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ZAP-2018-08

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

8 <strong>2018</strong><br />

12. April<br />

30. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />

• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />

Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />

Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />

Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Ärztebewertungsportale: Was bringt die jameda‐Entscheidung des BGH? (S. 359)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Kaum noch Zuwachs bei den Anwaltszulassungen (S. 361) • Vorstoß für Englisch als<br />

Gerichtssprache (S. 362) • Neues Online‐Portal „Inkasso‐Check“ (S. 364)<br />

Aufsätze<br />

Börstinghaus, Rechtsprechungsübersicht zum Wohnraummietrecht (S. 375)<br />

Burhoff, Elektronische Geräte/Mobiltelefon im Straßenverkehr (S. 389)<br />

Hinweise für die Tätigkeit des Abwicklers (S. 401)<br />

Eilnachrichten<br />

EuGH: Kündigungsschutz von Schwangeren bei Massenentlassungen (S. 371)<br />

BVerfG: Pressefreiheit und Anspruch auf Gegendarstellung (S. 372)<br />

BGH: Kostenerstattung von Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts (S. 373)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 359–360<br />

Anwaltsmagazin – – 361–366<br />

Eilnachrichten 1 61–68 367–374<br />

Börstinghaus, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />

zum Wohnraummietrecht – 2. Halbjahr 2017 4 R 907–920 375–388<br />

Burhoff, Elektronische Geräte/Mobiltelefon im<br />

Straßenverkehr 9 987–998 389–400<br />

Hinweise für die Tätigkeit des Abwicklers –<br />

Stand März <strong>2018</strong> 23 1121–1126 401–406<br />

Nutzen Sie die <strong>ZAP</strong> auch digital: mit der <strong>ZAP</strong> App für PC, Smartphone und Tablet. Sie finden<br />

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www.zap-zeitschrift.de/App<br />

Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />

• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />

RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />

Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />

Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />

Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />

Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />

Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />

Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />

RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />

Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Ärztebewertungsportale: Was bringt die jameda-Entscheidung des BGH?<br />

Ich kenne den Dauerzankapfel Ärztebewertungsportale<br />

aus eigener anwaltlicher Erfahrung. Auf den<br />

Portalen – das bekannteste unter ihnen „jameda“ –<br />

benoten Patienten i.d.R. anonym Ärzte und Zahnärzte<br />

sowie ihre Praxen in allen denkbaren Kategorien.<br />

Jenseits des Äußerungsrechts sind dabei<br />

zwei Fragen entscheidend: (1.) Kann ein Bewerteter<br />

die Löschung seiner eigenen Daten von einer<br />

Plattform und (2.) die Herausgabe der persönlichen<br />

Daten der anonymen Nutzer von dem Betreiber<br />

verlangen? Die Antwort des BGH: Nein!<br />

Um mit der einfacheren, zweiten Frage zu<br />

beginnen: Der Argumentation des BGH bzgl. der<br />

Ablehnung eines Auskunftsanspruchs gegen den<br />

Provider (BGH, Urt. v. 1.7.2014 – VI ZR 345/13)<br />

vermag ich zu folgen. Das Telemediengesetz<br />

(TMG) muss zur Weitergabe von Daten an Dritte<br />

ausdrücklich ermächtigen. Den Bewertungsportalen<br />

ist die Weitergabe der Daten seiner Nutzer<br />

an die Bewerteten aber nicht ausdrücklich erlaubt,<br />

eine analoge Anwendung (z.B. von §§ 14<br />

Abs. 2, 15 Abs. 5 S. 4 TMG) kommt wegen des<br />

Gesetzesvorbehalts nicht in Betracht.<br />

Problematischer erscheint die erste Frage: Auf die<br />

Löschung seiner eigenen Daten gem. §§ 35 Abs. 2<br />

S. 2 Nr. 1; 29 Abs. 1 Nr. 1 BDSG hat der Bewertete<br />

keinen Anspruch. Die Erwägungen des BGH<br />

in seinem maßgeblichen Grundsatzurteil vom<br />

23.9.2014 (Az. VI ZR 358/13) liegen m.E. jedoch<br />

neben der Sache. Die vom BGH vorgenommene<br />

erforderliche Abwägung der betroffenen Grundrechte<br />

des Arztes einerseits (informationelle<br />

Selbstbestimmung und Berufsfreiheit) sowie der<br />

Nutzer und des Portals (Meinungs- und Kommunikations-<br />

sowie Berufsfreiheit) andererseits<br />

geht zulasten des Arztes aus. Der BGH konstatiert<br />

einleitend eine „nicht nur unerhebliche“ Missbrauchsanfälligkeit.<br />

Das ist ein prototypischer<br />

juristischer Euphemismus, der den Ton der Entscheidung<br />

vorgibt.<br />

Wenn der BGH zuerst ausführt, in Bezug auf seine<br />

Berufsausübung müsse sich jeder anders als in der<br />

Intimsphäre der Kritik einer breiten Öffentlichkeit<br />

stellen, vergisst er, dass ärztliche Tätigkeit – wie<br />

Gerichte sonst unermüdlich betonen – von persönlichem<br />

Vertrauen und persönlicher Leistungserbringung<br />

geprägt ist. Damit ist der Freiberufler<br />

Arzt Dr. X von der Privatperson X nicht in gleichem<br />

Maße sinnvoll abzugrenzen wie der Inhaber<br />

eines gewerblichen Unternehmens von dessen<br />

Produkten.<br />

Im Übrigen ist der BGH der Auffassung, es bestehe<br />

ein „erhebliches“ Interesse an öffentlichen Bewertungen<br />

ärztlicher Leistungen. Bewertungsportale<br />

stellten (laienhafte) „Leistungstransparenz“ im Gesundheitswesen<br />

her. Ich persönlich halte die Parkmöglichkeiten<br />

vor der Praxis meines Kardiologen<br />

oder die Qualität des Wartezimmerentertainments<br />

beim Hauszahnarzt (ja, das sind zu benotende<br />

Kategorien bei jameda) für wenig erheblich.<br />

Intellektuell schwer verdaulich sind vor allem aber<br />

die Erwägungen zum „Recht auf Anonymität der<br />

Bewertung“. Der BGH hält insoweit an seiner<br />

Meinung, die anonyme Nutzung sei dem Internet<br />

immanent, fest (so schon in seiner „Spick-mich“-<br />

Entscheidung v. 23.6.2009 – VI ZR 196/<strong>08</strong>). Das<br />

halte ich (relativ eifriger Nutzer sozialer Medien)<br />

– pardon – schlichtweg für Unfug. Zwar muss<br />

gem. § 13 Abs. 6 S. 1 TMG die anonyme Nutzung<br />

von Telemedien ermöglicht werden. Telos der<br />

Norm ist aber, die Speicherung missbrauchsanfälliger<br />

Daten bei dem Diensteanbieter zu verhindern.<br />

Der Gesetzgeber wollte verhindern, dass<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 359


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Provider meine Daten an die werbetreibende<br />

Wirtschaft verkaufen, nicht anonyme Pöbelei<br />

gegen meinen Hausarzt ermöglichen.<br />

Ich weiß, dass die Möglichkeiten anonymer Nutzung<br />

im Internet größer sind als in anderen<br />

Medien und deshalb online manches gepostet<br />

wird, was in einer realen Kommunikationssituation<br />

nicht einmal zu denken gewagt würde.<br />

Das wohnt dem Internet aber keineswegs per<br />

se inne, um beim Wortsinn der Immanenz zu<br />

bleiben. Jeder kann im Internet mit seinem Klarnamen<br />

kommunizieren. Und selbst wenn das<br />

anders wäre, ist das kein in der hier fraglichen<br />

Abwägung gegen den Bewerteten und seine<br />

Interessen streitendes Argument.<br />

Der BGH griff hier in seiner Spick-mich-Entscheidung<br />

auf einen merkwürdigen Gemeinplatz zurück:<br />

Die Zuordnung jeder öffentlich geäußerten<br />

Meinung zu einem Individuum könne „vorbeugende<br />

Selbstzensur“ zur Folge haben, weil man<br />

„aus Angst vor Repressalien“ von der Meinungsäußerung<br />

absehen könnte. Dem entgegenzuwirken,<br />

sei Sinn der Meinungsfreiheit.<br />

Da staunt nun der Experte und der Laie wundert<br />

sich. Das Argument, anonyme öffentliche Äußerungen<br />

seien vom Schutzbereich des Art. 5 GG<br />

umfasst, ist valide, gehört aber zur Schutzbereichseröffnung,<br />

nicht zur Abwägung widerstreitender<br />

Grundrechtspositionen. Ich halte es in diesem Kontext<br />

geradezu für ein Strohmannargument.<br />

Niemand (auch ich nicht) will oder kann anonyme<br />

Äußerungen per se dem Schutz des Art. 5 GG<br />

entziehen. Das steht auch nicht in Rede. Es geht<br />

vielmehr darum, ob der Patient in Abwägung mit<br />

dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des betroffenen<br />

Arztes gleichsam einen grundrechtlich<br />

verbrieften Anspruch auf asymmetrische Kommunikation<br />

hat.<br />

Der BGH bejaht das; die Möglichkeit anonymer<br />

Bewertung habe besonderes Gewicht, weil die<br />

namentliche Bewertung mit der Preisgabe sensibler<br />

Gesundheitsdaten verbunden sein könne.<br />

Müsse man als Patient seine Identität und damit<br />

Details zum Krankheitsverlauf preisgeben, könne<br />

dies Patienten von der Bewertung abschrecken.<br />

Ich sehe – offenbar anders als die entscheidenden<br />

Richter – jameda und Co. nahezu täglich ein. Die<br />

meisten Negativ-Einträge sind querulatorischallgemeiner<br />

Natur. Da wird gern das alte Klischee<br />

vom „Halbgott in Weiß“ wiederbelebt, der unfreundlich,<br />

herablassend oder ungeduldig gewesen<br />

sei. Eine Preisgabe von Behandlungsdetails<br />

findet in der Regel überhaupt nicht statt.<br />

Dazu wäre der Patient bei Nennung seines<br />

Namens auch in keiner Weise gezwungen. Ob<br />

der „ungeduldige“ Dr. Meier von Manfred Muster<br />

oder von Anonymus bewertet wird, macht keinen<br />

Unterschied. Der Bewertete dürfte Behandlungsdetails<br />

wegen der Schweigepflicht in Reaktion<br />

trotzdem nicht preisgeben.<br />

Ich halte die Argumentation auch für zirkelschlüssig:<br />

Warum die mit Identifizierbarkeit verbundene,<br />

vermeintliche Abschreckungswirkung<br />

rechtlich missbilligt sein soll bzw. ob sie nicht<br />

in Kauf zu nehmende Voraussetzung ist, um<br />

dem informationellen Selbstbestimmungsrecht<br />

des Arztes zur Geltung zu verhelfen, ist gerade<br />

eine der zur Abwägung stehenden Fragen.<br />

Würde sich ein dem Arzt bekannter Patient<br />

unmittelbar vor seine Praxis stellen und sich für<br />

einige hundert Passanten hörbar über seine Behandlung<br />

äußern, könnte der Arzt gerichtlich<br />

Unterlassung und ggf. Schadensersatz geltend<br />

zu machen versuchen. Stellt derselbe Patient die<br />

Behauptungen für potentiell Millionen Menschen<br />

zugänglich in einem Bewertungsportal auf, kann er<br />

dafür zivilrechtlich nicht belangt werden, weil dem<br />

Arzt die persönlichen Daten seines Gegners gar<br />

nicht bekannt sind.<br />

An dieser Albernheit hat sich (wohl) auch mit dem<br />

jüngsten jameda-Urteil (BGH, Urt. v. 20.2.<strong>2018</strong> –<br />

VI ZR 30/17) nichts verändert. Denn in dem dort<br />

verhandelten Fall hatte jameda aufgrund eines<br />

Werbeangebots etwas von seiner Rolle als „neutraler“<br />

Informationsmittler eingebüßt, so dass die<br />

Grundrechtsposition der klagenden Ärztin überwog<br />

und ein „schutzwürdiges Interesse an dem<br />

Ausschluss der Speicherung“ ihrer Daten bestand.<br />

Das dem zugrunde liegende Geschäftsgebaren<br />

(Werbung für zahlende Kunden auf dem Profil<br />

nicht zahlender Kunden) hat jameda allerdings<br />

sofort nach dem Urteil eingestellt und wird damit<br />

auf absehbare Zeit der hinlänglich bekannte Zankapfel<br />

bleiben.<br />

Rechtsanwalt ANNO HAAK, LL.M., Bonn<br />

360 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Neuregelungen im April<br />

Im April sind einige Neuregelungen in Kraft<br />

getreten. Sie betreffen den Verbraucherschutz<br />

und Unternehmensneugründungen. Im Einzelnen:<br />

• Lebensmittelrecht<br />

Seit dem 11. April müssen Lebensmittelhersteller<br />

europaweit Auflagen für die Herstellung und<br />

Verarbeitung von Kartoffelerzeugnissen, Brot<br />

und Feinbackwaren, Frühstückscerealien, Säuglingsnahrung,<br />

Kaffee und Kaffeeersatzprodukten<br />

beachten. Dadurch soll in den Produkten der<br />

krebserzeugende Acrylamidgehalt sinken, der<br />

beim Backen, Braten, Frittieren und Rösten entsteht.<br />

• Nutzung von Online-Diensten im EU-Raum<br />

Kostenpflichtige Streaming-Dienste für Filme,<br />

Sport, Musik, eBooks und Videospiele lassen sich<br />

seit dem 1. April auch im EU-Ausland nutzen. Für<br />

das Streamen ohne EU-Grenzen dürfen die<br />

Anbieter keine zusätzlichen Gebühren erheben.<br />

Die Nutzung der Dienste ist auf vorübergehende<br />

Aufenthalte begrenzt. Ursprünglich sollte die<br />

Regelung bereits am 20. März in Kraft treten (vgl.<br />

<strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 6/<strong>2018</strong>, S. 266).<br />

• Anschubfinanzierung von Start-Up-<br />

Unternehmen<br />

Unternehmensneugründungen erhalten besseren<br />

Zugang zu Wagniskapital. Mit dem ERP-<br />

Wirtschaftsplangesetz <strong>2018</strong> soll die bisherige<br />

Finanzierungslücke in der Gründungsphase von<br />

Unternehmen geschlossen werden. Zur Verfügung<br />

stehen 790 Mio. € aus dem ERP-Sondervermögen.<br />

Das Gesetz ist rückwirkend zum<br />

1. Januar in Kraft getreten.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Kaum noch Zuwachs bei den<br />

Anwaltszulassungen<br />

Die 27 regionalen Rechtsanwaltskammern und<br />

die Rechtsanwaltskammer beim BGH verzeichneten<br />

zum 1.1.<strong>2018</strong> insgesamt 165.857 Mitglieder,<br />

davon 164.656 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.<br />

Dies ist gegenüber dem Vorjahr ein<br />

leichter Anstieg um 0,18 %.<br />

Damit bestätigt sich der Trend der vergangenen<br />

Jahre, in denen der Zuwachs stets abgenommen<br />

hatte. Von 2016 auf 2017 hatte sich die Anzahl der<br />

Mitglieder noch um 0,42 % erhöht. Zum 1.1.2015<br />

war der Zuwachs erstmals auf unter 1 % gefallen.<br />

Die Statistik zeigt auch, dass sich die Zusammensetzung<br />

der Mitglieder im Jahr 2017 weiter verschoben<br />

hat. Der Anteil der klassischen – niedergelassenen<br />

– Rechtsanwälte ging von zuvor<br />

154.711 auf nunmehr knapp 150.000 zurück. Die<br />

Zahlen der als reine Syndikusrechtsanwälte bzw.<br />

als Syndikusrechtsanwalt und Rechtsanwalt (sog.<br />

Doppelzulassung) zugelassenen Mitglieder stiegen<br />

dagegen deutlich an (von 957 auf 1.975 bzw.<br />

von 8.738 auf 12.079). Damit macht die Gesamtzahl<br />

von 14.054 Syndikusrechtsanwälten mittlerweile<br />

einen Anteil von 8,5 % an den insgesamt<br />

164.656 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten<br />

aus. Berücksichtigt man, dass die in Unternehmen<br />

und Verbänden tätigen Syndikusanwälte noch<br />

über eine alte Befreiung von der Versicherungspflicht<br />

in der Deutschen Rentenversicherung<br />

Bund verfügen und daher noch keine Zulassung<br />

als Syndikusrechtsanwalt beantragt haben, dürfte<br />

der Anteil der Syndikusrechtsanwälte bundesweit<br />

sogar bei gut 20–25 % liegen.<br />

Spitzenreiter, was den Mitgliederzuwachs angeht,<br />

ist die Rechtsanwaltskammer München, die<br />

eine Zunahme von 1,18 % verzeichnete. Schluss-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 361


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

lichter sind hingegen die Kammern in Mecklenburg-Vorpommern<br />

(- 2,26 %) und Sachsen<br />

(- 2,27 %). Insgesamt haben 17 Rechtsanwaltskammern<br />

einen Rückgang ihrer Mitglieder zu<br />

verzeichnen, nur 11 Kammern einen Zuwachs.<br />

Die größte Rechtsanwaltskammer ist weiterhin<br />

München mit 21.665 Mitgliedern, die kleinste ist<br />

Zweibrücken mit 1.433 Mitgliedern. Besonders<br />

interessant ist dabei, dass die sieben größten<br />

Rechtsanwaltskammern, mit über 10.000 Mitgliedern<br />

insgesamt, jetzt 62,9 % aller Rechtsanwälte<br />

vertreten (104.407 von 165.857), die<br />

übrigen 17 regionalen Kammern dagegen nur die<br />

restlichen 37,1 %.<br />

[mwh]<br />

Bundesjustizministerin will Schwerpunkt<br />

auf Verbraucherschutz legen<br />

Die neue Bundesjustizministerin Dr. KATARINA<br />

BARLEY will den Verbraucherschutz zu einem<br />

Schwerpunkt ihrer Amtstätigkeit machen. Dies<br />

kündigte sie in ihrer Antrittsrede an. KATARINA<br />

BARLEY hat am 14. März das Amt als neue Bundesministerin<br />

der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

angetreten. Sie folgt auf HEIKO MAAS, der das<br />

Ressort seit Dezember 2013 führte und nun zum<br />

Außenminister ernannt wurde.<br />

Zuvor war Frau Dr. BARLEY Bundesministerin für<br />

Familie, Senioren, Frauen und Jugend und leitete<br />

geschäftsführend das Bundesministerium für Arbeit<br />

und Soziales. Von Dezember 2015 bis Juni<br />

2017 war sie Generalsekretärin der SPD. Die<br />

gelernte Juristin ist seit 2013 Mitglied des Deutschen<br />

Bundestags. Zuvor arbeitete sie als Referentin<br />

im Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

des Landes Rheinland-Pfalz und<br />

als Richterin am Landgericht Trier sowie am<br />

Amtsgericht Wittlich.<br />

In ihrer Antrittsrede am 15. März kündigte sie an,<br />

sich neben der Rechtspolitik insbesondere auch<br />

für den Verbraucherschutz stark zu machen.<br />

Denn, so die Ministerin, wie eine starke Justiz sei<br />

auch ein wirkungsvoller Verbraucherschutz vor<br />

allem eine Frage der Gerechtigkeit. „Ich will –<br />

obwohl Juristin durch und durch – den Verbraucherschutz<br />

zu einem Schwerpunkt meiner zukünftigen<br />

Arbeit machen. Der Koalitionsvertrag hat im Bereich<br />

der Verbraucherpolitik viele Ziele definiert, die es nun<br />

zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger rasch und<br />

engagiert anzugehen gilt. Ich denke hier vor allem auch<br />

an die Umsetzung der Musterfeststellungsklage, um<br />

Verbraucherinnen und Verbraucher in der Auseinandersetzung<br />

mit Großkonzernen zu stärken, die Gerichte<br />

zu entlasten und gleichzeitig auch den Unternehmen<br />

mehr Rechtssicherheit zu geben.“, soKATARINA BARLEY.<br />

Daneben hat sie auch die sog. Mietpreisbremse<br />

im Visier, deren Wirksamkeit erhöht werden soll.<br />

Die Miete in Ballungszentren sei „das Problem<br />

Nummer eins“ vieler Menschen. Deshalb werde<br />

demnächst u.a. auch die Modernisierungsumlage<br />

abgesenkt, um Mieter zu entlasten.<br />

Eine regelrechte Offensive an neuen Gesetzesvorlagen<br />

ist von der neuen Ministerin aber offenbar<br />

nicht zu erwarten. In ihrer Rede dämpfte sie allzu<br />

große Erwartungen im Hinblick auf Regelungsinitiativen<br />

mit einem Zitat: „Von MONTESQUIEU wissen<br />

wir: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen,<br />

dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen“.<br />

[Quelle: BMJV]<br />

Vorstoß für Englisch als Gerichtssprache<br />

Der Bundesrat möchte, dass die Landgerichte<br />

Kammern für internationale Handelssachen einrichten<br />

dürfen, vor denen in englischer Sprache<br />

verhandelt wird. Im März beschloss er, dem Bundestag<br />

einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.<br />

Den Vorstoß begründete die Länderkammer damit,<br />

dass es in Deutschland zahlreiche Richter<br />

gibt, die hervorragend Englisch sprechen und in<br />

der Lage sind, eine mündliche Verhandlung sowie<br />

das Verfahren entsprechend zu führen. Obwohl<br />

das deutsche Recht und die deutsche Justiz<br />

international hohe Anerkennung genössen, leide<br />

der Gerichtsstandort Deutschland bisher darunter,<br />

dass noch immer nur Deutsch als Gerichtssprache<br />

bestimmt sei. Dies trage dazu bei, dass<br />

bedeutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten<br />

zumeist im Ausland ausgetragen würden – zum<br />

Nachteil des Gerichtsstandortes Deutschland und<br />

deutscher Unternehmen.<br />

Um diese bedeutenden und auch lukrativen<br />

Rechtsstreitigkeiten würden sich bereits jetzt<br />

andere Staaten, wie etwa die Niederlande, Belgien<br />

oder Frankreich, bemühen. Wer seinen gesamten<br />

362 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Geschäftsbetrieb auf Englisch organisiert habe, der<br />

wolle auch auf Englisch prozessieren, betonte auch<br />

der nordrhein-westfälische Justizminister PETER<br />

BIESENBACH, der maßgeblich am Zustandekommen<br />

der Bundesratsinitiative beteiligt war. Durch die<br />

Einführung von Englisch als zulässiger Gerichtssprache<br />

könne sowohl Deutschland als Gerichtsstandort<br />

als auch das deutsche Recht in hohem<br />

Maße an Attraktivität gewinnen.<br />

Schon zweimal hatte der Bundesrat einen entsprechenden<br />

Entwurf beim Deutschen Bundestag<br />

eingebracht: 2010 und 2014 beschlossen die<br />

Länder jeweils gleichlautende Gesetzentwürfe,<br />

die jedoch vom Bundestag nicht verabschiedet<br />

wurden und daher mit Ablauf der jeweiligen<br />

Wahlperiode der Diskontinuität unterfielen. Um<br />

dem Anliegen noch einmal Nachdruck zu verleihen,<br />

verabschiedete der Bundesrat nun zum<br />

dritten Mal eine entsprechende Initiative. Als<br />

nächstes wird sie nun über die Bundesregierung<br />

dem Bundestag zur Entscheidung vorgelegt.<br />

[Quelle: Bundesrat]<br />

Bundesbürger beklagen Überlastung<br />

der Gerichte<br />

Das deutsche Rechtssystem ist in der Bevölkerung<br />

weiterhin angesehen. Das ergab eine Untersuchung<br />

des Instituts für Demoskopie Allensbach,<br />

die für den Roland-Rechtsreport durchgeführt<br />

wurde. Mit dem Report wird regelmäßig die<br />

öffentliche Meinung zum deutschen Rechtssystem<br />

und zu ausgewählten rechtspolitischen Schwerpunktthemen<br />

ermittelt.<br />

Nach der jüngsten Erhebung der Allensbacher<br />

Forscher haben 68 % der Bürger „sehr viel“ oder<br />

„ziemlich viel“ Vertrauen in die Gesetze, 64 % in die<br />

Gerichte. Seit vielen Jahren bewegt sich das<br />

Vertrauen hier relativ stabil auf hohem Niveau.<br />

Noch stärker vertrauen die Bürger nur der Polizei<br />

(74 %) und kleinen und mittleren Unternehmen<br />

(78 %). Trotz der insgesamt positiven Wahrnehmung<br />

schätzen 77 % der Deutschen die Gerichte<br />

als überlastet ein. Nur rund jeder Vierte ist der<br />

Meinung, dass deutsche Gerichte gewissenhaft<br />

und gründlich arbeiten und hier alles mit rechten<br />

Dingen zugeht. Stattdessen bemängeln die Bürger<br />

wie schon im Vorjahr lange Verfahren, komplizierte<br />

Gesetze und zu milde Strafen. Zudem ist die<br />

Mehrheit (58 %) davon überzeugt, dass Urteil und<br />

Strafmaß stark vom zuständigen Gericht abhängen.<br />

66 % meinen, dass ein bekannter Anwalt die<br />

Chancen auf ein günstiges Urteil erhöht.<br />

Vor dem Hintergrund des Dieselskandals würden<br />

79 % der Bundesbürger die Einführung von Sammelklagen<br />

als juristisches Mittel begrüßen, lediglich<br />

6 % wären dagegen. Hatten die Forscher den<br />

Bürgern jedoch die Nachteile von Sammelklagen<br />

vor Augen geführt – nämlich, dass u.U. eine<br />

Klageindustrie entstehen kann, an der vor allem<br />

Anwaltskanzleien verdienen – fiel das Urteil anders<br />

aus: Die Gruppe der Befürworter schrumpfte<br />

auf 63 %, während die Gruppe der Gegner auf 21 %<br />

wuchs. Diese starke Beeinflussung des Meinungsbilds<br />

durch ein einziges Argument ist den Forschern<br />

zufolge häufig ein Hinweis darauf, dass sich<br />

die Bevölkerung noch nicht besonders stark mit<br />

der entsprechenden Thematik auseinandergesetzt<br />

hat. Insofern hängt ihrer Einschätzung nach die<br />

Akzeptanz von Sammelklagen in der deutschen<br />

Bevölkerung sehr stark davon ab, wie diese Klageform<br />

in der Praxis ausgestaltet wäre.<br />

Die Möglichkeit der Mediation ist der Studie<br />

zufolge weiten Teilen der Bevölkerung (73 %)<br />

inzwischen bekannt. Obwohl gerade Menschen<br />

mit höherer (87 %) und mittlerer (72 %) Schulbildung<br />

das Mediationsverfahren kennen, hat die<br />

Bekanntheit bei Menschen mit einfacher Schulbildung<br />

am stärksten zugenommen. Sie steigerte<br />

sich im Vergleich zur ersten Erhebung im Jahr<br />

2010 um 18 % auf derzeit 60 %. Fast die Hälfte<br />

(49 %) der Bevölkerung denkt, dass sich durch die<br />

Mediation viele Streitigkeiten beilegen lassen.<br />

Lediglich 37 % sehen dies skeptisch. Personen,<br />

denen das Mediationsverfahren vorab bekannt<br />

war, schätzen es erfolgversprechender ein als<br />

Personen, die erst im Rahmen der Befragung<br />

davon erfahren haben.<br />

[Quelle: Roland-Rechtsreport]<br />

Richter gegen Änderungen im<br />

Sozialgerichtsprozess<br />

Der Bundesrat hat im Februar erneut seinen<br />

Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes<br />

auf den Weg gebracht, der wegen<br />

Ablaufs der vorangegangenen Wahlperiode der<br />

Diskontinuität unterfallen war. Mit dem Vorhaben<br />

will die Länderkammer die Sozialgerichte durch<br />

Vereinfachungen im Prozessrecht entlasten. So<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 363


