach der Beendigung<br />
des Mietverhältnisses im Wege der Direktzahlung nach § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II an den bisherigen<br />
Vermieter gezahlt, kann es von diesem – unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden (widerrufenen)<br />
Anweisung – unmittelbar die Herausgabe der ohne rechtlichen Grund erfolgten Zuvielzahlung im Wege<br />
der Nichtleistungskondiktion verlangen. Diesem Anspruch steht nicht der Grundsatz des Vorrangs der<br />
Leistungskondiktion entgegen, wenn dem Vermieter aufgrund der Beendigung des Mietverhältnisses<br />
mit den Mietern bekannt ist, dass ihm ein Anspruch auf Zahlung der Miete nicht zustand und damit eine<br />
Überzahlung vorlag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 235/<strong>2018</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Pressefreiheit: Anspruch auf Gegendarstellung<br />
(BVerfG, Beschl. v. 7.2.<strong>2018</strong> – 1 BvR 442/15) • Wird auf dem Titelblatt einer Zeitung eine inhaltlich offene<br />
Frage aufgeworfen, so kann nicht allein aufgrund des Eindrucks, dass für die Frage irgendein Anlass<br />
bestehen müsse, von einer gegendarstellungsfähigen Tatsachenbehauptung ausgegangen werden.<br />
Fragen, die auf die Ermittlung von Wahrheit oder Unwahrheit gerichtet und offen für verschiedene<br />
Antworten sind, können keinen Gegendarstellungsanspruch auslösen. Hinweis: Mit dieser Begründung<br />
hat das Gericht der Verfassungsbeschwerde der zu einer Gegendarstellung verurteilten Verlegerin einer<br />
Wochenzeitschrift wegen Verstoßes gegen Art. 5 GG stattgegeben und die Sache an das zuständige<br />
OLG zurückverwiesen. Streitig war ein Titelblatt der Wochenzeitschrift, auf dem die Frage aufgeworfen<br />
wurde: „Sterbedrama um seinen besten Freund – Hätte er ihn damals retten können?“ Das BVerfG<br />
stellte klar, dass gegendarstellungsfähig nur Tatsachen sind, die die Presse zuvor behauptet hat.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 236/<strong>2018</strong><br />
Steuerrecht<br />
Klagerücknahme: Wirksamkeit<br />
(BFH, Beschl. v. 10.1.<strong>2018</strong> – I R 45/16) • Werden sowohl die Klage als auch die Revision zurückgenommen,<br />
ist regelmäßig anzunehmen, dass in erster Linie die Rücknahme der Klage als Prozesserklärung mit den<br />
weiterreichenden Folgen erklärt wurde. Von einem Vorrang der Klagerücknahme ist stets auszugehen,<br />
wenn die Revisionsrücknahme lediglich hilfsweise, etwa für den Fall der Unwirksamkeit der Klagerücknahme<br />
mangels Zustimmung des Beklagten, erklärt wird. Gibt der Beklagte zu einer Klagerücknahme<br />
innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des Klagerücknahmeschriftsatzes keine Widerspruchserklärung<br />
ab, dann gilt die Zustimmung zur Klagerücknahme als erteilt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 237/<strong>2018</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Gewaltanwendung durch Polizeikräfte: Effektivität der Ermittlungen<br />
(EGMR, Urt. v. 9.11.2017 – Individualbeschwerde-Nr. 47274/15) • Der Einsatz behelmter Beamter ohne<br />
individuelle Kennzeichnung und die daraus resultierende Unfähigkeit von Augenzeugen und Opfern, die<br />
Beamten, die eine Gewaltanwendung begangen haben sollen, zu identifizieren, ist geeignet, die<br />
Effektivität der Ermittlungen gegen diese Beamten von Anfang an zu behindern. Eine solche Sachlage<br />
erfordert bestimmte Ermittlungsanstrengungen seitens der Ermittlungsbehörden, um die Ursache der<br />
Verletzungen der Opfer, die Identitäten der verantwortlichen Personen sowie die Frage zu klären, ob<br />
Polizeibeamte Zwang anwendeten, und bejahendenfalls, ob dieser Zwang in einem angemessenen<br />
Verhältnis zu der Sicherheitslage stand, der sich die eingesetzten Einheiten gegenüber sahen. Hinweis:<br />
Im vorliegenden Fall bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 3 der Konvention (Verbot von Folter<br />
und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) wegen unzureichender nachträg-<br />
372 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 67<br />
licher Ermittlungen und sprach den Beschwerdeführern – alle während eines Polizeieinsatzes verletzte<br />
Besucher eines Fußballspiels in Deutschland – eine Entschädigung i.H.v. je 2.000 € zu. Auch wies der<br />
Gerichtshof darauf hin, dass der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher<br />
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe Mitte 2017 in einem Bericht Zweifel daran geäußert hat, ob<br />
Ermittlungen, die in Deutschland von Ermittlern der zentralen Ermittlungsstellen gegen andere<br />
Polizeibeamte durchgeführt werden, tatsächlich als vollständig unabhängig und unparteiisch angesehen<br />
werden können. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 238/<strong>2018</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Verbot der Doppelbestrafung: Zulässige Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes<br />
(EuGH, Urt. v. 20.3.<strong>2018</strong> – C-524/15 u.a.) • Der Grundsatz ne bis in idem kann zum Schutz der finanziellen<br />
Interessen der Union und ihrer Finanzmärkte beschränkt werden. Eine solche Beschränkung darf aber<br />
nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele zwingend erforderlich ist. Hinweis: In<br />
Anwendung der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie und der EU-Finanzmarktrichtlinie kann es – etwa bei der<br />
Ahndung von Marktmanipulationen – zum Zusammentreffen strafrechtlicher und verwaltungsrechtlicher<br />
Sanktionen wegen derselben Tat kommen. Der EuGH will eine solche Kumulation zulassen,<br />
macht sie jedoch von Voraussetzungen abhängig. Unter anderem verlangt er, dass die potenziellen<br />
Straftäter anhand präzise formulierter Rechtsvorschriften voraussehen können müssen, dass es zu einer<br />
Kumulation von Strafen kommen kann, des Weiteren, dass die Verfahren untereinander koordiniert<br />
werden. Schließlich darf die Schwere aller verhängten Maßnahmen zusammengenommen nicht außer<br />
Verhältnis zur Tat stehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 239/<strong>2018</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Fachanwaltsbezeichnung: Widerruf bei Verletzung der Fortbildungspflicht<br />
(AGH NRW, Urt. v. 8.12.2017 – 1 AGH 41/17) • Ein Rechtsanwalt, der eine Fachanwaltsbezeichnung führt,<br />
muss kalenderjährlich auf diesem Gebiet mindestens 15 Zeitstunden Fortbildung absolvieren und dies<br />
der Rechtsanwaltskammer nachweisen. Die Fortbildungspflicht ist in jedem Kalenderjahr aufs Neue zu<br />
erfüllen. Nach Ablauf des jeweiligen Jahres steht fest, ob der Rechtsanwalt im erforderlichen Umfang<br />
Fortbildung betrieben hat. Ist ein Jahr verstrichen, kann sich der Rechtsanwalt in diesem Jahr nicht mehr<br />
fortbilden. Eine die Verletzung der Fortbildungspflicht rückwirkend heilende Nachholung der Fortbildung<br />
kommt deshalb nicht in Betracht. Vielmehr kann in einem solchen Fall die Rechtsanwaltskammer<br />
die Befugnis zum Führen der Fachanwaltsbezeichnung widerrufen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 240/<strong>2018</strong><br />
Verjährung: Anspruch auf Herausgabe anwaltlicher Handakten<br />
(LG Frankfurt/M., Urt. v. 1.3.<strong>2018</strong> – 25 O 125/17) • Der Anspruch des Auftraggebers auf Herausgabe<br />
anwaltlicher Handakten verjährt unabhängig von einer berufsrechtlichen Aufbewahrungspflicht nach<br />
§§ 195, 199 Abs. 1 BGB. Die Regelverjährung nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB findet auf den Herausgabeanspruch<br />
nach § 667 BGB Anwendung. Dies gilt auch für den auf §§ 675 Abs. 1, 667 BGB gestützten<br />
Anspruch auf Herausgabe der anwaltlichen Handakten. Dabei sind die §§ 195, 199 Abs. 1 BGB für den<br />
Anspruch eines Auftraggebers auf Herausgabe der anwaltlichen Handakte nicht dahingehend<br />
teleologisch zu reduzieren, dass Verjährung nicht vor Ablauf der in § 50 Abs. 1 S. 1 BRAO n.F. oder in<br />
§ 50 Abs. 2 S. 1 BRAO a.F. normierten Aufbewahrungsfrist eintritt. Die allgemeinen Vorschriften der<br />
§§ 195, 199 Abs. 1 BGB sind nicht um einen Ausnahmetatbestand im eben genannten Sinne zu ergänzen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 241/<strong>2018</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Rechtsanwaltsgebühren: Kostenerstattung von Gebühren und Auslagen<br />
(BGH, Beschl. v. 24.1.<strong>2018</strong> – VII ZB 60/17) • Nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO hat die unterliegende Partei die<br />
Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insb. die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 373
Fach 1, Seite 68 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig waren. Nach § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO sind die<br />
gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei in allen Prozessen zu<br />
erstatten. Die unterliegende Partei trifft keine prozessuale Kostenerstattungspflicht nach § 91 ZPO<br />
gegenüber der obsiegenden Partei bezüglich einer von dieser gem. § 3a RVG vereinbarten Vergütung,<br />
soweit diese die gesetzliche Vergütung übersteigt. Eine vom Rechtsanwalt im Einzelfall gezahlte Prämie<br />
für eine Anschlussdeckung zur Vermögensschadenshaftpflichtversicherung löst, soweit die Prämie auf<br />
Haftungsbeträge bis 30 Mio. € entfällt, keinen gesetzlichen Vergütungsanspruch aus.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 242/<strong>2018</strong><br />
Gerichtskostenvorschuss: Erledigungsfrist von einer Woche<br />
(BGH, Urt. v. 29.9.2017 – V ZR 103/16) • Eine Partei muss den angeforderten Gerichtskostenvorschuss<br />
innerhalb eines angemessenen Zeitraums einzahlen. Die Partei muss nicht zwingend an demselben Tag<br />
tätig werden, an dem bei ihr die Anforderung eingeht. Bei der Bemessung der Frist, innerhalb der die<br />
Zahlung zu erfolgen hat, ist zudem nicht nur auf den für die Überweisung durch die Bank erforderlichen<br />
Zeitraum abzustellen. Es ist vielmehr auch die Zeitspanne zu berücksichtigen, die die Partei im<br />
Normalfall benötigt, um für eine ausreichende Deckung des Kontos zu sorgen und die Überweisung zu<br />
veranlassen. Der Partei ist deshalb i.d.R. eine Erledigungsfrist von einer Woche zur Einzahlung des<br />
angeforderten Gerichtskostenvorschusses zuzugestehen. Die Frist kann sich nach Umständen des<br />
Einzelfalls angemessen verlängern, etwa wenn der Kostenvorschuss eine beträchtliche Höhe hat.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 243/<strong>2018</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Menschenrechtskonvention: Nachteilige Veröffentlichungen in einer Online-Zeitung<br />
(EGMR, Urt. v. 19.10.2017 – Individualbeschwerde-Nr. 71233/13) • Ein Unterlassungsanspruch gegen einen<br />
Bericht über Korruptionsermittlungen kann nicht auf die Verletzung des Art. 8 der Europäischen<br />
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Recht auf Achtung der Privatsphäre)<br />
gestützt werden, wenn der betreffende Zeitungsartikel auf hinreichend glaubhafte Quellen gestützt ist,<br />
der Verfasser seine journalistischen Pflichten und Verantwortlichkeiten erfüllt hat und ein anerkennenswertes<br />
Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung besteht. Hinweis: Die Beschwerde betraf die<br />
Veröffentlichung eines Zeitungsartikels auf der Website der New York Times. In dem Artikel wurde der<br />
deutsche Beschwerdeführer namentlich genannt; außerdem wurden ihm, gestützt auf Berichte des FBI<br />
und europäischer Strafverfolgungsbehörden, Verbindungen zur russischen organisierten Kriminalität<br />
unterstellt. Unterlassungsbegehren vor deutschen Gerichten hatten keinen Erfolg. Allerdings hatte der<br />
BGH zur Frage der Zulässigkeit festgestellt, dass ein geltend gemachter Unterlassungsanspruch gegen<br />
einen im Ausland erschienenen Artikel durchaus in die Zuständigkeit der deutschen Gerichte fallen kann,<br />
wenn die Online-Version der Zeitung von Deutschland aus abrufbar ist und die darin enthaltene<br />
Veröffentlichung angesichts der Erwähnung eines Deutschen einen direkten Bezug zu Deutschland hat.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 244/<strong>2018</strong><br />
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374 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 907<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Wohnraummietrecht<br />
– 2. Halbjahr 2017<br />
Von RiAG Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Mietvertragsabschluss<br />
1. Abgrenzung zu anderen Vertragstypen<br />
2. Ermittlung des Mietgegenstands<br />
III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />
1. Wirksamkeit der Regelung generell<br />
2. Regionale Unwirksamkeit<br />
3. Beginn der Mietpreisbegrenzung<br />
4. Ermittlung der ortsüblichen<br />
Vergleichsmiete<br />
5. Auswirkung von Modernisierungsmaßnahmen<br />
6. Rüge<br />
7. Auskunftsanspruch<br />
IV. Schriftform<br />
V. Rechtsnachfolge<br />
1. Identität zwischen Vermieter und<br />
Verkäufer<br />
2. Wirksamkeit der Übereignung<br />
VI. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />
VII. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />
1. Absonderungsrecht<br />
2. Rückzahlungsanspruch<br />
VIII. Betriebskosten<br />
IX. Gewährleistungsrechte<br />
X. Mieterhöhung<br />
1. Indexmiete<br />
2. Kostenmiete<br />
XI. Modernisierung<br />
XII. Kündigung<br />
1. Kündigungsausschluss gegenüber<br />
Vorkaufsberechtigtem<br />
2. Ordentliche Kündigung<br />
3. Außerordentliche Kündigung<br />
XIII. Nutzungsentschädigung<br />
XIV. Schadensersatzansprüche<br />
XV. Prozessrecht<br />
1. Zuständigkeit<br />
2. Verkündung einer Entscheidung<br />
3. Beweisaufnahme durch selbstständiges<br />
Beweisverfahren<br />
4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
5. Räumungsvollstreckung<br />
6. Beschwer<br />
7. Gebührenstreitwert<br />
I. Einleitung<br />
Seit der Bundestagswahl im September ist es sechs Monate zum Stillstand im Gesetzgebungsbetrieb<br />
gekommen. Wenn man die Wahlkampfzeit ab Frühsommer noch hinzurechnet, ist es fast ein Jahr. Dem<br />
Mietrecht hat es nicht geschadet. Die Gerichte arbeiten die letzten eher interessengesteuerten<br />
Reförmchen gerade ab. Die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete ist bei den Gerichten angekommen<br />
und dort häufig „durchgefallen“. Die neue alte Koalition hat einige „olle Kamellen“ aus der letzten<br />
Legislaturperiode im Mietrecht wieder aufgewärmt: Mietspiegel sollen dadurch besser werden, dass sie<br />
komplizierter werden, Modernisierungsmieterhöhungen teilweise erschwert und teilweise erleichtert<br />
werden. Interessant ist die Frage, ob wirklich signifikant in den Neubau investiert wird, was wohl den<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 375
Fach 4 R, Seite 9<strong>08</strong><br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
einzigen wirklichen Mieterschutz darstellen würde. Ansonsten werden die vorgesehenen Änderungen mit<br />
Sicherheit keine Wende in angespannten Märkten bringen.<br />
II.<br />
Mietvertragsabschluss<br />
1. Abgrenzung zu anderen Vertragstypen<br />
Üblicherweise erfolgt die Gebrauchsüberlassung von Wohnräumen gegen Zahlung eines Entgelts. Dann<br />
handelt es sich um einen Mietvertrag. Für welche Zeitabschnitte die Zahlung jeweils zu erbringen ist und<br />
ob sich diese auf Betriebskosten oder die reine Grundmiete beziehen muss, ist dabei völlig egal. In der<br />
Praxis werden die ungewöhnlichsten Entgeltabreden vorgetragen, wenn eine Zwangsversteigerung des<br />
Grundstücks stattgefunden hat. Zweifel sind hier angebracht und werden vom BGH durchaus gefordert.<br />
Bei einer nahezu unentgeltlichen Überlassung von Wohnraum zu Wohnzwecken ist die Unterscheidung<br />
zwischen einem Mietvertrag (§ 535 BGB), einem Leihvertrag (§ 598 BGB), einem schuldrechtlichen<br />
Nutzungsverhältnis sui generis (§ 241 BGB) oder einem bloßen Gefälligkeitsverhältnis im Einzelfall<br />
schwierig. Zur Abgrenzung der verschiedenen rechtlichen Möglichkeiten muss nach Anlass und Zweck<br />
der Gebrauchsüberlassung differenziert werden. Dabei darf auch das nachträgliche Verhalten der<br />
Vertragsparteien berücksichtigt werden. Zwar kann dies den objektiven Vertragsinhalt nicht mehr<br />
beeinflussen, es hat aber Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlichen Willens. Allein die Übernahme<br />
gelegentlicher Reparaturkosten spricht nicht für eine mietvertragliche Vereinbarung. Denn auch bei<br />
der Leihe hat der Entleiher gem. §§ 598, 601 Abs. 1 BGB regelmäßig die der Erhaltung der Sache<br />
dienenden Kosten, die den Gebrauch der Sache erst ermöglichen, zu tragen. Die Kosten sind nach dem<br />
Leitbild des Leihvertrags gerade von demjenigen zu tragen, dem der Gebrauch der Sache zusteht (BGH<br />
WuM 2017, 630 = NZM 2017, 729 = GE 2017, 1335 = NJW-RR 2017, 1479 = MDR <strong>2018</strong>, 83 = ZMR <strong>2018</strong>, 21 =<br />
MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 72 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 22/2017 Anm. 2;<br />
METTLER MietRB 2017, 346; BORZUTZKI-PASING jurisPR-MietR 1/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 1).<br />
2. Ermittlung des Mietgegenstands<br />
Regelmäßig wird der Mietgegenstand im – schriftlichen – Mietvertrag bezeichnet. Jedoch geht der<br />
übereinstimmende ggf. vom Wortlaut abweichende Parteiwillen dem Wortlaut einer Individualvereinbarung<br />
bei der Auslegung vor (BGH NZM 2017, 812 = MietPrax-AK § 536a BGB Nr. 13 m. Anm.<br />
EISENSCHMID). Das kann z.B. bei der Frage, ob Inventarteile und/oder Zubehör mitvermietet wurden,<br />
bedeutsam sein.<br />
III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />
Die letzte Koalition hat als wesentliche Änderung des Mietrechts die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />
(Mietpreisbremse) eingeführt (dazu EISENSCHMID <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1649; BÖRSTINGHAUS NJW<br />
2015, 1553). Die Regelungen sind politisch höchst umstritten und anerkanntermaßen auch nicht<br />
besonders praxistauglich und nur eingeschränkt effektiv. Die Länder NRW und Schleswig-Holstein<br />
wollen die Regelung in ihrem Bundesland jeweils aufheben. Inzwischen liegen die ersten Entscheidungen<br />
zur Wiedervermietungsmiete vor.<br />
1. Wirksamkeit der Regelung generell<br />
Ob der Gesetzgeber erstmals in der Bunderepublik überhaupt die Neuvertragsmiete beschränken<br />
durfte, ist die grundsätzliche Frage des neuen Rechts. Überwiegend haben die Gerichte hinsichtlich der<br />
Verfassungsmäßigkeit der neuen BGB-Vorschriften keine Bedenken (LG Berlin NZM 2017, 332; AG<br />
Frankfurt/M. WuM 2017, 593 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 1; AG Hamburg-St.<br />
Georg WuM 469 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 20/2017 Anm. 2; AG Neukölln NZM 2017, 31; WuM<br />
2017, 714). Neuerdings hat aber eine Kammer des LG Berlin solche Bedenken geäußert, ihr Verfahren<br />
ausgesetzt und einen Vorlagebeschluss an das BVerfG verkündet (LG Berlin GE <strong>2018</strong>, 125 = WuM <strong>2018</strong>,<br />
74 = NZM <strong>2018</strong>, 118). Begründet hat sie dies vor allem mit einem Verstoß gegen Art. 3 GG, weil die Grenze<br />
wegen der unterschiedlichen ortsüblichen Vergleichsmiete in Deutschland in jeder Stadt anders wäre<br />
(im Ergebnis ebenso, aber mit anderer Begründung: SCHULDT, Mietpreisbremse – Eine juristische und<br />
ökonomische Untersuchung der Preisregulierung für preisfreien Wohnraum, Diss. 2016).<br />
376 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 909<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Praxishinweis:<br />
Bis zur Entscheidung des BVerfG ist von der Wirksamkeit der Regelung auszugehen!<br />
2. Regionale Unwirksamkeit<br />
Die Mietpreisbremse gilt nicht bundesweit, sondern nur in den Gemeinden, die von der jeweiligen<br />
Landesregierung in eine entsprechende Verordnung aufgenommen wurden (eine Liste aller Gemeinden<br />
befindet sich bei BÖRSTINGHAUS, in: SCHMIDT-FUTTERER, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 556d Rn 44a). Die<br />
Ermächtigungsgrundlage in § 556d Abs. 2 BGB setzt zwingend voraus, dass diese Landesverordnung<br />
(LandesVO) begründet werden muss. Dazu müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich<br />
ergibt, warum eine Gemeinde aufgenommen wurde. Mit dieser Tatbestandsvoraussetzung sind die<br />
Länder sehr unterschiedlich umgegangen. Einige Gerichte haben deshalb die maßgebliche LandesVO für<br />
unwirksam erklärt:<br />
a) Bayern<br />
Nachdem zunächst eine Abteilung des AG München (ZMR 2017, 655 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR<br />
14/2017 Anm. 4; KÜHLING/DRECHSLER ZfIR 2017, 619) wegen einer fehlenden ausreichenden Begründung die<br />
bayerische MietpreisbremsenVO für unwirksam erklärt hat, hat dies das LG München I nunmehr<br />
bestätigt (NJW <strong>2018</strong>, 407 = NZM <strong>2018</strong>, 83 = WuM <strong>2018</strong>, 32 = ZMR <strong>2018</strong>, 48). Zwar lag zum Zeitpunkt der<br />
Berufungsentscheidung nunmehr eine veröffentlichte Verordnungsbegründung vor, diese konnte aber<br />
zumindest keine rückwirkende Heilung des ursprünglichen Mangels herbeiführen.<br />
Hinweis:<br />
Offen ist in Bayern, ob die Mietpreisbremse ab 24.7.2017 gilt. Zu diesem Termin wurde die Begründung<br />
nachträglich veröffentlicht. Ebenso problematisch ist, wie lange die Verordnung dann laufen darf. Erlaubt<br />
sind maximal fünf Jahre. Diesen Zeitraum hatte der bayerische Verordnungsgeber ursprünglich mit einer<br />
Laufzeit vom 1.8.2015 bis zum 31.7.2020 voll ausgenutzt. Wenn man von einem Inkrafttreten am 24.7.2017<br />
ausginge, wäre zumindest eine Verlängerung bis 23.7.2022 zulässig.<br />
b) Berlin<br />
Während das LG Berlin bisher an der LandesVO nichts auszusetzen hatte, hat das AG Pankow (GE 2017,<br />
1559) nunmehr die Berliner Verordnung deshalb für unwirksam erklärt, weil sie nicht nach Stadtteilen<br />
differenziert und stattdessen ganz Berlin undifferenziert zum angespannten Wohnungsmarkt erklärt.<br />
Diese Auffassung des AG wird durch eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) bestätigt, wonach allenfalls in den Innenstadtlagen von einem angespannten Wohnungsmarkt<br />
ausgegangen werden kann (DIW Wochenbericht 7/<strong>2018</strong>, 1<strong>08</strong>).<br />
c) Hamburg<br />
In Hamburg hat das AG Hamburg-Altona in zwei Urteilen (ZMR 2017, 649; NJW-Spezial 2017, 738) die<br />
örtliche Verordnung für unwirksam erklärt. Zunächst habe keine ausreichende Begründung vorgelegen<br />
und dann habe die später veröffentlichte Begründung den Mangel nicht nachträglich heilen können. Das<br />
AG Hamburg-St. Georg (WuM 2017, 469 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 20/2017 Anm. 2) geht<br />
demgegenüber von einer nachträglichen Heilung aus.<br />
d) Hessen<br />
Etwas unübersichtlich ist die Lage in Hessen: Das Ministerium weigerte sich in der Vergangenheit<br />
hartnäckig, auch auf mehrfache Nachfrage, eine Begründung zu veröffentlichen. Das AG Frankfurt/M.<br />
(WuM 2017, 593 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 1) hatte aber wohl einen geheimen<br />
Verordnungsentwurf und die LandesVO deshalb für wirksam erachtet. So geht es natürlich nicht. Das<br />
hat dann auch das Ministerium eingesehen und im Internet eine 11-seitige Begründung veröffentlicht.<br />
Allerdings ohne offenzulegen, wann das geschehen ist. Das LG Frankfurt/M. hat dieses Spiel nicht<br />
mitgemacht und nun auch für Hessen die MietpreisbremseVO gekippt (Urt. v. 27.3.<strong>2018</strong> – 2-11 S 183/17).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 377
Fach 4 R, Seite 910<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
3. Beginn der Mietpreisbegrenzung<br />
Nach der maßgeblichen Überleitungsvorschrift im EGBGB gilt die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />
nur für Mietverträge, die nach Inkrafttreten der regionalen Landesverordnung abgeschlossen<br />
wurden. Das bedeutet, es kommt ausschließlich auf den Mietvertragsabschluss und nicht auf den<br />
Mietvertragsbeginn an (AG Charlottenburg, Urt. v. 31.8.2017 – 203 C 232/17 m. Anm. BÖRSTINGHAUS<br />
jurisPR-MietR 21/2017 Anm. 3).<br />
4. Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete<br />
Wenn man von der Wirksamkeit der Regelungen ausgeht, dann darf der Vermieter nach dem<br />
Grundtatbestand des § 556d Abs. 1 BGB nur eine Miete verlangen, die 110 % der ortsüblichen<br />
Vergleichsmiete beträgt. Die Ermittlung ist im Einzelfall schwierig. Qualifizierte Mietspiegel dürfen<br />
zur Ermittlung herangezogen werden (AG Frankfurt/M. WuM 2017, 593 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-<br />
MietR 23/2017 Anm. 1; AG Hamburg-St. Georg WuM 2017, 469 m. Anm. BÖRSTINGHAUS MietRB 2017, 284).<br />
Die Vermutungswirkung gilt ferner für die Ermittlung der maximalen Wiedervermietungsmiete gem.<br />
§ 556d Abs. 1 BGB (BÖRSTINGHAUS, in: SCHMIDT-FUTTERER, a.a.O., § 556c–d Rn 92).<br />
Hinweis:<br />
Ist strittig – wie in Berlin –, ob der Mietspiegel qualifiziert ist oder nicht, kann er zumindest als einfacher<br />
Mietspiegel verwendet werden (LG Berlin GE <strong>2018</strong>, 125 = WuM <strong>2018</strong>, 74 = NZM <strong>2018</strong>, 118; NZM 2017, 332; AG<br />
Neukölln WuM 2017, 714; AG Neukölln, Urt. v. 11.10.2017 – 20 C 19/17).<br />
5. Auswirkung von Modernisierungsmaßnahmen<br />
Nach § 556e Abs. 2 BGB erhöht sich die zulässige Weitervermietungsmiete bei Modernisierungsmaßnahmen,<br />
die der Vermieter in den letzten drei Jahren vor Abschluss des Mietvertrags hat<br />
ausführen lassen, um den Betrag, den der Vermieter bei einer Mieterhöhung gem. §§ 559 ff. BGB<br />
aufgrund der Maßnahme hätte ansetzen dürfen. Dieser Betrag ist zur ortsüblichen Vergleichsmiete für<br />
die unmodernisierte Wohnung hinzuzurechnen.<br />
Hinweis:<br />
Problematisch ist in diesen Fällen die Darlegungslast. Nach Ansicht des AG Charlottenburg (GE 2017, 1415)<br />
muss der Vermieter in diesen Fällen substantiiert darlegen, in welchem energetischen Erhaltungszustand<br />
und sonstigen Zustand sich das Gebäude vor der Modernisierungsmaßnahme befunden hatte und worin<br />
die Verbesserung zu sehen ist.<br />
Bei einer sog. umfassenden Modernisierung gilt die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete bei der<br />
ersten anschließenden Vermietung gar nicht. Nach der Gesetzesbegründung soll sich die Frage, wann<br />
eine Modernisierung umfassend ist, nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 WoFG richten. Deshalb wird ein Bauaufwand<br />
verlangt, der ca. 1/3 von Neubaukosten beträgt. Das AG Schöneberg (ZMR 2017, 990 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 25/2017 Anm. 1) geht von Neubaukosten von ca. 1.500 €/qm in Berlin aus,<br />
so dass bereits bei Aufwendungen von 500 €/qm die Ausnahme zum Zuge käme.<br />
6. Rüge<br />
Der Bundesgesetzgeber wollte bei der Mietpreisbremse den privaten Vermieter vor überraschenden<br />
Rückzahlungsansprüchen für längere Zeiten in der Vergangenheit schützen, da die genaue Höhe der<br />
zulässigen Miete nur schwer zu ermitteln ist. Deshalb hat er das Rügeerfordernis eingeführt. Der Mieter<br />
kann nur dann bereits gezahlte, aber vermeintlich zu hohe Mieten zurückverlangen, wenn er die<br />
Miethöhe beim Vermieter vorher qualifiziert gerügt hat. Nach Ansicht des AG Neukölln (NZM 2017, 31)<br />
erfüllt eine Rüge dann die gesetzlichen Voraussetzungen, wenn der Mieter sich darin auf ihm bekannte<br />
Umstände sowie den Mietspiegel beruft. Dabei kann von ihm nicht mehr als eine Einordnung seiner<br />
Wohnung in die Felder des Mietspiegels verlangt werden.<br />
378 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 911<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Praxishinweise:<br />
• Die Rüge ist immer dann erforderlich, wenn der Mieter die Miete bereits gezahlt hat, also z.B. auch bei<br />
einer Aufrechnung des Rückzahlungsanspruchs gegenüber Vermieteransprüchen.<br />
• Keine Rüge ist erforderlich, wenn der Mieter die Miete – teilweise – nicht gezahlt hat und der Vermieter<br />
diesen Anspruch einklagt. In diesem Fall kann der Vermieter sich gegenüber dem Zahlungs- und ggf.<br />
auch Räumungsanspruch unter Berufung auf eine Teilunwirksamkeit der Mietpreisabrede gem. § 556g<br />
Abs. 1 BGB verteidigen.<br />
• Beachtet werden muss dabei aber, dass das Mietverhältnis in diesem Fall auch schon bei einem<br />
geringeren Rückstand gekündigt werden kann, da dieser nur mehr als eine Monatsmiete bei zwei aufeinanderfolgenden<br />
Monaten bzw. ansonsten zwei Monatsmieten der preisrechtlich zulässigen Miete<br />
betragen muss.<br />
7. Auskunftsanspruch<br />
Da der Mieter unter Umständen die für die Beurteilung einer Mietpreiswidrigkeit und einer<br />
entsprechenden Rüge erforderlichen Tatsachen nicht kennt, hat ihm der Gesetzgeber in § 556g Abs. 3<br />
BGB einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Vermieter eingeräumt. Dieser Anspruch bezieht sich<br />
auch auf die Ausnahmetatbestände, also z.B. auch auf die bisherige Vormiete gem. § 556e Abs. 1 BGB.<br />
Der Vermieter schuldet nur die Angabe der Höhe dieser Miete. Die Auskunft ist nämlich eine reine<br />
Wissenserklärung. Ein Anspruch auf Vorlage von Belegen, insbesondere einer Kopie des Vormietvertrags,<br />
egal ob geschwärzt oder nicht, steht dem Mieter nach ganz herrschender Auffassung nicht zu.<br />
Der Auskunftsanspruch ist deshalb nach Ansicht des AG Charlottenburg (Urt. v. 31.8.2017 – 203 C 232/17<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 21/2017 Anm. 3) durch Erfüllung erloschen, wenn der Vermieter<br />
dem Mieter das Datum des Vertragsschlusses mit dem Vormieter und die Höhe der Miete mitgeteilt hat.<br />
IV. Schriftform<br />
Ursprünglich diente das Schriftformerfordernis nur dem Erwerberschutz. Der in den Mietvertrag gem. § 566<br />
BGB eintretende Erwerber sollte sich über alle Abreden, in die er eintrat, informieren können. Inzwischen<br />
hat der BGH und hier insbesondere der XII. Senat aber auch weitere Schutzzwecke, insbesondere über die<br />
Warn- und Beweisfunktion, für die jeweiligen Vertragspartner anerkannt. Da der Wirksamkeit einer<br />
Befristung gerade in der Gewerberaummiete eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zukommt, versuchen die<br />
Vertragspartner schon seit Jahren, eventuellen Schriftformmängeln nicht sofort die Kündbarkeit folgen zu<br />
lassen. Dazu wurden in der Vergangenheit meist Schriftformheilungsklauseln wie<br />
„Die Parteien verpflichten sich gegenseitig, (…) jederzeit alle Handlungen vorzunehmen und Erklärungen<br />
abzugeben, die erforderlich sind, um dem gesetzlichen Schriftformerfordernis gem. § 550 BGB, insbesondere im<br />
Zusammenhang mit dem Abschluss dieses Nachtrags sowie weiteren Nachträgen, Genüge zu tun, und bis dahin<br />
den Mietvertrag nicht unter Berufung auf die Nichteinhaltung der Schriftform vorzeitig zu kündigen.“<br />
oder Ähnliches vereinbart. Bereits in der Vergangenheit hatte der XII. Senat entschieden, dass eine<br />
solche Klausel mit § 550 BGB insofern nicht vereinbar ist, als sie einen Erwerber (BGHZ 200, 98 = NJW<br />
2014, 1<strong>08</strong>7 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 36 m. Anm. EISENSCHMID; DITTERT jurisPR-MietR 9/2014 Anm. 4;<br />
STREYL NZM 2015, 28; EMMERICH JuS 2014, 239) oder einen in den Mietvertrag eintretenden Nießbrauchsberechtigten<br />
(BGH NJW 2014, 2102 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 38 m. Anm. EISENSCHMID; BIEBER GE 2014,<br />
842; SCHMID MietRB 2014, 231; LAMMEL jurisPR-MietR 16/2014 Anm. 3; STREYL NZM 2015, 28; EL-ISHMAWI BB<br />
2014, 1806) aufgrund dieser Klausel verpflichten könnte, von einer ordentlichen Kündigung wegen eines<br />
nicht aus seiner Vertragszeit stammenden Schriftformmangels Abstand zu nehmen. Damals war jeweils<br />
offengeblieben, ob eine solche Schriftformheilungsklausel auch die ursprünglichen Vertragspartner an<br />
einer Kündigung gem. § 550 BGB hindert.<br />
Das hat der Senat in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung jetzt aber auch so für die ursprünglichen<br />
Vertragspartner so gesehen. Schriftformheilungsklauseln sind mit der nicht abdingbaren Vorschrift des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 379
Fach 4 R, Seite 912<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
§ 550 BGB unvereinbar und daher unwirksam. Sie können deshalb für sich genommen eine<br />
Vertragspartei nicht daran hindern, einen Mietvertrag unter Berufung auf einen Schriftformmangel<br />
ordentlich zu kündigen (BGH MDR 2017, 1351 = GE 2017, 1397 = NJW 2017, 3772 = ZfIR <strong>2018</strong>, 10 = NZM <strong>2018</strong>,<br />
38 = ZMR <strong>2018</strong>, 30 = DWW <strong>2018</strong>, 14 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 44 m. Anm. EISENSCHMID;SOMMER MietRB<br />
2017, 341/342; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 23/2017 Anm. 1; BIEBER GE 2017, 1377; JANSSEN BB 2017, 2766;<br />
MUMMENHOFF jurisPR-MietR 2/<strong>2018</strong> Anm. 5; BURBULLA MDR <strong>2018</strong>, 68; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 34; EINSELE<br />
LMK <strong>2018</strong>, 401890). Mit der Frage, wie nun weiter zu verfahren ist, beschäftigen sich LINDNER-FIGURA/<br />
REUTER (NJW <strong>2018</strong>, 897).<br />
Hinweis:<br />
Unabhängig von der Vereinbarung einer Schriftformheilungsklausel kann es gegen Treu und Glauben verstoßen,<br />
wenn eine Mietvertragspartei eine nachträglich getroffene Abrede, die lediglich ihr vorteilhaft ist,<br />
allein deshalb, weil sie nicht die schriftliche Form wahrt, zum Anlass nimmt, sich von einem ihr inzwischen<br />
lästig gewordenen langfristigen Mietvertrag zu lösen.<br />
V. Rechtsnachfolge<br />
1. Identität zwischen Vermieter und Verkäufer<br />
Verträge werden grundsätzlich zwischen zwei oder mehr Personen geschlossen und entwickeln nur<br />
relative Rechte zwischen diesen Personen. So wäre es eigentlich auch im Mietrecht mit der Folge, dass<br />
ein Eigentumswechsel auf Vermieterseite zwar nicht das Mietverhältnis zwischen Mieter und<br />
veräußerndem Vermieter beeinflussen würde, aber dem Mieter auch keine Rechte, insbesondere<br />
keine Besitzrechte gegen den Erwerber geben würde. Dieser Grundsatz „Kauf bricht Miete“ entsprach<br />
bis Ende des vorletzten Jahrhunderts dem geltenden Recht. Erst während der Beratung über das BGB<br />
haben sich Auffassungen durchgesetzt, die eine Verdinglichung der Miete forderten. Der 19. Deutsche<br />
Juristentag (djt) 1888 empfahl, in das Bürgerliche Gesetzbuch für den Fall der freiwilligen Übereignung<br />
einer Sache, die dem Mieter oder Pächter bereits vorher überlassen war, den Grundsatz „Kauf bricht<br />
nicht Miete“ aufzunehmen. Nationale, sozialpolitische, wirtschaftliche wie auch juristische Gründe<br />
sprachen für diese Entscheidung. Durch diesen Paradigmenwechsel sollte das BGB mit einem „Tropfen<br />
socialpolitischen Öls“ gesalbt werden (so H. BRUNNER als Berichterstatter des 19. djt am 13.9.1888 zit.<br />
nach HATTENHAUER, Verdinglichung der Miete – Bricht Miete Kauf?, in: GS für SONNENSCHEIN, 2003, S. 153,<br />
177). So kam § 571 BGB a.F. ins BGB und führte eine Quasi-Verdinglichung der Miete ein. Die<br />
Nachfolgeregelung in § 566 BGB gilt gem. § 578 Abs. 1 BGB ebenso für die Grundstücksmiete, gem.<br />
§ 578 Abs. 2 BGB für die Gewerberaummiete, gem. § 581 Abs. 2 BGB für die Landpacht, gem. § 14<br />
BJagdG für die Jagdpacht und nach Art. 69 EGBGB und den maßgeblichen Landesgesetzen für die<br />
Fischereipacht. Gemäß § 57 ZVG ist die Vorschrift auch in Fällen der Zwangsversteigerung anwendbar.<br />
Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist Voraussetzung für die Rechtsfolge, dass „der Vermieter<br />
veräußert“. Dies wird als Identität bezeichnet. Seit Jahrzehnten war strittig, ob die Vorschrift auch gilt<br />
oder zumindest analog anzuwenden ist, wenn es an dieser Identität fehlt. Der für die Gewerberaummiete<br />
zuständige XII. Senat des BGH hat diese Frage nun für eine in der Praxis besonders häufig<br />
vorkommende Fallkonstellation entschieden. Nach seiner Auffassung ist – bei fehlender Identität<br />
zwischen Vermieter und Veräußerer – § 566 Abs. 1 BGB zwar nicht unmittelbar, aber zumindest<br />