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

sollen z.B. mehr Einzelrichter ohne Mitwirkung<br />

ehrenamtlicher Beisitzer entscheiden („konsentierter<br />

Einzelrichter“). Außerdem ist vorgesehen,<br />

die gerichtliche Überprüfungspflicht bei übereinstimmender<br />

Erklärung der Beteiligten auf Teile des<br />

Streitgegenstands zu beschränken, um unnötige<br />

Prüfungen unstreitiger Berechnungskomponenten<br />

zu vermeiden. Auch das Berufungsverfahren soll<br />

vereinfacht werden; u.a. sollen die Senate bei einer<br />

stattgebenden Berufungsentscheidung gegen das<br />

erstinstanzliche Urteil ohne mündliche Verhandlung<br />

durch Beschluss entscheiden dürfen.<br />

Gegen dieses Vorhaben der Länder hat sich jetzt<br />

der Deutsche Richterbund ausgesprochen. Zwar<br />

gestehen die Richter zu, dass die Belastungssituation<br />

der Sozialgerichtsbarkeit bundesweit<br />

nach wie vor anhaltend hoch ist. Das Bild sei<br />

jedoch in den Ländern uneinheitlich. Steigende<br />

Eingangszahlen seien nicht für alle Länder festzustellen.<br />

Insbesondere der starken Belastung<br />

durch den aufgelaufenen Verfahrensbestand träten<br />

einige Länder bereits heute durch Bemühungen<br />

entgegen, die seit Jahren unzureichende<br />

Personalausstattung der Gerichte auf das notwendige<br />

Maß anzuheben.<br />

Auch inhaltlich haben die Richter Bedenken geäußert.<br />

So sind sie der Meinung, dass die Reduzierung<br />

der Beteiligung ehrenamtlicher Richter deren<br />

Bedeutung in der Sozialgerichtsbarkeit nicht<br />

gerecht würde. Die geplante Beschränkung der<br />

gerichtlichen Überprüfung auf Teile des Streitgegenstands<br />

würde zudem zu unlösbaren dogmatischen<br />

Problemen führen. Stattdessen schlägt<br />

der Richterbund vor, neben einer besseren Personalausstattung<br />

bei den Sozialgerichten vor allem<br />

Vereinfachungen im materiellen Sozialrecht vorzunehmen.<br />

[Quelle: DRB]<br />

Neues Online-Portal<br />

„Inkasso-Check“<br />

Die Bundesregierung hat auf einen neuen Service<br />

der Verbraucherzentralen hingewiesen, der betroffenen<br />

Verbrauchern bei unberechtigten oder<br />

unklaren Zahlungsaufforderungen weiterhelfen<br />

soll.<br />

Einer Forsa-Umfrage zufolge haben 5,8 Mio.<br />

Verbraucher schon einmal eine Inkasso-Forderung<br />

erhalten. 65 % davon hielten sie für unberechtigt.<br />

Zugleich empfinden viele Menschen<br />

Inkassoschreiben aufgrund eindringlicher und<br />

teilweise aggressiver Formulierungen regelrecht<br />

bedrohlich, stellen die Verbraucherschützer fest.<br />

Betroffene sind deshalb häufig verunsichert darüber,<br />

wie sie sich weiter verhalten sollen.<br />

Ein neuer Online-Service der Verbraucherzentralen,<br />

der vom Bundesjustizministerium gefördert wird,<br />

soll hier weiterhelfen: Der „Inkasso-Check“ ermöglicht<br />

die kostenlose Überprüfung, ob überhaupt<br />

gezahlt werden muss und, wenn ja, ob wirklich die<br />

volle Höhe der Kosten fällig ist. Auf der Internetseite<br />

www.verbraucherzentrale.de/inkasso-check-start<br />

werden die Ratsuchenden online durch eine Reihe<br />

von Fragen geführt. Am Ende gibt es eine individuelle<br />

erste Einschätzung und falls nötig auch einen<br />

eigens generierten Brief an das Inkasso-Unternehmen.<br />

Bleiben Fragen offen oder ist der individuelle<br />

Sachverhalt sehr komplex, können sich Betroffene<br />

an eine Verbraucherzentrale oder einen Rechtsanwalt<br />

wenden.<br />

Die Bundesregierung weist darauf hin, dass<br />

zunehmend dubiose Firmen mit betrügerischen<br />

Absichten unterwegs sind, die die Unsicherheit<br />

vieler Menschen ausnutzen. Sie beschreiten dabei<br />

auch neue, digitale Wege. Gingen bisher Zahlungsaufforderungen<br />

als Brief ein, verschicken<br />

Betrüger diese nun auch per E-Mail oder SMS.<br />

So wurde im vergangenen Jahr auch vor Fällen<br />

sog. Fake-Inkassos gewarnt: Menschen in ganz<br />

Deutschland hatten Zahlungsaufforderungen per<br />

SMS erhalten. Die dahinter stehenden Forderungen<br />

waren frei erfunden. Und auch die angegebenen<br />

Inkasso-Unternehmen gab es nicht. Die<br />

Betrüger nutzten z.B. die Logos oder fälschten<br />

E-Mail-Adressen bestehender Unternehmen, um<br />

ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.<br />

Betroffene sollten laut Bundesregierung insbesondere<br />

auch auf die Bankverbindung des<br />

Inkassobüros achten: Wenn diese ins Ausland<br />

verweist – zu erkennen an den ersten beiden<br />

Buchstaben der IBAN –, sei Vorsicht geboten.<br />

Zudem sollten Betroffene prüfen, ob das Inkasso-<br />

Büro überhaupt berechtigt ist, Forderungen einzutreiben.<br />

Dafür steht das Rechtsdienstleistungsregister<br />

zur Verfügung (zu finden unter<br />

www.rechtsdienstleistungsregister.de). Denn wer als<br />

Inkasso-Firma Forderungen eintreiben will, muss<br />

dafür vom Amts- oder Landgericht zugelassen<br />

und registriert sein. [Quelle: Bundesregierung]<br />

364 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

EU will Einrichtung einer<br />

Europäischen Arbeitsbehörde<br />

Die EU-Kommission will den sozialen Schutz für<br />

Arbeitnehmer und Selbstständige in der EU<br />

stärken. Dazu hat sie Mitte März die Einrichtung<br />

einer Europäischen Arbeitsbehörde vorgeschlagen<br />

und eine Empfehlung vorgelegt, wie Arbeitnehmer<br />

und Selbstständige besseren Zugang<br />

zum Sozialschutz bekommen.<br />

Die Europäische Arbeitsbehörde soll den Bürgerinnen<br />

und Bürgern, den Unternehmen und<br />

den nationalen Verwaltungen helfen, die Chancen<br />

der Freizügigkeit optimal zu nutzen und eine<br />

faire Arbeitskräftemobilität zu gewährleisten. Es<br />

werden drei Ziele verfolgt:<br />

• Die Europäische Arbeitsbehörde soll die Bürgerinnen<br />

und Bürger sowie die Unternehmen<br />

über Arbeits-, Ausbildungs-, Mobilitäts-, Einstellungs-<br />

und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

informieren. Außerdem soll sie Informationen<br />

über Rechte und Pflichten bereitstellen, die mit<br />

dem Leben, Arbeiten und/oder der unternehmerischen<br />

Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat<br />

der EU verbunden sind.<br />

• Die Behörde soll auch die Zusammenarbeit<br />

zwischen den nationalen Behörden bei grenzüberschreitenden<br />

Sachverhalten fördern. Sie<br />

soll sicherstellen, dass die EU-Rechtsvorschriften<br />

zur Mobilität leicht nachvollziehbar sind.<br />

• Schließlich soll die Europäische Arbeitsbehörde<br />

in grenzüberschreitenden Streitfällen vermitteln<br />

und auf Lösungen hinwirken.<br />

Ihre Arbeit als dezentrale EU-Agentur soll die<br />

Europäische Arbeitsbehörde nach Abschluss des<br />

entsprechenden EU-Gesetzgebungsverfahrens aufnehmen<br />

können.<br />

Der in der Kommission für den Euro und den<br />

sozialen Dialog zuständige Vizepräsident VALDIS<br />

DOMBROVSKIS erläuterte: „Europa ist nun auf stetigem<br />

Wachstumskurs und die Beschäftigungszahlen steigen,<br />

doch müssen wir dafür sorgen, dass das Wachstum<br />

inklusiver ist und allen zugutekommt. In diesem Paket<br />

werden eine Reihe von Maßnahmen zur Erreichung dieses<br />

Ziels aufgezeigt: sicherstellen, dass die Regeln für das<br />

Leben und Arbeiten in der Europäischen Union allgemein<br />

bekannt sind und durchgesetzt werden; die Umsetzung<br />

der europäischen Säule sozialer Rechte weiterverfolgen;<br />

generell starke Impulse für soziale Rechte geben; den<br />

Schwerpunkt auf den Zugang zu Sozialschutz legen. Ein<br />

stärkeres soziales Europa ist ein nachhaltigeres Europa.“<br />

MARIANNE THYSSEN, EU-Kommissarin für Beschäftigung,<br />

Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität,<br />

fügte hinzu: „Mit unserem Vorschlag für<br />

den Zugang zum Sozialschutz stellen wir außerdem gemeinsam<br />

mit den Mitgliedstaaten sicher, dass niemand<br />

zurückgelassen wird. Wir wollen gewährleisten, dass alle<br />

Menschen Zugang zu angemessenen Leistungen haben,<br />

unabhängig davon, wie sich die neue Arbeitswelt entwickelt.“<br />

Gleichzeitig hat die Kommission auch eine Empfehlung<br />

vorgelegt, wie die Mitgliedstaaten allen<br />

Arbeitnehmern und Selbstständigen Zugang zum<br />

Sozialschutz ermöglichen können. Insbesondere<br />

betrifft der Vorschlag diejenigen, die aufgrund<br />

ihres Beschäftigungsstatus bislang nicht ausreichend<br />

durch die Systeme der sozialen Sicherheit<br />

abgesichert sind. Die Empfehlung sieht vor:<br />

• formale Lücken bei der Absicherung zu schließen,<br />

so dass sich Arbeitnehmer und Selbstständige,<br />

die sich in vergleichbaren Situationen<br />

befinden, entsprechenden Sozialversicherungssystemen<br />

anschließen können;<br />

• ihnen eine angemessene tatsächliche Absicherung<br />

anzubieten, damit sie geeignete Ansprüche<br />

aufbauen/geltend machen können;<br />

• die Übertragung von Sozialversicherungsansprüchen<br />

von einem Arbeitsplatz zum nächsten<br />

zu erleichtern;<br />

• Arbeitnehmer und Selbstständige klar über<br />

ihre Sozialversicherungsansprüche und -verpflichtungen<br />

zu informieren.<br />

Die Kommission verweist darauf, dass sich derzeit<br />

fast 40 % der Beschäftigten in der EU entweder in<br />

einem atypischen Arbeitsverhältnis befinden oder<br />

selbstständig sind. Diese Beschäftigten seien sozial<br />

nicht immer gut abgesichert und hätten keine<br />

Arbeitslosenversicherung oder keinen Zugang zu<br />

Rentenansprüchen. Die Vorschläge der Kommission<br />

bedürfen noch der Zustimmung des EU-<br />

Parlaments bzw. des Rats, sollen nach ihrer Vorstellung<br />

aber bereits 2019 zur Einrichtung der<br />

Europäischen Arbeitsbehörde führen.<br />

[Quelle: EU-Kommission]<br />

Geldbußen nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz<br />

Am 1.11.2017 ist das Gesetz zur Verbesserung<br />

der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken<br />

(Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) in<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 365


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Kraft getreten (BGBl I, S. 3352). Das NetzDG, von<br />

vielen auch Facebook-Gesetz genannt, richtet<br />

sich gegen Hetze und gefälschte Meldungen<br />

(Fake News) in sozialen Netzwerken. Bei Verstößen<br />

gegen Verpflichtungen aus dem Gesetz<br />

sieht das NetzDG z.T. empfindliche Geldbußen<br />

(bis 50 Mio. €) gegen die Netzwerkbetreiber vor.<br />

Auf Grundlage von § 4 Abs. 4 S. 2 NetzDG hat nun<br />

das Bundesjustizministerium im Einvernehmen<br />

mit dem Bundesministerium des Innern, dem<br />

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie<br />

und dem Bundesministerium für Verkehr und<br />

digitale Infrastruktur allgemeine Verwaltungsgrundsätze<br />

über die Ausübung des Ermessens der<br />

Bußgeldbehörde bei der Einleitung eines Bußgeldverfahrens<br />

und bei der Bemessung der Geldbußen<br />

erlassen.<br />

Die konkrete Bußgeldzumessung geschieht in<br />

einem relativ komplizierten Verfahren, bei dem<br />

u.a. auch das betroffene soziale Netzwerk nach<br />

Größe zu klassifizieren ist und die Tatumstände<br />

und -folgen von „leicht“ bis „außerordentlich<br />

schwer“ einzuordnen sind. Hier geben die Leitlinien<br />

die nötigen Anhaltspunkte für die Ausübung<br />

des behördlichen Ermessens.<br />

Die NetzDG-Bußgeldleitlinien sind auf der Internetseite<br />

des Bundesjustizministeriums als PDF-<br />

Dokument veröffentlicht und können unter der<br />

Adresse www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/<br />

Themen/Fokusthemen/NetzDG_Bußgeldleitlinien.html<br />

abgerufen werden.<br />

[Quelle: BMJV]<br />

Überarbeiteter Leitfaden für die<br />

Abwicklung von Kanzleien<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer hat ihre „Hinweise<br />

für die Tätigkeit des Abwicklers“ überarbeitet.<br />

Die Hinweise geben einen Überblick<br />

über die Aufgaben des Abwicklers und seine<br />

Befugnisse. So wird etwa auf die Aspekte „Geldund<br />

Postverkehr“ (neuerdings einschließlich beA),<br />

Beschäftigten- und sonstige Vertragsverhältnisse,<br />

Mandate und Haftung sowie auch auf die Vergütung<br />

des Abwicklers eingegangen.<br />

Die Leitlinien der BRAK verstehen sich lediglich als<br />

Empfehlungen, stellen jedoch im Wesentlichen<br />

auch eine Zusammenfassung der Rechtslage dar.<br />

Erforderlich wurde die Aktualisierung durch eine<br />

Anpassung an die aktuelle Rechtsprechung und<br />

Gesetzeslage. Zu berücksichtigen waren u.a.:<br />

• die Ende 2016 in Kraft getretenen RAVPV<br />

sowie die jüngste BRAO-Reform,<br />

• die Verlängerung der Aktenaufbewahrungsfrist<br />

von fünf auf sechs Jahre,<br />

• die Rechtsprechung zum Verhältnis von Abwickler<br />

und Insolvenzverwalter.<br />

Die neuen Hinweise sind in <strong>ZAP</strong> F. 23, S. 1121 (in<br />

dieser Ausgabe) in vollständiger Fassung abgedruckt.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

Neues Rechtsanwalts- und ReNo-<br />

Fachangestellten-Merkblatt<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat darauf<br />

hingewiesen, dass sein Vereinsvorstand das<br />

aktualisierte „Rechtsanwalts- und ReNo-Fachangestelltenmerkblatt<br />

<strong>2018</strong>“ verabschiedet hat.<br />

Das Merkblatt wurde in wichtigen Punkten überarbeitet,<br />

so bestand Aktualisierungsbedarf insbesondere<br />

im Hinblick auf die Vergütung der<br />

Überstunden, die Arbeitszeitmodelle sowie beim<br />

Urlaubsanspruch. Auch der vom DAV erarbeitete<br />

Musterarbeitsvertrag wurde an die aktuellen<br />

gesetzlichen Vorgaben angepasst.<br />

Das DAV-Merkblatt soll eine Orientierungshilfe<br />

für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte im<br />

Hinblick auf die Beschäftigung, Vergütung und<br />

Förderung der Weiterbildung des Kanzleipersonals<br />

bieten. So enthält es u.a. eine Liste der<br />

Mindestbestandteile für einen Arbeitsvertrag,<br />

Vorschläge für die wöchentliche Arbeitszeit (laut<br />

DAV 38–40 Stunden) und zur Mindestvergütung<br />

(ab 1.800 €/Monat bei einer 40-Stundenwoche,<br />

wobei der DAV selbst zugesteht, dass<br />

dieser gesetzliche Mindestlohn für das qualifizierte<br />

Kanzleipersonal keine angemessene Vergütung<br />

darstellt) sowie für etwaige Sonderzahlungen,<br />

Urlaub und Fortbildung.<br />

Das neue Merkblatt sowie einen Musterarbeitsvertrag<br />

finden Interessierte auf der Internetseite<br />

des DAV unter https://anwaltverein.de/de/reno#-<br />

panel-merkblaetter.<br />

[Quelle: DAV]<br />

366 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 61<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/zap/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Allgemeines Zivilrecht<br />

Reitunfall: Haftung des Tierhalters<br />

(OLG Saarbrücken, Urt. v. 31.1.<strong>2018</strong> – 2 U 30/15) • Nach § 833 S. 2 BGB tritt die Ersatzpflicht des Tierhalters<br />

nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder<br />

dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung<br />

des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat oder der Schaden auch bei<br />

Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde. Ein von einer gemeinnützigen GmbH in einer<br />

Jugendhilfeeinrichtung zum heilpädagogischen Reiten eingesetztes Pferd unterliegt nicht dem Nutztierprivileg<br />

des § 833 S. 2 BGB. Der Haftung des Tierhalters gegenüber demjenigen, der ein Pferd zweimal<br />

wöchentlich im Rahmen einer auf Honorarbasis ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit bereitet, kann nicht<br />

entgegengehalten werden, das Bereiten erfolge auf eigene Gefahr. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 217/<strong>2018</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Abgasskandal: Rücktrittsrecht<br />

(LG Bonn, Urt. v. 7.3.<strong>2018</strong> – 19 O 327/17) • Eine Motorsteuerung, die erkennt, ob das Fahrzeug sich auf<br />

einem Prüfstand befindet, und die in diesem Fall einen Motorbetrieb bewirkt, bei dem die Abgasrückführung<br />

gegenüber dem Betrieb im Straßenverkehr zu einem niedrigeren Schadstoffausstoß führt,<br />

begründet einen erheblichen Mangel des Fahrzeugs, der gegenüber dem Händler zum Rücktritt<br />

berechtigt. Bereits der Umstand, dass das Kraftfahrt-Bundesamt prüfen muss, ob eine Entziehung der<br />

Betriebserlaubnis geboten ist, wenn der Hersteller nicht innerhalb einer angemessenen Frist für Abhilfe<br />

sorgt, belegt, dass die Software-Manipulation zu weitreichenden Folgen bis hin zu einer Fahrzeugstilllegung<br />

führen kann. An der Erheblichkeit des Mangels besteht daher keinerlei Zweifel. Der Hersteller des<br />

betreffenden Motors begeht durch dessen Vertrieb eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung des<br />

Erwerbers eines Fahrzeugs, in welchem dieser Motor verbaut ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 218/<strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Gewerberaummiete: Richtige Adressierung eines Kündigungsschreibens<br />

(OLG Dresden, Urt. v. 28.2.<strong>2018</strong> – 5 U 1439/17) • Der Erklärungsempfänger ist verpflichtet, unter<br />

Berücksichtigung aller ihm erkennbaren Umstände zu prüfen, was der Erklärende gemeint hat. Für das<br />

Wirksamwerden einer empfangsbedürftigen Willenserklärung ist erforderlich, dass sie mit Willen des<br />

Erklärenden in den Verkehr gelangt ist und der Erklärende damit rechnen konnte und gerechnet hat,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 367


Fach 1, Seite 62 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

dass sie den richtigen Empfänger erreichen werde. Hinweis: Auch dann, wenn ein Kündigungsschreiben<br />

den richtigen Empfänger erreicht, muss dieser aber u.U. nicht davon ausgehen, dass es auch an ihn<br />

gerichtet ist, wenn es nicht an ihn adressiert ist. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass<br />

Mietverhältnisse oft über einen langen Zeitraum laufen, empfiehlt es sich, vor der Formulierung von z.B.<br />

Vertragskündigungen zu prüfen, ob ggf. der Mietvertrag aufgrund einer Umfirmierung mit einer<br />

anderen Person besteht oder mehrere Mietverträge mit unterschiedlichen Personen betroffen sind, um<br />

sicherzustellen, dass das Schreiben den richtigen Empfänger erreicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 219/<strong>2018</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Bauüberwachung: Kostenerstattung<br />

(LG Frankfurt/M., Urt. v. 7.3.<strong>2018</strong> – 2-01 S 10/17) • Im Baurecht ist anerkannt, dass die Kosten der<br />

Bauüberwachung nur erstattungsfähig sind, wenn sie im Hinblick auf den Umfang und die Intensität der<br />

Maßnahme bei verständiger Würdigung angemessen sind. Nicht erstattungsfähig sind insoweit die<br />

Kosten für die Überwachung des Objekts. Mit dem auch im Baurecht nach § 241 Abs. 2 BGB bestehenden<br />

Grundsatz gegenseitiger Rücksichtnahme wäre es unvereinbar, wenn dem Besteller für die Überwachung<br />

des Unternehmers generell ein Kostenerstattungsanspruch zustünde. Der Besteller kann vom<br />

Unternehmer daher keinen Verdienstausfall für seine bloße Anwesenheit während der Werkausführung<br />

in einer Privatwohnung verlangen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 220/<strong>2018</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Reiserecht: Kündigung nach erheblicher Änderung einer Reiseleistung<br />

(BGH, Urt. v. 16.1.<strong>2018</strong> – X ZR 44/17) • Nach § 651a Abs. 5 S. 2 BGB kann der Reisende bei einer Erhöhung<br />

des Reisepreises um mehr als 5 % oder einer erheblichen Änderung einer wesentlichen Reiseleistung vom<br />

Reisevertrag zurücktreten. Das Kündigungsrecht des Reisenden setzt voraus, dass eine wesentliche<br />

Reiseleistung vom Reiseveranstalter erheblich geändert wird. Es ist damit grds. nicht davon abhängig, ob<br />

der Reiseveranstalter zur Änderung der Reiseleistung berechtigt ist. Ob Änderungen des vertraglichen<br />

Leistungsbilds für den Reisenden zumutbar sind, ist aufgrund einer Abwägung der Interessen der<br />

Vertragsparteien zu beurteilen. Es sind nur Leistungsänderungen zulässig, die den Gesamtcharakter der<br />

Reise nicht verändern. Hinweis: Nach der hier vom BGH vertretenen Auffassung sind nur Leistungsänderungen<br />

zumutbar, die den Gesamtcharakter der Reise nicht verändern und aufgrund von<br />

Umständen notwendig werden, die nach Vertragsschluss eintreten und dem Reiseveranstalter bei<br />

Vertragsschluss nicht bekannt und für ihn bei ordnungsgemäßer Prüfung der Durchführbarkeit der<br />

Reiseplanung auch nicht vorhersehbar waren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 221/<strong>2018</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Nachbarrecht: Ausgleichsanspruch nach Brand durch Reparaturarbeiten<br />

(BGH, Urt. v. 9.2.<strong>2018</strong> – V ZR 311/16) • Ein Grundstückseigentümer, der einen Handwerker<br />

Reparaturarbeiten am Haus vornehmen lässt, ist als Störer i.S.d. § 1004 Abs. 1 BGB verantwortlich,<br />

wenn das Haus infolge der Arbeiten in Brand gerät und das Nachbargrundstück beschädigt wird. Dass<br />

der Handwerker sorgfältig ausgesucht wurde, ändert daran nichts. Die Störereigenschaft folgt nicht<br />

allein aus dem Eigentum oder Besitz an dem Grundstück, von dem die Einwirkung ausgeht.<br />

Erforderlich ist vielmehr, dass die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks wenigstens mittelbar auf<br />

den Willen des Eigentümers oder Besitzers zurückgeht. Ob dies der Fall ist, kann nicht begrifflich,<br />

sondern nur in wertender Betrachtung von Fall zu Fall festgestellt werden. Entscheidend ist, ob es<br />

jeweils Sachgründe gibt, dem Grundstückseigentümer oder -besitzer die Verantwortung für ein<br />

Geschehen aufzuerlegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 222/<strong>2018</strong><br />

368 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 63<br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Negativzinsen: Wirksamkeit von AGB<br />

(LG Tübingen, Urt. v. 26.1.<strong>2018</strong> – 4 O 187/17) • Allgemeine Geschäftsbedingungen einer Bank, mit denen<br />

bei Sicht-, Termin- und Festgeldeinlagen im Verhältnis zu Verbrauchern Negativzinsen eingeführt<br />

werden, sind dann nach § 307 BGB unwirksam, wenn davon auch Altverträge erfasst werden, die ohne<br />

eine Entgeltpflicht des Kunden geschlossen wurden. Hinweis: Mit diesem Urteil wird bei bestehenden<br />

Altverträgen den Sparern die Sicherheit gegeben, dass nicht einseitig eine Einführung von negativen<br />

Strafzinsen erfolgen kann. Nicht geklärt ist hingegen weiterhin, ob eine Einführung für die Institute<br />

ökonomisch überhaupt notwendig ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 223/<strong>2018</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Rettungsfahrzeug: Betriebsgefahr<br />

(OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.2.<strong>2018</strong> – 1 U 112/17) • Auch wenn ein bei Grün in eine Kreuzung einfahrender<br />

Verkehrsteilnehmer i.d.R. darauf vertrauen darf, dass der Querverkehr Rotlicht beachten muss und<br />

deshalb stillsteht, und ein Kraftfahrer auch nicht ständig mit dem Auftauchen eines Fahrzeugs rechnen<br />

muss, dem freie Bahn einzuräumen ist, entbindet ihn dies nicht davon, auf ein plötzlich auftauchendes<br />

Einsatzfahrzug umgehend zu reagieren. Von einem Rettungswagen, der unter Inanspruchnahme von<br />

Sonderrechten trotz Rotlicht in eine Kreuzung einfährt, geht eine hohe Gefährdung aus, da die anderen<br />

Verkehrsteilnehmer sich erst auf diese unvermittelt geschaffene Verkehrssituation einstellen müssen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 224/<strong>2018</strong><br />

Geschwindigkeitsüberschreitung: Abstand zwischen Verkehrszeichen und Messstelle<br />

(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.<strong>2018</strong> – 2 Rb 9 Ss 794/17) • Durch Verwaltungsvorschriften ist in Baden-<br />

Württemberg seit dem 1.7.2015 kein bestimmter Abstand zwischen dem die Geschwindigkeitsbeschränkung<br />

anordnenden Verkehrszeichen und der Messstelle mehr vorgeschrieben. Ob dieser Abstand Einfluss<br />

auf die Bewertung des Verstoßes hat, ist danach einzelfallabhängig und deshalb keine Grundlage für die<br />

Zulassung der Rechtsbeschwerde. Schrittgeschwindigkeit (Zeichen 325.1) lässt keine höhere Geschwindigkeit<br />

als 7 km/h zu. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 225/<strong>2018</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Lebensversicherung: Verjährung des Rückabwicklungsanspruchs<br />

(BGH, Urt. v. 21.2.<strong>2018</strong> – IV ZR 304/16) • Der Verjährungsbeginn setzt gem. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB aus<br />

Gründen der Rechtssicherheit und Billigkeit grds. nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden<br />

Umstände voraus. Nicht erforderlich ist i.d.R., dass der Gläubiger aus den ihm bekannten Tatsachen die<br />

zutreffenden rechtlichen Schlüsse zieht. Ausnahmsweise kann die Rechtsunkenntnis des Gläubigers den<br />

Verjährungsbeginn aber hinausschieben, wenn eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, die<br />

selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig einzuschätzen vermag. In diesen Fällen fehlt es an der<br />

Zumutbarkeit der Klageerhebung als übergreifender Voraussetzung für den Verjährungsbeginn. Der<br />

Beginn der Verjährungsfrist für einen Rückabwicklungsanspruch nach einem Rücktritt gem. § 8 VVG a.F.<br />

war nicht wegen einer unsicheren und zweifelhaften Rechtslage hinausgeschoben.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 226/<strong>2018</strong><br />

Familienrecht<br />

Sorgerechtsprozess: Unterbliebene Kindesanhörung<br />

(OLG Saarbrücken, Beschl. v. 29.12.2017 – 9 UF 54/17) • Gemäß § 159 Abs. 2 FamFG ist ein Kind, das das<br />

14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, persönlich durch das Familiengericht anzuhören, wenn die Neigungen,<br />

Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn eine persönliche<br />

Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist. Die erste Voraussetzung liegt bei einem Verfahren<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 369


Fach 1, Seite 64 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

nach § 1671 BGB (Übertragung der Alleinsorge bei Getrenntleben der Eltern) regelmäßig vor. Diese<br />

Anhörung kann mangels vergleichbaren Verfahrensgegenstands grds. nicht durch eine vorangegangene<br />

Anhörung in einem Umgangsrechtsverfahren ersetzt werden. Der wesentliche Inhalt einer durchgeführten<br />

Anhörung ist nach § 28 Abs. 4 FamFG in einem schriftlichen Vermerk festzuhalten. Die zu Unrecht<br />

unterbliebene Kindesanhörung begründet einen schwerwiegenden Verfahrensfehler, der auf entsprechenden<br />

Antrag hin die Aufhebung und Zurückverweisung gem. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG rechtfertigt.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 227/<strong>2018</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Pflichtteilsergänzungsansprüche: Feststellung der Abstammung<br />

(OLG Düsseldorf, Urt. v. 1.12.2017 – 7 U 151/16) • Der Kläger kann aufgrund § 1600d Abs. 4 BGB grds. erst mit<br />

der rechtskräftigen Feststellung seiner Abstammung von dem Erblasser Pflichtteilsansprüche gegen seine<br />

Halbgeschwister als Miterben geltend machen. Zuvor steht seine Abstammung und damit auch sein<br />

Pflichtteilsrecht nicht fest. Die kurze dreijährige Verjährungsfrist des Pflichtteilsergänzungsanspruchs<br />

beginnt mit dem Erbfall, also mit dem Tod des Erblassers. Durch die Verjährungsregelung ist zwar die<br />

verfassungsrechtlich normierte Erbrechtsgarantie betroffen, da diese Regelung die Durchsetzbarkeit des<br />

Pflichtteilsrechts einschränkt. Der Eingriff in den Schutzbereich ist aber nicht verfassungswidrig.<br />

Typischerweise wird mit der erforderlichen Erkennbarkeit des Anspruchs innerhalb der dreijährigen Frist<br />

seit dem Todesfall zu rechnen sein. Der Umstand, dass die Vaterschaft erst posthum, und dazu erst nach<br />

Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist festgestellt wird, stellt nicht die Regel dar. Darüber hinaus ist eine<br />

Benachteiligung durch die fehlende Vaterschaftsfeststellung nicht gegeben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 228/<strong>2018</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Berufung: Anwendbarkeit der Präklusionsvorschrift<br />