entsprechend anwendbar, wenn die Vermietung des veräußerten Grundstücks mit Zustimmung und im<br />
alleinigen wirtschaftlichen Interesse des Eigentümers erfolgt und der Vermieter kein eigenes Interesse<br />
am Fortbestand des Mietverhältnisses hat (BGH GE 2017, 1<strong>08</strong>6 = MDR 2017, 1234 = ZMR 2017, 968 =<br />
ZfIR 2017, 729 = MietPrax-AK § 566 BGB Nr. 18 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. LMK 2017, 394782; DERS.<br />
jurisPR-BGHZivilR 18/2017 Anm. 2; BURBULLA MietRB 2017, 285; LAMMEL jurisPR-MietR 20/2017 Anm. 3;<br />
DRASDO NJW-Spezial 2017, 610).<br />
380 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 913<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Praxishinweise:<br />
• Die Entscheidung ist zur Gewerberaummiete ergangen. Sie dürfte aber uneingeschränkt auf die<br />
Wohnraummiete übertragbar sein.<br />
• In der Wohnraummiete erfolgt die Vermietung manchmal durch die beauftragte Hausverwaltung oder<br />
durch einen Ehegatten. Auch diese Verträge gehen analog § 566 BGB auf den Erwerber über.<br />
• Dies gilt aber nur für den Mietvertrag. Alle im Zusammenhang mit der Verwaltung der Immobilie<br />
stehenden Verträge, wie z.B. der Hausverwalter- oder Hausmeistervertrag oder Verträge mit Gärtnern<br />
oder Heizkostenabrechnern, gehen nicht über. Hier müssen jeweils Kündigungen oder Vertragsübernahmen<br />
erfolgen.<br />
2. Wirksamkeit der Übereignung<br />
Der Übergang des Mietvertrags setzt gem. § 566 BGB voraus, dass der Erwerber auch wirklich<br />
Eigentümer des Grundstücks geworden ist. Das bedeutet, dass es für die Auflassung des Grundstücks<br />
und damit für den für § 566 BGB erforderlichen Eigentumsübergang darauf ankommt, ob der frühere<br />
Eigentümer zu diesem Zeitpunkt geschäftsfähig war (BGH ZfIR 2017, 852 = MietPrax-AK § 566 BGB<br />
Nr. 19 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
VI. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />
Kinderwagen im Treppenhaus und auf Freiflächen parkende Autos sind immer wieder Quell unangenehmer<br />
Auseinandersetzungen zwischen Mitbewohnern oder Vertragsparteien (dazu instruktiv<br />
FLATOW NZM 2007, 432). Besonders schwierig ist die Situation im Verhältnis von Wohnungseigentümern<br />
zu den Mietern anderer Eigentümer (dazu DÖTSCH WuM 2017, 493). Mit einem solchen<br />
Fall musste sich das AG Dortmund (WuM <strong>2018</strong>, 55) beschäftigen: Dort hatten die Mieter einen<br />
Kinderwagen im Bereich des Treppenhauses, der zur Kellertreppe führte, abgestellt und einen Kleinlaster<br />
vor der von ihnen angemieteten Garage. Das Gericht hat die Unterlassungsklage abgewiesen.<br />
Vertragliche Ansprüche bestanden zwischen den Parteien nicht. Auch ein Abwehranspruch aus § 15<br />
Abs. 3 WEG schied aus. Es ging nicht um die Nutzung von im Sondereigentum stehenden Gebäudeteilen.<br />
Außerdem gilt § 15 Abs. 3 WEG als ein spezieller schuldrechtlicher Anspruch aus der Binnenbeziehung<br />
der Wohnungseigentümer nur für Ansprüche im Innenverhältnis, also gegenüber anderen Wohnungseigentümern<br />
(DÖTSCH WuM 2017, 493). In Betracht kamen deshalb ausschließlich Ansprüche gem. § 1004<br />
Abs. 1 BGB. Dies hätte vorausgesetzt, dass die anderen Wohnungseigentümer in ihren absoluten<br />
Rechten aus § 903 BGB, § 13 WEG, Art. 14 GG beeinträchtigt wurden (BGH NJW 1996, 714). Eine solche<br />
Eigentumsbeeinträchtigung lag aber durch das Abstellen des Kinderwagens im Bereich des Zugangs<br />
zur Treppe zum Keller gerade nicht vor. Was die Nutzung des Treppenhauses angeht, muss man<br />
zwischen den primären, den sekundären und den tertiären Nutzungsrechten daran unterscheiden<br />
(s. FLATOW a.a.O.). Bei der Nutzung des Treppenhauses durch das Abstellen eines Kinderwagens handelt<br />
es sich nicht um die primäre Nutzung des Treppenhauses als Zuweg zur Wohnung, sondern um eine<br />
sekundäre Nutzung, die für das Wohnen zwar nicht unabdingbar erforderlich ist, der aber nach einer<br />
grundrechtsbezogenen Wertung eine besonders geschützte Stellung zukommt. Hier greift nämlich der<br />
Grundrechtsschutz der Familie gem. Art. 6 GG ein (AG Winsen/Luhe NZM 2000, 237). Auch ein Anspruch<br />
auf Unterlassung des Abstellens des Kraftfahrzeugs auf der Gemeinschaftsfläche vor der Garage der<br />
Beklagten bestand wegen der Besonderheiten der Örtlichkeiten nicht.<br />
VII. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />
1. Absonderungsrecht<br />
Die gesetzlich vorgesehene Mietsicherheit ist das Vermieterpfandrecht. Das Vermieterpfandrecht führt<br />
in der Mieterinsolvenz zu einem Absonderungsrecht. Voraussetzung hierfür sind das Bestehen eines<br />
Mietvertrags sowie der Pfändung unterliegende Gegenstände, die in die Mietsache eingebracht wurden.<br />
Bei einem Pkw kann dies in zweifacher Hinsicht problematisch sein: Zum einen können Pkw in<br />
Ausnahmefällen unpfändbar sein. Gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sind bei Personen, die aus ihrer<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 381
Fach 4 R, Seite 914<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
körperlichen oder geistigen Arbeit oder sonstigen persönlichen Leistungen ihren Erwerb ziehen, die zur<br />
Fortsetzung dieser Erwerbstätigkeit erforderlichen Gegenstände nicht der Pfändung unterworfen. Dazu<br />
kann auch ein Pkw zählen. Dieser Pfändungsschutz bezieht sich jedoch grundsätzlich nur auf persönlich<br />
zu erbringende Arbeitsleistungen, nicht hingegen auf den durch eine Kapitalgesellschaft unter Einsatz<br />
von Erwerbsgehilfen zu erzielenden Gewinn. Umstritten ist, ob dies entsprechend bei der GmbH zu<br />
gelten hat, wenn der Gesellschaftergeschäftsführer seinen Unterhalt überwiegend aus eigener Arbeit<br />
für die GmbH bezieht. Bei reinen Geschäftsfahrzeugen, wie z.B. Lieferfahrzeugen o.Ä., gilt dies aber auf<br />
keinen Fall. Hier kommt es dann darauf an, ob diese regelmäßig auf dem gemieteten Geschäftsgrundstück<br />
abgestellt werden. Eingebracht sind nämlich alle Sachen, die während der Mietzeit willentlich und<br />
wissentlich in die Mieträume oder auf das Mietgrundstück verbracht werden. Ein Kraftfahrzeug, das auf<br />
dem vermieteten Grundstück geparkt wird, ist dementsprechend eingebracht. Denn seine regelmäßige<br />
vorübergehende Einstellung gehört zum bestimmungsgemäßen Gebrauch der Mietsache. Werden<br />
die Lieferfahrzeuge nachts auf dem Betriebsgrundstück bestimmungsgemäß abgestellt, sind sie<br />
eingebracht. Entscheidend für die Frage, ob ein Absonderungsrecht des Vermieters wegen der vor<br />
der Insolvenzeröffnung entstandenen Mietforderungen bestand, weil das Vermieterpfandrecht insolvenzfest<br />
war, ist die Frage, ob sich die Fahrzeuge im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung auf dem<br />
Betriebsgelände befanden. Wären sie hingegen im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung vom Grundstück<br />
entfernt gewesen und erst nach der Insolvenzeröffnung wieder eingebracht worden, führte das dadurch<br />
neu entstandene Vermieterpfandrecht nur zur Sicherung von Masseschulden des Mieters aus dem nach<br />
der Insolvenzeröffnung fortbestehenden Mietverhältnis (BGH GE <strong>2018</strong>, 253 = DWW <strong>2018</strong>, 52 = MDR<br />
<strong>2018</strong>, 266 = MietPrax-AK § 562 BGB Nr. 5 m. Anm. EISENSCHMID; LAMMEL jurisPR-MietR 4/<strong>2018</strong> Anm. 4).<br />
2. Rückzahlungsanspruch<br />
Zu den umstrittensten Fragen im Bereich der Schnittmenge zwischen Miet- und Insolvenzrecht gehört<br />
die Frage, wem der Rückzahlungsanspruch hinsichtlich der Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />
zusteht, wenn der Insolvenzverwalter die Wohnung freigegeben hat, § 109 InsO. Die Regelungen in der<br />
Insolvenzordnung sind da nicht so eindeutig. Der Gesetzgeber hatte die Freigabe- oder Enthaftungserklärung<br />
eingeführt, um dem Mieter im Fall der Insolvenz die Wohnung zu erhalten. Es gab damals<br />
nicht wenige Fälle, in denen der Insolvenzverwalter das Mietverhältnis nur deshalb gekündigt hat, um<br />
die Mietsicherheit zur Masse ausgezahlt zu bekommen. Unklar war seit der Neuregelung, ob der<br />
Gesetzgeber mit Schaffung des Rechtsinstituts der Freigabeerklärung die Mietsicherheit nunmehr aus<br />
der Massezugehörigkeit gelöst hatte, so dass diese an den Mieter ausgezahlt werden konnte. Der<br />
Insolvenzsenat des BGH (WuM 2017, 296 = ZInsO 2017, 875 = WM 2017, 872 = ZIP 2017, 884 = GE 2017,<br />
587 = NJW 2017, 1747 = NZM 2017, 437 = DWW 2017, 180 = MietPrax-AK § 109 InsO Nr. 7 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 10/2017 Anm. 1; BÖRSTINGHAUS NJW 2017, 1748; FLATOW NZM<br />
2017, 438; DRASDO NJW-Spezial 2017, 386) hatte im Nachtragsverteilungsverfahren entschieden, dass die<br />
Kaution in diesem Fall dem Mieter und nicht dem Insolvenzverwalter zusteht. Diese Rechtsauffassung<br />
hat der IX. Senat noch einmal bestätigt (BGH ZInsO 2017, 1726 = MietPrax-AK § 109 InsO Nr. 8 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS; WOZNIAK jurisPR-InsR 17/2017 Anm. 1).<br />
Hinweis:<br />
Aber auch nach Ansicht des Insolvenzsenats gehört dieser Streit originär vor das Prozessgericht, also zum<br />
VIII. Senat (BGH NZM 2016, 519 = NJW-RR 2016, 907 = NZI 2016, 607 = ZIP 2016, 988 = ZinsO 2016, 985 =<br />
MietPrax-AK § 35 InsO Nr. 2 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; FLATOW NZM 2016, 520). Auch wenn das Risiko gering<br />
erscheint, ist die Frage wohl erst abschließend geklärt, wenn der Wohnraummietsenat zu dieser Frage<br />
entschieden hat.<br />
VIII. Betriebskosten<br />
Der VIII. Senat des BGH stellt bekanntlich nur sehr geringe Anforderungen an Formalien. Für die<br />
formelle Ordnungsgemäßheit einer Betriebskostenabrechnung soll es deshalb allein entscheidend sein,<br />
ob es die darin gemachten Angaben dem Mieter ermöglichen, die zur Verteilung anstehenden<br />
382 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 915<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Kostenpositionen zu erkennen und den auf ihn entfallenden Anteil an diesen Kosten gedanklich und<br />
rechnerisch nachzuprüfen. Notwendig, aber auch ausreichend ist es, dass der Mieter die ihm<br />
angelasteten Kosten bereits aus der Abrechnung klar ersehen und überprüfen kann, so dass die<br />
Einsichtnahme in dafür vorgesehene Belege nur noch zur Kontrolle und zur Beseitigung von Zweifeln<br />
erforderlich ist (BGH WuM 2017, 529 = GE 2017, 1014 = MDR 2017, 1116 = NZM 2017, 732 = ZMR 2017, 875 =<br />
MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 127 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 17/2017 Anm. 2;<br />
DRASDO NJW-Spezial 2017, 577; HARSCH MietRB 2017, 309; BEYER WuM 2017, 697).<br />
IX. Gewährleistungsrechte<br />
„Kinderlärm ist Zukunftsmusik“, heißt es immer. Deshalb wird Kinderlärm in der Rechtsprechung zu Recht<br />
großzügiger behandelt als sonstige Lärmquellen (OLG Düsseldorf WuM 1997, 221; LG Heidelberg WuM<br />
1997, 38; AG Starnberg WuM 1992, 471; AG Kassel WuM 1991, 558; LG München I WuM 1987, 121).<br />
Grundsätzlich können aber auch Lärmbelästigungen durch Kinder einen Mangel der Mietsache darstellen.<br />
Allerdings müssen Geräusche, die naturgemäß dem Bewegungs- und Spieldrang von kleinen Kindern<br />
entsprechen, von den übrigen Mietern eines Mehrfamilienhauses als vertragsgemäßer Gebrauch hingenommen<br />
werden (AG Braunschweig WuM 2002, 50). Selbst häufige und über das übliche Maß hinausgehende<br />
Lauf- und Spielgeräusche müssen regelmäßig als sozialadäquat hingenommen werden. Das<br />
Spielen von Kindern auf dem Hof – außerhalb der Ruhezeiten – muss von den übrigen Bewohnern des<br />
Hauses ebenso hingenommen werden, solange sich das Spielen in einem sozialadäquaten Rahmen hält<br />
wie das Spielen von Kindern der Hausbewohner auch mit Freunden auf den Grünflächen. Aber wie der<br />
BGH jetzt festgestellt hat, hat auch die zu fordernde Toleranz ihre Grenzen. Die ist dann überschritten,<br />
wenn die Geräuschemissionen jedes noch irgendwie hinzunehmende Maß überschritten haben (BGH<br />
MDR 2017, 1175 = GE 2017, 1153 = WuM 2017, 587 = NZM 2017, 694 = DWW 2017, 371 = NJW-RR 2017, 1290 =<br />
ZMR <strong>2018</strong>, 19 = MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 55 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 19/2017<br />
Anm. 1; BEYER WuM 2017, 694; SELK NZM 2017, 697; DRASDO NJW-Sezial 2017, 705; PFEIFER MietRB 2017, 346).<br />
Hinweis:<br />
Der Senat hat auch Ausführungen zur Darlegungs- und Beweislast gemacht:<br />
• Bei wiederkehrenden Beeinträchtigungen durch Lärm bedarf es nicht der Vorlage eines detaillierten<br />
Lärmprotokolls.<br />
• Es genügt vielmehr grundsätzlich eine Beschreibung, aus der sich ergibt, um welche Art von Beeinträchtigungen<br />
es geht und zu welchen Tageszeiten, über welche Zeitdauer und in welcher Frequenz<br />
diese ungefähr auftreten.<br />
X. Mieterhöhung<br />
1. Indexmiete<br />
Anders als bei der Staffelmiete muss der Vermieter bei der Indexmiete noch eine Gestaltungserklärung<br />
abgeben, damit die Mieterhöhung wirksam wird. Nach § 557b Abs. 3 BGB müssen in der Erklärung die<br />
eingetretene Änderung des Preisindexes sowie die jeweilige Miete oder die Erhöhung in einem<br />
Geldbetrag angegeben werden. Nach Ansicht des BGH (NJW <strong>2018</strong>, 700 = NZM <strong>2018</strong>, 82 = WuM <strong>2018</strong>,<br />
36 = GE <strong>2018</strong>, 121 = DWW <strong>2018</strong>, 11 = MietPrax-AK § 557b BGB Nr. 4 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS<br />
jurisPR-BGHZivilR 2/<strong>2018</strong> Anm. 2; BEYER jurisPR-MietR 3/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 162;<br />
METTLER MietRB <strong>2018</strong>, 65) müssen dabei nur die Indexwerte zu Beginn und zum Ende des Betrachtungszeitraums<br />
angegeben werden. Die Angabe der prozentualen Veränderung der Indexdaten ist nicht<br />
erforderlich. Es liege vielmehr – auch für den durchschnittlichen Mieter – auf der Hand, dass sich eine<br />
Indexmiete im gleichen Verhältnis ändert wie der Index. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf hinaus,<br />
dass der Vermieter dem Mieter einzelne (einfache) Rechenschritte „vorzurechnen“ hätte.<br />
Hinweis:<br />
Der einfache Rechenschritt zur Ermittlung der prozentualen Steigerung lautet:<br />
[(neuer Indexstand : alter Indexstand) × 100] – 100 = Prozentsatz der Änderung.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 383
Fach 4 R, Seite 916<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
2. Kostenmiete<br />
Nachdem der VIII. Senat Schönheitsreparaturklauseln in großem Umfang für unwirksam erklärt hatte,<br />
tauchte schnell die Frage auf, ob die fehlende Abwälzung der Schönheitsreparaturen den Vermieter zu<br />
einer Mieterhöhung berechtigt. Für den preisfreien Wohnungsbau hat der Senat einen Zuschlag zur<br />
ortsüblichen Vergleichsmiete wegen der fehlenden Abwälzung der Schönheitsreparaturen abgelehnt<br />
(BGH BGHZ 177, 186 = DWW 20<strong>08</strong>, 256 = NZM 20<strong>08</strong>, 641 = GE 20<strong>08</strong>, 1117 = NJW 20<strong>08</strong>, 2840 = WuM<br />
20<strong>08</strong>, 560 = MDR 20<strong>08</strong>, 1149 = ZMR 20<strong>08</strong>, 879 = ZGS 20<strong>08</strong>, 397 = MietPrax-AK § 558 BGB Nr. 19 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS; LEHMANN-RICHTER MietRB 20<strong>08</strong>, 225; DERS. BGHReport 20<strong>08</strong>, 1001; BLÜMMEL GE 20<strong>08</strong>, 1<strong>08</strong>6;<br />
DRASDO NJW-Spezial 20<strong>08</strong>, 578; NIEBLING ZMR 20<strong>08</strong>, 881; HÄUBLEIN ZMR 2009, 1; WÜSTEFELD jurisPR-MietR<br />
21/20<strong>08</strong> Anm. 3). Anders ist es aber im öffentlich geförderten Wohnungsbau, dort sieht das Gesetz in<br />
§ 28 Abs. 4 II. BV einen solchen Zuschlag ausdrücklich vor. Das hat der Senat auch immer so gesehen<br />
und hier eine Mieterhöhung auch rückwirkend zugelassen, wenn die ursprünglich beabsichtigte<br />
Abwälzung der Schönheitsreparaturen unwirksam war.<br />
Offen geblieben war nur die Frage, ob der Vermieter in diesem Fall aus allgemeinen Grundsätzen des<br />
Rücksichtnahmegebots dem Mieter zuvor eine wirksame Schönheitsreparaturklausel anbieten muss.<br />
Dies hat der Senat nunmehr verneint. Der Vermieter ist nicht verpflichtet, dem Mieter vor dem<br />
Erhöhungsverlangen eine wirksame Abwälzungsklausel anzubieten oder ein entsprechendes Angebot<br />
des Mieters anzunehmen; insbesondere folgt eine derartige Pflicht weder aus § 241 Abs. 2 BGB noch aus<br />
§ 242 BGB (BGH WuM 2017, 663 = GE 2017, 1339 = NZM 2017, 759 = MDR 2017, 1293 = NJW-RR 2017, 1356<br />
= ZMR <strong>2018</strong>, 27 = MietPrax-AK § 28 II. BV Nr. 6 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 21/<br />
2017 Anm. 2; SCHACH jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 4; KAPPUS NZM 2017, 762; BÖRSTINGHAUS MietRB 2017, 343;<br />
DRASDO NJW-Spezial 2017, 738).<br />
Hinweis:<br />
Ausdrücklich offen gelassen hat der Senat aber die Frage, ob der Fall anders zu beurteilen ist, wenn der<br />
Mieter zeitnah nach der Aufforderung durch den Vermieter mitteilt, dass er sich auf die Unwirksamkeit der<br />
Klausel nicht berufen wird, also die Schönheitsreparaturen wie beabsichtigt, aber nicht wirksam geregelt,<br />
durchführen wird.<br />
XI. Modernisierung<br />
Bei Bauarbeiten an und in einem Wohnhaus kann man unterscheiden zwischen Erhaltungsarbeiten in<br />
Form von Instandsetzungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Modernisierungsarbeiten und dem<br />
Neubau. Die Einordnung spielt sowohl für die Duldungspflicht wie auch für die Frage, ob eine<br />
Mieterhöhung möglich ist, eine Rolle. Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen muss der Mieter<br />
dulden, aber eine Mieterhöhung ist nur bei Modernisierungsmaßnahmen möglich. Neubauten sind<br />
weder zu dulden noch berechtigen sie zu einer Mieterhöhung. Nach Ansicht des BGH (MDR <strong>2018</strong>, 80 =<br />
WuM <strong>2018</strong>, 28 = GE <strong>2018</strong>, 49 = DWW <strong>2018</strong>, 12 = MietPrax-AK § 555b BGB Nr. 3 m. Anm. EISENSCHMID;<br />
BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 3/<strong>2018</strong> Anm. 2; LEHMANN-RICHTER MietRB <strong>2018</strong>, 33; DRASDO NJW-Spezial<br />