(BGH, Beschl. v. 27.2.<strong>2018</strong> – VIII ZR 90/17) • Nach § 531 Abs. 1 ZPO bleiben Angriffs- und Verteidigungsmittel,<br />

die im ersten Rechtszug zu Recht zurückgewiesen worden sind, auch für die Berufungsinstanz<br />

ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist aber nur anwendbar, soweit Angriffs- und Verteidigungsmittel in<br />

erster Instanz nach § 296 Abs. 1, 2 oder 3 ZPO zurückgewiesen worden sind. Die Vorschrift ist daher nicht<br />

anwendbar, wenn in erster Instanz Vorbringen nach § 296a ZPO unberücksichtigt geblieben ist. Um ein<br />

von § 531 Abs. 2 ZPO erfasstes neues Vorbringen in der Berufungsinstanz handelt es sich dann, wenn ein<br />

(streitiger) Vortrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz nicht vorgebracht und<br />

daher im erstinstanzlichen Urteil zu Recht gem. § 296a ZPO unberücksichtigt geblieben ist. Anders liegen<br />

die Dinge jedoch, wenn das Vorbringen durch ein nach § 283 S. 1 ZPO gewährtes Schriftsatzrecht gedeckt<br />

und damit zu dem nach § 296a S. 2 ZPO zu beachtenden erstinstanzlichen Prozessstoff gehört.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 229/<strong>2018</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Pfändungsschutz: Freigabe selbstständiger Tätigkeit des Schuldners<br />

(BGH, Beschl. v. 25.1.<strong>2018</strong> – IX ZA 19/17) • Gibt der Insolvenzverwalter die selbstständige Tätigkeit des<br />

Schuldners frei, steht dem Schuldner für Forderungen aus seiner selbstständigen Tätigkeit, die von der<br />

Freigabe der selbstständigen Tätigkeit umfasst sind, im Verhältnis zur Masse kein Pfändungsschutz für<br />

sonstige Einkünfte zu. Bezogen auf den Neuerwerb aus der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit<br />

findet § 850i ZPO im Verhältnis zur Masse keine Anwendung. Kann der Schuldner seinen Unterhalt und<br />

den seiner Familie nicht aus seiner freigegebenen selbstständigen Tätigkeit erwirtschaften, kann er<br />

Unterhaltsansprüche weiterhin gegen die Insolvenzmasse geltend machen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 230/<strong>2018</strong><br />

Zwangsvollstreckung: Einstellung aus einem Urteil des Arbeitsgerichts<br />

(LAG Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.12.2017– 17 Sa 84/17) • Auch wenn erst nach Einlegung der<br />

Berufung ein Umstand eintritt, der einem Weiterbeschäftigungsanspruch entgegenstehen könnte, kann<br />

370 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 65<br />

die Zwangsvollstreckung nur vorläufig eingestellt werden, wenn die Vollstreckung dem Beklagten einen<br />

nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Ein nicht zu ersetzender Nachteil ist dann gegeben, wenn<br />

die Zwangsvollstreckung zu einem nicht wiedergutzumachenden Schaden führen würde. Nicht<br />

wiedergutzumachen ist nur, was nicht mehr rückgängig gemacht oder ausgeglichen werden kann.<br />

Bei einem auf Beschäftigung eines Arbeitnehmers gerichteten Urteil ist nicht allein schon darin ein<br />

unersetzbarer Nachteil zu sehen, dass eine stattgefundene Beschäftigung nicht rückgängig gemacht<br />

werden kann. Vielmehr muss die Beschäftigung sonstige Schäden in einem Ausmaß befürchten lassen,<br />

dass aller Wahrscheinlichkeit nach vom Arbeitnehmer kein Ersatz zu erlangen sein wird.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 231/<strong>2018</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Beendigung GbR: Kein vertraglicher Anspruch auf Gewinnanteil<br />

(OLG Frankfurt, Beschl. v. 15.2.<strong>2018</strong> – 3 U 176/15) • Nach der Beendigung einer Gesellschaft bürgerlichen<br />

Rechts (GbR) steht dem einzelnen Gesellschafter für zurückliegende Zeiträume kein vertraglicher<br />

Anspruch auf seinen Gewinnanteil mehr zu, sondern nur noch ein Anspruch auf seinen Anteil am<br />

Auseinandersetzungsguthaben. Etwas anderes gilt nicht schon dann, wenn sich die Auseinandersetzung<br />

wegen der Unnachgiebigkeit der Gesellschafter lange hinzieht. Die Auflösung einer GbR führt ebenso<br />

wie das Ausscheiden eines Gesellschafters grds. dazu, dass ein Gesellschafter die ihm gegen die<br />

Gesellschaft und die Mitgesellschafter zustehenden Ansprüche nicht mehr selbstständig im Wege der<br />

Leistungsklage durchsetzen kann (Durchsetzungssperre). Diese sind vielmehr als unselbstständige<br />

Rechnungsposten in die Schlussrechnung aufzunehmen, deren Saldo ergibt, wer von wem noch etwas<br />

zu fordern hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 232/<strong>2018</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Betriebsgeheimnis: Verwendungsverbot<br />

(BGH, Urt. v. 16.11.2017 – I ZR 161/16) • Eine unter Verstoß gegen § 17 UWG erlangte Kenntnis von<br />

Betriebsgeheimnissen dürfen in keiner Weise verwendet werden. Ergebnisse, die der Verletzer durch<br />

solche Kenntnisse erzielt, sind von Anfang an und – jedenfalls i.d.R. – dauernd mit dem Makel der<br />

Wettbewerbswidrigkeit behaftet. Das Verwendungsverbot bezieht sich allerdings nicht auf jegliche, nur<br />

mittelbar mit der Verletzung von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen zusammenhängende wettbewerbliche<br />

Vorteile, sondern nur auf den unter Verletzung des Betriebsgeheimnisses hergestellten<br />

Gegenstand und dessen Verwertung. So darf der Verletzer eine technische Anlage, die durch Benutzung<br />

von unter Verstoß gegen § 17 UWG wettbewerbswidrig erworbenen Kenntnissen erstellt wurde, nicht<br />

verwenden. Gleiches gilt für Werkzeuge, die anhand von unbefugt verwerteten Zeichnungen hergestellt<br />

worden sind. Ferner hat der Verletzer den Gewinn herauszugeben, der durch den Einsatz von unter<br />

Verwendung geheimen Know-hows hergestellten Werkzeugen erzielt wurde. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 233/<strong>2018</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Mutterschutz: Kündigung von Schwangeren bei Massenentlassungen<br />

(EuGH, Urt. v. 22.2.<strong>2018</strong> – C-103/16) • Die Richtlinie 92/85/EWG v. 19.10.1992 über die Durchführung von<br />

Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen,<br />

Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen (ABl 1992, L 348, S. 1) steht einer<br />

nationalen arbeitsrechtlichen Regelung nicht entgegen, wonach die Kündigung einer schwangeren<br />

Arbeitnehmerin aufgrund einer Massenentlassung zulässig ist. Jedoch verlangt die Richtlinie, dass der<br />

Arbeitgeber (a) die nicht in der Person der schwangeren Arbeitnehmerin liegenden Gründe schriftlich<br />

darlegt, aus denen er die Massenentlassung vornimmt (nämlich wirtschaftliche, technische oder sich auf<br />

Organisation oder Produktion des Unternehmens beziehende Gründe), und (b) der betroffenen<br />

Arbeitnehmerin die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer nennt.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 234/<strong>2018</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 371


Fach 1, Seite 66 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

Sozialrecht<br />

Jobcenter: Bereicherungsrechtlicher Anspruch gegen den Vermieter<br />

(BGH, Urt. v. 31.1.<strong>2018</strong> – VIII ZR 39/17) • Hat das Jobcenter das dem Wohnungsmieter zustehende<br />

Arbeitslosengeld II als Bedarf für Unterkunft und Heizung versehentlich auch noch nach der Beendigung<br />

des Mietverhältnisses im Wege der Direktzahlung nach § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II an den bisherigen<br />

Vermieter gezahlt, kann es von diesem – unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden (widerrufenen)<br />

Anweisung – unmittelbar die Herausgabe der ohne rechtlichen Grund erfolgten Zuvielzahlung im Wege<br />

der Nichtleistungskondiktion verlangen. Diesem Anspruch steht nicht der Grundsatz des Vorrangs der<br />

Leistungskondiktion entgegen, wenn dem Vermieter aufgrund der Beendigung des Mietverhältnisses<br />

mit den Mietern bekannt ist, dass ihm ein Anspruch auf Zahlung der Miete nicht zustand und damit eine<br />

Überzahlung vorlag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 235/<strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Pressefreiheit: Anspruch auf Gegendarstellung<br />

(BVerfG, Beschl. v. 7.2.<strong>2018</strong> – 1 BvR 442/15) • Wird auf dem Titelblatt einer Zeitung eine inhaltlich offene<br />

Frage aufgeworfen, so kann nicht allein aufgrund des Eindrucks, dass für die Frage irgendein Anlass<br />

bestehen müsse, von einer gegendarstellungsfähigen Tatsachenbehauptung ausgegangen werden.<br />

Fragen, die auf die Ermittlung von Wahrheit oder Unwahrheit gerichtet und offen für verschiedene<br />

Antworten sind, können keinen Gegendarstellungsanspruch auslösen. Hinweis: Mit dieser Begründung<br />

hat das Gericht der Verfassungsbeschwerde der zu einer Gegendarstellung verurteilten Verlegerin einer<br />

Wochenzeitschrift wegen Verstoßes gegen Art. 5 GG stattgegeben und die Sache an das zuständige<br />

OLG zurückverwiesen. Streitig war ein Titelblatt der Wochenzeitschrift, auf dem die Frage aufgeworfen<br />

wurde: „Sterbedrama um seinen besten Freund – Hätte er ihn damals retten können?“ Das BVerfG<br />

stellte klar, dass gegendarstellungsfähig nur Tatsachen sind, die die Presse zuvor behauptet hat.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 236/<strong>2018</strong><br />

Steuerrecht<br />

Klagerücknahme: Wirksamkeit<br />

(BFH, Beschl. v. 10.1.<strong>2018</strong> – I R 45/16) • Werden sowohl die Klage als auch die Revision zurückgenommen,<br />

ist regelmäßig anzunehmen, dass in erster Linie die Rücknahme der Klage als Prozesserklärung mit den<br />

weiterreichenden Folgen erklärt wurde. Von einem Vorrang der Klagerücknahme ist stets auszugehen,<br />

wenn die Revisionsrücknahme lediglich hilfsweise, etwa für den Fall der Unwirksamkeit der Klagerücknahme<br />

mangels Zustimmung des Beklagten, erklärt wird. Gibt der Beklagte zu einer Klagerücknahme<br />

innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des Klagerücknahmeschriftsatzes keine Widerspruchserklärung<br />

ab, dann gilt die Zustimmung zur Klagerücknahme als erteilt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 237/<strong>2018</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Gewaltanwendung durch Polizeikräfte: Effektivität der Ermittlungen<br />

(EGMR, Urt. v. 9.11.2017 – Individualbeschwerde-Nr. 47274/15) • Der Einsatz behelmter Beamter ohne<br />

individuelle Kennzeichnung und die daraus resultierende Unfähigkeit von Augenzeugen und Opfern, die<br />

Beamten, die eine Gewaltanwendung begangen haben sollen, zu identifizieren, ist geeignet, die<br />

Effektivität der Ermittlungen gegen diese Beamten von Anfang an zu behindern. Eine solche Sachlage<br />

erfordert bestimmte Ermittlungsanstrengungen seitens der Ermittlungsbehörden, um die Ursache der<br />

Verletzungen der Opfer, die Identitäten der verantwortlichen Personen sowie die Frage zu klären, ob<br />

Polizeibeamte Zwang anwendeten, und bejahendenfalls, ob dieser Zwang in einem angemessenen<br />

Verhältnis zu der Sicherheitslage stand, der sich die eingesetzten Einheiten gegenüber sahen. Hinweis:<br />

Im vorliegenden Fall bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 3 der Konvention (Verbot von Folter<br />

und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) wegen unzureichender nachträg-<br />

372 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 67<br />

licher Ermittlungen und sprach den Beschwerdeführern – alle während eines Polizeieinsatzes verletzte<br />

Besucher eines Fußballspiels in Deutschland – eine Entschädigung i.H.v. je 2.000 € zu. Auch wies der<br />

Gerichtshof darauf hin, dass der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher<br />

oder erniedrigender Behandlung oder Strafe Mitte 2017 in einem Bericht Zweifel daran geäußert hat, ob<br />

Ermittlungen, die in Deutschland von Ermittlern der zentralen Ermittlungsstellen gegen andere<br />

Polizeibeamte durchgeführt werden, tatsächlich als vollständig unabhängig und unparteiisch angesehen<br />

werden können. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 238/<strong>2018</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Verbot der Doppelbestrafung: Zulässige Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes<br />

(EuGH, Urt. v. 20.3.<strong>2018</strong> – C-524/15 u.a.) • Der Grundsatz ne bis in idem kann zum Schutz der finanziellen<br />

Interessen der Union und ihrer Finanzmärkte beschränkt werden. Eine solche Beschränkung darf aber<br />

nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele zwingend erforderlich ist. Hinweis: In<br />

Anwendung der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie und der EU-Finanzmarktrichtlinie kann es – etwa bei der<br />

Ahndung von Marktmanipulationen – zum Zusammentreffen strafrechtlicher und verwaltungsrechtlicher<br />

Sanktionen wegen derselben Tat kommen. Der EuGH will eine solche Kumulation zulassen,<br />

macht sie jedoch von Voraussetzungen abhängig. Unter anderem verlangt er, dass die potenziellen<br />

Straftäter anhand präzise formulierter Rechtsvorschriften voraussehen können müssen, dass es zu einer<br />

Kumulation von Strafen kommen kann, des Weiteren, dass die Verfahren untereinander koordiniert<br />

werden. Schließlich darf die Schwere aller verhängten Maßnahmen zusammengenommen nicht außer<br />

Verhältnis zur Tat stehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 239/<strong>2018</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Fachanwaltsbezeichnung: Widerruf bei Verletzung der Fortbildungspflicht<br />

(AGH NRW, Urt. v. 8.12.2017 – 1 AGH 41/17) • Ein Rechtsanwalt, der eine Fachanwaltsbezeichnung führt,<br />

muss kalenderjährlich auf diesem Gebiet mindestens 15 Zeitstunden Fortbildung absolvieren und dies<br />

der Rechtsanwaltskammer nachweisen. Die Fortbildungspflicht ist in jedem Kalenderjahr aufs Neue zu<br />

erfüllen. Nach Ablauf des jeweiligen Jahres steht fest, ob der Rechtsanwalt im erforderlichen Umfang<br />

Fortbildung betrieben hat. Ist ein Jahr verstrichen, kann sich der Rechtsanwalt in diesem Jahr nicht mehr<br />

fortbilden. Eine die Verletzung der Fortbildungspflicht rückwirkend heilende Nachholung der Fortbildung<br />

kommt deshalb nicht in Betracht. Vielmehr kann in einem solchen Fall die Rechtsanwaltskammer<br />

die Befugnis zum Führen der Fachanwaltsbezeichnung widerrufen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 240/<strong>2018</strong><br />

Verjährung: Anspruch auf Herausgabe anwaltlicher Handakten<br />

(LG Frankfurt/M., Urt. v. 1.3.<strong>2018</strong> – 25 O 125/17) • Der Anspruch des Auftraggebers auf Herausgabe<br />

anwaltlicher Handakten verjährt unabhängig von einer berufsrechtlichen Aufbewahrungspflicht nach<br />

§§ 195, 199 Abs. 1 BGB. Die Regelverjährung nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB findet auf den Herausgabeanspruch<br />

nach § 667 BGB Anwendung. Dies gilt auch für den auf §§ 675 Abs. 1, 667 BGB gestützten<br />

Anspruch auf Herausgabe der anwaltlichen Handakten. Dabei sind die §§ 195, 199 Abs. 1 BGB für den<br />

Anspruch eines Auftraggebers auf Herausgabe der anwaltlichen Handakte nicht dahingehend<br />

teleologisch zu reduzieren, dass Verjährung nicht vor Ablauf der in § 50 Abs. 1 S. 1 BRAO n.F. oder in<br />

§ 50 Abs. 2 S. 1 BRAO a.F. normierten Aufbewahrungsfrist eintritt. Die allgemeinen Vorschriften der<br />

§§ 195, 199 Abs. 1 BGB sind nicht um einen Ausnahmetatbestand im eben genannten Sinne zu ergänzen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 241/<strong>2018</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Rechtsanwaltsgebühren: Kostenerstattung von Gebühren und Auslagen<br />

(BGH, Beschl. v. 24.1.<strong>2018</strong> – VII ZB 60/17) • Nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO hat die unterliegende Partei die<br />

Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insb. die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 373


Fach 1, Seite 68 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig waren. Nach § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO sind die<br />

gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei in allen Prozessen zu<br />

erstatten. Die unterliegende Partei trifft keine prozessuale Kostenerstattungspflicht nach § 91 ZPO<br />

gegenüber der obsiegenden Partei bezüglich einer von dieser gem. § 3a RVG vereinbarten Vergütung,<br />

soweit diese die gesetzliche Vergütung übersteigt. Eine vom Rechtsanwalt im Einzelfall gezahlte Prämie<br />

für eine Anschlussdeckung zur Vermögensschadenshaftpflichtversicherung löst, soweit die Prämie auf<br />

Haftungsbeträge bis 30 Mio. € entfällt, keinen gesetzlichen Vergütungsanspruch aus.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 242/<strong>2018</strong><br />

Gerichtskostenvorschuss: Erledigungsfrist von einer Woche<br />

(BGH, Urt. v. 29.9.2017 – V ZR 103/16) • Eine Partei muss den angeforderten Gerichtskostenvorschuss<br />

innerhalb eines angemessenen Zeitraums einzahlen. Die Partei muss nicht zwingend an demselben Tag<br />

tätig werden, an dem bei ihr die Anforderung eingeht. Bei der Bemessung der Frist, innerhalb der die<br />

Zahlung zu erfolgen hat, ist zudem nicht nur auf den für die Überweisung durch die Bank erforderlichen<br />

Zeitraum abzustellen. Es ist vielmehr auch die Zeitspanne zu berücksichtigen, die die Partei im<br />

Normalfall benötigt, um für eine ausreichende Deckung des Kontos zu sorgen und die Überweisung zu<br />

veranlassen. Der Partei ist deshalb i.d.R. eine Erledigungsfrist von einer Woche zur Einzahlung des<br />

angeforderten Gerichtskostenvorschusses zuzugestehen. Die Frist kann sich nach Umständen des<br />

Einzelfalls angemessen verlängern, etwa wenn der Kostenvorschuss eine beträchtliche Höhe hat.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 243/<strong>2018</strong><br />

EU-Recht/IPR<br />

Menschenrechtskonvention: Nachteilige Veröffentlichungen in einer Online-Zeitung<br />

(EGMR, Urt. v. 19.10.2017 – Individualbeschwerde-Nr. 71233/13) • Ein Unterlassungsanspruch gegen einen<br />

Bericht über Korruptionsermittlungen kann nicht auf die Verletzung des Art. 8 der Europäischen<br />

Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Recht auf Achtung der Privatsphäre)<br />

gestützt werden, wenn der betreffende Zeitungsartikel auf hinreichend glaubhafte Quellen gestützt ist,<br />

der Verfasser seine journalistischen Pflichten und Verantwortlichkeiten erfüllt hat und ein anerkennenswertes<br />

Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung besteht. Hinweis: Die Beschwerde betraf die<br />

Veröffentlichung eines Zeitungsartikels auf der Website der New York Times. In dem Artikel wurde der<br />

deutsche Beschwerdeführer namentlich genannt; außerdem wurden ihm, gestützt auf Berichte des FBI<br />

und europäischer Strafverfolgungsbehörden, Verbindungen zur russischen organisierten Kriminalität<br />

unterstellt. Unterlassungsbegehren vor deutschen Gerichten hatten keinen Erfolg. Allerdings hatte der<br />

BGH zur Frage der Zulässigkeit festgestellt, dass ein geltend gemachter Unterlassungsanspruch gegen<br />

einen im Ausland erschienenen Artikel durchaus in die Zuständigkeit der deutschen Gerichte fallen kann,<br />

wenn die Online-Version der Zeitung von Deutschland aus abrufbar ist und die darin enthaltene<br />

Veröffentlichung angesichts der Erwähnung eines Deutschen einen direkten Bezug zu Deutschland hat.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 244/<strong>2018</strong><br />

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374 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 907<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Wohnraummietrecht<br />

– 2. Halbjahr 2017<br />

Von RiAG Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Mietvertragsabschluss<br />

1. Abgrenzung zu anderen Vertragstypen<br />

2. Ermittlung des Mietgegenstands<br />

III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />

1. Wirksamkeit der Regelung generell<br />

2. Regionale Unwirksamkeit<br />

3. Beginn der Mietpreisbegrenzung<br />

4. Ermittlung der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete<br />

5. Auswirkung von Modernisierungsmaßnahmen<br />

6. Rüge<br />

7. Auskunftsanspruch<br />

IV. Schriftform<br />

V. Rechtsnachfolge<br />

1. Identität zwischen Vermieter und<br />

Verkäufer<br />

2. Wirksamkeit der Übereignung<br />

VI. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />

VII. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />

1. Absonderungsrecht<br />

2. Rückzahlungsanspruch<br />

VIII. Betriebskosten<br />

IX. Gewährleistungsrechte<br />

X. Mieterhöhung<br />

1. Indexmiete<br />

2. Kostenmiete<br />

XI. Modernisierung<br />

XII. Kündigung<br />

1. Kündigungsausschluss gegenüber<br />

Vorkaufsberechtigtem<br />

2. Ordentliche Kündigung<br />

3. Außerordentliche Kündigung<br />

XIII. Nutzungsentschädigung<br />

XIV. Schadensersatzansprüche<br />

XV. Prozessrecht<br />

1. Zuständigkeit<br />

2. Verkündung einer Entscheidung<br />

3. Beweisaufnahme durch selbstständiges<br />

Beweisverfahren<br />

4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

5. Räumungsvollstreckung<br />

6. Beschwer<br />

7. Gebührenstreitwert<br />

I. Einleitung<br />

Seit der Bundestagswahl im September ist es sechs Monate zum Stillstand im Gesetzgebungsbetrieb<br />

gekommen. Wenn man die Wahlkampfzeit ab Frühsommer noch hinzurechnet, ist es fast ein Jahr. Dem<br />

Mietrecht hat es nicht geschadet. Die Gerichte arbeiten die letzten eher interessengesteuerten<br />

Reförmchen gerade ab. Die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete ist bei den Gerichten angekommen<br />

und dort häufig „durchgefallen“. Die neue alte Koalition hat einige „olle Kamellen“ aus der letzten<br />

Legislaturperiode im Mietrecht wieder aufgewärmt: Mietspiegel sollen dadurch besser werden, dass sie<br />

komplizierter werden, Modernisierungsmieterhöhungen teilweise erschwert und teilweise erleichtert<br />

werden. Interessant ist die Frage, ob wirklich signifikant in den Neubau investiert wird, was wohl den<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 375


Fach 4 R, Seite 9<strong>08</strong><br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

einzigen wirklichen Mieterschutz darstellen würde. Ansonsten werden die vorgesehenen Änderungen mit<br />

Sicherheit keine Wende in angespannten Märkten bringen.<br />

II.<br />

Mietvertragsabschluss<br />

1. Abgrenzung zu anderen Vertragstypen<br />

Üblicherweise erfolgt die Gebrauchsüberlassung von Wohnräumen gegen Zahlung eines Entgelts. Dann<br />

handelt es sich um einen Mietvertrag. Für welche Zeitabschnitte die Zahlung jeweils zu erbringen ist und<br />

ob sich diese auf Betriebskosten oder die reine Grundmiete beziehen muss, ist dabei völlig egal. In der<br />

Praxis werden die ungewöhnlichsten Entgeltabreden vorgetragen, wenn eine Zwangsversteigerung des<br />

Grundstücks stattgefunden hat. Zweifel sind hier angebracht und werden vom BGH durchaus gefordert.<br />

Bei einer nahezu unentgeltlichen Überlassung von Wohnraum zu Wohnzwecken ist die Unterscheidung<br />

zwischen einem Mietvertrag (§ 535 BGB), einem Leihvertrag (§ 598 BGB), einem schuldrechtlichen<br />

Nutzungsverhältnis sui generis (§ 241 BGB) oder einem bloßen Gefälligkeitsverhältnis im Einzelfall<br />

schwierig. Zur Abgrenzung der verschiedenen rechtlichen Möglichkeiten muss nach Anlass und Zweck<br />

der Gebrauchsüberlassung differenziert werden. Dabei darf auch das nachträgliche Verhalten der<br />

Vertragsparteien berücksichtigt werden. Zwar kann dies den objektiven Vertragsinhalt nicht mehr<br />

beeinflussen, es hat aber Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlichen Willens. Allein die Übernahme<br />

gelegentlicher Reparaturkosten spricht nicht für eine mietvertragliche Vereinbarung. Denn auch bei<br />

der Leihe hat der Entleiher gem. §§ 598, 601 Abs. 1 BGB regelmäßig die der Erhaltung der Sache<br />

dienenden Kosten, die den Gebrauch der Sache erst ermöglichen, zu tragen. Die Kosten sind nach dem<br />

Leitbild des Leihvertrags gerade von demjenigen zu tragen, dem der Gebrauch der Sache zusteht (BGH<br />

WuM 2017, 630 = NZM 2017, 729 = GE 2017, 1335 = NJW-RR 2017, 1479 = MDR <strong>2018</strong>, 83 = ZMR <strong>2018</strong>, 21 =<br />

MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 72 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 22/2017 Anm. 2;<br />

METTLER MietRB 2017, 346; BORZUTZKI-PASING jurisPR-MietR 1/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 1).<br />

2. Ermittlung des Mietgegenstands<br />

Regelmäßig wird der Mietgegenstand im – schriftlichen – Mietvertrag bezeichnet. Jedoch geht der<br />

übereinstimmende ggf. vom Wortlaut abweichende Parteiwillen dem Wortlaut einer Individualvereinbarung<br />

bei der Auslegung vor (BGH NZM 2017, 812 = MietPrax-AK § 536a BGB Nr. 13 m. Anm.<br />

EISENSCHMID). Das kann z.B. bei der Frage, ob Inventarteile und/oder Zubehör mitvermietet wurden,<br />

bedeutsam sein.<br />

III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />

Die letzte Koalition hat als wesentliche Änderung des Mietrechts die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />

(Mietpreisbremse) eingeführt (dazu EISENSCHMID <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1649; BÖRSTINGHAUS NJW<br />

2015, 1553). Die Regelungen sind politisch höchst umstritten und anerkanntermaßen auch nicht<br />

besonders praxistauglich und nur eingeschränkt effektiv. Die Länder NRW und Schleswig-Holstein<br />

wollen die Regelung in ihrem Bundesland jeweils aufheben. Inzwischen liegen die ersten Entscheidungen<br />

zur Wiedervermietungsmiete vor.<br />

1. Wirksamkeit der Regelung generell<br />

Ob der Gesetzgeber erstmals in der Bunderepublik überhaupt die Neuvertragsmiete beschränken<br />

durfte, ist die grundsätzliche Frage des neuen Rechts. Überwiegend haben die Gerichte hinsichtlich der<br />

Verfassungsmäßigkeit der neuen BGB-Vorschriften keine Bedenken (LG Berlin NZM 2017, 332; AG<br />

Frankfurt/M. WuM 2017, 593 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 1; AG Hamburg-St.<br />

Georg WuM 469 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 20/2017 Anm. 2; AG Neukölln NZM 2017, 31; WuM<br />

2017, 714). Neuerdings hat aber eine Kammer des LG Berlin solche Bedenken geäußert, ihr Verfahren<br />

ausgesetzt und einen Vorlagebeschluss an das BVerfG verkündet (LG Berlin GE <strong>2018</strong>, 125 = WuM <strong>2018</strong>,<br />

74 = NZM <strong>2018</strong>, 118). Begründet hat sie dies vor allem mit einem Verstoß gegen Art. 3 GG, weil die Grenze<br />

wegen der unterschiedlichen ortsüblichen Vergleichsmiete in Deutschland in jeder Stadt anders wäre<br />

(im Ergebnis ebenso, aber mit anderer Begründung: SCHULDT, Mietpreisbremse – Eine juristische und<br />

ökonomische Untersuchung der Preisregulierung für preisfreien Wohnraum, Diss. 2016).<br />

376 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 909<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Praxishinweis:<br />

Bis zur Entscheidung des BVerfG ist von der Wirksamkeit der Regelung auszugehen!<br />

2. Regionale Unwirksamkeit<br />

Die Mietpreisbremse gilt nicht bundesweit, sondern nur in den Gemeinden, die von der jeweiligen<br />

Landesregierung in eine entsprechende Verordnung aufgenommen wurden (eine Liste aller Gemeinden<br />

befindet sich bei BÖRSTINGHAUS, in: SCHMIDT-FUTTERER, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 556d Rn 44a). Die<br />

Ermächtigungsgrundlage in § 556d Abs. 2 BGB setzt zwingend voraus, dass diese Landesverordnung<br />

(LandesVO) begründet werden muss. Dazu müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich<br />

ergibt, warum eine Gemeinde aufgenommen wurde. Mit dieser Tatbestandsvoraussetzung sind die<br />

Länder sehr unterschiedlich umgegangen. Einige Gerichte haben deshalb die maßgebliche LandesVO für<br />

unwirksam erklärt:<br />

a) Bayern<br />

Nachdem zunächst eine Abteilung des AG München (ZMR 2017, 655 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR<br />

14/2017 Anm. 4; KÜHLING/DRECHSLER ZfIR 2017, 619) wegen einer fehlenden ausreichenden Begründung die<br />

bayerische MietpreisbremsenVO für unwirksam erklärt hat, hat dies das LG München I nunmehr<br />

bestätigt (NJW <strong>2018</strong>, 407 = NZM <strong>2018</strong>, 83 = WuM <strong>2018</strong>, 32 = ZMR <strong>2018</strong>, 48). Zwar lag zum Zeitpunkt der<br />

Berufungsentscheidung nunmehr eine veröffentlichte Verordnungsbegründung vor, diese konnte aber<br />

zumindest keine rückwirkende Heilung des ursprünglichen Mangels herbeiführen.<br />

Hinweis:<br />

Offen ist in Bayern, ob die Mietpreisbremse ab 24.7.2017 gilt. Zu diesem Termin wurde die Begründung<br />

nachträglich veröffentlicht. Ebenso problematisch ist, wie lange die Verordnung dann laufen darf. Erlaubt<br />

sind maximal fünf Jahre. Diesen Zeitraum hatte der bayerische Verordnungsgeber ursprünglich mit einer<br />

Laufzeit vom 1.8.2015 bis zum 31.7.2020 voll ausgenutzt. Wenn man von einem Inkrafttreten am 24.7.2017<br />

ausginge, wäre zumindest eine Verlängerung bis 23.7.2022 zulässig.<br />

b) Berlin<br />

Während das LG Berlin bisher an der LandesVO nichts auszusetzen hatte, hat das AG Pankow (GE 2017,<br />

1559) nunmehr die Berliner Verordnung deshalb für unwirksam erklärt, weil sie nicht nach Stadtteilen<br />

differenziert und stattdessen ganz Berlin undifferenziert zum angespannten Wohnungsmarkt erklärt.<br />

Diese Auffassung des AG wird durch eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) bestätigt, wonach allenfalls in den Innenstadtlagen von einem angespannten Wohnungsmarkt<br />

ausgegangen werden kann (DIW Wochenbericht 7/<strong>2018</strong>, 1<strong>08</strong>).<br />

c) Hamburg<br />

In Hamburg hat das AG Hamburg-Altona in zwei Urteilen (ZMR 2017, 649; NJW-Spezial 2017, 738) die<br />

örtliche Verordnung für unwirksam erklärt. Zunächst habe keine ausreichende Begründung vorgelegen<br />

und dann habe die später veröffentlichte Begründung den Mangel nicht nachträglich heilen können. Das<br />

AG Hamburg-St. Georg (WuM 2017, 469 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 20/2017 Anm. 2) geht<br />

demgegenüber von einer nachträglichen Heilung aus.<br />

d) Hessen<br />

Etwas unübersichtlich ist die Lage in Hessen: Das Ministerium weigerte sich in der Vergangenheit<br />

hartnäckig, auch auf mehrfache Nachfrage, eine Begründung zu veröffentlichen. Das AG Frankfurt/M.<br />

(WuM 2017, 593 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 1) hatte aber wohl einen geheimen<br />

Verordnungsentwurf und die LandesVO deshalb für wirksam erachtet. So geht es natürlich nicht. Das<br />

hat dann auch das Ministerium eingesehen und im Internet eine 11-seitige Begründung veröffentlicht.<br />

Allerdings ohne offenzulegen, wann das geschehen ist. Das LG Frankfurt/M. hat dieses Spiel nicht<br />

mitgemacht und nun auch für Hessen die MietpreisbremseVO gekippt (Urt. v. 27.3.<strong>2018</strong> – 2-11 S 183/17).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 377


Fach 4 R, Seite 910<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

3. Beginn der Mietpreisbegrenzung<br />

Nach der maßgeblichen Überleitungsvorschrift im EGBGB gilt die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />

nur für Mietverträge, die nach Inkrafttreten der regionalen Landesverordnung abgeschlossen<br />

wurden. Das bedeutet, es kommt ausschließlich auf den Mietvertragsabschluss und nicht auf den<br />

Mietvertragsbeginn an (AG Charlottenburg, Urt. v. 31.8.2017 – 203 C 232/17 m. Anm. BÖRSTINGHAUS<br />

jurisPR-MietR 21/2017 Anm. 3).<br />

4. Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete<br />

Wenn man von der Wirksamkeit der Regelungen ausgeht, dann darf der Vermieter nach dem<br />

Grundtatbestand des § 556d Abs. 1 BGB nur eine Miete verlangen, die 110 % der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete beträgt. Die Ermittlung ist im Einzelfall schwierig. Qualifizierte Mietspiegel dürfen<br />

zur Ermittlung herangezogen werden (AG Frankfurt/M. WuM 2017, 593 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-<br />

MietR 23/2017 Anm. 1; AG Hamburg-St. Georg WuM 2017, 469 m. Anm. BÖRSTINGHAUS MietRB 2017, 284).<br />

Die Vermutungswirkung gilt ferner für die Ermittlung der maximalen Wiedervermietungsmiete gem.<br />

§ 556d Abs. 1 BGB (BÖRSTINGHAUS, in: SCHMIDT-FUTTERER, a.a.O., § 556c–d Rn 92).<br />

Hinweis:<br />

Ist strittig – wie in Berlin –, ob der Mietspiegel qualifiziert ist oder nicht, kann er zumindest als einfacher<br />

Mietspiegel verwendet werden (LG Berlin GE <strong>2018</strong>, 125 = WuM <strong>2018</strong>, 74 = NZM <strong>2018</strong>, 118; NZM 2017, 332; AG<br />

Neukölln WuM 2017, 714; AG Neukölln, Urt. v. 11.10.2017 – 20 C 19/17).<br />

5. Auswirkung von Modernisierungsmaßnahmen<br />

Nach § 556e Abs. 2 BGB erhöht sich die zulässige Weitervermietungsmiete bei Modernisierungsmaßnahmen,<br />

die der Vermieter in den letzten drei Jahren vor Abschluss des Mietvertrags hat<br />

ausführen lassen, um den Betrag, den der Vermieter bei einer Mieterhöhung gem. §§ 559 ff. BGB<br />

aufgrund der Maßnahme hätte ansetzen dürfen. Dieser Betrag ist zur ortsüblichen Vergleichsmiete für<br />

die unmodernisierte Wohnung hinzuzurechnen.<br />

Hinweis:<br />

Problematisch ist in diesen Fällen die Darlegungslast. Nach Ansicht des AG Charlottenburg (GE 2017, 1415)<br />

muss der Vermieter in diesen Fällen substantiiert darlegen, in welchem energetischen Erhaltungszustand<br />

und sonstigen Zustand sich das Gebäude vor der Modernisierungsmaßnahme befunden hatte und worin<br />

die Verbesserung zu sehen ist.<br />

Bei einer sog. umfassenden Modernisierung gilt die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete bei der<br />

ersten anschließenden Vermietung gar nicht. Nach der Gesetzesbegründung soll sich die Frage, wann<br />

eine Modernisierung umfassend ist, nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 WoFG richten. Deshalb wird ein Bauaufwand<br />

verlangt, der ca. 1/3 von Neubaukosten beträgt. Das AG Schöneberg (ZMR 2017, 990 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 25/2017 Anm. 1) geht von Neubaukosten von ca. 1.500 €/qm in Berlin aus,<br />

so dass bereits bei Aufwendungen von 500 €/qm die Ausnahme zum Zuge käme.<br />

6. Rüge<br />

Der Bundesgesetzgeber wollte bei der Mietpreisbremse den privaten Vermieter vor überraschenden<br />

Rückzahlungsansprüchen für längere Zeiten in der Vergangenheit schützen, da die genaue Höhe der<br />

zulässigen Miete nur schwer zu ermitteln ist. Deshalb hat er das Rügeerfordernis eingeführt. Der Mieter<br />

kann nur dann bereits gezahlte, aber vermeintlich zu hohe Mieten zurückverlangen, wenn er die<br />

Miethöhe beim Vermieter vorher qualifiziert gerügt hat. Nach Ansicht des AG Neukölln (NZM 2017, 31)<br />

erfüllt eine Rüge dann die gesetzlichen Voraussetzungen, wenn der Mieter sich darin auf ihm bekannte<br />

Umstände sowie den Mietspiegel beruft. Dabei kann von ihm nicht mehr als eine Einordnung seiner<br />

Wohnung in die Felder des Mietspiegels verlangt werden.<br />

378 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 911<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Praxishinweise:<br />

• Die Rüge ist immer dann erforderlich, wenn der Mieter die Miete bereits gezahlt hat, also z.B. auch bei<br />

einer Aufrechnung des Rückzahlungsanspruchs gegenüber Vermieteransprüchen.<br />

• Keine Rüge ist erforderlich, wenn der Mieter die Miete – teilweise – nicht gezahlt hat und der Vermieter<br />

diesen Anspruch einklagt. In diesem Fall kann der Vermieter sich gegenüber dem Zahlungs- und ggf.<br />

auch Räumungsanspruch unter Berufung auf eine Teilunwirksamkeit der Mietpreisabrede gem. § 556g<br />

Abs. 1 BGB verteidigen.<br />

• Beachtet werden muss dabei aber, dass das Mietverhältnis in diesem Fall auch schon bei einem<br />

geringeren Rückstand gekündigt werden kann, da dieser nur mehr als eine Monatsmiete bei zwei aufeinanderfolgenden<br />

Monaten bzw. ansonsten zwei Monatsmieten der preisrechtlich zulässigen Miete<br />

betragen muss.<br />

7. Auskunftsanspruch<br />

Da der Mieter unter Umständen die für die Beurteilung einer Mietpreiswidrigkeit und einer<br />

entsprechenden Rüge erforderlichen Tatsachen nicht kennt, hat ihm der Gesetzgeber in § 556g Abs. 3<br />

BGB einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Vermieter eingeräumt. Dieser Anspruch bezieht sich<br />

auch auf die Ausnahmetatbestände, also z.B. auch auf die bisherige Vormiete gem. § 556e Abs. 1 BGB.<br />

Der Vermieter schuldet nur die Angabe der Höhe dieser Miete. Die Auskunft ist nämlich eine reine<br />

Wissenserklärung. Ein Anspruch auf Vorlage von Belegen, insbesondere einer Kopie des Vormietvertrags,<br />

egal ob geschwärzt oder nicht, steht dem Mieter nach ganz herrschender Auffassung nicht zu.<br />

Der Auskunftsanspruch ist deshalb nach Ansicht des AG Charlottenburg (Urt. v. 31.8.2017 – 203 C 232/17<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 21/2017 Anm. 3) durch Erfüllung erloschen, wenn der Vermieter<br />

dem Mieter das Datum des Vertragsschlusses mit dem Vormieter und die Höhe der Miete mitgeteilt hat.<br />

IV. Schriftform<br />

Ursprünglich diente das Schriftformerfordernis nur dem Erwerberschutz. Der in den Mietvertrag gem. § 566<br />

BGB eintretende Erwerber sollte sich über alle Abreden, in die er eintrat, informieren können. Inzwischen<br />

hat der BGH und hier insbesondere der XII. Senat aber auch weitere Schutzzwecke, insbesondere über die<br />

Warn- und Beweisfunktion, für die jeweiligen Vertragspartner anerkannt. Da der Wirksamkeit einer<br />

Befristung gerade in der Gewerberaummiete eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zukommt, versuchen die<br />

Vertragspartner schon seit Jahren, eventuellen Schriftformmängeln nicht sofort die Kündbarkeit folgen zu<br />

lassen. Dazu wurden in der Vergangenheit meist Schriftformheilungsklauseln wie<br />

„Die Parteien verpflichten sich gegenseitig, (…) jederzeit alle Handlungen vorzunehmen und Erklärungen<br />

abzugeben, die erforderlich sind, um dem gesetzlichen Schriftformerfordernis gem. § 550 BGB, insbesondere im<br />

Zusammenhang mit dem Abschluss dieses Nachtrags sowie weiteren Nachträgen, Genüge zu tun, und bis dahin<br />

den Mietvertrag nicht unter Berufung auf die Nichteinhaltung der Schriftform vorzeitig zu kündigen.“<br />

oder Ähnliches vereinbart. Bereits in der Vergangenheit hatte der XII. Senat entschieden, dass eine<br />

solche Klausel mit § 550 BGB insofern nicht vereinbar ist, als sie einen Erwerber (BGHZ 200, 98 = NJW<br />

2014, 1<strong>08</strong>7 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 36 m. Anm. EISENSCHMID; DITTERT jurisPR-MietR 9/2014 Anm. 4;<br />

STREYL NZM 2015, 28; EMMERICH JuS 2014, 239) oder einen in den Mietvertrag eintretenden Nießbrauchsberechtigten<br />

(BGH NJW 2014, 2102 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 38 m. Anm. EISENSCHMID; BIEBER GE 2014,<br />

842; SCHMID MietRB 2014, 231; LAMMEL jurisPR-MietR 16/2014 Anm. 3; STREYL NZM 2015, 28; EL-ISHMAWI BB<br />

2014, 1806) aufgrund dieser Klausel verpflichten könnte, von einer ordentlichen Kündigung wegen eines<br />

nicht aus seiner Vertragszeit stammenden Schriftformmangels Abstand zu nehmen. Damals war jeweils<br />

offengeblieben, ob eine solche Schriftformheilungsklausel auch die ursprünglichen Vertragspartner an<br />

einer Kündigung gem. § 550 BGB hindert.<br />

Das hat der Senat in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung jetzt aber auch so für die ursprünglichen<br />

Vertragspartner so gesehen. Schriftformheilungsklauseln sind mit der nicht abdingbaren Vorschrift des<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 379


Fach 4 R, Seite 912<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

§ 550 BGB unvereinbar und daher unwirksam. Sie können deshalb für sich genommen eine<br />

Vertragspartei nicht daran hindern, einen Mietvertrag unter Berufung auf einen Schriftformmangel<br />

ordentlich zu kündigen (BGH MDR 2017, 1351 = GE 2017, 1397 = NJW 2017, 3772 = ZfIR <strong>2018</strong>, 10 = NZM <strong>2018</strong>,<br />

38 = ZMR <strong>2018</strong>, 30 = DWW <strong>2018</strong>, 14 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 44 m. Anm. EISENSCHMID;SOMMER MietRB<br />

2017, 341/342; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 23/2017 Anm. 1; BIEBER GE 2017, 1377; JANSSEN BB 2017, 2766;<br />

MUMMENHOFF jurisPR-MietR 2/<strong>2018</strong> Anm. 5; BURBULLA MDR <strong>2018</strong>, 68; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 34; EINSELE<br />

LMK <strong>2018</strong>, 401890). Mit der Frage, wie nun weiter zu verfahren ist, beschäftigen sich LINDNER-FIGURA/<br />

REUTER (NJW <strong>2018</strong>, 897).<br />

Hinweis:<br />

Unabhängig von der Vereinbarung einer Schriftformheilungsklausel kann es gegen Treu und Glauben verstoßen,<br />

wenn eine Mietvertragspartei eine nachträglich getroffene Abrede, die lediglich ihr vorteilhaft ist,<br />

allein deshalb, weil sie nicht die schriftliche Form wahrt, zum Anlass nimmt, sich von einem ihr inzwischen<br />

lästig gewordenen langfristigen Mietvertrag zu lösen.<br />

V. Rechtsnachfolge<br />

1. Identität zwischen Vermieter und Verkäufer<br />

Verträge werden grundsätzlich zwischen zwei oder mehr Personen geschlossen und entwickeln nur<br />

relative Rechte zwischen diesen Personen. So wäre es eigentlich auch im Mietrecht mit der Folge, dass<br />

ein Eigentumswechsel auf Vermieterseite zwar nicht das Mietverhältnis zwischen Mieter und<br />

veräußerndem Vermieter beeinflussen würde, aber dem Mieter auch keine Rechte, insbesondere<br />

keine Besitzrechte gegen den Erwerber geben würde. Dieser Grundsatz „Kauf bricht Miete“ entsprach<br />

bis Ende des vorletzten Jahrhunderts dem geltenden Recht. Erst während der Beratung über das BGB<br />

haben sich Auffassungen durchgesetzt, die eine Verdinglichung der Miete forderten. Der 19. Deutsche<br />

Juristentag (djt) 1888 empfahl, in das Bürgerliche Gesetzbuch für den Fall der freiwilligen Übereignung<br />

einer Sache, die dem Mieter oder Pächter bereits vorher überlassen war, den Grundsatz „Kauf bricht<br />

nicht Miete“ aufzunehmen. Nationale, sozialpolitische, wirtschaftliche wie auch juristische Gründe<br />

sprachen für diese Entscheidung. Durch diesen Paradigmenwechsel sollte das BGB mit einem „Tropfen<br />

socialpolitischen Öls“ gesalbt werden (so H. BRUNNER als Berichterstatter des 19. djt am 13.9.1888 zit.<br />

nach HATTENHAUER, Verdinglichung der Miete – Bricht Miete Kauf?, in: GS für SONNENSCHEIN, 2003, S. 153,<br />

177). So kam § 571 BGB a.F. ins BGB und führte eine Quasi-Verdinglichung der Miete ein. Die<br />

Nachfolgeregelung in § 566 BGB gilt gem. § 578 Abs. 1 BGB ebenso für die Grundstücksmiete, gem.<br />

§ 578 Abs. 2 BGB für die Gewerberaummiete, gem. § 581 Abs. 2 BGB für die Landpacht, gem. § 14<br />

BJagdG für die Jagdpacht und nach Art. 69 EGBGB und den maßgeblichen Landesgesetzen für die<br />

Fischereipacht. Gemäß § 57 ZVG ist die Vorschrift auch in Fällen der Zwangsversteigerung anwendbar.<br />

Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist Voraussetzung für die Rechtsfolge, dass „der Vermieter<br />

veräußert“. Dies wird als Identität bezeichnet. Seit Jahrzehnten war strittig, ob die Vorschrift auch gilt<br />

oder zumindest analog anzuwenden ist, wenn es an dieser Identität fehlt. Der für die Gewerberaummiete<br />

zuständige XII. Senat des BGH hat diese Frage nun für eine in der Praxis besonders häufig<br />

vorkommende Fallkonstellation entschieden. Nach seiner Auffassung ist – bei fehlender Identität<br />

zwischen Vermieter und Veräußerer – § 566 Abs. 1 BGB zwar nicht unmittelbar, aber zumindest<br />

entsprechend anwendbar, wenn die Vermietung des veräußerten Grundstücks mit Zustimmung und im<br />

alleinigen wirtschaftlichen Interesse des Eigentümers erfolgt und der Vermieter kein eigenes Interesse<br />

am Fortbestand des Mietverhältnisses hat (BGH GE 2017, 1<strong>08</strong>6 = MDR 2017, 1234 = ZMR 2017, 968 =<br />

ZfIR 2017, 729 = MietPrax-AK § 566 BGB Nr. 18 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. LMK 2017, 394782; DERS.<br />

jurisPR-BGHZivilR 18/2017 Anm. 2; BURBULLA MietRB 2017, 285; LAMMEL jurisPR-MietR 20/2017 Anm. 3;<br />

DRASDO NJW-Spezial 2017, 610).<br />

380 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 913<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Praxishinweise:<br />

• Die Entscheidung ist zur Gewerberaummiete ergangen. Sie dürfte aber uneingeschränkt auf die<br />

Wohnraummiete übertragbar sein.<br />

• In der Wohnraummiete erfolgt die Vermietung manchmal durch die beauftragte Hausverwaltung oder<br />

durch einen Ehegatten. Auch diese Verträge gehen analog § 566 BGB auf den Erwerber über.<br />

• Dies gilt aber nur für den Mietvertrag. Alle im Zusammenhang mit der Verwaltung der Immobilie<br />

stehenden Verträge, wie z.B. der Hausverwalter- oder Hausmeistervertrag oder Verträge mit Gärtnern<br />

oder Heizkostenabrechnern, gehen nicht über. Hier müssen jeweils Kündigungen oder Vertragsübernahmen<br />

erfolgen.<br />

2. Wirksamkeit der Übereignung<br />

Der Übergang des Mietvertrags setzt gem. § 566 BGB voraus, dass der Erwerber auch wirklich<br />

Eigentümer des Grundstücks geworden ist. Das bedeutet, dass es für die Auflassung des Grundstücks<br />

und damit für den für § 566 BGB erforderlichen Eigentumsübergang darauf ankommt, ob der frühere<br />

Eigentümer zu diesem Zeitpunkt geschäftsfähig war (BGH ZfIR 2017, 852 = MietPrax-AK § 566 BGB<br />

Nr. 19 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

VI. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />

Kinderwagen im Treppenhaus und auf Freiflächen parkende Autos sind immer wieder Quell unangenehmer<br />

Auseinandersetzungen zwischen Mitbewohnern oder Vertragsparteien (dazu instruktiv<br />

FLATOW NZM 2007, 432). Besonders schwierig ist die Situation im Verhältnis von Wohnungseigentümern<br />

zu den Mietern anderer Eigentümer (dazu DÖTSCH WuM 2017, 493). Mit einem solchen<br />

Fall musste sich das AG Dortmund (WuM <strong>2018</strong>, 55) beschäftigen: Dort hatten die Mieter einen<br />

Kinderwagen im Bereich des Treppenhauses, der zur Kellertreppe führte, abgestellt und einen Kleinlaster<br />

vor der von ihnen angemieteten Garage. Das Gericht hat die Unterlassungsklage abgewiesen.<br />

Vertragliche Ansprüche bestanden zwischen den Parteien nicht. Auch ein Abwehranspruch aus § 15<br />

Abs. 3 WEG schied aus. Es ging nicht um die Nutzung von im Sondereigentum stehenden Gebäudeteilen.<br />

Außerdem gilt § 15 Abs. 3 WEG als ein spezieller schuldrechtlicher Anspruch aus der Binnenbeziehung<br />

der Wohnungseigentümer nur für Ansprüche im Innenverhältnis, also gegenüber anderen Wohnungseigentümern<br />

(DÖTSCH WuM 2017, 493). In Betracht kamen deshalb ausschließlich Ansprüche gem. § 1004<br />

Abs. 1 BGB. Dies hätte vorausgesetzt, dass die anderen Wohnungseigentümer in ihren absoluten<br />

Rechten aus § 903 BGB, § 13 WEG, Art. 14 GG beeinträchtigt wurden (BGH NJW 1996, 714). Eine solche<br />

Eigentumsbeeinträchtigung lag aber durch das Abstellen des Kinderwagens im Bereich des Zugangs<br />

zur Treppe zum Keller gerade nicht vor. Was die Nutzung des Treppenhauses angeht, muss man<br />

zwischen den primären, den sekundären und den tertiären Nutzungsrechten daran unterscheiden<br />

(s. FLATOW a.a.O.). Bei der Nutzung des Treppenhauses durch das Abstellen eines Kinderwagens handelt<br />

es sich nicht um die primäre Nutzung des Treppenhauses als Zuweg zur Wohnung, sondern um eine<br />

sekundäre Nutzung, die für das Wohnen zwar nicht unabdingbar erforderlich ist, der aber nach einer<br />

grundrechtsbezogenen Wertung eine besonders geschützte Stellung zukommt. Hier greift nämlich der<br />

Grundrechtsschutz der Familie gem. Art. 6 GG ein (AG Winsen/Luhe NZM 2000, 237). Auch ein Anspruch<br />

auf Unterlassung des Abstellens des Kraftfahrzeugs auf der Gemeinschaftsfläche vor der Garage der<br />

Beklagten bestand wegen der Besonderheiten der Örtlichkeiten nicht.<br />

VII. Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />

1. Absonderungsrecht<br />

Die gesetzlich vorgesehene Mietsicherheit ist das Vermieterpfandrecht. Das Vermieterpfandrecht führt<br />

in der Mieterinsolvenz zu einem Absonderungsrecht. Voraussetzung hierfür sind das Bestehen eines<br />

Mietvertrags sowie der Pfändung unterliegende Gegenstände, die in die Mietsache eingebracht wurden.<br />

Bei einem Pkw kann dies in zweifacher Hinsicht problematisch sein: Zum einen können Pkw in<br />

Ausnahmefällen unpfändbar sein. Gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sind bei Personen, die aus ihrer<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 381


Fach 4 R, Seite 914<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

körperlichen oder geistigen Arbeit oder sonstigen persönlichen Leistungen ihren Erwerb ziehen, die zur<br />

Fortsetzung dieser Erwerbstätigkeit erforderlichen Gegenstände nicht der Pfändung unterworfen. Dazu<br />

kann auch ein Pkw zählen. Dieser Pfändungsschutz bezieht sich jedoch grundsätzlich nur auf persönlich<br />

zu erbringende Arbeitsleistungen, nicht hingegen auf den durch eine Kapitalgesellschaft unter Einsatz<br />

von Erwerbsgehilfen zu erzielenden Gewinn. Umstritten ist, ob dies entsprechend bei der GmbH zu<br />

gelten hat, wenn der Gesellschaftergeschäftsführer seinen Unterhalt überwiegend aus eigener Arbeit<br />

für die GmbH bezieht. Bei reinen Geschäftsfahrzeugen, wie z.B. Lieferfahrzeugen o.Ä., gilt dies aber auf<br />

keinen Fall. Hier kommt es dann darauf an, ob diese regelmäßig auf dem gemieteten Geschäftsgrundstück<br />

abgestellt werden. Eingebracht sind nämlich alle Sachen, die während der Mietzeit willentlich und<br />

wissentlich in die Mieträume oder auf das Mietgrundstück verbracht werden. Ein Kraftfahrzeug, das auf<br />

dem vermieteten Grundstück geparkt wird, ist dementsprechend eingebracht. Denn seine regelmäßige<br />

vorübergehende Einstellung gehört zum bestimmungsgemäßen Gebrauch der Mietsache. Werden<br />

die Lieferfahrzeuge nachts auf dem Betriebsgrundstück bestimmungsgemäß abgestellt, sind sie<br />

eingebracht. Entscheidend für die Frage, ob ein Absonderungsrecht des Vermieters wegen der vor<br />

der Insolvenzeröffnung entstandenen Mietforderungen bestand, weil das Vermieterpfandrecht insolvenzfest<br />

war, ist die Frage, ob sich die Fahrzeuge im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung auf dem<br />

Betriebsgelände befanden. Wären sie hingegen im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung vom Grundstück<br />

entfernt gewesen und erst nach der Insolvenzeröffnung wieder eingebracht worden, führte das dadurch<br />

neu entstandene Vermieterpfandrecht nur zur Sicherung von Masseschulden des Mieters aus dem nach<br />

der Insolvenzeröffnung fortbestehenden Mietverhältnis (BGH GE <strong>2018</strong>, 253 = DWW <strong>2018</strong>, 52 = MDR<br />

<strong>2018</strong>, 266 = MietPrax-AK § 562 BGB Nr. 5 m. Anm. EISENSCHMID; LAMMEL jurisPR-MietR 4/<strong>2018</strong> Anm. 4).<br />

2. Rückzahlungsanspruch<br />

Zu den umstrittensten Fragen im Bereich der Schnittmenge zwischen Miet- und Insolvenzrecht gehört<br />

die Frage, wem der Rückzahlungsanspruch hinsichtlich der Mietsicherheit in der Mieterinsolvenz<br />

zusteht, wenn der Insolvenzverwalter die Wohnung freigegeben hat, § 109 InsO. Die Regelungen in der<br />

Insolvenzordnung sind da nicht so eindeutig. Der Gesetzgeber hatte die Freigabe- oder Enthaftungserklärung<br />

eingeführt, um dem Mieter im Fall der Insolvenz die Wohnung zu erhalten. Es gab damals<br />

nicht wenige Fälle, in denen der Insolvenzverwalter das Mietverhältnis nur deshalb gekündigt hat, um<br />

die Mietsicherheit zur Masse ausgezahlt zu bekommen. Unklar war seit der Neuregelung, ob der<br />

Gesetzgeber mit Schaffung des Rechtsinstituts der Freigabeerklärung die Mietsicherheit nunmehr aus<br />

der Massezugehörigkeit gelöst hatte, so dass diese an den Mieter ausgezahlt werden konnte. Der<br />

Insolvenzsenat des BGH (WuM 2017, 296 = ZInsO 2017, 875 = WM 2017, 872 = ZIP 2017, 884 = GE 2017,<br />

587 = NJW 2017, 1747 = NZM 2017, 437 = DWW 2017, 180 = MietPrax-AK § 109 InsO Nr. 7 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 10/2017 Anm. 1; BÖRSTINGHAUS NJW 2017, 1748; FLATOW NZM<br />

2017, 438; DRASDO NJW-Spezial 2017, 386) hatte im Nachtragsverteilungsverfahren entschieden, dass die<br />

Kaution in diesem Fall dem Mieter und nicht dem Insolvenzverwalter zusteht. Diese Rechtsauffassung<br />

hat der IX. Senat noch einmal bestätigt (BGH ZInsO 2017, 1726 = MietPrax-AK § 109 InsO Nr. 8 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS; WOZNIAK jurisPR-InsR 17/2017 Anm. 1).<br />