<strong>2018</strong>, 130) liegen vom Mieter zu duldende Modernisierungsmaßnahmen i.S.v. § 555b Nr. 4 oder Nr. 5 BGB<br />
nicht vor, wenn die beabsichtigten Maßnahmen so weitreichend sind, dass ihre Durchführung den<br />
Charakter der Mietsache grundlegend verändern würde.<br />
XII. Kündigung<br />
1. Kündigungsausschluss gegenüber Vorkaufsberechtigtem<br />
Ein Mietvertrag ist jedenfalls insoweit sittenwidrig und nichtig, als das ordentliche Kündigungsrecht des<br />
Vermieters ausgeschlossen wird. Nichtig gem. § 138 BGB sind solche das Vorkaufsrecht vereitelnden<br />
Verträge, die durch ihren Gesamtcharakter oder die Art und Weise ihres Zustandekommens das<br />
Gepräge der Sittenwidrigkeit erhalten, sei es, dass sie auf verwerflichen Beweggründen oder der<br />
Anwendung unlauterer Mittel beruhen oder ausschließlich zu dem Zweck abgeschlossen werden, dem<br />
Vorkaufsberechtigten Schaden zuzufügen (BGH WuM 2017, 629 = GE 2017, 1341 = MietPrax-AK § 138<br />
BGB Nr. 2 m. Anm. EISENSCHMID).<br />
384 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 917<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
2. Ordentliche Kündigung<br />
a) Eigenbedarfskündigung<br />
Bei der Eigenbedarfskündigung muss der Vermieter die Wohnung benötigen. Der Begriff des „Benötigens“<br />
in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB setzt ernsthafte, vernünftige und nachvollziehbare Gründe des Vermieters voraus,<br />
warum er die Wohnung künftig selbst oder durch nahe Angehörige nutzen will. Damit sind aber generell<br />
keine zeitlichen Mindestanforderungen an die Nutzung verbunden, so dass auch eine Nutzung als<br />
Zweitwohnung vom Tatbestandsmerkmal im Einzelfall erfasst sein kann (BGH WuM 2017, 721 = GE 2017,<br />
1465 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 69 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BEYER jurisPR-MietR 2/<strong>2018</strong> Anm. 3).<br />
b) Alternativwohnung<br />
Auch nach der geänderten Rechtsprechung des BGH zu den Rechtsfolgen eines unterlassenen Anbietens<br />
einer freien Alternativwohnung gehört zu den Voraussetzungen einer solchen Verpflichtung, dass die<br />
Alternativwohnung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei wird (BGH MDR 2017, 142 = WuM 2017, 94 = GE<br />
2017, 166 = NJW 2017, 547 = NZM 2017, 111 = ZMR 2017, 141 = DWW 2017, 51 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 62<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 3/2017 Anm. 1; BÖRSTINGHAUS LMK 2017, 385346;<br />
DERLEDER WuM 2017, 104; SELK NJW 2017, 521; SINGBARTL NZM 2017, 119; ABRAMENKO MietRB 2017, 65, 66; MEIER<br />
ZMR 2017, 150; SCHACH jurisPR-MietR 6/2017 Anm. 2; DUBOVITSKAYA/WEITEMEYER NZM 2017, 201; DRASDO NJW-<br />
Spezial 2017, 194; FLATOW NZM 2017, 825). Der Vermieter ist deshalb aufgrund des Gebots der<br />
Rücksichtnahme nicht gehalten, die eigene, bisher von ihm selbst bewohnte Wohnung anzubieten, da<br />
diese denknotwendig erst frei wird, wenn der Vermieter nach dem Auszug des Mieters in die gekündigte<br />
Wohnung eingezogen ist (BGH WuM 2017, 537 = GE 2017, 1016 = NZM 2017, 763 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />
Nr. 67 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 19/2017 Anm. 1; TAUFKIRCH MietRB 2017, 277).<br />
c) Wirtschaftliche Verwertung<br />
Die Kündigung wegen wirtschaftlicher Verwertung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB setzt einen erheblichen<br />
Nachteil beim Vermieter selbst voraus; ein Nachteil bei einer mit der vermietenden Gesellschaft<br />
„persönlich und wirtschaftlich verbundenen Schwestergesellschaft“ reicht insoweit nicht aus (BGH<br />
WuM 2017, 656 = NZM 2017, 756 = GE 2017, 1403 = NJW-RR <strong>2018</strong>, 12 = MDR <strong>2018</strong>, 82 = DWW <strong>2018</strong>, 19 =<br />
MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 68 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; GEISLER jurisPR-BGHZivilR 22/2017 Anm. 1; BRUNS<br />
NZM 2017, 759; BEYER jurisPR-MietR 25/2017 Anm. 3; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 1).<br />
3. Außerordentliche Kündigung<br />
Ist durch Auflauf eines Zahlungsrückstands des Mieters in der in § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Buchst. a oder<br />
Buchst. b BGB genannten Höhe ein Recht des Vermieters zur fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses<br />
entstanden, wird dieses nach § 543 Abs. 2 S. 2 BGB nur durch eine vollständige Zahlung des Rückstands<br />
vor Zugang der Kündigung ausgeschlossen. Teilzahlungen auch in einer Höhe, die dazu führt, dass der<br />
Rückstand unter die eine Kündigung rechtfertigende Höhe fällt, genügen hier nicht. Bei der Beurteilung,<br />
ob der Zahlungsrückstand des Mieters die Miete für einen Monat übersteigt, ist nicht auf die<br />
(berechtigterweise) geminderte Miete, sondern auf die vertraglich vereinbarte Gesamtmiete abzustellen<br />
(BGH WuM 2017, 644 = GE 2017, 1333 = MDR 2017, 1352= DWW 2017, 373 = NZM <strong>2018</strong>, 28 = ZMR <strong>2018</strong>, 17<br />
= NJW <strong>2018</strong>, 939 = MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 43 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR<br />
21/2017 Anm. 1; BLANK WuM 2017, 647; BEYER jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 3; WICHERT MietRB 2017, 343;<br />
DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 34).<br />
Hinweis:<br />
Bei der außerordentlichen Zahlungsverzugskündigung müssen immer drei Parameter ermittelt werden:<br />
• Rückstand: Hier werden Minderungen und Zurückbehaltungsrechte voll berücksichtigt.<br />
• Kündigungsrelevanz, also der Wert, ab wann gekündigt werden kann: Hier ist grundsätzlich von der<br />
vereinbarten Miete auszugehen. Etwas anderes kann ausnahmsweise bei nicht behebbaren Mängeln<br />
gelten.<br />
• Zeitraum: Die Frage, ob der Rückstand in zwei aufeinanderfolgenden Monaten oder über einen<br />
längeren Zeitraum entstanden ist.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 385
Fach 4 R, Seite 918<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
XIII. Nutzungsentschädigung<br />
Räumt der Mieter nach Beendigung des Mietverhältnisses die Mietsache nicht, schuldet er unter den<br />
Voraussetzungen des § 546a BGB Nutzungsentschädigung. Zu den Voraussetzungen gehört, dass der<br />
Mieter dem Vermieter die Mietsache vorenthält. Die Mietsache wird dem Vermieter dann i.S.d. § 546a<br />
Abs. 1 BGB nach Beendigung des Mietverhältnisses vorenthalten, wenn der Mieter die Mietsache nicht<br />
zurückgibt und das Unterlassen der Herausgabe dem Willen des Vermieters widerspricht. An einem<br />
solchen Rückerlangungswillen des Vermieters fehlt es etwa, wenn er – trotz Kündigung des Mieters –<br />
von einem Fortbestehen des Mietverhältnisses weiter ausgeht, z.B. weil er die Kündigung für unwirksam<br />
hält. Auch in den Fällen, in denen der Vermieter die Rücknahme der Mietsache ablehnt, weil er z.B. der<br />
Auffassung ist, der Mieter müsse Schönheitsreparaturen vornehmen, fehlt es dem Vermieter an dem<br />
erforderlichen Rücknahmewillen.<br />
In diesen Fällen steht dem Vermieter ein Anspruch auf Nutzungsentschädigung nach § 546a BGB<br />
grundsätzlich auch dann nicht zu, wenn der Mieter zur Rückgabe der Mietsache außerstande ist und die<br />
subjektive Unmöglichkeit durch ihn selbst verursacht wurde. Jedoch wird ein bereicherungsrechtlicher<br />
Nutzungsersatzanspruch des Vermieters weder durch § 546a BGB ausgeschlossen noch durch die<br />
§§ 987 ff. BGB verdrängt. Dies setzt aber eine tatsächliche Bereicherung des Mieters voraus (BGH GE<br />
2017, 945 = WuM 2017, 521 = NZM 2017, 630 = NJW 2017, 2997 = MDR 2017, 1177 = DWW 2017, 330 = ZMR<br />
<strong>2018</strong>, 24 = MietPrax-AK § 546a BGB Nr. 9 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 17/2017<br />
Anm. 1; BURBULLA MietRB 2017, 278; STREYL NZM 2017, 633; MÜLLER/GALNEDER NJW 2017, 3000).<br />
XIV. Schadensersatzansprüche<br />
Im Mietrecht gilt gem. § 548 BGB eine sehr kurze Verjährungsfrist. Sie beträgt nur sechs Monate, wobei<br />
die Frist für den Vermieter mit der Rückgabe der Mietsache und für den Mieter mit der rechtlichen<br />
Beendigung des Mietvertrags beginnt. § 202 BGB erlaubt aber grundsätzlich, dass Verjährungsfristen<br />
durch Vertrag verlängert werden. Bei Individualvereinbarungen ist dies unproblematisch. Bei Formularverträgen<br />
stellt sich die Frage der Inhaltskontrolle gem. § 307 BGB. Nach Ansicht des VIII. Senats kann die<br />
in § 548 Abs. 1 BGB geregelte sechsmonatige Verjährungsfrist von Ersatzansprüchen des Vermieters gegen<br />
den Mieter nach Rückgabe der Mietsache durch formularvertragliche Regelungen nicht verlängert<br />
werden (BGH WuM 2017, 703 = NJW 2017, 3707 = GE 2017, 1545 = NZM 2017, 841 = MDR <strong>2018</strong>, 19 =<br />
MietPrax-AK § 548 BGB Nr. 20 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; KAPPUS NZM 2017, 845; KRAPF jurisPR-MietR 1/<strong>2018</strong><br />
Anm. 4; BÖRSTINGHAUS jurisBGH-ZivilR 1/<strong>2018</strong> Anm. 3; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 65; BLANK LMK <strong>2018</strong>,<br />
402603).<br />
Hinweis:<br />
Dies gilt sowohl für die Frist selbst wie auch für den Fristbeginn. Daran ändert auch die Tatsache nichts,<br />
dass in der Klausel auch die Verjährungsfrist für Mieteransprüche gem. § 548 Abs. 2 BGB auf ein Jahr verlängert<br />
wurde. Eine solche formularvertragliche Klausel hält nach Ansicht des BGH der Inhaltskontrolle<br />
gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB nicht stand, weil sie den Mieter entgegen den Geboten von Treu und Glauben<br />
unangemessen benachteiligt. Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1<br />
BGB sogar dann anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen<br />
Regelung, von der abgewichen werden soll, nicht zu vereinbaren ist.<br />
Den gesetzlichen Vorschriften über die Verjährung kommt nach Ansicht des Senats ein über bloße<br />
Zweckmäßigkeitserwägungen hinausreichender Gerechtigkeitsgehalt zu. Der Vermieter wird durch die<br />
Rückgabe der Mietsache, an die das Gesetz den Verjährungsbeginn für dessen Ansprüche anknüpft, in<br />
die Lage versetzt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob ihm gegen den Mieter Ansprüche wegen<br />
Verschlechterung oder Veränderung der Mietsache zustehen und er diese ggf. durchsetzen will.<br />
Außerdem sei die kurze Verjährungsfrist für Vermieteransprüche durch berechtigte Interessen des<br />
Mieters begründet. Denn der Mieter habe nach der Rückgabe der Mietsache an den Vermieter auf diese<br />
keinen Zugriff mehr und kann somit ab diesem Zeitpunkt regelmäßig auch keine beweissichernden<br />
Feststellungen mehr treffen. Zudem muss er damit rechnen, dass sich der zu diesem Zeitpunkt<br />
386 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 919<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
bestehende und für etwaige Schadensersatzansprüche des Vermieters maßgebliche Zustand der<br />
Mietsache angesichts einer i.d.R. zu erwartenden zeitnahen Überlassung an einen anderen Mieter oder<br />
einer Nutzung durch den Vermieter selbst alsbald verändern wird.<br />
XV. Prozessrecht<br />
1. Zuständigkeit<br />
Ausnahmsweise kann auch das Familiengericht für Wohnraummietsachen zuständig sein. Das richtet<br />
sich nach § 266 FamFG. Bei der Prüfung, ob eine sonstige Familiensache i.S.d. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG<br />
vorliegt, ist das Tatbestandsmerkmal „im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung“ weit<br />
auszulegen. Streitigkeiten aus Mietverträgen über Wohnraum zwischen Schwiegereltern und ihrem<br />
Schwiegerkind anlässlich der Trennung ihres Kindes vom Schwiegerkind können deshalb unter<br />
Umständen als sonstige Familiensachen i.S.d. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG zu qualifizieren sein (BGH NJW<br />
2017, 2619 = MDR 2017, 1000 = GE 2017, 1<strong>08</strong>5 = WuM 2017, 539 = MDR 2017, 1229 = MietPrax-AK § 266<br />
FamFG Nr. 2 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; HABERLAND jurisPR-BGHZivilR 17/2017 Anm. 3; BACHER MDR 2017, 1229).<br />
2. Verkündung einer Entscheidung<br />
Verkündungsmängel, z.B. Verkündung nicht in öffentlicher Sitzung im angegebenen Sitzungssaal,<br />
sondern im Dienstzimmer des Richters, stehen dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn<br />
gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde. Sind<br />
jedoch die Mindestanforderungen an eine Verlautbarung gewahrt, hindern auch Verstöße gegen<br />
zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht. Zu den Mindestanforderungen<br />
gehört, dass die Verlautbarung vom Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden<br />
werden durfte und die Parteien von dem Erlass und dem Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet<br />
wurden (BGH GE <strong>2018</strong>, 919 = NJW-RR <strong>2018</strong>, 127 = MietPrax-AK § 310 ZPO Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
3. Beweisaufnahme durch selbstständiges Beweisverfahren<br />
Zwischen den Beteiligten des selbstständigen Beweisverfahrens wirkt die in diesem Rahmen<br />
vorgezogene Beweisaufnahme wie eine unmittelbar im anschließenden Hauptsacheverfahren<br />
selbst durchgeführte Beweiserhebung; die Beweiserhebung des selbstständigen Beweisverfahrens<br />
wird deshalb im Hauptsacheprozess verwertet, als sei sie vor dem Prozessgericht selbst erfolgt.<br />
Dementsprechend hat eine Beweisaufnahme im selbstständigen Beweisverfahren mit dem Zuständigkeitsübergang<br />
an das Prozessgericht einerseits zur Folge, dass ein neues Gutachten in einem sich<br />
anschließenden Rechtsstreit nur unter den engen Voraussetzungen des § 412 ZPO eingeholt werden<br />
kann. Andererseits fallen aber auch die unerledigt gebliebenen Beweisanträge unmittelbar im<br />
Verfahren vor dem Prozessgericht an und sind von diesem im vorgefundenen Stand zu erledigen (BGH<br />
NZM <strong>2018</strong>, 167 = MietPrax-AK § 493 ZPO Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS). Die Verwertung eines in einem<br />
anderen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens gem. § 411a Abs. 1 ZPO setzt eine<br />
Verwertungsanordnung des Gerichts voraus, zu deren Erlass oder Ausführung den Parteien Gelegenheit<br />
zur Stellungnahme gegeben werden muss.<br />
4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
Nach Auszug des Mieters ist ein Einstellungsantrag gegen ein Räumungsurteil nicht mehr möglich. Ein<br />
Einstellungsantrag gegen ein Zahlungsurteil setzt voraus, dass dem Mieter durch Vollstreckung der<br />
Geldforderung ein unersetzlicher Nachteil entsteht (BGH WuM 2017, 607 = GE <strong>2018</strong>, 52 = MietPrax-AK<br />
§ 719 ZPO Nr. 32 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
Hinweis:<br />
Wenn die Beschwer von 20.000 € nicht erreicht ist, scheidet eine Einstellung der Zwangsvollstreckung im<br />
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren aus. Eine Einstellung scheidet auch dann aus, wenn der Mieter im<br />
Berufungsverfahren keinen Vollstreckungsschutzantrag gestellt hat (BGH WuM 2017, 606 = GE <strong>2018</strong>, 121 =<br />
MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 33 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 387
Fach 4 R, Seite 920<br />
Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
Nach § 719 Abs. 2 ZPO, der gem. § 544 Abs. 5 S. 2 ZPO in dem Fall der Nichtzulassungsbeschwerde<br />
entsprechende Anwendung findet, kann das Revisionsgericht die einstweilige Einstellung der<br />
Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil anordnen, wenn die<br />
Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht ein<br />
überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht. Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat.<br />
Wenn der Mieter die Miete wegen von ihm geltend gemachter Unsicherheit über die Person des<br />
Vermieters hinterlegt, hat die Hinterlegung keine schuldbefreiende Wirkung, wenn der Mieter bereits<br />
durch ein Urteil im Vorprozess erfahren hat, wer Vermieter ist (BGH GE 2017, 1019 = WuM 2017, 542 =<br />
MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 34 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
Allein aus dem Umstand, dass die Vollstreckung das Prozessergebnis vorwegnehmen würde, ergibt sich<br />
kein unersetzlicher Nachteil i.S.d. § 719 Abs. 2 S. 1 ZPO. Die Verpflichtung zur Räumung stellt für sich<br />
genommen keinen unersetzlichen Nachteil i.S.v. § 719 Abs. 2 S. 1 ZPO dar (BGH NZM 2017, 700 = NJW-RR<br />
2017, 1355 = MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 35 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
5. Räumungsvollstreckung<br />
Hausbesetzer sind regelmäßig anonym. Deshalb ist die Vollstreckung gegen sie so schwierig. Das<br />
Erfordernis der eindeutigen Bezeichnung der Schuldner im Vollstreckungstitel oder in der Vollstreckungsklausel<br />
gem. § 750 Abs. 1 ZPO besteht nämlich auch dann, wenn die Räumungsvollstreckung<br />
ein rechtswidrig besetztes Grundstück betrifft und es dem Gläubiger im Erkenntnisverfahren ohne<br />
polizeiliche Hilfe nicht möglich ist, die Schuldner namentlich zu bezeichnen. Der Verzicht auf das<br />
Erfordernis einer sicheren Identifizierung des Schuldners aufgrund der Bezeichnung im Vollstreckungstitel<br />
oder in der Vollstreckungsklausel ist nicht deshalb geboten, weil der Eigentümer<br />
ansonsten vollständig rechtlos gestellt wäre. Eine Räumung gegenüber Hausbesetzern kann vielmehr<br />
nach dem Polizei- und Ordnungsrecht erfolgen (BGH WuM <strong>2018</strong>, 48 = NJW <strong>2018</strong>, 299 = MietPrax-AK<br />
§ 750 ZPO Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BIEBER GE <strong>2018</strong>, 156).<br />
6. Beschwer<br />
Für die Räumungs- und Herausgabeklage berechnet sich der Wert der Beschwer nach § 8 ZPO. Beruft<br />
sich ein Nutzungsberechtigter gegenüber einer Kündigung auf Schutzregeln, die das Kündigungsrecht<br />
einschränken und ihm ein Recht zur Fortsetzung der Nutzung geben, so dauert die „streitige Zeit“ i.S.d.<br />
§ 8 ZPO vom Tag der Erhebung der Räumungsklage bis zu dem Zeitpunkt, den derjenige, der sich<br />