Hinweis:<br />

Aber auch nach Ansicht des Insolvenzsenats gehört dieser Streit originär vor das Prozessgericht, also zum<br />

VIII. Senat (BGH NZM 2016, 519 = NJW-RR 2016, 907 = NZI 2016, 607 = ZIP 2016, 988 = ZinsO 2016, 985 =<br />

MietPrax-AK § 35 InsO Nr. 2 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; FLATOW NZM 2016, 520). Auch wenn das Risiko gering<br />

erscheint, ist die Frage wohl erst abschließend geklärt, wenn der Wohnraummietsenat zu dieser Frage<br />

entschieden hat.<br />

VIII. Betriebskosten<br />

Der VIII. Senat des BGH stellt bekanntlich nur sehr geringe Anforderungen an Formalien. Für die<br />

formelle Ordnungsgemäßheit einer Betriebskostenabrechnung soll es deshalb allein entscheidend sein,<br />

ob es die darin gemachten Angaben dem Mieter ermöglichen, die zur Verteilung anstehenden<br />

382 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 915<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Kostenpositionen zu erkennen und den auf ihn entfallenden Anteil an diesen Kosten gedanklich und<br />

rechnerisch nachzuprüfen. Notwendig, aber auch ausreichend ist es, dass der Mieter die ihm<br />

angelasteten Kosten bereits aus der Abrechnung klar ersehen und überprüfen kann, so dass die<br />

Einsichtnahme in dafür vorgesehene Belege nur noch zur Kontrolle und zur Beseitigung von Zweifeln<br />

erforderlich ist (BGH WuM 2017, 529 = GE 2017, 1014 = MDR 2017, 1116 = NZM 2017, 732 = ZMR 2017, 875 =<br />

MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 127 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 17/2017 Anm. 2;<br />

DRASDO NJW-Spezial 2017, 577; HARSCH MietRB 2017, 309; BEYER WuM 2017, 697).<br />

IX. Gewährleistungsrechte<br />

„Kinderlärm ist Zukunftsmusik“, heißt es immer. Deshalb wird Kinderlärm in der Rechtsprechung zu Recht<br />

großzügiger behandelt als sonstige Lärmquellen (OLG Düsseldorf WuM 1997, 221; LG Heidelberg WuM<br />

1997, 38; AG Starnberg WuM 1992, 471; AG Kassel WuM 1991, 558; LG München I WuM 1987, 121).<br />

Grundsätzlich können aber auch Lärmbelästigungen durch Kinder einen Mangel der Mietsache darstellen.<br />

Allerdings müssen Geräusche, die naturgemäß dem Bewegungs- und Spieldrang von kleinen Kindern<br />

entsprechen, von den übrigen Mietern eines Mehrfamilienhauses als vertragsgemäßer Gebrauch hingenommen<br />

werden (AG Braunschweig WuM 2002, 50). Selbst häufige und über das übliche Maß hinausgehende<br />

Lauf- und Spielgeräusche müssen regelmäßig als sozialadäquat hingenommen werden. Das<br />

Spielen von Kindern auf dem Hof – außerhalb der Ruhezeiten – muss von den übrigen Bewohnern des<br />

Hauses ebenso hingenommen werden, solange sich das Spielen in einem sozialadäquaten Rahmen hält<br />

wie das Spielen von Kindern der Hausbewohner auch mit Freunden auf den Grünflächen. Aber wie der<br />

BGH jetzt festgestellt hat, hat auch die zu fordernde Toleranz ihre Grenzen. Die ist dann überschritten,<br />

wenn die Geräuschemissionen jedes noch irgendwie hinzunehmende Maß überschritten haben (BGH<br />

MDR 2017, 1175 = GE 2017, 1153 = WuM 2017, 587 = NZM 2017, 694 = DWW 2017, 371 = NJW-RR 2017, 1290 =<br />

ZMR <strong>2018</strong>, 19 = MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 55 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 19/2017<br />

Anm. 1; BEYER WuM 2017, 694; SELK NZM 2017, 697; DRASDO NJW-Sezial 2017, 705; PFEIFER MietRB 2017, 346).<br />

Hinweis:<br />

Der Senat hat auch Ausführungen zur Darlegungs- und Beweislast gemacht:<br />

• Bei wiederkehrenden Beeinträchtigungen durch Lärm bedarf es nicht der Vorlage eines detaillierten<br />

Lärmprotokolls.<br />

• Es genügt vielmehr grundsätzlich eine Beschreibung, aus der sich ergibt, um welche Art von Beeinträchtigungen<br />

es geht und zu welchen Tageszeiten, über welche Zeitdauer und in welcher Frequenz<br />

diese ungefähr auftreten.<br />

X. Mieterhöhung<br />

1. Indexmiete<br />

Anders als bei der Staffelmiete muss der Vermieter bei der Indexmiete noch eine Gestaltungserklärung<br />

abgeben, damit die Mieterhöhung wirksam wird. Nach § 557b Abs. 3 BGB müssen in der Erklärung die<br />

eingetretene Änderung des Preisindexes sowie die jeweilige Miete oder die Erhöhung in einem<br />

Geldbetrag angegeben werden. Nach Ansicht des BGH (NJW <strong>2018</strong>, 700 = NZM <strong>2018</strong>, 82 = WuM <strong>2018</strong>,<br />

36 = GE <strong>2018</strong>, 121 = DWW <strong>2018</strong>, 11 = MietPrax-AK § 557b BGB Nr. 4 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS<br />

jurisPR-BGHZivilR 2/<strong>2018</strong> Anm. 2; BEYER jurisPR-MietR 3/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 162;<br />

METTLER MietRB <strong>2018</strong>, 65) müssen dabei nur die Indexwerte zu Beginn und zum Ende des Betrachtungszeitraums<br />

angegeben werden. Die Angabe der prozentualen Veränderung der Indexdaten ist nicht<br />

erforderlich. Es liege vielmehr – auch für den durchschnittlichen Mieter – auf der Hand, dass sich eine<br />

Indexmiete im gleichen Verhältnis ändert wie der Index. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf hinaus,<br />

dass der Vermieter dem Mieter einzelne (einfache) Rechenschritte „vorzurechnen“ hätte.<br />

Hinweis:<br />

Der einfache Rechenschritt zur Ermittlung der prozentualen Steigerung lautet:<br />

[(neuer Indexstand : alter Indexstand) × 100] – 100 = Prozentsatz der Änderung.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 383


Fach 4 R, Seite 916<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

2. Kostenmiete<br />

Nachdem der VIII. Senat Schönheitsreparaturklauseln in großem Umfang für unwirksam erklärt hatte,<br />

tauchte schnell die Frage auf, ob die fehlende Abwälzung der Schönheitsreparaturen den Vermieter zu<br />

einer Mieterhöhung berechtigt. Für den preisfreien Wohnungsbau hat der Senat einen Zuschlag zur<br />

ortsüblichen Vergleichsmiete wegen der fehlenden Abwälzung der Schönheitsreparaturen abgelehnt<br />

(BGH BGHZ 177, 186 = DWW 20<strong>08</strong>, 256 = NZM 20<strong>08</strong>, 641 = GE 20<strong>08</strong>, 1117 = NJW 20<strong>08</strong>, 2840 = WuM<br />

20<strong>08</strong>, 560 = MDR 20<strong>08</strong>, 1149 = ZMR 20<strong>08</strong>, 879 = ZGS 20<strong>08</strong>, 397 = MietPrax-AK § 558 BGB Nr. 19 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS; LEHMANN-RICHTER MietRB 20<strong>08</strong>, 225; DERS. BGHReport 20<strong>08</strong>, 1001; BLÜMMEL GE 20<strong>08</strong>, 1<strong>08</strong>6;<br />

DRASDO NJW-Spezial 20<strong>08</strong>, 578; NIEBLING ZMR 20<strong>08</strong>, 881; HÄUBLEIN ZMR 2009, 1; WÜSTEFELD jurisPR-MietR<br />

21/20<strong>08</strong> Anm. 3). Anders ist es aber im öffentlich geförderten Wohnungsbau, dort sieht das Gesetz in<br />

§ 28 Abs. 4 II. BV einen solchen Zuschlag ausdrücklich vor. Das hat der Senat auch immer so gesehen<br />

und hier eine Mieterhöhung auch rückwirkend zugelassen, wenn die ursprünglich beabsichtigte<br />

Abwälzung der Schönheitsreparaturen unwirksam war.<br />

Offen geblieben war nur die Frage, ob der Vermieter in diesem Fall aus allgemeinen Grundsätzen des<br />

Rücksichtnahmegebots dem Mieter zuvor eine wirksame Schönheitsreparaturklausel anbieten muss.<br />

Dies hat der Senat nunmehr verneint. Der Vermieter ist nicht verpflichtet, dem Mieter vor dem<br />

Erhöhungsverlangen eine wirksame Abwälzungsklausel anzubieten oder ein entsprechendes Angebot<br />

des Mieters anzunehmen; insbesondere folgt eine derartige Pflicht weder aus § 241 Abs. 2 BGB noch aus<br />

§ 242 BGB (BGH WuM 2017, 663 = GE 2017, 1339 = NZM 2017, 759 = MDR 2017, 1293 = NJW-RR 2017, 1356<br />

= ZMR <strong>2018</strong>, 27 = MietPrax-AK § 28 II. BV Nr. 6 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 21/<br />

2017 Anm. 2; SCHACH jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 4; KAPPUS NZM 2017, 762; BÖRSTINGHAUS MietRB 2017, 343;<br />

DRASDO NJW-Spezial 2017, 738).<br />

Hinweis:<br />

Ausdrücklich offen gelassen hat der Senat aber die Frage, ob der Fall anders zu beurteilen ist, wenn der<br />

Mieter zeitnah nach der Aufforderung durch den Vermieter mitteilt, dass er sich auf die Unwirksamkeit der<br />

Klausel nicht berufen wird, also die Schönheitsreparaturen wie beabsichtigt, aber nicht wirksam geregelt,<br />

durchführen wird.<br />

XI. Modernisierung<br />

Bei Bauarbeiten an und in einem Wohnhaus kann man unterscheiden zwischen Erhaltungsarbeiten in<br />

Form von Instandsetzungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Modernisierungsarbeiten und dem<br />

Neubau. Die Einordnung spielt sowohl für die Duldungspflicht wie auch für die Frage, ob eine<br />

Mieterhöhung möglich ist, eine Rolle. Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen muss der Mieter<br />

dulden, aber eine Mieterhöhung ist nur bei Modernisierungsmaßnahmen möglich. Neubauten sind<br />

weder zu dulden noch berechtigen sie zu einer Mieterhöhung. Nach Ansicht des BGH (MDR <strong>2018</strong>, 80 =<br />

WuM <strong>2018</strong>, 28 = GE <strong>2018</strong>, 49 = DWW <strong>2018</strong>, 12 = MietPrax-AK § 555b BGB Nr. 3 m. Anm. EISENSCHMID;<br />

BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 3/<strong>2018</strong> Anm. 2; LEHMANN-RICHTER MietRB <strong>2018</strong>, 33; DRASDO NJW-Spezial<br />

<strong>2018</strong>, 130) liegen vom Mieter zu duldende Modernisierungsmaßnahmen i.S.v. § 555b Nr. 4 oder Nr. 5 BGB<br />

nicht vor, wenn die beabsichtigten Maßnahmen so weitreichend sind, dass ihre Durchführung den<br />

Charakter der Mietsache grundlegend verändern würde.<br />

XII. Kündigung<br />

1. Kündigungsausschluss gegenüber Vorkaufsberechtigtem<br />

Ein Mietvertrag ist jedenfalls insoweit sittenwidrig und nichtig, als das ordentliche Kündigungsrecht des<br />

Vermieters ausgeschlossen wird. Nichtig gem. § 138 BGB sind solche das Vorkaufsrecht vereitelnden<br />

Verträge, die durch ihren Gesamtcharakter oder die Art und Weise ihres Zustandekommens das<br />

Gepräge der Sittenwidrigkeit erhalten, sei es, dass sie auf verwerflichen Beweggründen oder der<br />

Anwendung unlauterer Mittel beruhen oder ausschließlich zu dem Zweck abgeschlossen werden, dem<br />

Vorkaufsberechtigten Schaden zuzufügen (BGH WuM 2017, 629 = GE 2017, 1341 = MietPrax-AK § 138<br />

BGB Nr. 2 m. Anm. EISENSCHMID).<br />

384 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 917<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

2. Ordentliche Kündigung<br />

a) Eigenbedarfskündigung<br />

Bei der Eigenbedarfskündigung muss der Vermieter die Wohnung benötigen. Der Begriff des „Benötigens“<br />

in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB setzt ernsthafte, vernünftige und nachvollziehbare Gründe des Vermieters voraus,<br />

warum er die Wohnung künftig selbst oder durch nahe Angehörige nutzen will. Damit sind aber generell<br />

keine zeitlichen Mindestanforderungen an die Nutzung verbunden, so dass auch eine Nutzung als<br />

Zweitwohnung vom Tatbestandsmerkmal im Einzelfall erfasst sein kann (BGH WuM 2017, 721 = GE 2017,<br />

1465 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 69 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BEYER jurisPR-MietR 2/<strong>2018</strong> Anm. 3).<br />

b) Alternativwohnung<br />

Auch nach der geänderten Rechtsprechung des BGH zu den Rechtsfolgen eines unterlassenen Anbietens<br />

einer freien Alternativwohnung gehört zu den Voraussetzungen einer solchen Verpflichtung, dass die<br />

Alternativwohnung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei wird (BGH MDR 2017, 142 = WuM 2017, 94 = GE<br />

2017, 166 = NJW 2017, 547 = NZM 2017, 111 = ZMR 2017, 141 = DWW 2017, 51 = MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 62<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 3/2017 Anm. 1; BÖRSTINGHAUS LMK 2017, 385346;<br />

DERLEDER WuM 2017, 104; SELK NJW 2017, 521; SINGBARTL NZM 2017, 119; ABRAMENKO MietRB 2017, 65, 66; MEIER<br />

ZMR 2017, 150; SCHACH jurisPR-MietR 6/2017 Anm. 2; DUBOVITSKAYA/WEITEMEYER NZM 2017, 201; DRASDO NJW-<br />

Spezial 2017, 194; FLATOW NZM 2017, 825). Der Vermieter ist deshalb aufgrund des Gebots der<br />

Rücksichtnahme nicht gehalten, die eigene, bisher von ihm selbst bewohnte Wohnung anzubieten, da<br />

diese denknotwendig erst frei wird, wenn der Vermieter nach dem Auszug des Mieters in die gekündigte<br />

Wohnung eingezogen ist (BGH WuM 2017, 537 = GE 2017, 1016 = NZM 2017, 763 = MietPrax-AK § 573 BGB<br />

Nr. 67 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 19/2017 Anm. 1; TAUFKIRCH MietRB 2017, 277).<br />

c) Wirtschaftliche Verwertung<br />

Die Kündigung wegen wirtschaftlicher Verwertung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB setzt einen erheblichen<br />

Nachteil beim Vermieter selbst voraus; ein Nachteil bei einer mit der vermietenden Gesellschaft<br />

„persönlich und wirtschaftlich verbundenen Schwestergesellschaft“ reicht insoweit nicht aus (BGH<br />

WuM 2017, 656 = NZM 2017, 756 = GE 2017, 1403 = NJW-RR <strong>2018</strong>, 12 = MDR <strong>2018</strong>, 82 = DWW <strong>2018</strong>, 19 =<br />

MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 68 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; GEISLER jurisPR-BGHZivilR 22/2017 Anm. 1; BRUNS<br />

NZM 2017, 759; BEYER jurisPR-MietR 25/2017 Anm. 3; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 1).<br />

3. Außerordentliche Kündigung<br />

Ist durch Auflauf eines Zahlungsrückstands des Mieters in der in § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Buchst. a oder<br />

Buchst. b BGB genannten Höhe ein Recht des Vermieters zur fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses<br />

entstanden, wird dieses nach § 543 Abs. 2 S. 2 BGB nur durch eine vollständige Zahlung des Rückstands<br />

vor Zugang der Kündigung ausgeschlossen. Teilzahlungen auch in einer Höhe, die dazu führt, dass der<br />

Rückstand unter die eine Kündigung rechtfertigende Höhe fällt, genügen hier nicht. Bei der Beurteilung,<br />

ob der Zahlungsrückstand des Mieters die Miete für einen Monat übersteigt, ist nicht auf die<br />

(berechtigterweise) geminderte Miete, sondern auf die vertraglich vereinbarte Gesamtmiete abzustellen<br />

(BGH WuM 2017, 644 = GE 2017, 1333 = MDR 2017, 1352= DWW 2017, 373 = NZM <strong>2018</strong>, 28 = ZMR <strong>2018</strong>, 17<br />

= NJW <strong>2018</strong>, 939 = MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 43 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR<br />

21/2017 Anm. 1; BLANK WuM 2017, 647; BEYER jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 3; WICHERT MietRB 2017, 343;<br />

DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 34).<br />

Hinweis:<br />

Bei der außerordentlichen Zahlungsverzugskündigung müssen immer drei Parameter ermittelt werden:<br />

• Rückstand: Hier werden Minderungen und Zurückbehaltungsrechte voll berücksichtigt.<br />

• Kündigungsrelevanz, also der Wert, ab wann gekündigt werden kann: Hier ist grundsätzlich von der<br />

vereinbarten Miete auszugehen. Etwas anderes kann ausnahmsweise bei nicht behebbaren Mängeln<br />

gelten.<br />

• Zeitraum: Die Frage, ob der Rückstand in zwei aufeinanderfolgenden Monaten oder über einen<br />

längeren Zeitraum entstanden ist.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 385


Fach 4 R, Seite 918<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

XIII. Nutzungsentschädigung<br />

Räumt der Mieter nach Beendigung des Mietverhältnisses die Mietsache nicht, schuldet er unter den<br />

Voraussetzungen des § 546a BGB Nutzungsentschädigung. Zu den Voraussetzungen gehört, dass der<br />

Mieter dem Vermieter die Mietsache vorenthält. Die Mietsache wird dem Vermieter dann i.S.d. § 546a<br />

Abs. 1 BGB nach Beendigung des Mietverhältnisses vorenthalten, wenn der Mieter die Mietsache nicht<br />

zurückgibt und das Unterlassen der Herausgabe dem Willen des Vermieters widerspricht. An einem<br />

solchen Rückerlangungswillen des Vermieters fehlt es etwa, wenn er – trotz Kündigung des Mieters –<br />

von einem Fortbestehen des Mietverhältnisses weiter ausgeht, z.B. weil er die Kündigung für unwirksam<br />

hält. Auch in den Fällen, in denen der Vermieter die Rücknahme der Mietsache ablehnt, weil er z.B. der<br />

Auffassung ist, der Mieter müsse Schönheitsreparaturen vornehmen, fehlt es dem Vermieter an dem<br />

erforderlichen Rücknahmewillen.<br />

In diesen Fällen steht dem Vermieter ein Anspruch auf Nutzungsentschädigung nach § 546a BGB<br />

grundsätzlich auch dann nicht zu, wenn der Mieter zur Rückgabe der Mietsache außerstande ist und die<br />

subjektive Unmöglichkeit durch ihn selbst verursacht wurde. Jedoch wird ein bereicherungsrechtlicher<br />

Nutzungsersatzanspruch des Vermieters weder durch § 546a BGB ausgeschlossen noch durch die<br />

§§ 987 ff. BGB verdrängt. Dies setzt aber eine tatsächliche Bereicherung des Mieters voraus (BGH GE<br />

2017, 945 = WuM 2017, 521 = NZM 2017, 630 = NJW 2017, 2997 = MDR 2017, 1177 = DWW 2017, 330 = ZMR<br />

<strong>2018</strong>, 24 = MietPrax-AK § 546a BGB Nr. 9 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 17/2017<br />

Anm. 1; BURBULLA MietRB 2017, 278; STREYL NZM 2017, 633; MÜLLER/GALNEDER NJW 2017, 3000).<br />

XIV. Schadensersatzansprüche<br />

Im Mietrecht gilt gem. § 548 BGB eine sehr kurze Verjährungsfrist. Sie beträgt nur sechs Monate, wobei<br />

die Frist für den Vermieter mit der Rückgabe der Mietsache und für den Mieter mit der rechtlichen<br />

Beendigung des Mietvertrags beginnt. § 202 BGB erlaubt aber grundsätzlich, dass Verjährungsfristen<br />

durch Vertrag verlängert werden. Bei Individualvereinbarungen ist dies unproblematisch. Bei Formularverträgen<br />

stellt sich die Frage der Inhaltskontrolle gem. § 307 BGB. Nach Ansicht des VIII. Senats kann die<br />

in § 548 Abs. 1 BGB geregelte sechsmonatige Verjährungsfrist von Ersatzansprüchen des Vermieters gegen<br />

den Mieter nach Rückgabe der Mietsache durch formularvertragliche Regelungen nicht verlängert<br />

werden (BGH WuM 2017, 703 = NJW 2017, 3707 = GE 2017, 1545 = NZM 2017, 841 = MDR <strong>2018</strong>, 19 =<br />

MietPrax-AK § 548 BGB Nr. 20 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; KAPPUS NZM 2017, 845; KRAPF jurisPR-MietR 1/<strong>2018</strong><br />

Anm. 4; BÖRSTINGHAUS jurisBGH-ZivilR 1/<strong>2018</strong> Anm. 3; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 65; BLANK LMK <strong>2018</strong>,<br />

402603).<br />

Hinweis:<br />

Dies gilt sowohl für die Frist selbst wie auch für den Fristbeginn. Daran ändert auch die Tatsache nichts,<br />

dass in der Klausel auch die Verjährungsfrist für Mieteransprüche gem. § 548 Abs. 2 BGB auf ein Jahr verlängert<br />

wurde. Eine solche formularvertragliche Klausel hält nach Ansicht des BGH der Inhaltskontrolle<br />

gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB nicht stand, weil sie den Mieter entgegen den Geboten von Treu und Glauben<br />

unangemessen benachteiligt. Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1<br />

BGB sogar dann anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen<br />

Regelung, von der abgewichen werden soll, nicht zu vereinbaren ist.<br />

Den gesetzlichen Vorschriften über die Verjährung kommt nach Ansicht des Senats ein über bloße<br />

Zweckmäßigkeitserwägungen hinausreichender Gerechtigkeitsgehalt zu. Der Vermieter wird durch die<br />

Rückgabe der Mietsache, an die das Gesetz den Verjährungsbeginn für dessen Ansprüche anknüpft, in<br />

die Lage versetzt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob ihm gegen den Mieter Ansprüche wegen<br />

Verschlechterung oder Veränderung der Mietsache zustehen und er diese ggf. durchsetzen will.<br />

Außerdem sei die kurze Verjährungsfrist für Vermieteransprüche durch berechtigte Interessen des<br />

Mieters begründet. Denn der Mieter habe nach der Rückgabe der Mietsache an den Vermieter auf diese<br />

keinen Zugriff mehr und kann somit ab diesem Zeitpunkt regelmäßig auch keine beweissichernden<br />

Feststellungen mehr treffen. Zudem muss er damit rechnen, dass sich der zu diesem Zeitpunkt<br />

386 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 919<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

bestehende und für etwaige Schadensersatzansprüche des Vermieters maßgebliche Zustand der<br />

Mietsache angesichts einer i.d.R. zu erwartenden zeitnahen Überlassung an einen anderen Mieter oder<br />

einer Nutzung durch den Vermieter selbst alsbald verändern wird.<br />

XV. Prozessrecht<br />

1. Zuständigkeit<br />

Ausnahmsweise kann auch das Familiengericht für Wohnraummietsachen zuständig sein. Das richtet<br />

sich nach § 266 FamFG. Bei der Prüfung, ob eine sonstige Familiensache i.S.d. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG<br />

vorliegt, ist das Tatbestandsmerkmal „im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung“ weit<br />

auszulegen. Streitigkeiten aus Mietverträgen über Wohnraum zwischen Schwiegereltern und ihrem<br />

Schwiegerkind anlässlich der Trennung ihres Kindes vom Schwiegerkind können deshalb unter<br />

Umständen als sonstige Familiensachen i.S.d. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG zu qualifizieren sein (BGH NJW<br />

2017, 2619 = MDR 2017, 1000 = GE 2017, 1<strong>08</strong>5 = WuM 2017, 539 = MDR 2017, 1229 = MietPrax-AK § 266<br />

FamFG Nr. 2 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; HABERLAND jurisPR-BGHZivilR 17/2017 Anm. 3; BACHER MDR 2017, 1229).<br />

2. Verkündung einer Entscheidung<br />

Verkündungsmängel, z.B. Verkündung nicht in öffentlicher Sitzung im angegebenen Sitzungssaal,<br />

sondern im Dienstzimmer des Richters, stehen dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn<br />

gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde. Sind<br />

jedoch die Mindestanforderungen an eine Verlautbarung gewahrt, hindern auch Verstöße gegen<br />

zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht. Zu den Mindestanforderungen<br />

gehört, dass die Verlautbarung vom Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden<br />

werden durfte und die Parteien von dem Erlass und dem Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet<br />

wurden (BGH GE <strong>2018</strong>, 919 = NJW-RR <strong>2018</strong>, 127 = MietPrax-AK § 310 ZPO Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

3. Beweisaufnahme durch selbstständiges Beweisverfahren<br />

Zwischen den Beteiligten des selbstständigen Beweisverfahrens wirkt die in diesem Rahmen<br />

vorgezogene Beweisaufnahme wie eine unmittelbar im anschließenden Hauptsacheverfahren<br />

selbst durchgeführte Beweiserhebung; die Beweiserhebung des selbstständigen Beweisverfahrens<br />

wird deshalb im Hauptsacheprozess verwertet, als sei sie vor dem Prozessgericht selbst erfolgt.<br />

Dementsprechend hat eine Beweisaufnahme im selbstständigen Beweisverfahren mit dem Zuständigkeitsübergang<br />

an das Prozessgericht einerseits zur Folge, dass ein neues Gutachten in einem sich<br />

anschließenden Rechtsstreit nur unter den engen Voraussetzungen des § 412 ZPO eingeholt werden<br />

kann. Andererseits fallen aber auch die unerledigt gebliebenen Beweisanträge unmittelbar im<br />

Verfahren vor dem Prozessgericht an und sind von diesem im vorgefundenen Stand zu erledigen (BGH<br />

NZM <strong>2018</strong>, 167 = MietPrax-AK § 493 ZPO Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS). Die Verwertung eines in einem<br />

anderen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens gem. § 411a Abs. 1 ZPO setzt eine<br />

Verwertungsanordnung des Gerichts voraus, zu deren Erlass oder Ausführung den Parteien Gelegenheit<br />

zur Stellungnahme gegeben werden muss.<br />

4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

Nach Auszug des Mieters ist ein Einstellungsantrag gegen ein Räumungsurteil nicht mehr möglich. Ein<br />

Einstellungsantrag gegen ein Zahlungsurteil setzt voraus, dass dem Mieter durch Vollstreckung der<br />

Geldforderung ein unersetzlicher Nachteil entsteht (BGH WuM 2017, 607 = GE <strong>2018</strong>, 52 = MietPrax-AK<br />

§ 719 ZPO Nr. 32 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

Hinweis:<br />

Wenn die Beschwer von 20.000 € nicht erreicht ist, scheidet eine Einstellung der Zwangsvollstreckung im<br />

Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren aus. Eine Einstellung scheidet auch dann aus, wenn der Mieter im<br />

Berufungsverfahren keinen Vollstreckungsschutzantrag gestellt hat (BGH WuM 2017, 606 = GE <strong>2018</strong>, 121 =<br />

MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 33 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 387


Fach 4 R, Seite 920<br />

Rechtsprechungsübersicht – 2. Hj. 2017<br />

Miete/Nutzungen<br />

Nach § 719 Abs. 2 ZPO, der gem. § 544 Abs. 5 S. 2 ZPO in dem Fall der Nichtzulassungsbeschwerde<br />

entsprechende Anwendung findet, kann das Revisionsgericht die einstweilige Einstellung der<br />

Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil anordnen, wenn die<br />

Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht ein<br />

überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht. Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat.<br />

Wenn der Mieter die Miete wegen von ihm geltend gemachter Unsicherheit über die Person des<br />

Vermieters hinterlegt, hat die Hinterlegung keine schuldbefreiende Wirkung, wenn der Mieter bereits<br />

durch ein Urteil im Vorprozess erfahren hat, wer Vermieter ist (BGH GE 2017, 1019 = WuM 2017, 542 =<br />

MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 34 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

Allein aus dem Umstand, dass die Vollstreckung das Prozessergebnis vorwegnehmen würde, ergibt sich<br />

kein unersetzlicher Nachteil i.S.d. § 719 Abs. 2 S. 1 ZPO. Die Verpflichtung zur Räumung stellt für sich<br />

genommen keinen unersetzlichen Nachteil i.S.v. § 719 Abs. 2 S. 1 ZPO dar (BGH NZM 2017, 700 = NJW-RR<br />

2017, 1355 = MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 35 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

5. Räumungsvollstreckung<br />

Hausbesetzer sind regelmäßig anonym. Deshalb ist die Vollstreckung gegen sie so schwierig. Das<br />