auf ein Nutzungsrecht beruft, als den für ihn günstigsten Beendigungszeitpunkt des Nutzungsvertrags<br />
in Anspruch nimmt (BGH WuM 2017, 724 = GE 2017, 1465 = MietPrax-AK § 26 Nr. 8 EGZPO Nr. 29<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
7. Gebührenstreitwert<br />
Der Gebührenstreitwert für den Antrag auf Feststellung, dass der zwischen den Parteien geschlossene<br />
Mietvertrag wirksam (weil nicht durch Kündigung beendet) sei, richtet sich nach § 41 Abs. 1 GKG und<br />
beläuft sich auf das einjährige Entgelt. § 8 ZPO ist nicht maßgeblich. Denn diese Vorschrift ist nur für den<br />
Zuständigkeitswert und den Wert der Beschwer einschlägig (BGH NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 124 = MietPrax-AK<br />
§ 41 GKG Nr. 7 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
388 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 987<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />
Elektronische Geräte/Mobiltelefon im Straßenverkehr<br />
Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />
Inhalt<br />
I. Rechtsentwicklung<br />
1. Allgemeines<br />
2. Neuregelung<br />
II. Regelungsinhalt des § 23 Abs. 1a StVO<br />
III. Fahrzeugführer<br />
IV. Begriff des elektronischen Geräts<br />
1. Technikoffene Formulierung<br />
2. Sonstige Geräte<br />
V. Begriff der Nutzung<br />
1. Allgemeines<br />
2. „Kurze Blickabwendung“<br />
VI. Ausnahmen vom Nutzungsverbot<br />
1. Stehendes Fahrzeug<br />
2. Weitere Ausnahmen<br />
VII. Schuldform<br />
VIII. Rechtsfolgen bei verbotswidriger Benutzung<br />
1. Geldbuße<br />
2. Fahrverbot<br />
3. Entziehung der Fahrerlaubnis<br />
IX. Hinweise für die Verteidigung<br />
1. Einlassung<br />
2. Checkliste: Tatrichterliches Urteil<br />
3. Rechtskraftwirkung<br />
I. Rechtsentwicklung<br />
1. Allgemeines<br />
Der Gesetzgeber hatte im Jahr 2000 in § 23 Abs. 1a StVO a.F. die Benutzung eines Mobiltelefons im<br />
Straßenverkehr unter bestimmten Bedingungen verboten und mit einem Bußgeld belegt (zur<br />
Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung BVerfG VRR 20<strong>08</strong>, 233; OLG Stuttgart NJW 20<strong>08</strong>, 3369 = DAR<br />
20<strong>08</strong>, 654 = VRR 20<strong>08</strong>, 471). Hintergrund dieses Verbots waren die durch die Benutzung von Mobil-/<br />
Autotelefonen/Smartphones im Straßenverkehr sowohl für den Fahrzeugführer als auch für andere<br />
Verkehrsteilnehmer entstehenden Gefahren (vgl. dazu Begründung zur „33. Verordnung zur Änderung<br />
straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ v. 11.12.2000, VBl 2001, 8). Die Anwendung der Vorschrift war<br />
nicht einfach. Das war vornehmlich darauf zurückzuführen, dass der Verordnungsgeber nicht generell<br />
das Telefonieren im Straßenverkehr verboten hatte, sondern die „Benutzung“ eines Mobiltelefons.<br />
Daher ist in Rechtsprechung und Literatur von Anfang an ein heftiger Streit um den Begriff der<br />
„Benutzung“ eines Mobiltelefons i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO a.F. geführt worden (vgl. Nachw. bei BURHOFF,<br />
in: BURHOFF (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2017, Rn 3030<br />
[im Folgenden kurz: BURHOFF/BURHOFF, OWi] und BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977 ff.). Die fortschreitende<br />
technische Entwicklung mit der Erweiterung der über das bloße Telefonieren hinausgehenden<br />
Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten des Handys/Smartphones hat diesen Streit forciert.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 389
Fach 9, Seite 988<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Im Hinblick auf diesen Streit und die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Mobiltelefone/<br />
Smartphones war daher seit längerem geplant, die Vorschrift zu ändern bzw. auch die Bedienung<br />
anderer technischer Geräte während der Fahrt zu erfassen (vgl. hib-Meldung Nr. 100 v. 27.2.2013;<br />
s. auch MÜLLER/REBLER DAR 2017, 49). Eine Änderung der Vorschrift ist im Herbst 2017 erfolgt (s. wegen<br />
der Gesetzesmaterialien BR-Drucks 556/17). Nachdem ein erster Neuregelungsversuch zunächst im<br />
Sommer 2017 gescheitert war (vgl. dazu BR-Drucks 424/17), ist § 23 Abs. 1a StVO a.F. durch die „53.<br />
Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ v. 6.10.2017 (BGBl I, S. 3549)<br />
grundlegend geändert worden; zudem hat man den Bußgeldkatalog geändert. Hintergrund dieser<br />
Neuregelung sind – neben dem o.g. Streit – u.a. Untersuchungen der Unfallversicherer und der<br />
Verkehrssicherheitsverbände, die eine die Verkehrssicherheit gefährdende Ablenkungswirkung fahrfremder<br />
Tätigkeiten belegen (vgl. BR-Drucks 424/17, S. 10; zur Kritik s. FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 71).<br />
Hinweis:<br />
Die Neuregelung ist am 19.10.2017 in Kraft getreten. Sie erfasst also alle Verstöße ab diesem Tag. Für vorhergehende<br />
Verstöße gilt noch/weiterhin § 23 Abs. 1a StVO a.F. (eingehend dazu BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977 ff.).<br />
2. Neuregelung<br />
Die Anzahl von Mobiltelefonen/Smartphones und anderen elektronischen Geräten ist in den letzten<br />
Jahren rasant gestiegen. Zudem verfügen die Geräte über immer vielfältiger werdende Nutzungsmöglichkeiten,<br />
die dazu führen, dass bei der Nutzung von Geräten nicht mehr nur der Aspekt des<br />
„In-der-Hand-Haltens“ eine Rolle spielt, sondern ggf. auch eine zu lange Blick-Ablenkung des<br />
Fahrzeugführers vom Verkehrsgeschehen, weil er z.B. eingehende Messenger-Nachrichten liest.<br />
Dieser technischen Fortentwicklung sollte bei der Neuregelung des § 23 Abs. 1a StVO Rechnung<br />
getragen werden. Das der alten Fassung zugrunde liegende ausschließliche „hand-held-Verbot“ für<br />
Auto- und Mobiltelefone ist als nicht mehr zeitgemäß angesehen worden (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 1).<br />
Darüber hinaus haben die Erfahrungen gezeigt, dass die frühere Regelung des § 23 Abs. 1a StVO und<br />
die darauf basierenden Rechtsfolgen nicht ernst genommen wurden.<br />
Der Gesetzgeber hat sich daher zu einer verhältnismäßig komplizierten Neuregelung entschlossen (zur<br />
Neuregelung FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68; DERS. TranspR <strong>2018</strong>, 45). Diese erfasst jetzt in § 23 Abs. 1a, 1b StVO alle<br />
elektronischen Geräte, die der Kommunikation, Information oder Organisation dienen oder zu dienen<br />
bestimmt sind (zu Einzelheiten s. IV., V.). Gleichzeitig soll das Risiko der zu langen Blickabwendung (vgl.<br />
dazu V. 2.) durch Verankerung technischer Zusatzausstattungen wie Sprachsteuerung, Vorlesefunktion<br />
und „head-up-Display“ reduziert werden. Es handelt sich jetzt also um ein kombiniertes „hand-held-/<br />
Blickabwendungsverbot“. Damit die (Neu-)Regelung ernst genommen wird, sind die Rechtsfolgen<br />
gegenüber den „Altfällen“ erheblich verschärft worden (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 13; vgl. dazu VIII.).<br />
II. Regelungsinhalt des § 23 Abs. 1a StVO<br />
Nach § 23 Abs. 1a StVO darf ein elektronisches Gerät (vgl. dazu IV.) im Straßenverkehr genutzt werden,<br />
wenn hierfür das Gerät weder aufgenommen noch gehalten wird und entweder nur eine<br />
Sprachsteuerung und Vorlesefunktion genutzt wird oder zur Bedienung und Nutzung des Geräts nur<br />
eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung zum<br />
Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erfolgt oder erforderlich<br />
ist. Das früher in § 23 Abs. 1a StVO a.F. enthaltene sog. reine hand-held-Verbot zur Benutzung ist<br />
also aufgegeben worden (vgl. zur alten Rechtslage BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 979; OLG Stuttgart DAR 2016,<br />
406 m. zust. Anm. ENGELBRECHT = zfs 2016, 471 = VRR 8/2016, 12 m. krit. Anm. DEUTSCHER; vgl. auch BURHOFF<br />
VA 2017, 16, 17; nicht ganz eindeutig OLG Hamm zfs 2016, 711).<br />
Hinweis:<br />
Bei der Regelung in § 23 Abs. 1a StVO handelt es sich jetzt um ein kombiniertes „hand-held- und<br />
Blickabwendungsverbot“.<br />
390 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 989<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Entscheidend für die Anwendung des § 23 Abs. 1a StVO ist u.a., dass das elektronische Gerät<br />
aufgenommen oder gehalten wird, es kommt also nicht mehr darauf an, ob es „gehalten werden muss“.<br />
Damit wird nach wie vor die Benutzung einer Freisprechanlage nicht erfasst, wenn der Kfz-Führer dazu<br />
den Telefonhörer nicht aufnimmt (OLG Bamberg VRR 20<strong>08</strong>, 35 = zfs 20<strong>08</strong>, 52 zum alten Recht; OLG<br />
Stuttgart a.a.O.). Es können also z.B. Nummern mit der Tastatur gewählt werden. Es handelt sich nach<br />
wie vor auch nicht um eine Benutzung i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO, wenn das Gerät/Mobiltelefon in einer<br />
Handy-Vorrichtung des Kfz abgelegt worden ist und unter Benutzung eines Headsets/Earsets, welches<br />
über eine Bluetooth-Verbindung mit dem Gerät/Mobiltelefon verbunden ist, telefoniert wird (so schon<br />
zum alten Recht OLG Hamm zfs 2016, 711; OLG Stuttgart a.a.O.), und zwar auch dann nicht, wenn zur<br />
Verbesserung der Hörqualität das über eine Spange am Ohr gehaltene Headset mit der Hand gegen das<br />
Ohr gedrückt wird. Auch soll das Annehmen eines Telefongesprächs durch bloßes Drücken einer Taste<br />
oder das Wischen über den Bildschirm eines Smartphones zu diesem Zweck erlaubt sein, soweit das<br />
Mobiltelefon nicht in die Hand genommen wird (FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68; BR-Drucks 556/17, S. 25). Ein<br />
Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO liegt allerdings vor, wenn der Fahrzeugführer während der Fahrt ein<br />
mit einer Freisprechanlage verbundenes Mobiltelefon in der Hand hält und über die Freisprechanlage<br />
telefoniert (anders zum alten Recht OLG Stuttgart a.a.O.).<br />
III. Fahrzeugführer<br />
Die Regelung in § 23 Abs. 1a und 1b StVO erfasst den „Fahrzeugführer“. Fahrzeugführer ist nicht nur der<br />
Kfz-Führer, sondern auch der Radfahrer (BURHOFF VRR 20<strong>08</strong>, 14; BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 28<strong>08</strong> f.).<br />
Fahrzeugführer ist aber nicht der sich auf dem Beifahrersitz befindende Fahrlehrer, der in das<br />
Fahrgeschehen nicht eingreift. Das ist in der (obergerichtlichen) Rechtsprechung inzwischen entschieden<br />
(BGHSt 59, 311 = zfs 2015, 111 = VRR 2/2015, 13; OLG Düsseldorf DAR 2014, 40 = VRR 2014, 77;<br />
OLG Stuttgart DAR 2015, 410 = VRR 5/2015, 14; LG Münster zfs <strong>2018</strong>, 169; AG Herne VA 2012, 120 =<br />
VRR 2012, 272; AG Landstuhl VA 2017, 11; a.A. [früher] OLG Bamberg NJW 2009, 2393 = DAR 2009, 402 m.<br />
zust. Anm. SCHEIDLER und abl. Anm. HEINRICHS; OLG Karlsruhe DAR 2014, 211 [Vorlagebeschluss]).<br />
Hinweis:<br />
Für den Begriff des Führens gelten die allgemeinen Regeln (dazu eingehend BURHOFF/BURHOFF, OWi,<br />
Rn 3831). Vor- und Nachbereitungszeiten werden also nicht erfasst. Ein kurzer Halt, z.B. während eines<br />
Staus oder an einer rot zeigenden Lichtzeichenanlage, unterbricht das Führen aber nicht (zum Begriff des<br />
Führens eines Kfz BGHSt 49, 8 = VRR 2005, 519).<br />
IV.<br />
Begriff des elektronischen Geräts<br />
1. Technikoffene Formulierung<br />
Die StVO definiert den Begriff des „elektronischen Geräts“–ebenso wie früher den Begriff des „Mobil- oder<br />
Autotelefons“ –nicht näher (zu den alten Begrifflichkeiten BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977, 979 f.; BURHOFF/BURHOFF,<br />
OWi, Rn 2810 ff. m.w.N.). Von § 23 Abs. 1a S. 1 StVO werden (alle) elektronischen Geräte erfasst, die der<br />
Kommunikation, Information oder Organisation dienen oder zu dienen bestimmt sind. Nach § 23 Abs. 1 S. 2<br />
StVO sind das „auch Geräte der Unterhaltungselektronik oder Geräte zur Ortsbestimmung, insb. Mobiltelefone oder<br />
Autotelefone, Berührungsbildschirme, tragbare Flachrechner, Navigationsgeräte, Fernseher oder Abspielgeräte mit<br />
Videofunktion oder Audiorekorder“. § 23 Abs. 1a StVO ist technikoffen formuliert (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 3,<br />
12 ff.). Der technikoffene Ansatz erlaubt, (in Zukunft) Geräte zu erfassen, die derzeit noch gar nicht auf dem<br />
Markt sind, sondern erst noch entwickelt werden (BR-Drucks 556/17, S. 27; 424/17, S. 15).<br />
Unter die elektronischen Geräte i.S.d. § 23 Abs. 1 S. 1, 2 StVO fallen (die nachstehende Aufzählung ist<br />
nicht abschließend; s. auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69):<br />
• sämtliche Handys, Smartphones,<br />
• BOS- und CB-Funkgeräte und Amateurfunkgeräte, auch solche mit reinem push-to-talk-Modus,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 391
Fach 9, Seite 990<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
• Tablet-Computer, Touchscreens, elektronische Terminplaner, wobei es nicht darauf ankommt, ob<br />
eine Mobilfunkkarte eingelegt ist (zum palm-Organizer nach altem Recht: OLG Karlsruhe NJW 2007,<br />
240 = DAR 2007, 99 = VRR 2007, 34),<br />
• Navigationsgeräte, und zwar nicht nur die Nutzung der Navigationsgerätefunktion des Mobiltelefons<br />
(zum alten Recht: OLG Hamm DAR 2013, 217 = VRR 2013, 230; OLG Köln NJW 20<strong>08</strong>, 3368 = VRR<br />
20<strong>08</strong>, 353),<br />
• Diktiergeräte,<br />
• E-Book-Reader, MP3-Player, Personal Computer, DVD-/Blu-Ray-Player, CD-ROM-Abspielgeräte,<br />
• Smartwatches (zur Handyuhr und zur Smart-Watch s. KRUMM NZV 2015, 374),<br />
• Walkman, Discman und iPod (zum iPod: AG Rinteln, Urt. v. 27.10.2016 – 24 OWi 32/16; AG Waldbröl<br />
VA 2015, 65),<br />
• Notebooks.<br />
Für die ebenfalls erfassten Funkgeräte ist § 52 Abs. 4 StVO in die StVO eingefügt worden (zum Walkie-<br />
Talkie nach altem Recht: AG Sonthofen VRR 2010, 475 = DAR 2011, 99 m. abl. Anm. MILLER). Danach ist<br />
§ 23 Abs. 1a StVO im Falle der Verwendung eines Funkgeräts in einem Polizei- oder Sanitätsfahrzeug<br />
erst ab dem 1.7.2020 anzuwenden. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es<br />
derzeit (noch) nicht in ausreichendem Maße praxistaugliche Freisprecheinrichtungen für diese Bereiche<br />
gibt (BR-Drucks 556/17, S. 33).<br />
Hinweis:<br />
Verfügt das elektronische Gerät über eine Sichtfeldprojektion, darf diese für fahrzeugbezogene, verkehrszeichenbezogene,<br />
fahrtbezogene oder fahrtbegleitende Informationen benutzt werden (§ 23 Abs. 1a<br />
S. 4 StVO).<br />
2. Sonstige Geräte<br />
Nach § 23 Abs. 1a S. 3 StVO ist (auch) die Nutzung einer Videobrille (z.B. Virtual-Reality-Brille oder<br />
Google-Glass-Brille) verboten. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich der Fahrzeugführer<br />
durch das Aufsetzen einer solchen Brille in Funktion vollständig vom Verkehrsgeschehen<br />
abkoppelt (BR-Drucks 556/17, S. 27).<br />
Die Nutzung eines Head-up-Displays ist eingeschränkt erlaubt (vgl. § 23 Abs. 1b S. 3 Nr. 1, 2 StVO). Die<br />
Erlaubnis beschränkt sich auf Daten, die der Verkehrssicherheit zuträglich sind (BR-Drucks 556/17,<br />
S. 27). Das geht wiederum auf den Gedanken zurück, dass die Blickabwendung (vgl. V. 2.) auf „das<br />
förderliche Maß zu reduzieren ist“. Der Verordnungsgeber geht davon aus, dass das Zeigen von<br />
Verkehrszeichenanordnungen im Blickfeld und von fahrzeugseitigen Informationen zum Zustand des<br />
Fahrzeugs sowie Informationen zum Fahrweg generell geeignet erscheinen, um den Fahrzeugführer<br />
bei der sicheren Verkehrsteilnahme zu unterstützen (zu weiteren Ausnahmen s. VI.). Unter fahrtbegleitenden<br />
Informationen ist nach der VO-Begründung (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 27) auch die<br />
Angabe des Radiosenders oder des aktuell abgespielten Musiktitels im Autoradio zu verstehen. Das<br />
Ablesen dieser Informationen im Head-up-Display erscheint – unter Berücksichtigung der nur kurzen<br />
Blickabwendung (vgl. V. 2.) – weniger ablenkend, als wenn der Fahrzeugführer zum Ablesen seinen<br />
Blick stets auf das Autoradio in der Mittelkonsole richten muss. Weitergehende Daten dürften im<br />
Gegensatz dazu wiederum den Blick unnötig binden, was der Verkehrssicherheit abträglich wäre.<br />
Deren Ablesung ist also verboten (BR-Drucks 17424/17, S. 24).<br />
Hinweis:<br />
Keine Ausnahme besteht für sog. Radarwarngeräte. Diese sind nach wie vor nicht zulässig, denn sie vermitteln<br />
keine verkehrszeichen- oder fahrtbezogenen Informationen (BR-Drucks 556/17, S. 27). Das ist in § 23<br />
Abs. 1 S. 5 StVO ausdrücklich klargestellt, wonach § 23 Abs. 1c StVO, der die frühere Regelung betreffend<br />
Radarwarngeräte in § 23 Abs. 1b StVO a.F. enthält, „unberührt“ bleibt (zu Radarwarngeräten BURHOFF/<br />
DEUTSCHER, OWi, Rn 2773).<br />
392 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 991<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
V. Begriff der Nutzung<br />
1. Allgemeines<br />
Der Begriff der Nutzung ist von der Rechtsprechung zum alten Recht weit ausgelegt worden (Nachw.<br />
bei BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 2802 ff. sowie BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977, 980 f.) Das Verbot des § 23 Abs. 1a<br />
StVO a.F. galt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung für alle (Bedien-)Funktionen des<br />
Mobiltelefons, wenn das Gerät in der Hand gehalten werden musste (vgl. OLG Stuttgart DAR 2016,<br />
406 = zfs 2016, 471 = VRR 8/2016, 12). Dieses Verbot hat § 23 Abs. 1a StVO n.F. aufgegeben und<br />
umgewandelt in ein Gebot, das regelt, unter welchen Voraussetzungen die Nutzung des Geräts zulässig<br />
ist (BR-Drucks 556/17, S. 25). Danach darf ein elektronisches Gerät u.a. (nur) benutzt werden, wenn<br />
hierfür das Gerät weder aufgenommen noch gehalten wird und zur Bedienung und Nutzung des Geräts<br />
nur eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung<br />
zum Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erfolgt oder<br />
erforderlich ist (vgl. dazu V. 2.).<br />
Hinweis:<br />
Geht man vom Anliegen der Gesetzesänderung und dem mit ihr verfolgten Sinn und Zweck (vgl. oben I.)<br />
aus, gilt: Nutzung liegt immer dann vor, wenn das Gerät aufgenommen oder gehalten wird und zur<br />