Erfordernis der eindeutigen Bezeichnung der Schuldner im Vollstreckungstitel oder in der Vollstreckungsklausel<br />

gem. § 750 Abs. 1 ZPO besteht nämlich auch dann, wenn die Räumungsvollstreckung<br />

ein rechtswidrig besetztes Grundstück betrifft und es dem Gläubiger im Erkenntnisverfahren ohne<br />

polizeiliche Hilfe nicht möglich ist, die Schuldner namentlich zu bezeichnen. Der Verzicht auf das<br />

Erfordernis einer sicheren Identifizierung des Schuldners aufgrund der Bezeichnung im Vollstreckungstitel<br />

oder in der Vollstreckungsklausel ist nicht deshalb geboten, weil der Eigentümer<br />

ansonsten vollständig rechtlos gestellt wäre. Eine Räumung gegenüber Hausbesetzern kann vielmehr<br />

nach dem Polizei- und Ordnungsrecht erfolgen (BGH WuM <strong>2018</strong>, 48 = NJW <strong>2018</strong>, 299 = MietPrax-AK<br />

§ 750 ZPO Nr. 1 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BIEBER GE <strong>2018</strong>, 156).<br />

6. Beschwer<br />

Für die Räumungs- und Herausgabeklage berechnet sich der Wert der Beschwer nach § 8 ZPO. Beruft<br />

sich ein Nutzungsberechtigter gegenüber einer Kündigung auf Schutzregeln, die das Kündigungsrecht<br />

einschränken und ihm ein Recht zur Fortsetzung der Nutzung geben, so dauert die „streitige Zeit“ i.S.d.<br />

§ 8 ZPO vom Tag der Erhebung der Räumungsklage bis zu dem Zeitpunkt, den derjenige, der sich<br />

auf ein Nutzungsrecht beruft, als den für ihn günstigsten Beendigungszeitpunkt des Nutzungsvertrags<br />

in Anspruch nimmt (BGH WuM 2017, 724 = GE 2017, 1465 = MietPrax-AK § 26 Nr. 8 EGZPO Nr. 29<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

7. Gebührenstreitwert<br />

Der Gebührenstreitwert für den Antrag auf Feststellung, dass der zwischen den Parteien geschlossene<br />

Mietvertrag wirksam (weil nicht durch Kündigung beendet) sei, richtet sich nach § 41 Abs. 1 GKG und<br />

beläuft sich auf das einjährige Entgelt. § 8 ZPO ist nicht maßgeblich. Denn diese Vorschrift ist nur für den<br />

Zuständigkeitswert und den Wert der Beschwer einschlägig (BGH NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 124 = MietPrax-AK<br />

§ 41 GKG Nr. 7 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

388 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 987<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />

Elektronische Geräte/Mobiltelefon im Straßenverkehr<br />

Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />

Inhalt<br />

I. Rechtsentwicklung<br />

1. Allgemeines<br />

2. Neuregelung<br />

II. Regelungsinhalt des § 23 Abs. 1a StVO<br />

III. Fahrzeugführer<br />

IV. Begriff des elektronischen Geräts<br />

1. Technikoffene Formulierung<br />

2. Sonstige Geräte<br />

V. Begriff der Nutzung<br />

1. Allgemeines<br />

2. „Kurze Blickabwendung“<br />

VI. Ausnahmen vom Nutzungsverbot<br />

1. Stehendes Fahrzeug<br />

2. Weitere Ausnahmen<br />

VII. Schuldform<br />

VIII. Rechtsfolgen bei verbotswidriger Benutzung<br />

1. Geldbuße<br />

2. Fahrverbot<br />

3. Entziehung der Fahrerlaubnis<br />

IX. Hinweise für die Verteidigung<br />

1. Einlassung<br />

2. Checkliste: Tatrichterliches Urteil<br />

3. Rechtskraftwirkung<br />

I. Rechtsentwicklung<br />

1. Allgemeines<br />

Der Gesetzgeber hatte im Jahr 2000 in § 23 Abs. 1a StVO a.F. die Benutzung eines Mobiltelefons im<br />

Straßenverkehr unter bestimmten Bedingungen verboten und mit einem Bußgeld belegt (zur<br />

Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung BVerfG VRR 20<strong>08</strong>, 233; OLG Stuttgart NJW 20<strong>08</strong>, 3369 = DAR<br />

20<strong>08</strong>, 654 = VRR 20<strong>08</strong>, 471). Hintergrund dieses Verbots waren die durch die Benutzung von Mobil-/<br />

Autotelefonen/Smartphones im Straßenverkehr sowohl für den Fahrzeugführer als auch für andere<br />

Verkehrsteilnehmer entstehenden Gefahren (vgl. dazu Begründung zur „33. Verordnung zur Änderung<br />

straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ v. 11.12.2000, VBl 2001, 8). Die Anwendung der Vorschrift war<br />

nicht einfach. Das war vornehmlich darauf zurückzuführen, dass der Verordnungsgeber nicht generell<br />

das Telefonieren im Straßenverkehr verboten hatte, sondern die „Benutzung“ eines Mobiltelefons.<br />

Daher ist in Rechtsprechung und Literatur von Anfang an ein heftiger Streit um den Begriff der<br />

„Benutzung“ eines Mobiltelefons i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO a.F. geführt worden (vgl. Nachw. bei BURHOFF,<br />

in: BURHOFF (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2017, Rn 3030<br />

[im Folgenden kurz: BURHOFF/BURHOFF, OWi] und BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977 ff.). Die fortschreitende<br />

technische Entwicklung mit der Erweiterung der über das bloße Telefonieren hinausgehenden<br />

Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten des Handys/Smartphones hat diesen Streit forciert.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 389


Fach 9, Seite 988<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Im Hinblick auf diesen Streit und die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Mobiltelefone/<br />

Smartphones war daher seit längerem geplant, die Vorschrift zu ändern bzw. auch die Bedienung<br />

anderer technischer Geräte während der Fahrt zu erfassen (vgl. hib-Meldung Nr. 100 v. 27.2.2013;<br />

s. auch MÜLLER/REBLER DAR 2017, 49). Eine Änderung der Vorschrift ist im Herbst 2017 erfolgt (s. wegen<br />

der Gesetzesmaterialien BR-Drucks 556/17). Nachdem ein erster Neuregelungsversuch zunächst im<br />

Sommer 2017 gescheitert war (vgl. dazu BR-Drucks 424/17), ist § 23 Abs. 1a StVO a.F. durch die „53.<br />

Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ v. 6.10.2017 (BGBl I, S. 3549)<br />

grundlegend geändert worden; zudem hat man den Bußgeldkatalog geändert. Hintergrund dieser<br />

Neuregelung sind – neben dem o.g. Streit – u.a. Untersuchungen der Unfallversicherer und der<br />

Verkehrssicherheitsverbände, die eine die Verkehrssicherheit gefährdende Ablenkungswirkung fahrfremder<br />

Tätigkeiten belegen (vgl. BR-Drucks 424/17, S. 10; zur Kritik s. FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 71).<br />

Hinweis:<br />

Die Neuregelung ist am 19.10.2017 in Kraft getreten. Sie erfasst also alle Verstöße ab diesem Tag. Für vorhergehende<br />

Verstöße gilt noch/weiterhin § 23 Abs. 1a StVO a.F. (eingehend dazu BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977 ff.).<br />

2. Neuregelung<br />

Die Anzahl von Mobiltelefonen/Smartphones und anderen elektronischen Geräten ist in den letzten<br />

Jahren rasant gestiegen. Zudem verfügen die Geräte über immer vielfältiger werdende Nutzungsmöglichkeiten,<br />

die dazu führen, dass bei der Nutzung von Geräten nicht mehr nur der Aspekt des<br />

„In-der-Hand-Haltens“ eine Rolle spielt, sondern ggf. auch eine zu lange Blick-Ablenkung des<br />

Fahrzeugführers vom Verkehrsgeschehen, weil er z.B. eingehende Messenger-Nachrichten liest.<br />

Dieser technischen Fortentwicklung sollte bei der Neuregelung des § 23 Abs. 1a StVO Rechnung<br />

getragen werden. Das der alten Fassung zugrunde liegende ausschließliche „hand-held-Verbot“ für<br />

Auto- und Mobiltelefone ist als nicht mehr zeitgemäß angesehen worden (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 1).<br />

Darüber hinaus haben die Erfahrungen gezeigt, dass die frühere Regelung des § 23 Abs. 1a StVO und<br />

die darauf basierenden Rechtsfolgen nicht ernst genommen wurden.<br />

Der Gesetzgeber hat sich daher zu einer verhältnismäßig komplizierten Neuregelung entschlossen (zur<br />

Neuregelung FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68; DERS. TranspR <strong>2018</strong>, 45). Diese erfasst jetzt in § 23 Abs. 1a, 1b StVO alle<br />

elektronischen Geräte, die der Kommunikation, Information oder Organisation dienen oder zu dienen<br />

bestimmt sind (zu Einzelheiten s. IV., V.). Gleichzeitig soll das Risiko der zu langen Blickabwendung (vgl.<br />

dazu V. 2.) durch Verankerung technischer Zusatzausstattungen wie Sprachsteuerung, Vorlesefunktion<br />

und „head-up-Display“ reduziert werden. Es handelt sich jetzt also um ein kombiniertes „hand-held-/<br />

Blickabwendungsverbot“. Damit die (Neu-)Regelung ernst genommen wird, sind die Rechtsfolgen<br />

gegenüber den „Altfällen“ erheblich verschärft worden (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 13; vgl. dazu VIII.).<br />

II. Regelungsinhalt des § 23 Abs. 1a StVO<br />

Nach § 23 Abs. 1a StVO darf ein elektronisches Gerät (vgl. dazu IV.) im Straßenverkehr genutzt werden,<br />

wenn hierfür das Gerät weder aufgenommen noch gehalten wird und entweder nur eine<br />

Sprachsteuerung und Vorlesefunktion genutzt wird oder zur Bedienung und Nutzung des Geräts nur<br />

eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung zum<br />

Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erfolgt oder erforderlich<br />

ist. Das früher in § 23 Abs. 1a StVO a.F. enthaltene sog. reine hand-held-Verbot zur Benutzung ist<br />

also aufgegeben worden (vgl. zur alten Rechtslage BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 979; OLG Stuttgart DAR 2016,<br />

406 m. zust. Anm. ENGELBRECHT = zfs 2016, 471 = VRR 8/2016, 12 m. krit. Anm. DEUTSCHER; vgl. auch BURHOFF<br />

VA 2017, 16, 17; nicht ganz eindeutig OLG Hamm zfs 2016, 711).<br />

Hinweis:<br />

Bei der Regelung in § 23 Abs. 1a StVO handelt es sich jetzt um ein kombiniertes „hand-held- und<br />

Blickabwendungsverbot“.<br />

390 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 989<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Entscheidend für die Anwendung des § 23 Abs. 1a StVO ist u.a., dass das elektronische Gerät<br />

aufgenommen oder gehalten wird, es kommt also nicht mehr darauf an, ob es „gehalten werden muss“.<br />

Damit wird nach wie vor die Benutzung einer Freisprechanlage nicht erfasst, wenn der Kfz-Führer dazu<br />

den Telefonhörer nicht aufnimmt (OLG Bamberg VRR 20<strong>08</strong>, 35 = zfs 20<strong>08</strong>, 52 zum alten Recht; OLG<br />

Stuttgart a.a.O.). Es können also z.B. Nummern mit der Tastatur gewählt werden. Es handelt sich nach<br />

wie vor auch nicht um eine Benutzung i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO, wenn das Gerät/Mobiltelefon in einer<br />

Handy-Vorrichtung des Kfz abgelegt worden ist und unter Benutzung eines Headsets/Earsets, welches<br />

über eine Bluetooth-Verbindung mit dem Gerät/Mobiltelefon verbunden ist, telefoniert wird (so schon<br />

zum alten Recht OLG Hamm zfs 2016, 711; OLG Stuttgart a.a.O.), und zwar auch dann nicht, wenn zur<br />

Verbesserung der Hörqualität das über eine Spange am Ohr gehaltene Headset mit der Hand gegen das<br />

Ohr gedrückt wird. Auch soll das Annehmen eines Telefongesprächs durch bloßes Drücken einer Taste<br />

oder das Wischen über den Bildschirm eines Smartphones zu diesem Zweck erlaubt sein, soweit das<br />

Mobiltelefon nicht in die Hand genommen wird (FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68; BR-Drucks 556/17, S. 25). Ein<br />

Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO liegt allerdings vor, wenn der Fahrzeugführer während der Fahrt ein<br />

mit einer Freisprechanlage verbundenes Mobiltelefon in der Hand hält und über die Freisprechanlage<br />

telefoniert (anders zum alten Recht OLG Stuttgart a.a.O.).<br />

III. Fahrzeugführer<br />

Die Regelung in § 23 Abs. 1a und 1b StVO erfasst den „Fahrzeugführer“. Fahrzeugführer ist nicht nur der<br />

Kfz-Führer, sondern auch der Radfahrer (BURHOFF VRR 20<strong>08</strong>, 14; BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 28<strong>08</strong> f.).<br />

Fahrzeugführer ist aber nicht der sich auf dem Beifahrersitz befindende Fahrlehrer, der in das<br />

Fahrgeschehen nicht eingreift. Das ist in der (obergerichtlichen) Rechtsprechung inzwischen entschieden<br />

(BGHSt 59, 311 = zfs 2015, 111 = VRR 2/2015, 13; OLG Düsseldorf DAR 2014, 40 = VRR 2014, 77;<br />

OLG Stuttgart DAR 2015, 410 = VRR 5/2015, 14; LG Münster zfs <strong>2018</strong>, 169; AG Herne VA 2012, 120 =<br />

VRR 2012, 272; AG Landstuhl VA 2017, 11; a.A. [früher] OLG Bamberg NJW 2009, 2393 = DAR 2009, 402 m.<br />

zust. Anm. SCHEIDLER und abl. Anm. HEINRICHS; OLG Karlsruhe DAR 2014, 211 [Vorlagebeschluss]).<br />

Hinweis:<br />

Für den Begriff des Führens gelten die allgemeinen Regeln (dazu eingehend BURHOFF/BURHOFF, OWi,<br />

Rn 3831). Vor- und Nachbereitungszeiten werden also nicht erfasst. Ein kurzer Halt, z.B. während eines<br />

Staus oder an einer rot zeigenden Lichtzeichenanlage, unterbricht das Führen aber nicht (zum Begriff des<br />

Führens eines Kfz BGHSt 49, 8 = VRR 2005, 519).<br />

IV.<br />

Begriff des elektronischen Geräts<br />

1. Technikoffene Formulierung<br />

Die StVO definiert den Begriff des „elektronischen Geräts“–ebenso wie früher den Begriff des „Mobil- oder<br />

Autotelefons“ –nicht näher (zu den alten Begrifflichkeiten BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977, 979 f.; BURHOFF/BURHOFF,<br />

OWi, Rn 2810 ff. m.w.N.). Von § 23 Abs. 1a S. 1 StVO werden (alle) elektronischen Geräte erfasst, die der<br />

Kommunikation, Information oder Organisation dienen oder zu dienen bestimmt sind. Nach § 23 Abs. 1 S. 2<br />

StVO sind das „auch Geräte der Unterhaltungselektronik oder Geräte zur Ortsbestimmung, insb. Mobiltelefone oder<br />

Autotelefone, Berührungsbildschirme, tragbare Flachrechner, Navigationsgeräte, Fernseher oder Abspielgeräte mit<br />

Videofunktion oder Audiorekorder“. § 23 Abs. 1a StVO ist technikoffen formuliert (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 3,<br />

12 ff.). Der technikoffene Ansatz erlaubt, (in Zukunft) Geräte zu erfassen, die derzeit noch gar nicht auf dem<br />

Markt sind, sondern erst noch entwickelt werden (BR-Drucks 556/17, S. 27; 424/17, S. 15).<br />

Unter die elektronischen Geräte i.S.d. § 23 Abs. 1 S. 1, 2 StVO fallen (die nachstehende Aufzählung ist<br />

nicht abschließend; s. auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69):<br />

• sämtliche Handys, Smartphones,<br />

• BOS- und CB-Funkgeräte und Amateurfunkgeräte, auch solche mit reinem push-to-talk-Modus,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 391


Fach 9, Seite 990<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

• Tablet-Computer, Touchscreens, elektronische Terminplaner, wobei es nicht darauf ankommt, ob<br />

eine Mobilfunkkarte eingelegt ist (zum palm-Organizer nach altem Recht: OLG Karlsruhe NJW 2007,<br />

240 = DAR 2007, 99 = VRR 2007, 34),<br />

• Navigationsgeräte, und zwar nicht nur die Nutzung der Navigationsgerätefunktion des Mobiltelefons<br />

(zum alten Recht: OLG Hamm DAR 2013, 217 = VRR 2013, 230; OLG Köln NJW 20<strong>08</strong>, 3368 = VRR<br />

20<strong>08</strong>, 353),<br />

• Diktiergeräte,<br />

• E-Book-Reader, MP3-Player, Personal Computer, DVD-/Blu-Ray-Player, CD-ROM-Abspielgeräte,<br />

• Smartwatches (zur Handyuhr und zur Smart-Watch s. KRUMM NZV 2015, 374),<br />

• Walkman, Discman und iPod (zum iPod: AG Rinteln, Urt. v. 27.10.2016 – 24 OWi 32/16; AG Waldbröl<br />

VA 2015, 65),<br />

• Notebooks.<br />

Für die ebenfalls erfassten Funkgeräte ist § 52 Abs. 4 StVO in die StVO eingefügt worden (zum Walkie-<br />

Talkie nach altem Recht: AG Sonthofen VRR 2010, 475 = DAR 2011, 99 m. abl. Anm. MILLER). Danach ist<br />

§ 23 Abs. 1a StVO im Falle der Verwendung eines Funkgeräts in einem Polizei- oder Sanitätsfahrzeug<br />

erst ab dem 1.7.2020 anzuwenden. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es<br />

derzeit (noch) nicht in ausreichendem Maße praxistaugliche Freisprecheinrichtungen für diese Bereiche<br />

gibt (BR-Drucks 556/17, S. 33).<br />

Hinweis:<br />

Verfügt das elektronische Gerät über eine Sichtfeldprojektion, darf diese für fahrzeugbezogene, verkehrszeichenbezogene,<br />

fahrtbezogene oder fahrtbegleitende Informationen benutzt werden (§ 23 Abs. 1a<br />

S. 4 StVO).<br />

2. Sonstige Geräte<br />

Nach § 23 Abs. 1a S. 3 StVO ist (auch) die Nutzung einer Videobrille (z.B. Virtual-Reality-Brille oder<br />

Google-Glass-Brille) verboten. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich der Fahrzeugführer<br />

durch das Aufsetzen einer solchen Brille in Funktion vollständig vom Verkehrsgeschehen<br />

abkoppelt (BR-Drucks 556/17, S. 27).<br />

Die Nutzung eines Head-up-Displays ist eingeschränkt erlaubt (vgl. § 23 Abs. 1b S. 3 Nr. 1, 2 StVO). Die<br />

Erlaubnis beschränkt sich auf Daten, die der Verkehrssicherheit zuträglich sind (BR-Drucks 556/17,<br />

S. 27). Das geht wiederum auf den Gedanken zurück, dass die Blickabwendung (vgl. V. 2.) auf „das<br />

förderliche Maß zu reduzieren ist“. Der Verordnungsgeber geht davon aus, dass das Zeigen von<br />

Verkehrszeichenanordnungen im Blickfeld und von fahrzeugseitigen Informationen zum Zustand des<br />

Fahrzeugs sowie Informationen zum Fahrweg generell geeignet erscheinen, um den Fahrzeugführer<br />

bei der sicheren Verkehrsteilnahme zu unterstützen (zu weiteren Ausnahmen s. VI.). Unter fahrtbegleitenden<br />

Informationen ist nach der VO-Begründung (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 27) auch die<br />

Angabe des Radiosenders oder des aktuell abgespielten Musiktitels im Autoradio zu verstehen. Das<br />

Ablesen dieser Informationen im Head-up-Display erscheint – unter Berücksichtigung der nur kurzen<br />

Blickabwendung (vgl. V. 2.) – weniger ablenkend, als wenn der Fahrzeugführer zum Ablesen seinen<br />

Blick stets auf das Autoradio in der Mittelkonsole richten muss. Weitergehende Daten dürften im<br />

Gegensatz dazu wiederum den Blick unnötig binden, was der Verkehrssicherheit abträglich wäre.<br />

Deren Ablesung ist also verboten (BR-Drucks 17424/17, S. 24).<br />

Hinweis:<br />

Keine Ausnahme besteht für sog. Radarwarngeräte. Diese sind nach wie vor nicht zulässig, denn sie vermitteln<br />

keine verkehrszeichen- oder fahrtbezogenen Informationen (BR-Drucks 556/17, S. 27). Das ist in § 23<br />

Abs. 1 S. 5 StVO ausdrücklich klargestellt, wonach § 23 Abs. 1c StVO, der die frühere Regelung betreffend<br />

Radarwarngeräte in § 23 Abs. 1b StVO a.F. enthält, „unberührt“ bleibt (zu Radarwarngeräten BURHOFF/<br />

DEUTSCHER, OWi, Rn 2773).<br />

392 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 991<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

V. Begriff der Nutzung<br />

1. Allgemeines<br />

Der Begriff der Nutzung ist von der Rechtsprechung zum alten Recht weit ausgelegt worden (Nachw.<br />

bei BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 2802 ff. sowie BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977, 980 f.) Das Verbot des § 23 Abs. 1a<br />

StVO a.F. galt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung für alle (Bedien-)Funktionen des<br />

Mobiltelefons, wenn das Gerät in der Hand gehalten werden musste (vgl. OLG Stuttgart DAR 2016,<br />

406 = zfs 2016, 471 = VRR 8/2016, 12). Dieses Verbot hat § 23 Abs. 1a StVO n.F. aufgegeben und<br />

umgewandelt in ein Gebot, das regelt, unter welchen Voraussetzungen die Nutzung des Geräts zulässig<br />

ist (BR-Drucks 556/17, S. 25). Danach darf ein elektronisches Gerät u.a. (nur) benutzt werden, wenn<br />

hierfür das Gerät weder aufgenommen noch gehalten wird und zur Bedienung und Nutzung des Geräts<br />

nur eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung<br />

zum Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erfolgt oder<br />

erforderlich ist (vgl. dazu V. 2.).<br />

Hinweis:<br />

Geht man vom Anliegen der Gesetzesänderung und dem mit ihr verfolgten Sinn und Zweck (vgl. oben I.)<br />

aus, gilt: Nutzung liegt immer dann vor, wenn das Gerät aufgenommen oder gehalten wird und zur<br />

Bedienung und Nutzung nicht nur ein kurzer Blick ausreicht. Ob das Gerät zur Nutzung in der Hand<br />

gehalten werden muss – so die frühere Rechtslage (vgl. OLG Stuttgart DAR 2016, 406 = zfs 2016, 471<br />

= VRR 8/2016, 12) –, ist unerheblich.<br />

Unter Nutzung i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO ist nach wie vor jegliche Nutzung eines elektronischen Geräts/<br />

Mobiltelefons zu verstehen. Damit ist die „Nutzung“ –auch auf der Grundlage der Rechtsprechung zu<br />

§ 23 Abs. 1a StVO a.F. – in folgenden (Rechtsprechungs-)Beispielen zu bejahen:<br />

• das Abfragen von Daten, wobei es nicht mehr darauf ankommt, ob eine Mobilfunkkarte eingelegt,<br />

ggf. aber deaktiviert ist (vgl. insoweit zum alten Recht OLG Hamm, Beschl. v. 8.6.2017 – 4 RBs 214/17;<br />

OLG Karlsruhe NJW 2007, 240 = VRR 2007, 34),<br />

• das Antippen des sog. Home-Buttons des in der Hand gehaltenen Mobiltelefons/Smartphones, um<br />

dadurch zu kontrollieren, ob das Gerät ausgeschaltet ist (OLG Hamm NStZ-RR 2017, 154),<br />

• das Auslesen von Daten, wie z.B. einer Telefonnummer (OLG Hamm NJW 2006, 2870 = VRR 2006, 363;<br />

NStZ-RR 2017, 154),<br />

• das Ausschalten des Geräts (OLG Köln DAR 2012, 220 = NZV 2012, 450 für das Mobiltelefon zum alten<br />

Recht),<br />

• die Nutzung eines Diktiergeräts, da es sich dabei auch um ein elektronisches Gerät handelt, und des<br />

Mobiltelefons/Smartphones als Diktiergerät (OLG Hamm, Beschl. v. 24.3.2006 – 3 Ss OWi 1/06;<br />

OLG Jena NJW 2006, 3734 = NZV 2006, 664),<br />

• das Einschalten des Geräts (OLG Hamm NStZ-RR 2017, 154),<br />

• das Halten ans Ohr, um zu hören, ob das Gerät/Mobiltelefon ausgeschaltet ist (OLG Hamm<br />

DAR 2007, 402 [Ls.] = NZV 20<strong>08</strong>, 49),<br />

• ggf. die Nutzung der Kamerafunktion (OLG Hamburg NZV 2016, 485 = VRS 130, 74 = VRR 5/2016, 14),<br />

• die Nutzung als Internetzugang bzw. zur Internetabfrage (OLG Hamm NZV 2015, 310 = VA 2015, 65),<br />

• das Halten des elektronischen Geräts/Mobiltelefons, um es mit einem Ladekabel im Fahrzeug zum<br />

Laden zu verbinden (so schon zum alten Recht OLG Oldenburg DAR 2016, 151 m. Anm. ENGELBRECHT =<br />

VRS 129, 335; a.A. zum alten Recht AG Landstuhl NStZ-RR 2017, 154 = DV 2017, 104 [„verbotene<br />

Analogie“]),<br />

• das Halten des Geräts ans Ohr, um Musik zu hören (OLG Köln NZV 2010, 270 = VRR 2009, 468),<br />

• die Nutzung als Telefon, wobei unerheblich ist, ob eine Verbindung zustande gekommen ist<br />

(OLG Hamm VRS 110, 43 = VRR 2006, 1<strong>08</strong>),<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 393


Fach 9, Seite 992<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

• das Aufnehmen des Geräts, um dieses zum Telefonieren einzuschalten, auch wenn das Einschalten<br />

am entladenen Akku scheitert (OLG Köln NZV 2009, 304 = VRR 2009, 3<strong>08</strong>),<br />

• die Nutzung eines Navigationsgeräts oder die Nutzung des Mobiltelefons als Navigationsgerät<br />

(OLG Hamm DAR 2013, 217 = VRR 2013, 230; NZV 2015, 310 = VA 2015, 65; OLG Köln NJW 20<strong>08</strong>, 3368 =<br />

VRR 20<strong>08</strong>, 353),<br />

• die Nutzung als Notizbuch (OLG Hamm NJW 2003, 912 = DAR 2003, 473),<br />

• die Nutzung als Organisator (OLG Hamm NJW 2005, 2469 = VRR 2005, 269),<br />

• das In-die-Hand-Nehmen des Handys nach Ertönen des Klingelzeichens, um auf dem Display zu<br />

schauen, wer der Anrufer ist (OLG Köln DAR 2009, 4<strong>08</strong>),<br />

• um eine SMS zu versenden (AG Ratzeburg NZV 2005, 431) oder um eine gespeicherte SMS zu lesen,<br />

und zwar auch dann, wenn keine SIM-Karte eingelegt ist (OLG Hamm, Beschl. v. 1.2.2012 – 5 RBs 4/12),<br />

• das Versenden oder Lesen einer Messenger-Nachricht (z.B. bei WhatsApp),<br />

• das bloße Ablesen der Uhrzeit vom Display des Handys, wenn dieses dafür in die Hand genommen<br />

wird (OLG Hamm NJW 2005, 2469 = VRR 2005, 269; OLG Zweibrücken NZV 2015, 203 [Ls.]; abl.<br />

SCHEFFLER NZV 2006, 128, 129; HUFNAGEL NJW 2006, 3665); m.E. unter Geltung des § 23 Abs. 1a S. 1 StVO<br />

n.F. zweifelhaft),<br />

• das „Wegdrücken“ eines eingehenden Anrufs (OLG Hamm, Beschl. v. 19.10.2006 – 3 Ss OWi 681/06,<br />

OLG Köln NZV 2009, 302; DAR 2012, 220 = NZV 2012, 450; vgl. auch noch OLG Köln NJW 2015, 361 =<br />

DAR 2015, 104),<br />

• wenn der Betroffene auf der Ablage vor der Windschutzscheibe seines Kfz ein Handy abgelegt hat,<br />

welches aufblendet und hierdurch anzeigt, dass der Akku aufgeladen werden muss, und der<br />

Betroffene wegen der Blendung das Handy beim Fahren in die Hand nimmt, darauf schaut und es<br />

dann zur Seite legt, um eine weitere Blendung zu vermeiden (so zum alten Recht AG Lüdinghausen<br />

NZV 2014, 332 = zfs 2014, 414 m. zust. Anm. KRENBERGER; m.E. zum alten Recht sehr grenzwertig),<br />

• das Halten ans Ohr, um das Mobiltelefon als „Wärmeakku“ zu benutzen (a.A. zum alten Recht<br />

OLG Hamm zfs 20<strong>08</strong>, 51 = VRR 20<strong>08</strong>, 37 m. zust. Anm. BURHOFF),<br />