Bedienung und Nutzung nicht nur ein kurzer Blick ausreicht. Ob das Gerät zur Nutzung in der Hand<br />
gehalten werden muss – so die frühere Rechtslage (vgl. OLG Stuttgart DAR 2016, 406 = zfs 2016, 471<br />
= VRR 8/2016, 12) –, ist unerheblich.<br />
Unter Nutzung i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO ist nach wie vor jegliche Nutzung eines elektronischen Geräts/<br />
Mobiltelefons zu verstehen. Damit ist die „Nutzung“ –auch auf der Grundlage der Rechtsprechung zu<br />
§ 23 Abs. 1a StVO a.F. – in folgenden (Rechtsprechungs-)Beispielen zu bejahen:<br />
• das Abfragen von Daten, wobei es nicht mehr darauf ankommt, ob eine Mobilfunkkarte eingelegt,<br />
ggf. aber deaktiviert ist (vgl. insoweit zum alten Recht OLG Hamm, Beschl. v. 8.6.2017 – 4 RBs 214/17;<br />
OLG Karlsruhe NJW 2007, 240 = VRR 2007, 34),<br />
• das Antippen des sog. Home-Buttons des in der Hand gehaltenen Mobiltelefons/Smartphones, um<br />
dadurch zu kontrollieren, ob das Gerät ausgeschaltet ist (OLG Hamm NStZ-RR 2017, 154),<br />
• das Auslesen von Daten, wie z.B. einer Telefonnummer (OLG Hamm NJW 2006, 2870 = VRR 2006, 363;<br />
NStZ-RR 2017, 154),<br />
• das Ausschalten des Geräts (OLG Köln DAR 2012, 220 = NZV 2012, 450 für das Mobiltelefon zum alten<br />
Recht),<br />
• die Nutzung eines Diktiergeräts, da es sich dabei auch um ein elektronisches Gerät handelt, und des<br />
Mobiltelefons/Smartphones als Diktiergerät (OLG Hamm, Beschl. v. 24.3.2006 – 3 Ss OWi 1/06;<br />
OLG Jena NJW 2006, 3734 = NZV 2006, 664),<br />
• das Einschalten des Geräts (OLG Hamm NStZ-RR 2017, 154),<br />
• das Halten ans Ohr, um zu hören, ob das Gerät/Mobiltelefon ausgeschaltet ist (OLG Hamm<br />
DAR 2007, 402 [Ls.] = NZV 20<strong>08</strong>, 49),<br />
• ggf. die Nutzung der Kamerafunktion (OLG Hamburg NZV 2016, 485 = VRS 130, 74 = VRR 5/2016, 14),<br />
• die Nutzung als Internetzugang bzw. zur Internetabfrage (OLG Hamm NZV 2015, 310 = VA 2015, 65),<br />
• das Halten des elektronischen Geräts/Mobiltelefons, um es mit einem Ladekabel im Fahrzeug zum<br />
Laden zu verbinden (so schon zum alten Recht OLG Oldenburg DAR 2016, 151 m. Anm. ENGELBRECHT =<br />
VRS 129, 335; a.A. zum alten Recht AG Landstuhl NStZ-RR 2017, 154 = DV 2017, 104 [„verbotene<br />
Analogie“]),<br />
• das Halten des Geräts ans Ohr, um Musik zu hören (OLG Köln NZV 2010, 270 = VRR 2009, 468),<br />
• die Nutzung als Telefon, wobei unerheblich ist, ob eine Verbindung zustande gekommen ist<br />
(OLG Hamm VRS 110, 43 = VRR 2006, 1<strong>08</strong>),<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 393
Fach 9, Seite 992<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
• das Aufnehmen des Geräts, um dieses zum Telefonieren einzuschalten, auch wenn das Einschalten<br />
am entladenen Akku scheitert (OLG Köln NZV 2009, 304 = VRR 2009, 3<strong>08</strong>),<br />
• die Nutzung eines Navigationsgeräts oder die Nutzung des Mobiltelefons als Navigationsgerät<br />
(OLG Hamm DAR 2013, 217 = VRR 2013, 230; NZV 2015, 310 = VA 2015, 65; OLG Köln NJW 20<strong>08</strong>, 3368 =<br />
VRR 20<strong>08</strong>, 353),<br />
• die Nutzung als Notizbuch (OLG Hamm NJW 2003, 912 = DAR 2003, 473),<br />
• die Nutzung als Organisator (OLG Hamm NJW 2005, 2469 = VRR 2005, 269),<br />
• das In-die-Hand-Nehmen des Handys nach Ertönen des Klingelzeichens, um auf dem Display zu<br />
schauen, wer der Anrufer ist (OLG Köln DAR 2009, 4<strong>08</strong>),<br />
• um eine SMS zu versenden (AG Ratzeburg NZV 2005, 431) oder um eine gespeicherte SMS zu lesen,<br />
und zwar auch dann, wenn keine SIM-Karte eingelegt ist (OLG Hamm, Beschl. v. 1.2.2012 – 5 RBs 4/12),<br />
• das Versenden oder Lesen einer Messenger-Nachricht (z.B. bei WhatsApp),<br />
• das bloße Ablesen der Uhrzeit vom Display des Handys, wenn dieses dafür in die Hand genommen<br />
wird (OLG Hamm NJW 2005, 2469 = VRR 2005, 269; OLG Zweibrücken NZV 2015, 203 [Ls.]; abl.<br />
SCHEFFLER NZV 2006, 128, 129; HUFNAGEL NJW 2006, 3665); m.E. unter Geltung des § 23 Abs. 1a S. 1 StVO<br />
n.F. zweifelhaft),<br />
• das „Wegdrücken“ eines eingehenden Anrufs (OLG Hamm, Beschl. v. 19.10.2006 – 3 Ss OWi 681/06,<br />
OLG Köln NZV 2009, 302; DAR 2012, 220 = NZV 2012, 450; vgl. auch noch OLG Köln NJW 2015, 361 =<br />
DAR 2015, 104),<br />
• wenn der Betroffene auf der Ablage vor der Windschutzscheibe seines Kfz ein Handy abgelegt hat,<br />
welches aufblendet und hierdurch anzeigt, dass der Akku aufgeladen werden muss, und der<br />
Betroffene wegen der Blendung das Handy beim Fahren in die Hand nimmt, darauf schaut und es<br />
dann zur Seite legt, um eine weitere Blendung zu vermeiden (so zum alten Recht AG Lüdinghausen<br />
NZV 2014, 332 = zfs 2014, 414 m. zust. Anm. KRENBERGER; m.E. zum alten Recht sehr grenzwertig),<br />
• das Halten ans Ohr, um das Mobiltelefon als „Wärmeakku“ zu benutzen (a.A. zum alten Recht<br />
OLG Hamm zfs 20<strong>08</strong>, 51 = VRR 20<strong>08</strong>, 37 m. zust. Anm. BURHOFF),<br />
• das Weiterreichen des Mobiltelefons an den Beifahrer nach dem Klingeln, ohne auf das Display zu<br />
schauen (OLG Köln NJW 2015, 361 = DAR 2015, 104).<br />
Hinweis:<br />
Nach § 23 Abs. 1a S. 1 Nr. 2a StVO ist die Nutzung des elektronischen Geräts ausdrücklich erlaubt, wenn nur<br />
eine Sprachsteuerung und Vorlesefunktion genutzt wird (vgl. dazu BR-Drucks 424/17, S. 10), allerdings darf<br />
auch dafür das Gerät nicht aufgenommen oder in der Hand gehalten werden.<br />
Zur „Nutzung“ i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO gehört nicht nur das eigentliche Kerngeschehen des Nutzungsvorgangs,<br />
also z.B. das Versenden einer SMS oder einer WhatsApp-Nachricht. Vielmehr liegt auch<br />
während der Vor- oder Nachbereitungsphase eines Telefonats bzw. einer SMS eine Nutzung des<br />
Mobiltelefons i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO vor, wenn hierfür das Gerät aufgenommen oder gehalten wird (vgl.<br />
schon zum alten Recht OLG Düsseldorf StraFo 2006, 509; OLG Hamm NJW 2007, 1078 = VRR 2007, 317 =<br />
NZV 2007, 483; AG Ratzeburg NZV 2005, 431; vgl. auch LG Kiel NZV 2005, 477). Zur Nutzung des<br />
Mobiltelefons bei Abschluss eines Telefonats gehört also auch die Rückkehr in dessen Ruhe- oder<br />
Bereitschaftszustand durch Durchlaufen der Menüpunkte des Displays bis zum Weglegen des Geräts<br />
(s. AG Ratzeburg a.a.O.). In all diesen Fällen ist zudem auch die zweite Voraussetzung, nämlich der nur<br />
kurze Blick auf das Display des Handys, nicht erfüllt.<br />
Hinweis:<br />
Um eine Nutzung des elektronischen Geräts handelt es sich aber nicht, wenn das Gerät während der<br />
Autofahrt lediglich aufgenommen wird, um es woanders hinzulegen (zuletzt zum alten Recht OLG Köln<br />
NJW 2015, 361 = DAR 2015, 104; wohl auch OLG Bamberg NJW 20<strong>08</strong>, 599 = VRR 20<strong>08</strong>, 35). Das bloße In-<br />
394 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 993<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
die-Hand-Nehmen des Geräts, um es woanders hinzulegen, ist kein „Nutzen“ i.S.d. 23 Abs. 1a S. 1 StVO.<br />
Abgesehen davon, dass andernfalls die Vorschrift zu unbestimmt würde, wird es bei dieser „Tätigkeit“<br />
zumindest (auch) am Erfordernis des nicht nur kurzen Blicks auf das Display fehlen.<br />
2. „Kurze Blickabwendung“<br />
a) Zeitdauer<br />
Nach § 23 Abs. 1a S. 1 Nr. 2b StVO ist die Benutzung des elektronischen Geräts erlaubt, wenn „zur<br />
Bedienung und Nutzung des Geräts nur eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen<br />
angepasste Blickzuwendung zum Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen<br />
erfolgt oder erforderlich ist“.<br />
Hinweise:<br />
• Der längere Blick ist also immer verboten, auch wenn das Gerät nicht aufgenommen oder in der Hand<br />
gehalten wird (so FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69). Das bedeutet, dass das Lesen von Kurznachrichten oder die<br />
Nutzung anderer Multimediaangebote, wie z.B. Internet und Fernsehen, untersagt ist, da diese Tätigkeiten<br />
grundsätzlich eine längere Blickabwendung erfordern (BR-Drucks 556/17, S. 26). Ein solcher Verstoß<br />
wird aber nur schwer nachweisbar sein (FROMM a.a.O.; BR-Drucks a.a.O.; s. auch unten V. 2. b).<br />
• Erlaubt ist nach § 23 Abs. 1a S. 3 Nr. 2, 3 StVO die Benutzung eines Bildschirms oder einer<br />
Sichtfeldprojektion zur Bewältigung der Fahraufgabe des Rückwärtsfahrens oder Einparkens, soweit<br />
das Fahrzeug nur mit Schrittgeschwindigkeit bewegt wird, Nr. 2 (zur Schrittgeschwindigkeit zuletzt u.a.<br />
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.<strong>2018</strong> – 2 Rb 9 Ss 794/17 [7 km/h]; OLG Naumburg zfs 2017, 654 [10 km/h]),<br />
oder die Benutzung elektronischer Geräte, die vorgeschriebene Spiegel ersetzen oder ergänzen, Nr. 3.<br />
Was unter einem kurzen Blick zu verstehen ist, wird nicht konkret definiert. Die Begründung zur<br />
Änderung des § 23 Abs. 1a StVO verweist allerdings darauf (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 26), dass die StVO<br />
teilweise „kurze Blickabwendungen“ wie z.B. den Blick in den Rückspiegel etwa vor dem Abbiegen oder<br />
Überholen vorschreibt (§§ 5, 9 StVO). Unter Hinweis darauf wird eine in zeitlicher Hinsicht vergleichbare<br />
Blickabwendung zur Bedienung des Geräts als erlaubt angesehen. Geht die Nutzung des Geräts über diese<br />
kurze Blickabwendung hinaus, ist dies verboten – solche Notwendigkeiten sind durch eine Vorlesefunktion<br />
oder Sprachsteuerung zu ersetzen (BR-Drucks 556/17, S. 26 m. Hinw. auf die europäische Empfehlung<br />
über sichere und effiziente bordeigene Informations- und Kommunikationssysteme und Untersuchungen<br />
der National Highway Traffic Safety Administration [NHTSA]). Die Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen<br />
darf im fließenden Verkehr also nur so kurz wie möglich und beiläufig sein (BR-Drucks 556/17,<br />
S. 26). Dabei ist zu beachten, dass Einzelumstände im Verkehrsgeschehen dazu führen können, dass in<br />
diesen speziellen Momenten eine Blickabwendung vom Verkehrsfluss gar nicht möglich ist. Insoweit wird<br />
auf die Kriterien des § 3 Abs. 1 S. 2 StVO zurückgegriffen (s. auch BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 2848 ff.).<br />
Hinweis:<br />
Zur Frage des „kurzen Blicks“ wird man auch auf das Gesetzgebungsverfahren verweisen können: Im vorgeschlagenen<br />
ersten Änderungsentwurf (vgl. BR-Drucks 424/17) wurde noch davon ausgegangen, dass die<br />
Blickabwendung einen Zeitraum von einer Sekunde nicht überschreiten dürfe. Darauf wird man bei Auslegung<br />
der letztlich Gesetz gewordenen Fassung –„nur eine kurze (…) Blickzuwendung“ –zurückgreifen<br />
können (s. auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69).<br />
b) Beweisprobleme beim „kurzen Blick“<br />
Hält der Betroffene das Gerät in der Hand, gibt es keine Probleme, da dann schon die Voraussetzung des<br />
§ 23 Abs. 1a S. 1 Nr. 1 StVO nicht erfüllt ist. Problematischer sind die Fälle des nur „nicht nur kurzen<br />
Blicks“. Denn es wird in der Praxis nicht einfach sein, die längerfristige Blickabwendung und damit das<br />
Nichtvorliegen der § 23 Abs. 1a S. Nr. 2b StVO durch die Polizeibeamten bei einer i.d.R. kurzen<br />
Vorbeifahrt oder gar auf einem Überwachungsfoto zu beobachten und dem Betroffenen nachzuweisen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 395
Fach 9, Seite 994<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Die Ausschüsse im Bundesrat hatten an dieser Stelle daher empfohlen (vgl. BR-Drucks 556/1/17, S. 2), das<br />
Merkmal der „Erforderlichkeit“ als überflüssig entfallen zu lassen. Der Verordnungsgeber hat das<br />
Merkmal aber beibehalten. Offenbar soll es eine Beweiserleichterung, hervorgehoben im Gesetzestext<br />
durch „erfolgt oder erforderlich ist“, sein, die auf die Bedienung und Nutzung des Geräts Bezug nimmt<br />
und den Schluss auf eine objektiv erforderliche und – so die Begründung – „auch tatsächlich zu<br />
unterstellende Blickabwendung“ zulassen soll (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 26; BR-Drucks 556/1/17, S. 2 f.).<br />
Geht man davon aus (so wohl auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69), muss aber der den angeblichen Verstoß<br />
Feststellende – i.d.R. ein Polizeibeamter bei der Vorbeifahrt oder auf einem Überwachungsfoto – auch<br />
feststellen (können), um welche konkrete Nutzung es sich gehandelt hat. Die Feststellung der Nutzung<br />
einer konkreten Gerätefunktion wird in der Praxis – kurze Vorbeifahrt (!) – wenn nicht unmöglich, so<br />
zumindest aber doch sehr schwierig sein (s. zu Beweisfragen auch unten IX.).<br />
Hinweis:<br />
Der Verteidiger muss dem Mandanten raten – falls dieser sich noch nicht eingelassen hat –, in diesen<br />
Fällen auf keinen Fall Angaben zur konkreten Nutzung zu machen. Denn dann ist ggf. der o.a. Schluss<br />
möglich (s. auch BR-Drucks 556/1/17, S. 2). Hat der Betroffene schon Angaben gegenüber der Polizei gemacht,<br />
z.B. in Zusammenhang mit einer Anhaltesituation, ist zu prüfen, inwieweit diese verwertbar sind<br />
oder ob ein Beweisverwertungsverbot besteht, weil der Betroffene nicht ausreichend belehrt worden ist<br />
(vgl. dazu BURHOFF/GÜBNER, OWi, Rn 423 ff.).<br />
VI.<br />
Ausnahmen vom Nutzungsverbot<br />
1. Stehendes Fahrzeug<br />
Nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 1 StVO gilt eine Ausnahme vom Benutzungsverbot, wenn das Fahrzeug steht.<br />
Diese Regelung entspricht dem früheren § 23 Abs. 1a S. 2 StVO a.F., so dass die dazu vorliegende frühere<br />
Rechtsprechung anwendbar bleibt (vgl. zum alten Recht OLG Bamberg NJW 2006, 3732 = VRR 2006, 431;<br />
OLG Düsseldorf NZV 20<strong>08</strong>, 584 = DAR 20<strong>08</strong>, 7<strong>08</strong>; OLG Hamm zfs 20<strong>08</strong>, 50 = VRS 113, 79). Der<br />
anhaltende Fahrradfahrer darf also telefonieren. Beim Kfz-Führer reicht hingegen das Anhalten allein<br />
nicht aus. Zusätzlich muss nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 StVO der Motor vollständig ausgeschaltet sein. Zur<br />
ähnlich lautenden Regelung nach früherem Recht war in Rechtsprechung und Literatur darum<br />
gestritten worden, ob eine verbotswidrige Benutzung eines Mobiltelefons durch einen Fahrzeugführer<br />
nicht vorliegt, wenn das Fahrzeug steht und der Motor infolge eines automatischen Ausschaltens des<br />
Motors (Start-Stopp-Funktion) ausgeschaltet ist (bejaht von OLG Hamm NJW 2015, 183 = NZV 2015,<br />
609 m. abl. Anm. HAMMER = VRR 2014, 474). Dieser Streit ist durch die Neuregelung erledigt. Denn § 23<br />
Abs. 1b S. 2 StVO bestimmt jetzt ausdrücklich, dass das fahrzeugseitige automatische Abschalten des<br />
Motors im Verbrennungsbetrieb oder das Ruhen des elektrischen Antriebs kein Ausschalten des Motors<br />
i.S.d. § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 1 StVO ist. Dann ist der Motor nicht vollständig ausgeschaltet.<br />
Der Einwand eines nur „kurzfristigen Halts“, z.B. an einer Ampel (OLG Hamm VRS 110, 43 =<br />
VRR 2006, 1<strong>08</strong>) oder vor einer geschlossenen Bahnschranke, ist ohne Bedeutung, wenn der Motor nicht<br />
im vorstehenden Sinn ausgeschaltet ist. Aber auch das Ausschalten des Motors, um ungestraft<br />
telefonieren zu können, ist in diesen Fällen nicht ungefährlich. Setzt der Kfz-Führer dann nämlich seine<br />
Fahrt ggf. verspätet – weil ja erst noch gestartet werden muss – fort, kann eine Ordnungswidrigkeit<br />
nach § 1 Abs. 1 StVO in Betracht kommen (zum alten Recht OLG Bamberg NJW 2006, 3732 =<br />
VRR 2006, 431; KÖNIG, in: HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 23 StVO Rn 33;<br />
s. auch OLG Hamm a.a.O.). Wenn das Kfz steht und der Motor ausgeschaltet ist, ist die Benutzung des<br />
elektronischen Geräts erlaubt (OLG Bamberg NJW 2006, 3732 = DAR 2007, 95; OLG Dresden,<br />
Beschl. v. 25.4.2006 – Ss [OWi] 187/06). Auch in diesen Fällen ist ein Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO<br />
anzunehmen, wäre angesichts des eindeutigen und klaren Wortlauts der Vorschrift in § 23 Abs. 1b S. 1<br />
Nr. 3, S. 2 StVO aber eine verbotene Analogie zu Lasten des Betroffenen (zum alten Recht OLG Bamberg<br />
a.a.O.). Auf die Dauer des Halts kommt es nicht an (zum alten Recht OLG Dresden a.a.O.).<br />
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Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 995<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
2. Weitere Ausnahmen<br />
In § 23 Abs. 1b S. 1 StVO sind weitere Ausnahmen enthalten:<br />
• Nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 2 StVO ist der bestimmungsgemäße Betrieb einer atemalkoholgesteuerten<br />
Wegfahrsperre, soweit ein für den Betrieb bestimmtes Handteil aufgenommen und gehalten werden<br />
muss, zulässig.<br />
• Nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 StVO muss bei stehenden Straßenbahnen oder Linienbussen an<br />
Haltestellen der Motor nicht ausgeschaltet sein. Gemeint sind damit nur solche Haltestellen, die<br />
durch das Zeichen 224 gekennzeichnet sind. Erlaubt ist die Nutzung bei laufendem Motor nicht bei<br />
sonstigen Halten. Durch diese Regelung soll der Verkauf von Fahrscheinen oder das Erteilen von<br />
Auskünften, wozu häufig die Benutzung eines Bildschirms erforderlich ist, erleichtert werden. Dies<br />
nur bei abgeschaltetem Motor zu erlauben, würde zu unnötigen Verzögerungen im Betriebsablauf<br />
des öffentlichen Personennahverkehrs führen (BR-Drucks 556/17, S. 28).<br />
VII. Schuldform<br />
Die Benutzung des elektronischen Geräts kann nicht fahrlässig begangen werden. Auch die<br />
Neuregelung enthält dazu zwar wie § 23 Abs. 1a StVO a.F. keine ausdrückliche Regelung, aber das<br />
verbotswidrige Nutzen während der Fahrt in Form des Aufnehmens oder In-der-Hand-Haltens und der<br />
nicht nur kurzen Blickzuwendung wird regelmäßig nur vorsätzlich begangen werden können (zur<br />
früheren Regelung OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2014 – IV-2 RBs 37/14; OLG Hamm VRR 2007, 317 =<br />
NZV 2007, 483; VA 2009, 30; OLG Jena VRS 107, 472 = NZV 2005, 1<strong>08</strong>; OLG Zweibrücken zfs 2012, 170 =<br />