• das Weiterreichen des Mobiltelefons an den Beifahrer nach dem Klingeln, ohne auf das Display zu<br />

schauen (OLG Köln NJW 2015, 361 = DAR 2015, 104).<br />

Hinweis:<br />

Nach § 23 Abs. 1a S. 1 Nr. 2a StVO ist die Nutzung des elektronischen Geräts ausdrücklich erlaubt, wenn nur<br />

eine Sprachsteuerung und Vorlesefunktion genutzt wird (vgl. dazu BR-Drucks 424/17, S. 10), allerdings darf<br />

auch dafür das Gerät nicht aufgenommen oder in der Hand gehalten werden.<br />

Zur „Nutzung“ i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO gehört nicht nur das eigentliche Kerngeschehen des Nutzungsvorgangs,<br />

also z.B. das Versenden einer SMS oder einer WhatsApp-Nachricht. Vielmehr liegt auch<br />

während der Vor- oder Nachbereitungsphase eines Telefonats bzw. einer SMS eine Nutzung des<br />

Mobiltelefons i.S.d. § 23 Abs. 1a StVO vor, wenn hierfür das Gerät aufgenommen oder gehalten wird (vgl.<br />

schon zum alten Recht OLG Düsseldorf StraFo 2006, 509; OLG Hamm NJW 2007, 1078 = VRR 2007, 317 =<br />

NZV 2007, 483; AG Ratzeburg NZV 2005, 431; vgl. auch LG Kiel NZV 2005, 477). Zur Nutzung des<br />

Mobiltelefons bei Abschluss eines Telefonats gehört also auch die Rückkehr in dessen Ruhe- oder<br />

Bereitschaftszustand durch Durchlaufen der Menüpunkte des Displays bis zum Weglegen des Geräts<br />

(s. AG Ratzeburg a.a.O.). In all diesen Fällen ist zudem auch die zweite Voraussetzung, nämlich der nur<br />

kurze Blick auf das Display des Handys, nicht erfüllt.<br />

Hinweis:<br />

Um eine Nutzung des elektronischen Geräts handelt es sich aber nicht, wenn das Gerät während der<br />

Autofahrt lediglich aufgenommen wird, um es woanders hinzulegen (zuletzt zum alten Recht OLG Köln<br />

NJW 2015, 361 = DAR 2015, 104; wohl auch OLG Bamberg NJW 20<strong>08</strong>, 599 = VRR 20<strong>08</strong>, 35). Das bloße In-<br />

394 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 993<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

die-Hand-Nehmen des Geräts, um es woanders hinzulegen, ist kein „Nutzen“ i.S.d. 23 Abs. 1a S. 1 StVO.<br />

Abgesehen davon, dass andernfalls die Vorschrift zu unbestimmt würde, wird es bei dieser „Tätigkeit“<br />

zumindest (auch) am Erfordernis des nicht nur kurzen Blicks auf das Display fehlen.<br />

2. „Kurze Blickabwendung“<br />

a) Zeitdauer<br />

Nach § 23 Abs. 1a S. 1 Nr. 2b StVO ist die Benutzung des elektronischen Geräts erlaubt, wenn „zur<br />

Bedienung und Nutzung des Geräts nur eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen<br />

angepasste Blickzuwendung zum Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen<br />

erfolgt oder erforderlich ist“.<br />

Hinweise:<br />

• Der längere Blick ist also immer verboten, auch wenn das Gerät nicht aufgenommen oder in der Hand<br />

gehalten wird (so FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69). Das bedeutet, dass das Lesen von Kurznachrichten oder die<br />

Nutzung anderer Multimediaangebote, wie z.B. Internet und Fernsehen, untersagt ist, da diese Tätigkeiten<br />

grundsätzlich eine längere Blickabwendung erfordern (BR-Drucks 556/17, S. 26). Ein solcher Verstoß<br />

wird aber nur schwer nachweisbar sein (FROMM a.a.O.; BR-Drucks a.a.O.; s. auch unten V. 2. b).<br />

• Erlaubt ist nach § 23 Abs. 1a S. 3 Nr. 2, 3 StVO die Benutzung eines Bildschirms oder einer<br />

Sichtfeldprojektion zur Bewältigung der Fahraufgabe des Rückwärtsfahrens oder Einparkens, soweit<br />

das Fahrzeug nur mit Schrittgeschwindigkeit bewegt wird, Nr. 2 (zur Schrittgeschwindigkeit zuletzt u.a.<br />

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.<strong>2018</strong> – 2 Rb 9 Ss 794/17 [7 km/h]; OLG Naumburg zfs 2017, 654 [10 km/h]),<br />

oder die Benutzung elektronischer Geräte, die vorgeschriebene Spiegel ersetzen oder ergänzen, Nr. 3.<br />

Was unter einem kurzen Blick zu verstehen ist, wird nicht konkret definiert. Die Begründung zur<br />

Änderung des § 23 Abs. 1a StVO verweist allerdings darauf (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 26), dass die StVO<br />

teilweise „kurze Blickabwendungen“ wie z.B. den Blick in den Rückspiegel etwa vor dem Abbiegen oder<br />

Überholen vorschreibt (§§ 5, 9 StVO). Unter Hinweis darauf wird eine in zeitlicher Hinsicht vergleichbare<br />

Blickabwendung zur Bedienung des Geräts als erlaubt angesehen. Geht die Nutzung des Geräts über diese<br />

kurze Blickabwendung hinaus, ist dies verboten – solche Notwendigkeiten sind durch eine Vorlesefunktion<br />

oder Sprachsteuerung zu ersetzen (BR-Drucks 556/17, S. 26 m. Hinw. auf die europäische Empfehlung<br />

über sichere und effiziente bordeigene Informations- und Kommunikationssysteme und Untersuchungen<br />

der National Highway Traffic Safety Administration [NHTSA]). Die Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen<br />

darf im fließenden Verkehr also nur so kurz wie möglich und beiläufig sein (BR-Drucks 556/17,<br />

S. 26). Dabei ist zu beachten, dass Einzelumstände im Verkehrsgeschehen dazu führen können, dass in<br />

diesen speziellen Momenten eine Blickabwendung vom Verkehrsfluss gar nicht möglich ist. Insoweit wird<br />

auf die Kriterien des § 3 Abs. 1 S. 2 StVO zurückgegriffen (s. auch BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 2848 ff.).<br />

Hinweis:<br />

Zur Frage des „kurzen Blicks“ wird man auch auf das Gesetzgebungsverfahren verweisen können: Im vorgeschlagenen<br />

ersten Änderungsentwurf (vgl. BR-Drucks 424/17) wurde noch davon ausgegangen, dass die<br />

Blickabwendung einen Zeitraum von einer Sekunde nicht überschreiten dürfe. Darauf wird man bei Auslegung<br />

der letztlich Gesetz gewordenen Fassung –„nur eine kurze (…) Blickzuwendung“ –zurückgreifen<br />

können (s. auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69).<br />

b) Beweisprobleme beim „kurzen Blick“<br />

Hält der Betroffene das Gerät in der Hand, gibt es keine Probleme, da dann schon die Voraussetzung des<br />

§ 23 Abs. 1a S. 1 Nr. 1 StVO nicht erfüllt ist. Problematischer sind die Fälle des nur „nicht nur kurzen<br />

Blicks“. Denn es wird in der Praxis nicht einfach sein, die längerfristige Blickabwendung und damit das<br />

Nichtvorliegen der § 23 Abs. 1a S. Nr. 2b StVO durch die Polizeibeamten bei einer i.d.R. kurzen<br />

Vorbeifahrt oder gar auf einem Überwachungsfoto zu beobachten und dem Betroffenen nachzuweisen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 395


Fach 9, Seite 994<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Die Ausschüsse im Bundesrat hatten an dieser Stelle daher empfohlen (vgl. BR-Drucks 556/1/17, S. 2), das<br />

Merkmal der „Erforderlichkeit“ als überflüssig entfallen zu lassen. Der Verordnungsgeber hat das<br />

Merkmal aber beibehalten. Offenbar soll es eine Beweiserleichterung, hervorgehoben im Gesetzestext<br />

durch „erfolgt oder erforderlich ist“, sein, die auf die Bedienung und Nutzung des Geräts Bezug nimmt<br />

und den Schluss auf eine objektiv erforderliche und – so die Begründung – „auch tatsächlich zu<br />

unterstellende Blickabwendung“ zulassen soll (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 26; BR-Drucks 556/1/17, S. 2 f.).<br />

Geht man davon aus (so wohl auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 69), muss aber der den angeblichen Verstoß<br />

Feststellende – i.d.R. ein Polizeibeamter bei der Vorbeifahrt oder auf einem Überwachungsfoto – auch<br />

feststellen (können), um welche konkrete Nutzung es sich gehandelt hat. Die Feststellung der Nutzung<br />

einer konkreten Gerätefunktion wird in der Praxis – kurze Vorbeifahrt (!) – wenn nicht unmöglich, so<br />

zumindest aber doch sehr schwierig sein (s. zu Beweisfragen auch unten IX.).<br />

Hinweis:<br />

Der Verteidiger muss dem Mandanten raten – falls dieser sich noch nicht eingelassen hat –, in diesen<br />

Fällen auf keinen Fall Angaben zur konkreten Nutzung zu machen. Denn dann ist ggf. der o.a. Schluss<br />

möglich (s. auch BR-Drucks 556/1/17, S. 2). Hat der Betroffene schon Angaben gegenüber der Polizei gemacht,<br />

z.B. in Zusammenhang mit einer Anhaltesituation, ist zu prüfen, inwieweit diese verwertbar sind<br />

oder ob ein Beweisverwertungsverbot besteht, weil der Betroffene nicht ausreichend belehrt worden ist<br />

(vgl. dazu BURHOFF/GÜBNER, OWi, Rn 423 ff.).<br />

VI.<br />

Ausnahmen vom Nutzungsverbot<br />

1. Stehendes Fahrzeug<br />

Nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 1 StVO gilt eine Ausnahme vom Benutzungsverbot, wenn das Fahrzeug steht.<br />

Diese Regelung entspricht dem früheren § 23 Abs. 1a S. 2 StVO a.F., so dass die dazu vorliegende frühere<br />

Rechtsprechung anwendbar bleibt (vgl. zum alten Recht OLG Bamberg NJW 2006, 3732 = VRR 2006, 431;<br />

OLG Düsseldorf NZV 20<strong>08</strong>, 584 = DAR 20<strong>08</strong>, 7<strong>08</strong>; OLG Hamm zfs 20<strong>08</strong>, 50 = VRS 113, 79). Der<br />

anhaltende Fahrradfahrer darf also telefonieren. Beim Kfz-Führer reicht hingegen das Anhalten allein<br />

nicht aus. Zusätzlich muss nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 StVO der Motor vollständig ausgeschaltet sein. Zur<br />

ähnlich lautenden Regelung nach früherem Recht war in Rechtsprechung und Literatur darum<br />

gestritten worden, ob eine verbotswidrige Benutzung eines Mobiltelefons durch einen Fahrzeugführer<br />

nicht vorliegt, wenn das Fahrzeug steht und der Motor infolge eines automatischen Ausschaltens des<br />

Motors (Start-Stopp-Funktion) ausgeschaltet ist (bejaht von OLG Hamm NJW 2015, 183 = NZV 2015,<br />

609 m. abl. Anm. HAMMER = VRR 2014, 474). Dieser Streit ist durch die Neuregelung erledigt. Denn § 23<br />

Abs. 1b S. 2 StVO bestimmt jetzt ausdrücklich, dass das fahrzeugseitige automatische Abschalten des<br />

Motors im Verbrennungsbetrieb oder das Ruhen des elektrischen Antriebs kein Ausschalten des Motors<br />

i.S.d. § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 1 StVO ist. Dann ist der Motor nicht vollständig ausgeschaltet.<br />

Der Einwand eines nur „kurzfristigen Halts“, z.B. an einer Ampel (OLG Hamm VRS 110, 43 =<br />

VRR 2006, 1<strong>08</strong>) oder vor einer geschlossenen Bahnschranke, ist ohne Bedeutung, wenn der Motor nicht<br />

im vorstehenden Sinn ausgeschaltet ist. Aber auch das Ausschalten des Motors, um ungestraft<br />

telefonieren zu können, ist in diesen Fällen nicht ungefährlich. Setzt der Kfz-Führer dann nämlich seine<br />

Fahrt ggf. verspätet – weil ja erst noch gestartet werden muss – fort, kann eine Ordnungswidrigkeit<br />

nach § 1 Abs. 1 StVO in Betracht kommen (zum alten Recht OLG Bamberg NJW 2006, 3732 =<br />

VRR 2006, 431; KÖNIG, in: HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 23 StVO Rn 33;<br />

s. auch OLG Hamm a.a.O.). Wenn das Kfz steht und der Motor ausgeschaltet ist, ist die Benutzung des<br />

elektronischen Geräts erlaubt (OLG Bamberg NJW 2006, 3732 = DAR 2007, 95; OLG Dresden,<br />

Beschl. v. 25.4.2006 – Ss [OWi] 187/06). Auch in diesen Fällen ist ein Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO<br />

anzunehmen, wäre angesichts des eindeutigen und klaren Wortlauts der Vorschrift in § 23 Abs. 1b S. 1<br />

Nr. 3, S. 2 StVO aber eine verbotene Analogie zu Lasten des Betroffenen (zum alten Recht OLG Bamberg<br />

a.a.O.). Auf die Dauer des Halts kommt es nicht an (zum alten Recht OLG Dresden a.a.O.).<br />

396 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 995<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

2. Weitere Ausnahmen<br />

In § 23 Abs. 1b S. 1 StVO sind weitere Ausnahmen enthalten:<br />

• Nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 2 StVO ist der bestimmungsgemäße Betrieb einer atemalkoholgesteuerten<br />

Wegfahrsperre, soweit ein für den Betrieb bestimmtes Handteil aufgenommen und gehalten werden<br />

muss, zulässig.<br />

• Nach § 23 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 StVO muss bei stehenden Straßenbahnen oder Linienbussen an<br />

Haltestellen der Motor nicht ausgeschaltet sein. Gemeint sind damit nur solche Haltestellen, die<br />

durch das Zeichen 224 gekennzeichnet sind. Erlaubt ist die Nutzung bei laufendem Motor nicht bei<br />

sonstigen Halten. Durch diese Regelung soll der Verkauf von Fahrscheinen oder das Erteilen von<br />

Auskünften, wozu häufig die Benutzung eines Bildschirms erforderlich ist, erleichtert werden. Dies<br />

nur bei abgeschaltetem Motor zu erlauben, würde zu unnötigen Verzögerungen im Betriebsablauf<br />

des öffentlichen Personennahverkehrs führen (BR-Drucks 556/17, S. 28).<br />

VII. Schuldform<br />

Die Benutzung des elektronischen Geräts kann nicht fahrlässig begangen werden. Auch die<br />

Neuregelung enthält dazu zwar wie § 23 Abs. 1a StVO a.F. keine ausdrückliche Regelung, aber das<br />

verbotswidrige Nutzen während der Fahrt in Form des Aufnehmens oder In-der-Hand-Haltens und der<br />

nicht nur kurzen Blickzuwendung wird regelmäßig nur vorsätzlich begangen werden können (zur<br />

früheren Regelung OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2014 – IV-2 RBs 37/14; OLG Hamm VRR 2007, 317 =<br />

NZV 2007, 483; VA 2009, 30; OLG Jena VRS 107, 472 = NZV 2005, 1<strong>08</strong>; OLG Zweibrücken zfs 2012, 170 =<br />

DAR 2012, 403). Dafür spricht, dass der Verordnungsgeber – folgerichtig – den Verstoß nach wie vor in<br />

Teil II des Bußgeldkatalogs bei den vorsätzlichen Verstößen eingeordnet hat (vgl. Nr. 246.1, 246.2 BKat).<br />

Deswegen kommt eine Erhöhung des Regelbußgelds wegen vorsätzlicher Begehungsweise nicht in<br />

Betracht (KG NJW 2006, 3<strong>08</strong>0; OLG Hamm NZV 20<strong>08</strong>, 583 = VRS 115, 207; OLG Jena a.a.O.; FROMM MMR<br />

<strong>2018</strong>, 68, 70).<br />

Hinweis:<br />

Der Grundsatz, dass bei im Bußgeldbescheid nicht angegebener Schuldform von fahrlässigem Handeln<br />

auszugehen ist und eine Verurteilung wegen Vorsatzes nur nach einem Hinweis gem. § 265 StPO erfolgen<br />

kann, gilt bei Verstößen gegen § 23 Abs. 1a StVO nicht, da ein solcher Verstoß, zumindest in aller Regel,<br />

eben nur vorsätzlich verwirklicht werden kann (OLG Karlsruhe VA 2014, 49 zum alten Recht).<br />

VIII. Rechtsfolgen bei verbotswidriger Benutzung<br />

1. Geldbuße<br />

Ab 19.10.2017 beträgt die Geldbuße bei Radfahrern 55 € (Nr. 246.4 BKat). Bei Kraftfahrern beträgt die<br />

Geldbuße ab 19.10.2017 im „Grundtatbestand“ Nr. 246.1 BKat 100 €. Kommt es zu einer „Gefährdung“,<br />

kann nach Nr. 246.2 eine Geldbuße von 150 € festgesetzt werden. Bei einer „Sachbeschädigung“ erhöht<br />

sich die Geldbuße auf 200 €. Für die Begriffe der „Gefährdung“ und „Sachbeschädigung“ gelten die<br />

allgemeinen Regeln.<br />

2. Fahrverbot<br />

a) Regelfahrverbot<br />

In Nr. 246.2 und Nr. 246.3 BKat ist jetzt in den Fällen der „Gefährdung“ oder „Sachbeschädigung“<br />

ausdrücklich die Möglichkeit der Verhängung eines Fahrverbots vorgesehen. Damit soll deutlicher das<br />

Gewicht dieser Verstöße und ihre Auswirkungen auf die Sicherheit des Straßenverkehrs betont werden<br />

(BR-Drucks 556/17, S. 36 f.).<br />

Die Tatbestände der Nr. 246.2 und 246.3 BKat sind in den Katalog des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKatV<br />

aufgenommen worden. Damit wird der Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO im Falle der Gefährdung und<br />

Sachbeschädigung als grobe Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers eingestuft, der zu einem<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 397


Fach 9, Seite 996<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Regelfahrverbot führt (vgl. dazu BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1290 ff.). Die Neuregelung geht zur<br />

Begründung (vgl. BR-Drucks 556/17, S. 34) davon aus, dass die verbotswidrige Nutzung eines<br />

elektronischen Geräts zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Fahrleistung des Fahrzeugführers<br />

führt und objektiv ein hohes Gefährdungspotenzial für die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer<br />

aufweist, welches sich im Falle einer eingetretenen Gefährdung oder Sachbeschädigung bereits<br />

manifestiert hat. Die vorsätzliche und rechtswidrige Nutzung der elektronischen Geräte durch den Kfz-<br />

Fahrzeugführer wird in diesen Fällen als besonders leichtsinnig, grob nachlässig und gleichgültig<br />

eingeordnet, was dann zur Androhung eines Fahrverbots führt.<br />

Für dieses Regelfahrverbot gelten die allgemeinen Regeln. Ein Absehen vom Fahrverbot wird – wenn<br />

überhaupt – nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Dem steht im Zweifel nicht nur die<br />

grundsätzlich vorsätzliche Begehungsweise (vgl. oben VII.) entgegen, sondern auch, dass es zu einer<br />

Gefährdung bzw. Sachbeschädigung gekommen ist. Zudem gilt: Wer ein elektronisches Gerät<br />

verbotswidrig benutzt und daher ein Verkehrsschild übersieht, kann sich deshalb nicht auf ein sog.<br />

Augenblicksversagen berufen. Er muss sich darauf einstellen, dass ihn die Nutzung u.U. ablenken und<br />

die Beherrschung des Fahrzeugs einschränken kann (vgl. KG, Beschl. v. 19.1.2000 – 2 StVO 319/99 u.<br />

StVO (B) 669/99; OLG Hamm VA 2003, 168; OLG Karlsruhe NZV 2004, 211, jew. für Geschwindigkeitsüberschreitung).<br />

Er hat daher durch erhöhte Sorgfalt sicherzustellen, dass es zu keiner verkehrsrelevanten<br />

Beeinträchtigung kommt (vgl. KG a.a.O.). Dies gilt auch für einen Rotlichtverstoß. Der<br />

Fahrzeugführer, der vor einer Rotlicht zeigenden Verkehrsampel anhält, nach mehreren Sekunden aber<br />

trotz Fortdauer des Rotlichts telefonierend und ohne Beobachtung der Lichtsignalanlage losfährt, weil<br />

er „aus dem Unterbewusstsein“ annimmt, die Ampel habe inzwischen auf Grünlicht gewechselt, verletzt<br />

grob seine Pflichten als Kraftfahrer und handelt verantwortungslos. Sein Verhalten stellt einen<br />

qualifizierten Rotlichtverstoß i.S.d. Nr. 132.2 BKatV dar, auch wenn kein anderer Verkehrsteilnehmer<br />

konkret gefährdet worden ist. Die Nutzung eines elektronischen Geräts entlastet nicht (OLG Düsseldorf<br />

NZV 1998, 335 = VRS 95, 228 für Nutzung eines Mobiltelefons).<br />

b) Sonstige Fälle<br />

Die unzulässige Nutzung eines elektronischen Geräts kann über die ausdrücklich geregelten Fälle in<br />

Nr. 246.2, Nr. 246.3 BKat hinaus zur Verhängung eines Fahrverbots führen. Das ist durch die erfolgte<br />

Neuregelung nicht ausgeschlossen. Insoweit gilt: Die unzulässige Nutzung kann ein erschwerender<br />

Umstand sein, der auf die Dauer eines schon aus anderen Gründen zu verhängenden Fahrverbots<br />

Einfluss haben kann. Allerdings ist die Verhängung eines längeren Fahrverbots als das Regelfahrverbot<br />

bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung nur gerechtfertigt, wenn festgestellt werden kann, dass die<br />

Bedienung des Mobiltelefons die dem Betroffenen vorgeworfene erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

auch ausgelöst hat (OLG Hamm VA 2002, 170 zum alten Recht).<br />

Ein Verstoß gegen § 23a Abs. 1a StVO kann zudem auch selbst die Anordnung eines Fahrverbots gem.<br />

§ 25 Abs. 1 StVG wegen beharrlicher Pflichtverletzung rechtfertigen (OLG Bamberg NJW 2007, 3655 f. =<br />

VRR 20<strong>08</strong>, 36 f.; VRR 2013, 153 = zfs 2013, 350; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2014 – 2 RBs 37/14, insoweit<br />

nicht in NZV 2015, 203; OLG Hamm VRR 2014, 111 = zfs 2014, 111; OLG Jena VRS 111, 205 = DAR 2007, 157).<br />

Allerdings kann aus einem einmaligen Verstoß bei der Beurteilung einer (wiederholten) Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

als „beharrlich“ i.S.v. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV nicht ohne<br />

Weiteres auf den für einen beharrlichen Pflichtenverstoß unabdingbaren inneren Zusammenhang im<br />

Sinn einer auf mangelnder Verkehrsdisziplin beruhenden Unrechtskontinuität geschlossen werden<br />

(s. OLG Bamberg a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Verstößt der Betroffene wiederholt gegen § 23 Abs. 1a StVO, kann die Verhängung eines Fahrverbots<br />

allein wegen dieser Verstöße in Betracht kommen (vgl. u.a. OLG Hamm a.a.O.).<br />

398 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 997<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

3. Entziehung der Fahrerlaubnis<br />

Auch die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 StVG liegt, da der Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO zu<br />

Punkten im Fahrerlaubnisregister führt, im Bereich des Möglichen (vgl. zum alten Recht VG<br />

Gelsenkirchen, Beschl. v. 9.12.2014 – 9 L 1533/14, zit. nach TERNIG DAR 2015, 231, 232 Fn 9). Es gilt:<br />

• Für einen „allgemeinen“ Verstoß i.S.d. Nr. 246.1 BKat wird ein Punkt eingetragen (vgl. Anlage 13 zu<br />

§ 40 FEV Ziffer 3.2.15).<br />

• Die beiden qualifizierten Verstöße gegen § 23 Abs. 1a StVO – mit Gefährdung oder mit<br />

Sachbeschädigung (Nr. 246.2/246.3 BKat) – sind nach der Systematik der Anlage 13 zur FeV jeweils<br />

mit zwei Punkten eingestuft und dazu in die Ziffer 2.2.8b der Anlage 13 zu § 40 FEV eingeordnet<br />

worden.<br />

• Darüber hinaus sind Verstöße gegen § 23 Abs. 1a StVO in den Katalog der Anlage 12 zu § 34 Abs. 1 FEV<br />

für die Bewertung der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Rahmen der Fahrerlaubnis auf Probe<br />

aufgenommen worden. Ein Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO stellt einen sog. A-Verstoß dar. Dies wird<br />

damit begründet, dass sich junge Fahrzeugführer zu einem häufigeren Hantieren mit dem<br />

Smartphone verleiten lassen. Dem soll bei Fahranfängern besonders entgegengewirkt werden (vgl.<br />

BR-Drucks 556/17, S. 38).<br />

IX. Hinweise für die Verteidigung<br />

In der Praxis der Verteidigung gegen den Vorwurf der unerlaubten Nutzung eines elektronischen<br />

Geräts spielt das Einlassungsverhalten des Betroffenen eine nicht unerhebliche Rolle (vgl. IX. 1.). Zudem<br />

ist darauf zu achten, dass sich aus dem tatrichterlichen Urteil insbesondere ergibt, dass das Gerät im<br />

Straßenverkehr benutzt worden ist (vgl. dazu IX. 2. und HERRMANN NStZ-RR 2011, 65, 72 zum alten Recht).<br />

Von Bedeutung sind auch Fragen der Beweiswürdigung (vgl. IX. 2.; zur Sicherstellung von Smartphones<br />

im Hinblick auf die Beweisführung TERNIG/LELLMANN NZV 2016, 454; SIMON NZV 2017, 7, 9).<br />

1. Einlassung<br />

Der Begriff der Benutzung ist schon in der Vergangenheit zu § 23 Abs. 1a StVO a.F. von der<br />

Rechtsprechung weit ausgelegt worden (s oben V. 1.; BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 977, 980 ff.). Das hatte zur<br />

Folge, dass in der Vergangenheit nur wenige Einlassungen des Betroffenen dazu geführt haben, eine<br />

Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO a.F. zu verhindern (vgl. dazu die<br />

Zusammenstellung bei V. 1. sowie bei BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 2829). Daran hat sich durch die<br />

Neuregelung des § 23 Abs. 1a StVO (vgl. oben I. 2.) nichts geändert, zumal es jetzt nicht mehr darauf<br />

ankommt, ob das Gerät in der Hand gehalten werden muss, sondern darauf, ob es gehalten wird. In allen<br />

Fällen, in denen das festgestellt werden kann und es sich um ein elektronisches Gerät handelt, wird eine<br />

Verurteilung nur schwer zu vermeiden sein. Das kann allenfalls gelingen, wenn der Betroffene geltend<br />

macht, er habe mit „längerem Blick“ ein elektronisches Gerät benutzt, ohne dass er dieses in der Hand<br />

gehalten hat (s. auch FROMM MMR <strong>2018</strong>, 68, 70; zum kurzen Blick s. oben V. 2. b).<br />

In diesem Zusammenhang muss der Verteidiger immer darauf achten, dass die Erklärung seines<br />

Mandanten, er habe nicht ein elektronisches Gerät genutzt, sondern eine andere Tätigkeit verrichtet<br />

bzw. bei dem Gegenstand, den er in Händen gehalten habe, habe es sich nicht um ein elektronisches<br />

Gerät gehandelt, ggf. nicht im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung als „lebensfremd“<br />

qualifiziert wird. Das hat z.B. zu § 23 Abs. 1a StVO a.F. das OLG Hamm für die Einlassung des<br />

Betroffenen bejaht, er habe nicht mit einem Handy telefoniert, sondern sich mit einem Akkurasierer,<br />

der wie ein Handy aussehe, rasiert (OLG Hamm NZV 2007, 96 = DAR 2007, 216; s. auch AG Rinteln,<br />

Urt. v. 27.10.2016 – 24 OWi 32/16). Für die Einlassung, ein Handy sei als „Wärmeakku“ benutzt worden,<br />

ist die „Ernsthaftigkeit“ dieser Einlassung angezweifelt worden (OLG Hamm zfs 20<strong>08</strong>, 50 =<br />

VRR 20<strong>08</strong>, 37 in einem obiter dictum).<br />

2. Checkliste: Tatrichterliches Urteil<br />

Ist der Mandant wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO verurteilt worden, sind die<br />

tatrichterlichen Urteilsgründe sorgfältig daraufhin zu prüfen, ob sie den festgestellten Verstoß tragen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 399


Fach 9, Seite 998<br />

Mobiltelefon/elektronische Geräte im Straßenverkehr<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Checkliste:<br />

□ Ergibt sich aus dem Urteil, dass das elektronische Gerät beim Führen eines Fahrzeugs – Kfz oder<br />

Fahrrad – im öffentlichen Straßenverkehr benutzt worden ist?<br />

Insoweit gelten die allgemeinen Regeln (vgl. BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 955 ff. sowie BURHOFF/BURHOFF, OWi,<br />