DAR 2012, 403). Dafür spricht, dass der Verordnungsgeber – folgerichtig – den Verstoß nach wie vor in<br />
Teil II des Bußgeldkatalogs bei den vorsätzlichen Verstößen eingeordnet hat (vgl. Nr. 246.1, 246.2 BKat).<br />
Deswegen kommt eine Erhöhung des Regelbußgelds wegen vorsätzlicher Begehungsweise nicht in<br />
Betracht (KG NJW 2006, 3<strong>08</strong>0; OLG Hamm NZV 20<strong>08</strong>, 583 = VRS 115, 207; OLG Jena a.a.O.; FROMM MMR<br />
<strong>2018</strong>, 68, 70).<br />
Hinweis:<br />
Der Grundsatz, dass bei im Bußgeldbescheid nicht angegebener Schuldform von fahrlässigem Handeln<br />
auszugehen ist und eine Verurteilung wegen Vorsatzes nur nach einem Hinweis gem. § 265 StPO erfolgen<br />
kann, gilt bei Verstößen gegen § 23 Abs. 1a StVO nicht, da ein solcher Verstoß, zumindest in aller Regel,<br />
eben nur vorsätzlich verwirklicht werden kann (OLG Karlsruhe VA 2014, 49 zum alten Recht).<br />
VIII. Rechtsfolgen bei verbotswidriger Benutzung<br />
1. Geldbuße<br />
Ab 19.10.2017 beträgt die Geldbuße bei Radfahrern 55 € (Nr. 246.4 BKat). Bei Kraftfahrern beträgt die<br />
Geldbuße ab 19.10.2017 im „Grundtatbestand“ Nr. 246.1 BKat 100 €. Kommt es zu einer „Gefährdung“,<br />
kann nach Nr. 246.2 eine Geldbuße von 150 € festgesetzt werden. Bei einer „Sachbeschädigung“ erhöht<br />
sich die Geldbuße auf 200 €. Für die Begriffe der „Gefährdung“ und „Sachbeschädigung“ gelten die<br />
allgemeinen Regeln.<br />
2. Fahrverbot<br />
a) Regelfahrverbot<br />
In Nr. 246.2 und Nr. 246.3 BKat ist jetzt in den Fällen der „Gefährdung“ oder „Sachbeschädigung“<br />
ausdrücklich die Möglichkeit der Verhängung eines Fahrverbots vorgesehen. Damit soll deutlicher das<br />
Gewicht dieser Verstöße und ihre Auswirkungen auf die Sicherheit des Straßenverkehrs betont werden<br />
(BR-Drucks 556/17, S. 36 f.).<br />
Die Tatbestände der Nr. 246.2 und 246.3 BKat sind in den Katalog des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKatV<br />
aufgenommen worden. Damit wird der Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO im Falle der Gefährdung und<br />
Sachbeschädigung als grobe Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers eingestuft, der zu einem<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 397
Fach 9, Seite 996<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Regelfahrverbot führt (vgl. dazu BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1290 ff.). Die Neuregelung geht zur<br />
Begründung (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 34) davon aus, dass die verbotswidrige Nutzung eines<br />
elektronischen Geräts zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Fahrleistung des Fahrzeugführers<br />
führt und objektiv ein hohes Gefährdungspotenzial für die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer<br />
aufweist, welches sich im Falle einer eingetretenen Gefährdung oder Sachbeschädigung bereits<br />
manifestiert hat. Die vorsätzliche und rechtswidrige Nutzung der elektronischen Geräte durch den Kfz-<br />
Fahrzeugführer wird in diesen Fällen als besonders leichtsinnig, grob nachlässig und gleichgültig<br />
eingeordnet, was dann zur Androhung eines Fahrverbots führt.<br />
Für dieses Regelfahrverbot gelten die allgemeinen Regeln. Ein Absehen vom Fahrverbot wird – wenn<br />
überhaupt – nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Dem steht im Zweifel nicht nur die<br />
grundsätzlich vorsätzliche Begehungsweise (vgl. oben VII.) entgegen, sondern auch, dass es zu einer<br />
Gefährdung bzw. Sachbeschädigung gekommen ist. Zudem gilt: Wer ein elektronisches Gerät<br />
verbotswidrig benutzt und daher ein Verkehrsschild übersieht, kann sich deshalb nicht auf ein sog.<br />
Augenblicksversagen berufen. Er muss sich darauf einstellen, dass ihn die Nutzung u.U. ablenken und<br />
die Beherrschung des Fahrzeugs einschränken kann (vgl. KG, Beschl. v. 19.1.2000 – 2 StVO 319/99 u.<br />
StVO (B) 669/99; OLG Hamm VA 2003, 168; OLG Karlsruhe NZV 2004, 211, jew. für Geschwindigkeitsüberschreitung).<br />
Er hat daher durch erhöhte Sorgfalt sicherzustellen, dass es zu keiner verkehrsrelevanten<br />
Beeinträchtigung kommt (vgl. KG a.a.O.). Dies gilt auch für einen Rotlichtverstoß. Der<br />
Fahrzeugführer, der vor einer Rotlicht zeigenden Verkehrsampel anhält, nach mehreren Sekunden aber<br />
trotz Fortdauer des Rotlichts telefonierend und ohne Beobachtung der Lichtsignalanlage losfährt, weil<br />
er „aus dem Unterbewusstsein“ annimmt, die Ampel habe inzwischen auf Grünlicht gewechselt, verletzt<br />
grob seine Pflichten als Kraftfahrer und handelt verantwortungslos. Sein Verhalten stellt einen<br />
qualifizierten Rotlichtverstoß i.S.d. Nr. 132.2 BKatV dar, auch wenn kein anderer Verkehrsteilnehmer<br />
konkret gefährdet worden ist. Die Nutzung eines elektronischen Geräts entlastet nicht (OLG Düsseldorf<br />
NZV 1998, 335 = VRS 95, 228 für Nutzung eines Mobiltelefons).<br />
b) Sonstige Fälle<br />
Die unzulässige Nutzung eines elektronischen Geräts kann über die ausdrücklich geregelten Fälle in<br />
Nr. 246.2, Nr. 246.3 BKat hinaus zur Verhängung eines Fahrverbots führen. Das ist durch die erfolgte<br />
Neuregelung nicht ausgeschlossen. Insoweit gilt: Die unzulässige Nutzung kann ein erschwerender<br />
Umstand sein, der auf die Dauer eines schon aus anderen Gründen zu verhängenden Fahrverbots<br />
Einfluss haben kann. Allerdings ist die Verhängung eines längeren Fahrverbots als das Regelfahrverbot<br />
bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung nur gerechtfertigt, wenn festgestellt werden kann, dass die<br />
Bedienung des Mobiltelefons die dem Betroffenen vorgeworfene erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
auch ausgelöst hat (OLG Hamm VA 2002, 170 zum alten Recht).<br />
Ein Verstoß gegen § 23a Abs. 1a StVO kann zudem auch selbst die Anordnung eines Fahrverbots gem.<br />
§ 25 Abs. 1 StVG wegen beharrlicher Pflichtverletzung rechtfertigen (OLG Bamberg NJW 2007, 3655 f. =<br />
VRR 20<strong>08</strong>, 36 f.; VRR 2013, 153 = zfs 2013, 350; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2014 – 2 RBs 37/14, insoweit<br />
nicht in NZV 2015, 203; OLG Hamm VRR 2014, 111 = zfs 2014, 111; OLG Jena VRS 111, 205 = DAR 2007, 157).<br />
Allerdings kann aus einem einmaligen Verstoß bei der Beurteilung einer (wiederholten) Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
als „beharrlich“ i.S.v. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV nicht ohne<br />
Weiteres auf den für einen beharrlichen Pflichtenverstoß unabdingbaren inneren Zusammenhang im<br />
Sinn einer auf mangelnder Verkehrsdisziplin beruhenden Unrechtskontinuität geschlossen werden<br />
(s. OLG Bamberg a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Verstößt der Betroffene wiederholt gegen § 23 Abs. 1a StVO, kann die Verhängung eines Fahrverbots<br />
allein wegen dieser Verstöße in Betracht kommen (vgl. u.a. OLG Hamm a.a.O.).<br />
398 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 997<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
3. Entziehung der Fahrerlaubnis<br />
Auch die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 StVG liegt, da der Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO zu<br />
Punkten im Fahrerlaubnisregister führt, im Bereich des Möglichen (vgl. zum alten Recht VG<br />
Gelsenkirchen, Beschl. v. 9.12.2014 – 9 L 1533/14, zit. nach TERNIG DAR 2015, 231, 232 Fn 9). Es gilt:<br />
• Für einen „allgemeinen“ Verstoß i.S.d. Nr. 246.1 BKat wird ein Punkt eingetragen (vgl. Anlage 13 zu<br />
§ 40 FEV Ziffer 3.2.15).<br />
• Die beiden qualifizierten Verstöße gegen § 23 Abs. 1a StVO – mit Gefährdung oder mit<br />
Sachbeschädigung (Nr. 246.2/246.3 BKat) – sind nach der Systematik der Anlage 13 zur FeV jeweils<br />
mit zwei Punkten eingestuft und dazu in die Ziffer 2.2.8b der Anlage 13 zu § 40 FEV eingeordnet<br />
worden.<br />
• Darüber hinaus sind Verstöße gegen § 23 Abs. 1a StVO in den Katalog der Anlage 12 zu § 34 Abs. 1 FEV<br />
für die Bewertung der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Rahmen der Fahrerlaubnis auf Probe<br />
aufgenommen worden. Ein Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO stellt einen sog. A-Verstoß dar. Dies wird<br />
damit begründet, dass sich junge Fahrzeugführer zu einem häufigeren Hantieren mit dem<br />
Smartphone verleiten lassen. Dem soll bei Fahranfängern besonders entgegengewirkt werden (vgl.<br />
BR-Drucks 556/17, S. 38).<br />
IX. Hinweise für die Verteidigung<br />
In der Praxis der Verteidigung gegen den Vorwurf der unerlaubten Nutzung eines elektronischen<br />
Geräts spielt das Einlassungsverhalten des Betroffenen eine nicht unerhebliche Rolle (vgl. IX. 1.). Zudem<br />
ist darauf zu achten, dass sich aus dem tatrichterlichen Urteil insbesondere ergibt, dass das Gerät im<br />
Straßenverkehr benutzt worden ist (vgl. dazu IX. 2. und HERRMANN NStZ-RR 2011, 65, 72 zum alten Recht).<br />
Von Bedeutung sind auch Fragen der Beweiswürdigung (vgl. IX. 2.; zur Sicherstellung von Smartphones<br />
im Hinblick auf die Beweisführung TERNIG/LELLMANN NZV 2016, 454; SIMON NZV 2017, 7, 9).<br />
1. Einlassung<br />
Der Begriff der Benutzung ist schon in der Vergangenheit zu § 23 Abs. 1a StVO a.F. von der<br />
Rechtsprechung weit ausgelegt worden (s oben V. 1.; BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977, 980 ff.). Das hatte zur<br />
Folge, dass in der Vergangenheit nur wenige Einlassungen des Betroffenen dazu geführt haben, eine<br />
Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO a.F. zu verhindern (vgl. dazu die<br />
Zusammenstellung bei V. 1. sowie bei BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 2829). Daran hat sich durch die<br />
Neuregelung des § 23 Abs. 1a StVO (vgl. oben I. 2.) nichts geändert, zumal es jetzt nicht mehr darauf<br />
ankommt, ob das Gerät in der Hand gehalten werden muss, sondern darauf, ob es gehalten wird. In allen<br />
Fällen, in denen das festgestellt werden kann und es sich um ein elektronisches Gerät handelt, wird eine<br />
Verurteilung nur schwer zu vermeiden sein. Das kann allenfalls gelingen, wenn der Betroffene geltend<br />
macht, er habe mit „längerem Blick“ ein elektronisches Gerät benutzt, ohne dass er dieses in der Hand<br />
gehalten hat (s. auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 70; zum kurzen Blick s. oben V. 2. b).<br />
In diesem Zusammenhang muss der Verteidiger immer darauf achten, dass die Erklärung seines<br />
Mandanten, er habe nicht ein elektronisches Gerät genutzt, sondern eine andere Tätigkeit verrichtet<br />
bzw. bei dem Gegenstand, den er in Händen gehalten habe, habe es sich nicht um ein elektronisches<br />
Gerät gehandelt, ggf. nicht im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung als „lebensfremd“<br />
qualifiziert wird. Das hat z.B. zu § 23 Abs. 1a StVO a.F. das OLG Hamm für die Einlassung des<br />
Betroffenen bejaht, er habe nicht mit einem Handy telefoniert, sondern sich mit einem Akkurasierer,<br />
der wie ein Handy aussehe, rasiert (OLG Hamm NZV 2007, 96 = DAR 2007, 216; s. auch AG Rinteln,<br />
Urt. v. 27.10.2016 – 24 OWi 32/16). Für die Einlassung, ein Handy sei als „Wärmeakku“ benutzt worden,<br />
ist die „Ernsthaftigkeit“ dieser Einlassung angezweifelt worden (OLG Hamm zfs 20<strong>08</strong>, 50 =<br />
VRR 20<strong>08</strong>, 37 in einem obiter dictum).<br />
2. Checkliste: Tatrichterliches Urteil<br />
Ist der Mandant wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO verurteilt worden, sind die<br />
tatrichterlichen Urteilsgründe sorgfältig daraufhin zu prüfen, ob sie den festgestellten Verstoß tragen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 399
Fach 9, Seite 998<br />
Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Checkliste:<br />
□ Ergibt sich aus dem Urteil, dass das elektronische Gerät beim Führen eines Fahrzeugs – Kfz oder<br />
Fahrrad – im öffentlichen Straßenverkehr benutzt worden ist?<br />
Insoweit gelten die allgemeinen Regeln (vgl. BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 955 ff. sowie BURHOFF/BURHOFF, OWi,<br />
Rn 3560 ff.).<br />
□ Ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass es sich bei dem benutzten Gerät um ein elektronisches Gerät<br />
gehandelt hat (vgl. dazu oben IV.; s. AG Göttingen DAR 2015, 588)?<br />
Ausreichend ist insoweit, wenn das Urteil allein das feststellt, die Marke und/oder weitere Eigenschaften<br />
des Geräts sind grundsätzlich nicht festzustellen.<br />
□ Ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass der Betroffene das Mobiltelefon aufgenommen oder in der<br />
Hand gehalten hat oder, wenn das nicht der Fall ist, einen nicht nur kurzen Blick auf das Gerät geworfen<br />
hat (s. oben V.)? Ergibt sich ggf., welche Nutzung vorgelegen hat (vgl. dazu zum alten Recht<br />
OLG Hamm VRR 2009, 3 [Ls.]; NZV 2007, 483 = VRR 2007, 317)?<br />
□ Für die Überprüfung der Beweiswürdigung:<br />
□ Hat der Tatrichter sich im Rahmen der Beweiswürdigung ausreichend mit der Einlassung des<br />
Betroffenen auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, warum er ihr nicht folgt (vgl. zur<br />
Beweiswürdigung BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 3752)?<br />
□ Wie hat der Polizeibeamte den ggf. „nicht nur kurzen Blick“ bei einer ggf. nur kurzen Vorbeifahrt<br />
festgestellt? Welche Nutzungsmöglichkeiten liegen vor? War die Feststellung angesichts der Kürze<br />
der Vorbeifahrt überhaupt möglich?<br />
□ Kann sich ein Polizeibeamter, der als Zeuge vernommen wird, an den Vorfall nicht mehr erinnern und<br />
nimmt er (nur) auf die von ihm erstattete Anzeige Bezug, muss der Tatrichter klären, ob der Polizeibeamte<br />
die volle Verantwortung für den Inhalt der Anzeige übernimmt, in welcher Weise er bei der<br />
Anzeigenerstattung beteiligt gewesen ist und ob und ggf. inwieweit ein Irrtum ausgeschlossen ist und<br />
warum es verständlich erscheint, dass der Polizeibeamte den Vorfall nicht mehr in Erinnerung hat, falls<br />
insoweit Zweifel einsetzen können (OLG Düsseldorf NZV 1999, 348; NZV 2015, 403; vgl. dazu auch AG<br />
Landstuhl DV 2015, 141).<br />
□ Wenn der Betroffene eine Ausnahme nach § 23 Abs. 1b StVO (vgl. VI.) geltend gemacht hat: Hat sich der<br />
Tatrichter mit dem Nichtvorliegen der Ausnahme ausreichend auseinandergesetzt?<br />
Das bedeutet: Ergibt sich aus dem Urteil, dass das Fahrzeug nicht gestanden hat und – bei einem Kfz –<br />
der Motor nicht ausgeschaltet war? Insoweit wird es aber im Zweifel ausreichen, wenn das Urteil<br />
darlegt, dass der Betroffene das Mobiltelefon „während der Fahrt“ benutzte.<br />
3. Rechtskraftwirkung<br />
Es ist immer auch zu beachten, dass ein Bußgeldbescheid wegen der verbotenen Benutzung eines<br />
Mobiltelefons Rechtskraftwirkung wegen anderer auf der Fahrt begangener Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />
entfaltet (vgl. OLG Saarbrücken VRS 110, 362 = VRR 2006, 317 wegen Verstoßes gegen<br />
§ 24a Abs. 1 StVG). Das bedeutet, dass das Verfahren wegen der anderen Verkehrsordnungswidrigkeit<br />
einzustellen ist, wenn wegen der verbotswidrigen Benutzung des Mobiltelefons bereits ein rechtskräftiger<br />
Bußgeldbescheid vorliegt (OLG Saarbrücken a.a.O. für Trunkenheitsfahrt; AG Homburg<br />
zfs 2007, 472). Entsprechendes gilt für ein wegen des Verstoßes gegen das Handyverbot erlassenes<br />
Verwarnungsgeld (AG Bonn zfs 2007, 473).<br />
Hinweis:<br />
Der Kfz-Führer verstößt nicht nur gegen § 23 Abs. 1a StVO, wenn er sein Kfz mit laufendem Motor auf dem<br />
Seitenstreifen einer Bundesautobahn/Kraftfahrstraße anhält und während der Standzeit ein Telefonat mit<br />
einem Mobiltelefon führt, sondern tateinheitlich auch gegen § 18 Abs. 8 StVO (OLG Düsseldorf NZV 20<strong>08</strong>,<br />
548 = DAR 20<strong>08</strong>, 7<strong>08</strong>).<br />
400 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1121<br />
Abwicklung einer Kanzlei<br />
Anwaltsrecht<br />
Hinweise für die Tätigkeit des Abwicklers – Stand März <strong>2018</strong><br />
– erarbeitet durch den Ausschuss „Abwickler/Vertreter“ der Bundesrechtsanwaltskammer –<br />
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bundesrechtsanwaltskammer.<br />
Inhalt<br />
I. Bestandsaufnahme<br />
II. Geld- und Postverkehr, beA<br />
1. Sichtung der Buchhaltung zur Feststellung<br />
der Bankverbindungen und des Geldverkehrs<br />
2. Anderkonto<br />
3. Pfändungen<br />
4. Kassen/vorhandene Bargelder<br />
5. Buchhaltung/Steuern<br />
6. Postsendungen<br />
7. Besonderes elektronisches Anwaltspostfach<br />
– beA<br />
III. Inventar/Räume/Arbeitsverhältnisse<br />
1. Miete/Räume<br />
2. Miete/Geräte<br />
3. Arbeits-/Ausbildungsverhältnisse<br />
IV. Mandate<br />
1. Gemeinsame Regeln<br />
2. Fortführung von Mandaten<br />
3. Annahme neuer Mandate<br />
4. Abgeschlossene Mandate<br />
5. Gebühren<br />
V. Haftung<br />
VI. Vergütung des Kanzleiabwicklers<br />
VII. Verhältnis zwischen Abwickler und<br />
Insolvenzverwalter<br />
Gesetzliche Grundlage:<br />
§ 55 BRAO: Bestellung eines Abwicklers der Kanzlei<br />
(1) Ist ein Rechtsanwalt gestorben, so kann die Rechtsanwaltskammer einen Rechtsanwalt oder eine andere<br />
Person, welche die Befähigung zum Richteramt erlangt hat, zum Abwickler der Kanzlei bestellen. Für weitere<br />
Kanzleien kann derselbe oder ein anderer Abwickler bestellt werden. § 7 gilt entsprechend. Der Abwickler ist in<br />
der Regel nicht länger als für die Dauer eines Jahres zu bestellen. Auf Antrag des Abwicklers ist die Bestellung,<br />
höchstens jeweils um ein Jahr, zu verlängern, wenn er glaubhaft macht, dass schwebende Angelegenheiten<br />
noch nicht zu Ende geführt werden konnten.<br />
(2) Dem Abwickler obliegt es, die schwebenden Angelegenheiten abzuwickeln. Er führt die laufenden Aufträge fort;<br />
innerhalb der ersten sechs Monate ist er auch berechtigt, neue Aufträge anzunehmen. Ihm stehen die anwaltlichen<br />
Befugnisse zu, die der verstorbene Rechtsanwalt hatte. Der Abwickler gilt für die schwebenden Angelegenheiten<br />
als von der Partei bevollmächtigt, sofern diese nicht für die Wahrnehmung ihrer Rechte in anderer<br />
Weise gesorgt hat.<br />
(3) § 53 Abs. 5 S. 3, Abs. 9 und 10 gilt entsprechend. Der Abwickler ist berechtigt, jedoch außer im Rahmen eines<br />