Rn 3560 ff.).<br />

□ Ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass es sich bei dem benutzten Gerät um ein elektronisches Gerät<br />

gehandelt hat (vgl. dazu oben IV.; s. AG Göttingen DAR 2015, 588)?<br />

Ausreichend ist insoweit, wenn das Urteil allein das feststellt, die Marke und/oder weitere Eigenschaften<br />

des Geräts sind grundsätzlich nicht festzustellen.<br />

□ Ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass der Betroffene das Mobiltelefon aufgenommen oder in der<br />

Hand gehalten hat oder, wenn das nicht der Fall ist, einen nicht nur kurzen Blick auf das Gerät geworfen<br />

hat (s. oben V.)? Ergibt sich ggf., welche Nutzung vorgelegen hat (vgl. dazu zum alten Recht<br />

OLG Hamm VRR 2009, 3 [Ls.]; NZV 2007, 483 = VRR 2007, 317)?<br />

□ Für die Überprüfung der Beweiswürdigung:<br />

□ Hat der Tatrichter sich im Rahmen der Beweiswürdigung ausreichend mit der Einlassung des<br />

Betroffenen auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, warum er ihr nicht folgt (vgl. zur<br />

Beweiswürdigung BURHOFF/BURHOFF, OWi, Rn 3752)?<br />

□ Wie hat der Polizeibeamte den ggf. „nicht nur kurzen Blick“ bei einer ggf. nur kurzen Vorbeifahrt<br />

festgestellt? Welche Nutzungsmöglichkeiten liegen vor? War die Feststellung angesichts der Kürze<br />

der Vorbeifahrt überhaupt möglich?<br />

□ Kann sich ein Polizeibeamter, der als Zeuge vernommen wird, an den Vorfall nicht mehr erinnern und<br />

nimmt er (nur) auf die von ihm erstattete Anzeige Bezug, muss der Tatrichter klären, ob der Polizeibeamte<br />

die volle Verantwortung für den Inhalt der Anzeige übernimmt, in welcher Weise er bei der<br />

Anzeigenerstattung beteiligt gewesen ist und ob und ggf. inwieweit ein Irrtum ausgeschlossen ist und<br />

warum es verständlich erscheint, dass der Polizeibeamte den Vorfall nicht mehr in Erinnerung hat, falls<br />

insoweit Zweifel einsetzen können (OLG Düsseldorf NZV 1999, 348; NZV 2015, 403; vgl. dazu auch AG<br />

Landstuhl DV 2015, 141).<br />

□ Wenn der Betroffene eine Ausnahme nach § 23 Abs. 1b StVO (vgl. VI.) geltend gemacht hat: Hat sich der<br />

Tatrichter mit dem Nichtvorliegen der Ausnahme ausreichend auseinandergesetzt?<br />

Das bedeutet: Ergibt sich aus dem Urteil, dass das Fahrzeug nicht gestanden hat und – bei einem Kfz –<br />

der Motor nicht ausgeschaltet war? Insoweit wird es aber im Zweifel ausreichen, wenn das Urteil<br />

darlegt, dass der Betroffene das Mobiltelefon „während der Fahrt“ benutzte.<br />

3. Rechtskraftwirkung<br />

Es ist immer auch zu beachten, dass ein Bußgeldbescheid wegen der verbotenen Benutzung eines<br />

Mobiltelefons Rechtskraftwirkung wegen anderer auf der Fahrt begangener Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />

entfaltet (vgl. OLG Saarbrücken VRS 110, 362 = VRR 2006, 317 wegen Verstoßes gegen<br />

§ 24a Abs. 1 StVG). Das bedeutet, dass das Verfahren wegen der anderen Verkehrsordnungswidrigkeit<br />

einzustellen ist, wenn wegen der verbotswidrigen Benutzung des Mobiltelefons bereits ein rechtskräftiger<br />

Bußgeldbescheid vorliegt (OLG Saarbrücken a.a.O. für Trunkenheitsfahrt; AG Homburg<br />

zfs 2007, 472). Entsprechendes gilt für ein wegen des Verstoßes gegen das Handyverbot erlassenes<br />

Verwarnungsgeld (AG Bonn zfs 2007, 473).<br />

Hinweis:<br />

Der Kfz-Führer verstößt nicht nur gegen § 23 Abs. 1a StVO, wenn er sein Kfz mit laufendem Motor auf dem<br />

Seitenstreifen einer Bundesautobahn/Kraftfahrstraße anhält und während der Standzeit ein Telefonat mit<br />

einem Mobiltelefon führt, sondern tateinheitlich auch gegen § 18 Abs. 8 StVO (OLG Düsseldorf NZV 20<strong>08</strong>,<br />

548 = DAR 20<strong>08</strong>, 7<strong>08</strong>).<br />

400 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1121<br />

Abwicklung einer Kanzlei<br />

Anwaltsrecht<br />

Hinweise für die Tätigkeit des Abwicklers – Stand März <strong>2018</strong><br />

– erarbeitet durch den Ausschuss „Abwickler/Vertreter“ der Bundesrechtsanwaltskammer –<br />

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bundesrechtsanwaltskammer.<br />

Inhalt<br />

I. Bestandsaufnahme<br />

II. Geld- und Postverkehr, beA<br />

1. Sichtung der Buchhaltung zur Feststellung<br />

der Bankverbindungen und des Geldverkehrs<br />

2. Anderkonto<br />

3. Pfändungen<br />

4. Kassen/vorhandene Bargelder<br />

5. Buchhaltung/Steuern<br />

6. Postsendungen<br />

7. Besonderes elektronisches Anwaltspostfach<br />

– beA<br />

III. Inventar/Räume/Arbeitsverhältnisse<br />

1. Miete/Räume<br />

2. Miete/Geräte<br />

3. Arbeits-/Ausbildungsverhältnisse<br />

IV. Mandate<br />

1. Gemeinsame Regeln<br />

2. Fortführung von Mandaten<br />

3. Annahme neuer Mandate<br />

4. Abgeschlossene Mandate<br />

5. Gebühren<br />

V. Haftung<br />

VI. Vergütung des Kanzleiabwicklers<br />

VII. Verhältnis zwischen Abwickler und<br />

Insolvenzverwalter<br />

Gesetzliche Grundlage:<br />

§ 55 BRAO: Bestellung eines Abwicklers der Kanzlei<br />

(1) Ist ein Rechtsanwalt gestorben, so kann die Rechtsanwaltskammer einen Rechtsanwalt oder eine andere<br />

Person, welche die Befähigung zum Richteramt erlangt hat, zum Abwickler der Kanzlei bestellen. Für weitere<br />

Kanzleien kann derselbe oder ein anderer Abwickler bestellt werden. § 7 gilt entsprechend. Der Abwickler ist in<br />

der Regel nicht länger als für die Dauer eines Jahres zu bestellen. Auf Antrag des Abwicklers ist die Bestellung,<br />

höchstens jeweils um ein Jahr, zu verlängern, wenn er glaubhaft macht, dass schwebende Angelegenheiten<br />

noch nicht zu Ende geführt werden konnten.<br />

(2) Dem Abwickler obliegt es, die schwebenden Angelegenheiten abzuwickeln. Er führt die laufenden Aufträge fort;<br />

innerhalb der ersten sechs Monate ist er auch berechtigt, neue Aufträge anzunehmen. Ihm stehen die anwaltlichen<br />

Befugnisse zu, die der verstorbene Rechtsanwalt hatte. Der Abwickler gilt für die schwebenden Angelegenheiten<br />

als von der Partei bevollmächtigt, sofern diese nicht für die Wahrnehmung ihrer Rechte in anderer<br />

Weise gesorgt hat.<br />

(3) § 53 Abs. 5 S. 3, Abs. 9 und 10 gilt entsprechend. Der Abwickler ist berechtigt, jedoch außer im Rahmen eines<br />

Kostenfestsetzungsverfahrens nicht verpflichtet, Kostenforderungen des verstorbenen Rechtsanwalts im<br />

eigenen Namen für Rechnung der Erben geltend zu machen.<br />

(4) Die Bestellung kann widerrufen werden.<br />

(5) Abwickler können auch für die Kanzlei und weitere Kanzleien eines früheren Rechtsanwalts bestellt werden,<br />

dessen Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erloschen ist.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 401


Fach 23, Seite 1122<br />

Abwicklung einer Kanzlei<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

§ 53 BRAO: Bestellung eines Vertreters<br />

(1) bis (8) (…)<br />

(9) Der Vertreter wird in eigener Verantwortung, jedoch im Interesse, für Rechnung und auf Kosten des<br />

Vertretenen tätig. Die §§ 666, 667 und 670 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelten entsprechend.<br />

(10) Der von Amts wegen bestellte Vertreter ist berechtigt, die Kanzleiräume zu betreten und die zur Kanzlei<br />

gehörenden Gegenstände einschließlich des der anwaltlichen Verwahrung unterliegenden Treugutes in Besitz<br />

zu nehmen, herauszuverlangen und hierüber zu verfügen. An Weisungen des Vertretenen ist er nicht gebunden.<br />

Der Vertretene darf die Tätigkeit des Vertreters nicht beeinträchtigen. Er hat dem von Amts wegen<br />

bestellten Vertreter eine angemessene Vergütung zu zahlen, für die Sicherheit zu leisten ist, wenn die Umstände<br />

es erfordern. Können sich die Beteiligten über die Höhe der Vergütung oder über die Sicherheit nicht<br />

einigen oder wird die geschuldete Sicherheit nicht geleistet, setzt der Vorstand der Rechtsanwaltskammer auf<br />

Antrag des Vertretenen oder des Vertreters die Vergütung fest. Der Vertreter ist befugt, Vorschüsse auf die<br />

vereinbarte oder festgesetzte Vergütung zu entnehmen. Für die festgesetzte Vergütung haftet die Rechtsanwaltskammer<br />

wie ein Bürge.<br />

Die Bestellung eines Abwicklers erfolgt<br />

• zum Schutz des Mandanten,<br />

• zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege,<br />

• zur Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft.<br />

Tätigkeit<br />

Der Abwickler wird in eigener Verantwortung, jedoch im Interesse, für Rechnung und auf Kosten des<br />

Ausgeschiedenen tätig (§ 55 Abs. 3, § 53 Abs. 9 BRAO). Die Tätigkeit erstreckt sich nicht auf das<br />

Vermögen des Ausgeschiedenen; insbesondere tritt der Abwickler nicht in die Vertragsverhältnisse des<br />

Ausgeschiedenen ein. Bezüglich der Vergütung wird auf § 53 Abs. 10 BRAO verwiesen.<br />

In entsprechender Anwendung der §§ 666, 667 und 670 BGB ist der Abwickler auskunfts-, rechnungsund<br />

herausgabepflichtig; andererseits hat er einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen nur gegen<br />

den Ausgeschiedenen bzw. die Erben. Eine eventuelle Bürgenhaftung der Rechtsanwaltskammer<br />

bezieht sich nur auf eine festgesetzte Vergütung, nicht auf Auslagen (§ 53 Abs. 9, 10 BRAO).<br />

I. Bestandsaufnahme<br />

Betreten der Kanzlei<br />

Der Abwickler ist berechtigt, die Kanzleiräume zu betreten und die zur Kanzlei gehörenden Gegenstände<br />

einschließlich des der anwaltlichen Verwahrung unterliegenden Treuguts in Besitz zu nehmen,<br />

herauszuverlangen und hierüber zu verfügen (§ 55 Abs. 2 BRAO).<br />

Der Abwickler ist an Weisungen des Ausgeschiedenen (Erben) nicht gebunden; dieser darf die Tätigkeit<br />

des Abwicklers nicht beeinträchtigen.<br />

a) Das Betreten der Kanzleiräume ist gegebenenfalls durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen<br />

Verfügung (§§ 935, 945 ZPO) zu erzwingen. Keine Selbsthilfe.<br />

b) Soweit erforderlich, hat der Abwickler Sicherungsmaßnahmen (z.B. Auswechslung der Schlösser)<br />

vorzunehmen.<br />

II.<br />

Geld- und Postverkehr, beA<br />

1. Sichtung der Buchhaltung zur Feststellung der Bankverbindungen und des Geldverkehrs<br />

Aufgrund von Geschäftsbedingungen der Banken kann der Abwickler Verfügungsbevollmächtigter über<br />

die Anderkonten des früheren Rechtsanwalts werden. In der Praxis räumen die Banken dem Abwickler<br />

keine Verfügungsbefugnis über das Geschäftskonto ein. Hier ist im Einzelfall die Vollmacht des<br />

402 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1123<br />

Abwicklung einer Kanzlei<br />

Ausgeschiedenen bzw. der Erben einzuholen. Sollten auf einem Geschäftskonto Fremdgelder eingehen,<br />

ist die Bank, wenn sie der Verfügungsbefugnis nicht zustimmt, darüber zu informieren, dass diese<br />

unverzüglich auszuzahlen sind; gegebenenfalls ist sie „bösgläubig“ zu machen. Dies gilt insbesondere<br />

dann, wenn sich das Geschäftskonto im Minus befindet.<br />

Dem Abwickler ist unbedingt die Errichtung eines neuen Geschäftskontos zu empfehlen, um<br />

missbräuchlichen Verfügungen des neben ihm noch bevollmächtigten Kontoinhabers vorzubeugen.<br />

Auf dieses Konto ist ein Guthaben zu übertragen.<br />

2. Anderkonto<br />

Für Fremdgeld ist ein Anderkonto einzurichten. Soweit auf dem allgemeinen Rechtsanwaltskonto des<br />

Ausgeschiedenen noch Fremdgeld lagert, das weiterzuleiten ist, sind geeignete Maßnahmen zu<br />

ergreifen, dieses Fremdgeld zu sichern, notfalls durch einen Arrest.<br />

3. Pfändungen<br />

Das LG Kiel (Beschl. v. 20.11.1989 – 13 T 474/89) nimmt den Vorrang der zur Fortführung der Praxis<br />

notwendigen Mittel zur Deckung der Miet-, Sach- und Personalkosten an, zu denen auch die<br />

Vergütungsansprüche des Abwicklers gehören (§ 850i ZPO).<br />

4. Kassen/vorhandene Bargelder<br />

Der Abwickler wird nicht Eigentümer des vorgefundenen Barvermögens. Er ist lediglich gem. § 55 Abs. 3<br />

S. 1 BRAO, § 53 Abs. 9 BRAO, § 670 BGB zur Inbesitznahme des Barvermögens berechtigt, um dieses im<br />

Rahmen der Aufwendungen für die Praxis (Zahlung von Portokosten, Gerichtskosten oder Ähnliches) zu<br />

verwenden.<br />

5. Buchhaltung/Steuern<br />

Der Abwickler ist ab dem Tag der Amtsübernahme zur Errichtung einer eigenen, anwaltsüblichen<br />

Buchhaltung verpflichtet. Er ist zur Abführung der vereinnahmten Umsatzsteuer unter Gegenrechnung<br />

der Vorsteuer verpflichtet. Sonstige Steuererklärungen (Einkommensteuererklärungen etc.) obliegen<br />

dem Abwickler nicht.<br />

6. Postsendungen<br />

Der Abwickler hat von Beginn seiner Tätigkeit an sicherzustellen, dass er Kenntnis von der<br />

Geschäftskorrespondenz des ausgeschiedenen Rechtsanwalts erhält. Das kann er durch entsprechende<br />

Bekanntgabe gegenüber den Mandanten, Gegnern und Gerichten ebenso bewirken wie durch<br />

Post-Nachsendeaufträge oder die direkte Einsicht in die Kanzlei. Er muss sicherstellen, dass der<br />

ausgeschiedene Rechtsanwalt nicht die Post abfangen und unterdrücken kann. Der Anspruch des<br />

Abwicklers auf Herausgabe der gesamten Kanzleipost ist daher im Wege der einstweiligen Verfügung<br />

geltend zu machen, wenn eine einverständliche Lösung nicht möglich ist.<br />

Zu den Aufgaben des Abwicklers gehört es nicht, Zustellungen anzunehmen, die den ausgeschiedenen<br />

Rechtsanwalt als Beschuldigten oder Angeklagten betreffen. Das Gleiche gilt, wenn die Postsendungen<br />

Ämter betreffen, die der Ausgeschiedene inne hatte oder noch bekleidet.<br />

7. Besonderes elektronisches Anwaltspostfach – beA<br />

Der Abwickler muss Zugriff auf das beA des Abzuwickelnden haben. Hier kommt die Regelung in § 25<br />

Abs. 3 RAVPV zur Anwendung. Wird ein Vertreter oder Abwickler bestellt, so räumt die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

diesem für die Dauer seiner Bestellung einen auf die Übersicht der eingegangenen<br />

Nachrichten beschränkten Zugang zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach der<br />

Person ein, für die er bestellt oder benannt ist. Dabei müssen für den Vertreter oder Abwickler der<br />

Absender und der Eingangszeitpunkt der Nachricht einsehbar sein; der Betreff, der Text und die<br />

Anhänge der Nachricht dürfen nicht einsehbar sein. Die zur Einräumung des Zugangs erforderliche<br />

Übermittlung von Daten durch die Rechtsanwaltskammer an die Bundesrechtsanwaltskammer erfolgt<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 403


Fach 23, Seite 1124<br />

Abwicklung einer Kanzlei<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

im automatisierten Verfahren. Der Abwickler hat mit seiner Bestellung automatisch Zugang zu den<br />

erforderlichen Daten des Abzuwickelnden. Jedoch hat der Abwickler Zugang nur auf beschränkte<br />

Datensätze. Bei Eingang eines Dokuments hat er Zugriff auf die Absenderdaten und den Betreff und<br />

kann dies der entsprechenden Akte zuordnen. Es empfiehlt sich, mit dem Absender Kontakt<br />

aufzunehmen, über die Bestellung als Abwickler zu informieren und zu bitten, das Dokument direkt<br />

auf das beA des Rechtsanwalts (Abwickler) zu senden.<br />

III. Inventar/Räume/Arbeitsverhältnisse<br />

Der Abwickler wird aber nicht Schuldner der bestehenden Vertragsverhältnisse, handelt andererseits auf<br />

eigenes Risiko bei der Eingehung von Verpflichtungen; die Bürgenhaftung der Kammer erstreckt sich<br />

nur auf die Vergütung.<br />

1. Miete/Räume<br />

Mieter und damit zur Zahlung des Mietzinses verpflichtet bleibt allein der Ausgeschiedene. Nur gegen<br />

diesen kann der Vermieter seine Ansprüche geltend machen.<br />

a) Räume werden benötigt<br />

Ist der Abwickler auf die Benutzung der Büroräume für seine Tätigkeit angewiesen und zahlt der<br />

Ausgeschiedene die Miete nicht oder kündigt er die Räume, kann der Abwickler nach Maßgabe des<br />

Auftragsrechts die Nutzungsentschädigung, die er aufwenden muss, um die Räume weiter nutzen zu<br />

können, als Aufwendungen geltend machen, allerdings ausschließlich gegenüber dem Ausgeschiedenen<br />

(§ 55 Abs. 3 i.V.m. § 53 Abs. 9, 10 BRAO).<br />

b) Räume werden nicht benötigt<br />

Benötigt der Abwickler die Büroräume für seine Tätigkeit nicht, sollte er die Abwicklungstätigkeit von<br />

seiner eigenen Kanzlei aus erledigen.<br />

2. Miete/Geräte<br />

Es gilt das Gleiche für die Mietverhältnisse über elektronische Geräte (PC, Kopierer, Telefonanlage).<br />

3. Arbeits-/Ausbildungsverhältnisse<br />

Der Abwickler wird nicht Vertragspartner. Das Arbeitsverhältnis endet nicht durch den Widerruf der<br />

Zulassung. Bei einem Ausbildungsverhältnis muss der frühere Rechtsanwalt kündigen, da er zur<br />

Ausbildung von Rechtsanwaltsfachangestellten nicht mehr befugt ist. Kümmert sich der ausgeschiedene<br />

Rechtsanwalt nicht um das Ausbildungsverhältnis, sollte sich der Abwickler diesbezüglich an<br />

die Rechtsanwaltskammer wenden, die als zuständige Stelle nach dem Berufsbildungsgesetz zu<br />

informieren ist. In der Regel wird in Absprache mit den Auszubildenden ein neuer Ausbildungsplatz<br />

gesucht.<br />

IV.<br />

Mandate<br />

1. Gemeinsame Regeln<br />

a) Mitteilung an Gegner und beteiligte Gerichte<br />

Die frühere Verpflichtung des Abwicklers, seine Bestellung dem Gericht anzuzeigen, bei dem der<br />

ausgeschiedene Rechtsanwalt zugelassen war, ist entfallen. Für den Abwickler bestehen keine weiteren<br />

Anzeigepflichten. Die Abwicklerbestellung wird nach der Neuregelung in § 31 Abs. 3 Nr. 8 BRAO im<br />

Gesamtverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer eingetragen.<br />

Sowohl die Gegner als auch die beteiligten Gerichte sollen jedoch im Rahmen der Mandatsfortführung<br />

über die Abwicklertätigkeit informiert werden.<br />

404 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1125<br />

Abwicklung einer Kanzlei<br />

b) Auskünfte an Dritte<br />

Informationen sollten möglichst nur aufgrund schriftlicher Anfragen erfolgen und nur, nachdem die<br />

Auskunftspflicht oder -berechtigung geprüft worden ist.<br />

Auskünfte im Rahmen der Bestellungsanzeige sind unbedenklich. Der Abwickler ist kein Hilfsorgan der<br />

Behörden.<br />

c) Unterzeichnung im Geschäftsverkehr<br />

Bei der Gestaltung seines Briefpapiers muss der Abwickler kenntlich machen, dass er als Abwickler<br />

handelt.<br />

d) Anzeige der Bestellung zum Abwickler an die vorhandenen Mandanten<br />

In einem Informationsbrief sollte der Abwickler den Mandanten mitteilen, dass er amtlich bestellt<br />

worden ist. Er soll darauf hinweisen, dass es seine Aufgabe ist, vorhandene Mandate weiterzuführen,<br />

wobei bereits gezahlte Gebühren angerechnet werden.<br />

2. Fortführung von Mandaten<br />

Dem Abwickler obliegt es, die schwebenden Angelegenheiten abzuwickeln (§ 55 Abs. 2 S. 1 BRAO). Zu<br />

diesem Zweck empfiehlt es sich, den aktuellen Aktenbestand des ehemaligen Kanzleiinhabers zu ermitteln<br />

(vgl. auch Ziffer 4).<br />

a) Rechtliche Stellung des Abwicklers<br />

Dem Abwickler stehen nur die anwaltlichen Befugnisse des Rechtsanwalts zu, dessen Kanzlei er<br />

abwickelt (§ 55 Abs. 2 S. 3 BRAO). Er gilt für die schwebenden Angelegenheiten als von der Partei<br />

bevollmächtigt, sofern diese nicht für die Wahrnehmung ihrer Rechte in anderer Weise sorgt (§ 55 Abs. 2<br />

S. 4 BRAO).<br />

b) Unterzeichnung im Geschäftsverkehr<br />

Der Abwickler darf das Geschäftspapier der ausgeschiedenen Kanzlei grundsätzlich verwenden, muss<br />

aber das Ausscheiden des Rechtsanwalts in geeigneter Weise kenntlich machen und klarstellen, dass<br />

er als Abwickler handelt. Alternativ kann der Abwickler seinen eigenen Briefkopf verwenden, muss<br />

aber ebenso kenntlich machen, dass er als Abwickler handelt; z.B. kann er unter seiner Unterschrift<br />

„Rechtsanwalt XX“ den Zusatz aufnehmen „Abwickler für die Kanzlei XX“.<br />

3. Annahme neuer Mandate<br />

Der Abwickler ist innerhalb der ersten sechs Monate berechtigt – aber nicht verpflichtet – als Abwickler<br />

neue Aufträge anzunehmen (§ 55 Abs. 2 S. 2, 2. Hs. BRAO).<br />

Die Abwicklung hat schnellstmöglichst zu erfolgen. Ist dies im Einzelfall innerhalb der Jahresfrist des § 55<br />

Abs. 1 S. 4 BRAO nicht möglich, ist der Abwickler verpflichtet, sich um eine Verlängerung der Abwicklung<br />

zu bemühen. Dies sollte in Absprache mit der Rechtsanwaltskammer geschehen.<br />

4. Abgeschlossene Mandate<br />

Akten können im Interesse der Anwaltschaft und des Datenschutzes aufgrund der gegenüber den<br />

Mandaten bestehenden zivil- und strafrechtlichen (§ 203 StGB) Pflicht zur Verschwiegenheit und<br />

Geheimhaltung nicht einfach vernichtet oder beliebig Dritten überlassen werden.<br />

Akten, die noch keine sechs Jahre alt sind, können entweder gem. § 50 Abs. 2 S. 3 BRAO entsorgt oder nach<br />

Ablauf der 6-Jahresfrist vernichtet werden. Für die Aufbewahrung der Altakten ist der Abwickler selbst<br />

nicht verantwortlich. Diese Pflicht trifft den Anwalt, dessen Kanzlei abgewickelt wird oder dessen Erben.<br />

Die Verschwiegenheitspflicht des Abwicklers geht auf die Erben über (§§ 55 BRAO, 203 Abs. 3 S. 3, Abs. 4<br />

StGB).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong> 405


Fach 23, Seite 1126<br />

Abwicklung einer Kanzlei<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

5. Gebühren<br />

Der Abwickler wird für Rechnung des Ausgeschiedenen tätig (§ 55 Abs. 3 S. 1 BRAO). Er ist berechtigt,<br />

jedoch außer im Rahmen eines Kostenfestsetzungsverfahrens nicht verpflichtet, Kostenforderungen des<br />

früheren Rechtsanwalts im eigenen Namen für dessen oder für Rechnung der Erben geltend zu machen<br />

(§ 55 Abs. 3 S. 2 BRAO).<br />

Es empfiehlt sich, zur Sicherung der eigenen Vergütung Kostenforderungen des Ausgeschiedenen<br />

geltend zu machen, einzuziehen und auf einem Anderkonto zu sammeln.<br />

V. Haftung<br />

Der Abwickler führt die Abwicklung eigenverantwortlich. Er haftet ab dem Zeitpunkt seiner Bestellung,<br />

und zwar nicht nur für eigene Fehler, sondern auch für haftungsbegründende Sachverhalte, die sein<br />

Vorgänger eingeleitet hat, aber durch ihn ab dem Bestellungszeitpunkt noch hätten korrigiert werden<br />

können. Deshalb sollte er unverzüglich seine Abwicklertätigkeit aufnehmen und die Bestellung seinem<br />

Versicherer mitteilen (Obliegenheit).<br />

VI. Vergütung des Kanzleiabwicklers<br />

Die Vergütung des Kanzleiabwicklers richtet sich nach den §§ 55 Abs. 3 S. 1 i.V.m. 53 Abs. 10 BRAO. Der<br />

ausgeschiedene Rechtsanwalt oder die Erben müssen dem Abwickler eine angemessene Vergütung<br />

zahlen, für die auch Sicherheit im Voraus zu leisten ist. Können sich die Beteiligten über die Höhe der<br />

Vergütung oder Sicherheit nicht einigen, muss auf Antrag des Abwicklers die Vergütung oder<br />

Sicherheit vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer festgesetzt werden. Voraussetzung für den<br />

Festsetzungsantrag ist die Dokumentation der Abwicklertätigkeit sowie des Zeitaufwands. Zeichnet<br />

sich eine Bürgenhaftung der Rechtsanwaltskammer ab, empfiehlt es sich, frühzeitig mit der Kammer<br />

Kontakt aufzunehmen und das weitere Vorgehen zu besprechen.<br />

VII. Verhältnis zwischen Abwickler und Insolvenzverwalter<br />

Ist über das Vermögen des ehemaligen Rechtsanwalts das Insolvenzverfahren eröffnet worden, treten<br />

die Regelungen der BRAO mit denen der Insolvenzordnung in Konkurrenz (FEUERICH/WEYLAND, BRAO,<br />

9. Aufl. 2016, § 55 Rn 47).<br />

Dieses Konkurrenzverhältnis ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich zugunsten des Abwicklers<br />

aufzulösen (zuletzt LG Aachen, Urt. v. 27.3.2009, BRAK-Mitt. 3/2009, S. 143 ff.).<br />

Die Sicherheit des Rechtsverkehrs rechtfertigt es, dass dem Abwickler bis zur Beendigung des<br />

Abwicklerverhältnisses sämtliche Honorare zuzusprechen sind, die er zur Finanzierung des laufenden<br />

Kanzleibetriebes zu verwenden berechtigt ist. Ihm stehen darüber hinaus sowohl Vorschüsse auf sein<br />

eigenes Honorar als auch eine erforderliche Sicherheit zu (LG Aachen, Urt. v. 27.3.2009, s.o.), die er im<br />

Rahmen des Erforderlichen aus diesen Honoraren sowie auch aus eingehenden Gebühren entnehmen<br />

darf (BGH, Urt. v. 23.6.2005 – IX ZR 139/04).<br />

Der Anspruch des Insolvenzverwalters auf Herausgabe des Erlangten wird gem. § 53 Abs. 9 S. 2 BRAO,<br />

§ 667 BGB erst mit Beendigung der Abwicklertätigkeit fällig. Der BGH lässt dabei offen, ob etwas anderes<br />

für vom Abwickler erwirtschaftete Überschüsse gilt, die nicht mehr für die weitere Abwicklung benötigt<br />

werden (BGH, Urt. v. 23.6.2005 – IX ZR 139/04).<br />

406 <strong>ZAP</strong> Nr. 8 12.4.<strong>2018</strong>

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