Kostenfestsetzungsverfahrens nicht verpflichtet, Kostenforderungen des verstorbenen Rechtsanwalts im<br />
eigenen Namen für Rechnung der Erben geltend zu machen.<br />
(4) Die Bestellung kann widerrufen werden.<br />
(5) Abwickler können auch für die Kanzlei und weitere Kanzleien eines früheren Rechtsanwalts bestellt werden,<br />
dessen Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erloschen ist.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 401
Fach 23, Seite 1122<br />
Abwicklung einer Kanzlei<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
§ 53 BRAO: Bestellung eines Vertreters<br />
(1) bis (8) (…)<br />
(9) Der Vertreter wird in eigener Verantwortung, jedoch im Interesse, für Rechnung und auf Kosten des<br />
Vertretenen tätig. Die §§ 666, 667 und 670 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelten entsprechend.<br />
(10) Der von Amts wegen bestellte Vertreter ist berechtigt, die Kanzleiräume zu betreten und die zur Kanzlei<br />
gehörenden Gegenstände einschließlich des der anwaltlichen Verwahrung unterliegenden Treugutes in Besitz<br />
zu nehmen, herauszuverlangen und hierüber zu verfügen. An Weisungen des Vertretenen ist er nicht gebunden.<br />
Der Vertretene darf die Tätigkeit des Vertreters nicht beeinträchtigen. Er hat dem von Amts wegen<br />
bestellten Vertreter eine angemessene Vergütung zu zahlen, für die Sicherheit zu leisten ist, wenn die Umstände<br />
es erfordern. Können sich die Beteiligten über die Höhe der Vergütung oder über die Sicherheit nicht<br />
einigen oder wird die geschuldete Sicherheit nicht geleistet, setzt der Vorstand der Rechtsanwaltskammer auf<br />
Antrag des Vertretenen oder des Vertreters die Vergütung fest. Der Vertreter ist befugt, Vorschüsse auf die<br />
vereinbarte oder festgesetzte Vergütung zu entnehmen. Für die festgesetzte Vergütung haftet die Rechtsanwaltskammer<br />
wie ein Bürge.<br />
Die Bestellung eines Abwicklers erfolgt<br />
• zum Schutz des Mandanten,<br />
• zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege,<br />
• zur Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft.<br />
Tätigkeit<br />
Der Abwickler wird in eigener Verantwortung, jedoch im Interesse, für Rechnung und auf Kosten des<br />
Ausgeschiedenen tätig (§ 55 Abs. 3, § 53 Abs. 9 BRAO). Die Tätigkeit erstreckt sich nicht auf das<br />
Vermögen des Ausgeschiedenen; insbesondere tritt der Abwickler nicht in die Vertragsverhältnisse des<br />
Ausgeschiedenen ein. Bezüglich der Vergütung wird auf § 53 Abs. 10 BRAO verwiesen.<br />
In entsprechender Anwendung der §§ 666, 667 und 670 BGB ist der Abwickler auskunfts-, rechnungsund<br />
herausgabepflichtig; andererseits hat er einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen nur gegen<br />
den Ausgeschiedenen bzw. die Erben. Eine eventuelle Bürgenhaftung der Rechtsanwaltskammer<br />
bezieht sich nur auf eine festgesetzte Vergütung, nicht auf Auslagen (§ 53 Abs. 9, 10 BRAO).<br />
I. Bestandsaufnahme<br />
Betreten der Kanzlei<br />
Der Abwickler ist berechtigt, die Kanzleiräume zu betreten und die zur Kanzlei gehörenden Gegenstände<br />
einschließlich des der anwaltlichen Verwahrung unterliegenden Treuguts in Besitz zu nehmen,<br />
herauszuverlangen und hierüber zu verfügen (§ 55 Abs. 2 BRAO).<br />
Der Abwickler ist an Weisungen des Ausgeschiedenen (Erben) nicht gebunden; dieser darf die Tätigkeit<br />
des Abwicklers nicht beeinträchtigen.<br />
a) Das Betreten der Kanzleiräume ist gegebenenfalls durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen<br />
Verfügung (§§ 935, 945 ZPO) zu erzwingen. Keine Selbsthilfe.<br />
b) Soweit erforderlich, hat der Abwickler Sicherungsmaßnahmen (z.B. Auswechslung der Schlösser)<br />
vorzunehmen.<br />
II.<br />
Geld- und Postverkehr, beA<br />
1. Sichtung der Buchhaltung zur Feststellung der Bankverbindungen und des Geldverkehrs<br />
Aufgrund von Geschäftsbedingungen der Banken kann der Abwickler Verfügungsbevollmächtigter über<br />
die Anderkonten des früheren Rechtsanwalts werden. In der Praxis räumen die Banken dem Abwickler<br />
keine Verfügungsbefugnis über das Geschäftskonto ein. Hier ist im Einzelfall die Vollmacht des<br />
402 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1123<br />
Abwicklung einer Kanzlei<br />
Ausgeschiedenen bzw. der Erben einzuholen. Sollten auf einem Geschäftskonto Fremdgelder eingehen,<br />
ist die Bank, wenn sie der Verfügungsbefugnis nicht zustimmt, darüber zu informieren, dass diese<br />
unverzüglich auszuzahlen sind; gegebenenfalls ist sie „bösgläubig“ zu machen. Dies gilt insbesondere<br />
dann, wenn sich das Geschäftskonto im Minus befindet.<br />
Dem Abwickler ist unbedingt die Errichtung eines neuen Geschäftskontos zu empfehlen, um<br />
missbräuchlichen Verfügungen des neben ihm noch bevollmächtigten Kontoinhabers vorzubeugen.<br />
Auf dieses Konto ist ein Guthaben zu übertragen.<br />
2. Anderkonto<br />
Für Fremdgeld ist ein Anderkonto einzurichten. Soweit auf dem allgemeinen Rechtsanwaltskonto des<br />
Ausgeschiedenen noch Fremdgeld lagert, das weiterzuleiten ist, sind geeignete Maßnahmen zu<br />
ergreifen, dieses Fremdgeld zu sichern, notfalls durch einen Arrest.<br />
3. Pfändungen<br />
Das LG Kiel (Beschl. v. 20.11.1989 – 13 T 474/89) nimmt den Vorrang der zur Fortführung der Praxis<br />
notwendigen Mittel zur Deckung der Miet-, Sach- und Personalkosten an, zu denen auch die<br />
Vergütungsansprüche des Abwicklers gehören (§ 850i ZPO).<br />
4. Kassen/vorhandene Bargelder<br />
Der Abwickler wird nicht Eigentümer des vorgefundenen Barvermögens. Er ist lediglich gem. § 55 Abs. 3<br />
S. 1 BRAO, § 53 Abs. 9 BRAO, § 670 BGB zur Inbesitznahme des Barvermögens berechtigt, um dieses im<br />
Rahmen der Aufwendungen für die Praxis (Zahlung von Portokosten, Gerichtskosten oder Ähnliches) zu<br />
verwenden.<br />
5. Buchhaltung/Steuern<br />
Der Abwickler ist ab dem Tag der Amtsübernahme zur Errichtung einer eigenen, anwaltsüblichen<br />
Buchhaltung verpflichtet. Er ist zur Abführung der vereinnahmten Umsatzsteuer unter Gegenrechnung<br />
der Vorsteuer verpflichtet. Sonstige Steuererklärungen (Einkommensteuererklärungen etc.) obliegen<br />
dem Abwickler nicht.<br />
6. Postsendungen<br />
Der Abwickler hat von Beginn seiner Tätigkeit an sicherzustellen, dass er Kenntnis von der<br />
Geschäftskorrespondenz des ausgeschiedenen Rechtsanwalts erhält. Das kann er durch entsprechende<br />
Bekanntgabe gegenüber den Mandanten, Gegnern und Gerichten ebenso bewirken wie durch<br />
Post-Nachsendeaufträge oder die direkte Einsicht in die Kanzlei. Er muss sicherstellen, dass der<br />
ausgeschiedene Rechtsanwalt nicht die Post abfangen und unterdrücken kann. Der Anspruch des<br />
Abwicklers auf Herausgabe der gesamten Kanzleipost ist daher im Wege der einstweiligen Verfügung<br />
geltend zu machen, wenn eine einverständliche Lösung nicht möglich ist.<br />
Zu den Aufgaben des Abwicklers gehört es nicht, Zustellungen anzunehmen, die den ausgeschiedenen<br />
Rechtsanwalt als Beschuldigten oder Angeklagten betreffen. Das Gleiche gilt, wenn die Postsendungen<br />
Ämter betreffen, die der Ausgeschiedene inne hatte oder noch bekleidet.<br />
7. Besonderes elektronisches Anwaltspostfach – beA<br />
Der Abwickler muss Zugriff auf das beA des Abzuwickelnden haben. Hier kommt die Regelung in § 25<br />
Abs. 3 RAVPV zur Anwendung. Wird ein Vertreter oder Abwickler bestellt, so räumt die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
diesem für die Dauer seiner Bestellung einen auf die Übersicht der eingegangenen<br />
Nachrichten beschränkten Zugang zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach der<br />
Person ein, für die er bestellt oder benannt ist. Dabei müssen für den Vertreter oder Abwickler der<br />
Absender und der Eingangszeitpunkt der Nachricht einsehbar sein; der Betreff, der Text und die<br />
Anhänge der Nachricht dürfen nicht einsehbar sein. Die zur Einräumung des Zugangs erforderliche<br />
Übermittlung von Daten durch die Rechtsanwaltskammer an die Bundesrechtsanwaltskammer erfolgt<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 403
Fach 23, Seite 1124<br />
Abwicklung einer Kanzlei<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
im automatisierten Verfahren. Der Abwickler hat mit seiner Bestellung automatisch Zugang zu den<br />
erforderlichen Daten des Abzuwickelnden. Jedoch hat der Abwickler Zugang nur auf beschränkte<br />
Datensätze. Bei Eingang eines Dokuments hat er Zugriff auf die Absenderdaten und den Betreff und<br />
kann dies der entsprechenden Akte zuordnen. Es empfiehlt sich, mit dem Absender Kontakt<br />
aufzunehmen, über die Bestellung als Abwickler zu informieren und zu bitten, das Dokument direkt<br />
auf das beA des Rechtsanwalts (Abwickler) zu senden.<br />
III. Inventar/Räume/Arbeitsverhältnisse<br />
Der Abwickler wird aber nicht Schuldner der bestehenden Vertragsverhältnisse, handelt andererseits auf<br />
eigenes Risiko bei der Eingehung von Verpflichtungen; die Bürgenhaftung der Kammer erstreckt sich<br />
nur auf die Vergütung.<br />
1. Miete/Räume<br />
Mieter und damit zur Zahlung des Mietzinses verpflichtet bleibt allein der Ausgeschiedene. Nur gegen<br />
diesen kann der Vermieter seine Ansprüche geltend machen.<br />
a) Räume werden benötigt<br />
Ist der Abwickler auf die Benutzung der Büroräume für seine Tätigkeit angewiesen und zahlt der<br />
Ausgeschiedene die Miete nicht oder kündigt er die Räume, kann der Abwickler nach Maßgabe des<br />
Auftragsrechts die Nutzungsentschädigung, die er aufwenden muss, um die Räume weiter nutzen zu<br />
können, als Aufwendungen geltend machen, allerdings ausschließlich gegenüber dem Ausgeschiedenen<br />
(§ 55 Abs. 3 i.V.m. § 53 Abs. 9, 10 BRAO).<br />
b) Räume werden nicht benötigt<br />
Benötigt der Abwickler die Büroräume für seine Tätigkeit nicht, sollte er die Abwicklungstätigkeit von<br />
seiner eigenen Kanzlei aus erledigen.<br />
2. Miete/Geräte<br />
Es gilt das Gleiche für die Mietverhältnisse über elektronische Geräte (PC, Kopierer, Telefonanlage).<br />
3. Arbeits-/Ausbildungsverhältnisse<br />
Der Abwickler wird nicht Vertragspartner. Das Arbeitsverhältnis endet nicht durch den Widerruf der<br />
Zulassung. Bei einem Ausbildungsverhältnis muss der frühere Rechtsanwalt kündigen, da er zur<br />
Ausbildung von Rechtsanwaltsfachangestellten nicht mehr befugt ist. Kümmert sich der ausgeschiedene<br />
Rechtsanwalt nicht um das Ausbildungsverhältnis, sollte sich der Abwickler diesbezüglich an<br />
die Rechtsanwaltskammer wenden, die als zuständige Stelle nach dem Berufsbildungsgesetz zu<br />
informieren ist. In der Regel wird in Absprache mit den Auszubildenden ein neuer Ausbildungsplatz<br />
gesucht.<br />
IV.<br />
Mandate<br />
1. Gemeinsame Regeln<br />
a) Mitteilung an Gegner und beteiligte Gerichte<br />
Die frühere Verpflichtung des Abwicklers, seine Bestellung dem Gericht anzuzeigen, bei dem der<br />
ausgeschiedene Rechtsanwalt zugelassen war, ist entfallen. Für den Abwickler bestehen keine weiteren<br />
Anzeigepflichten. Die Abwicklerbestellung wird nach der Neuregelung in § 31 Abs. 3 Nr. 8 BRAO im<br />
Gesamtverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer eingetragen.<br />
Sowohl die Gegner als auch die beteiligten Gerichte sollen jedoch im Rahmen der Mandatsfortführung<br />
über die Abwicklertätigkeit informiert werden.<br />
404 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1125<br />
Abwicklung einer Kanzlei<br />
b) Auskünfte an Dritte<br />
Informationen sollten möglichst nur aufgrund schriftlicher Anfragen erfolgen und nur, nachdem die<br />
Auskunftspflicht oder -berechtigung geprüft worden ist.<br />
Auskünfte im Rahmen der Bestellungsanzeige sind unbedenklich. Der Abwickler ist kein Hilfsorgan der<br />
Behörden.<br />
c) Unterzeichnung im Geschäftsverkehr<br />
Bei der Gestaltung seines Briefpapiers muss der Abwickler kenntlich machen, dass er als Abwickler<br />
handelt.<br />
d) Anzeige der Bestellung zum Abwickler an die vorhandenen Mandanten<br />
In einem Informationsbrief sollte der Abwickler den Mandanten mitteilen, dass er amtlich bestellt<br />
worden ist. Er soll darauf hinweisen, dass es seine Aufgabe ist, vorhandene Mandate weiterzuführen,<br />
wobei bereits gezahlte Gebühren angerechnet werden.<br />
2. Fortführung von Mandaten<br />
Dem Abwickler obliegt es, die schwebenden Angelegenheiten abzuwickeln (§ 55 Abs. 2 S. 1 BRAO). Zu<br />
diesem Zweck empfiehlt es sich, den aktuellen Aktenbestand des ehemaligen Kanzleiinhabers zu ermitteln<br />
(vgl. auch Ziffer 4).<br />
a) Rechtliche Stellung des Abwicklers<br />
Dem Abwickler stehen nur die anwaltlichen Befugnisse des Rechtsanwalts zu, dessen Kanzlei er<br />
abwickelt (§ 55 Abs. 2 S. 3 BRAO). Er gilt für die schwebenden Angelegenheiten als von der Partei<br />
bevollmächtigt, sofern diese nicht für die Wahrnehmung ihrer Rechte in anderer Weise sorgt (§ 55 Abs. 2<br />
S. 4 BRAO).<br />
b) Unterzeichnung im Geschäftsverkehr<br />
Der Abwickler darf das Geschäftspapier der ausgeschiedenen Kanzlei grundsätzlich verwenden, muss<br />
aber das Ausscheiden des Rechtsanwalts in geeigneter Weise kenntlich machen und klarstellen, dass<br />
er als Abwickler handelt. Alternativ kann der Abwickler seinen eigenen Briefkopf verwenden, muss<br />
aber ebenso kenntlich machen, dass er als Abwickler handelt; z.B. kann er unter seiner Unterschrift<br />
„Rechtsanwalt XX“ den Zusatz aufnehmen „Abwickler für die Kanzlei XX“.<br />
3. Annahme neuer Mandate<br />
Der Abwickler ist innerhalb der ersten sechs Monate berechtigt – aber nicht verpflichtet – als Abwickler<br />
neue Aufträge anzunehmen (§ 55 Abs. 2 S. 2, 2. Hs. BRAO).<br />
Die Abwicklung hat schnellstmöglichst zu erfolgen. Ist dies im Einzelfall innerhalb der Jahresfrist des § 55<br />
Abs. 1 S. 4 BRAO nicht möglich, ist der Abwickler verpflichtet, sich um eine Verlängerung der Abwicklung<br />
zu bemühen. Dies sollte in Absprache mit der Rechtsanwaltskammer geschehen.<br />
4. Abgeschlossene Mandate<br />
Akten können im Interesse der Anwaltschaft und des Datenschutzes aufgrund der gegenüber den<br />
Mandaten bestehenden zivil- und strafrechtlichen (§ 203 StGB) Pflicht zur Verschwiegenheit und<br />
Geheimhaltung nicht einfach vernichtet oder beliebig Dritten überlassen werden.<br />
Akten, die noch keine sechs Jahre alt sind, können entweder gem. § 50 Abs. 2 S. 3 BRAO entsorgt oder nach<br />
Ablauf der 6-Jahresfrist vernichtet werden. Für die Aufbewahrung der Altakten ist der Abwickler selbst<br />
nicht verantwortlich. Diese Pflicht trifft den Anwalt, dessen Kanzlei abgewickelt wird oder dessen Erben.<br />
Die Verschwiegenheitspflicht des Abwicklers geht auf die Erben über (§§ 55 BRAO, 203 Abs. 3 S. 3, Abs. 4<br />
StGB).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 405
Fach 23, Seite 1126<br />
Abwicklung einer Kanzlei<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
5. Gebühren<br />
Der Abwickler wird für Rechnung des Ausgeschiedenen tätig (§ 55 Abs. 3 S. 1 BRAO). Er ist berechtigt,<br />
jedoch außer im Rahmen eines Kostenfestsetzungsverfahrens nicht verpflichtet, Kostenforderungen des<br />
früheren Rechtsanwalts im eigenen Namen für dessen oder für Rechnung der Erben geltend zu machen<br />
(§ 55 Abs. 3 S. 2 BRAO).<br />
Es empfiehlt sich, zur Sicherung der eigenen Vergütung Kostenforderungen des Ausgeschiedenen<br />
geltend zu machen, einzuziehen und auf einem Anderkonto zu sammeln.<br />
V. Haftung<br />
Der Abwickler führt die Abwicklung eigenverantwortlich. Er haftet ab dem Zeitpunkt seiner Bestellung,<br />
und zwar nicht nur für eigene Fehler, sondern auch für haftungsbegründende Sachverhalte, die sein<br />
Vorgänger eingeleitet hat, aber durch ihn ab dem Bestellungszeitpunkt noch hätten korrigiert werden<br />
können. Deshalb sollte er unverzüglich seine Abwicklertätigkeit aufnehmen und die Bestellung seinem<br />
Versicherer mitteilen (Obliegenheit).<br />
VI. Vergütung des Kanzleiabwicklers<br />
Die Vergütung des Kanzleiabwicklers richtet sich nach den §§ 55 Abs. 3 S. 1 i.V.m. 53 Abs. 10 BRAO. Der<br />
ausgeschiedene Rechtsanwalt oder die Erben müssen dem Abwickler eine angemessene Vergütung<br />
zahlen, für die auch Sicherheit im Voraus zu leisten ist. Können sich die Beteiligten über die Höhe der<br />
Vergütung oder Sicherheit nicht einigen, muss auf Antrag des Abwicklers die Vergütung oder<br />
Sicherheit vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer festgesetzt werden. Voraussetzung für den<br />
Festsetzungsantrag ist die Dokumentation der Abwicklertätigkeit sowie des Zeitaufwands. Zeichnet<br />
sich eine Bürgenhaftung der Rechtsanwaltskammer ab, empfiehlt es sich, frühzeitig mit der Kammer<br />
Kontakt aufzunehmen und das weitere Vorgehen zu besprechen.<br />
VII. Verhältnis zwischen Abwickler und Insolvenzverwalter<br />
Ist über das Vermögen des ehemaligen Rechtsanwalts das Insolvenzverfahren eröffnet worden, treten<br />
die Regelungen der BRAO mit denen der Insolvenzordnung in Konkurrenz (FEUERICH/WEYLAND, BRAO,<br />
9. Aufl. 2016, § 55 Rn 47).<br />
Dieses Konkurrenzverhältnis ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich zugunsten des Abwicklers<br />
aufzulösen (zuletzt LG Aachen, Urt. v. 27.3.2009, BRAK-Mitt. 3/2009, S. 143 ff.).<br />
Die Sicherheit des Rechtsverkehrs rechtfertigt es, dass dem Abwickler bis zur Beendigung des<br />
Abwicklerverhältnisses sämtliche Honorare zuzusprechen sind, die er zur Finanzierung des laufenden<br />
Kanzleibetriebes zu verwenden berechtigt ist. Ihm stehen darüber hinaus sowohl Vorschüsse auf sein<br />
eigenes Honorar als auch eine erforderliche Sicherheit zu (LG Aachen, Urt. v. 27.3.2009, s.o.), die er im<br />
Rahmen des Erforderlichen aus diesen Honoraren sowie auch aus eingehenden Gebühren entnehmen<br />
darf (BGH, Urt. v. 23.6.2005 – IX ZR 139/04).<br />
Der Anspruch des Insolvenzverwalters auf Herausgabe des Erlangten wird gem. § 53 Abs. 9 S. 2 BRAO,<br />
§ 667 BGB erst mit Beendigung der Abwicklertätigkeit fällig. Der BGH lässt dabei offen, ob etwas anderes<br />
für vom Abwickler erwirtschaftete Überschüsse gilt, die nicht mehr für die weitere Abwicklung benötigt<br />
werden (BGH, Urt. v. 23.6.2005 – IX ZR 139/04).<br />
406 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>