Ausgabe 11/2012 13. Jahrgang - hrr-strafrecht.de
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Rechtsprechung Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />
Freiheitsgrundrecht (Maßregel <strong>de</strong>r Unterbringung in<br />
einem psychiatrischen Krankenhaus); Fortdauer <strong>de</strong>r<br />
Unterbringung (Aussetzung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz;<br />
Gefahrprognose: Konkretisierung, Begründungstiefe,<br />
Beziehungstat).<br />
Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d<br />
Abs. 2 StGB<br />
1. Bei <strong>de</strong>r Vollstreckung einer Maßregel ist das Freiheitsgrundrecht<br />
<strong>de</strong>s Betroffenen unter Beachtung <strong>de</strong>s Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />
mit <strong>de</strong>m Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>s<br />
Schutzes <strong>de</strong>r Allgemeinheit vor zu erwarten<strong>de</strong>n Rechtsgutverletzungen<br />
abzuwägen. Die Freiheit <strong>de</strong>r Person darf<br />
dabei nur beschränkt wer<strong>de</strong>n, soweit dies im öffentlichen<br />
Interesse unerlässlich ist.<br />
2. Bei <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Abwägung <strong>de</strong>r Sicherungsbelange<br />
<strong>de</strong>r Allgemeinheit mit <strong>de</strong>m Freiheitsanspruch <strong>de</strong>s<br />
Untergebrachten darf nur auf die Gefahr solcher Taten<br />
abgestellt wer<strong>de</strong>n, die geeignet sind, die Maßregel zu<br />
tragen. Die Gefahr ist daher im Hinblick auf Art und<br />
Gewicht <strong>de</strong>r zu erwarten<strong>de</strong>n Taten sowie Wahrscheinlichkeit,<br />
Häufigkeit und Frequenz ihrer künftigen Begehung<br />
einzelfallbezogen zu konkretisieren. Dabei sind<br />
auch das frühere Verhalten <strong>de</strong>s Verurteilten sowie die für<br />
seine künftige Entwicklung be<strong>de</strong>utsamen Umstän<strong>de</strong> zu<br />
berücksichtigen.<br />
3. Je länger <strong>de</strong>r Freiheitsentzug andauert, <strong>de</strong>sto stärkeres<br />
Gewicht gewinnt das Freiheitsgrundrecht und umso<br />
strenger wer<strong>de</strong>n die verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung.<br />
Im Rahmen <strong>de</strong>r Abwägung ist auch auszuführen,<br />
inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete<br />
Auflagen begegnet wer<strong>de</strong>n kann. Einer beson<strong>de</strong>ren Begründung<br />
bedarf es, wenn ein Gericht – auch nur in Einzelaspekten<br />
– von einem eingeholten Sachverständigengutachten<br />
abweichen will.<br />
4. Nach einer zwölf Jahre andauern<strong>de</strong>n Unterbringung in<br />
einem psychiatrischen Krankenhaus anlässlich eines<br />
singulären, als Beziehungstat einzustufen<strong>de</strong>n Tötungs<strong>de</strong>likts<br />
genügt die – zumal in ihrem Ausmaß nicht konkretisierte<br />
– Gefahr von Körperverletzungen im privaten Umfeld<br />
nicht, um die Fortdauer <strong>de</strong>r Unterbringung zu begrün<strong>de</strong>n.<br />
Dies gilt insbeson<strong>de</strong>re, wenn ausweislich eines<br />
Sachverständigengutachtens in Belastungssituationen wie<br />
vor <strong>de</strong>r Ausgangstat eine rechtzeitige therapeutische<br />
Intervention möglich ist.<br />
1007. BVerfG 2 BvR 2819/<strong>11</strong> (1. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. September<br />
<strong>2012</strong> (OLG Naumburg / LG Halle)<br />
Rechtsstaatsprinzip; Beschleunigungsgrundsatz (Verfahrensverzögerung);<br />
Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> (Substantiierung;<br />
Subsidiarität); Verfahrensrüge.<br />
Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 23<br />
Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 92<br />
BVerfGG<br />
1. Aus <strong>de</strong>m Rechtsstaatsprinzip folgt eine Verpflichtung<br />
zur angemessenen Beschleunigung <strong>de</strong>s Strafverfahrens.<br />
HRRS November <strong>2012</strong> (<strong>11</strong>/<strong>2012</strong>)<br />
2. Eine Verfahrensverzögerung verletzt <strong>de</strong>n Beschuldigten<br />
allerdings nur dann in seinem Recht auf ein rechtsstaatliches<br />
Verfahren, wenn es sich um eine von <strong>de</strong>n Strafverfolgungsorganen<br />
zu verantworten<strong>de</strong> erhebliche Verzögerung<br />
han<strong>de</strong>lt. Nicht zu berücksichtigen sind von <strong>de</strong>m<br />
Beschuldigten selbst o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verteidigung verursachte<br />
Verzögerungen, auch wenn sie auf zulässigem prozessualem<br />
Verhalten beruhen.<br />
3. Will ein Beschuldigter eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung<br />
geltend machen, so muss er <strong>de</strong>n Verfahrensgang<br />
umfassend und vollständig und darlegen und<br />
dabei insbeson<strong>de</strong>re auf Umfang und Ursachen aller Verzögerungen,<br />
die Gesamtdauer <strong>de</strong>s Verfahrens, die Schwere<br />
<strong>de</strong>s Tatvorwurfs, <strong>de</strong>n Umfang und die Schwierigkeit<br />
<strong>de</strong>s Verfahrensgegenstan<strong>de</strong>s sowie das Ausmaß <strong>de</strong>r mit<br />
<strong>de</strong>m schweben<strong>de</strong>n Verfahren für ihn verbun<strong>de</strong>nen Belastungen<br />
eingehen.<br />
4. Mit <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> kann ein Beschuldigter<br />
Verfahrensverzögerungen, die sich nicht bereits vollständig<br />
aus <strong>de</strong>m tatrichterlichen Urteil ergeben, nur geltend<br />
machen, wenn er diesbezüglich zuvor im Revisionsverfahren<br />
eine <strong>de</strong>n formellen Anfor<strong>de</strong>rungen genügen<strong>de</strong><br />
Verfahrensrüge erhoben hat.<br />
1005. BVerfG 2 BvR 1766/12 (1. Kammer <strong>de</strong>s<br />
Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. September<br />
<strong>2012</strong> (OLG Koblenz)<br />
Wi<strong>de</strong>rruf einer Gna<strong>de</strong>nentscheidung; Wie<strong>de</strong>reinsetzung<br />
in <strong>de</strong>n vorigen Stand (Wie<strong>de</strong>reinsetzungsgrund;<br />
Rechtsbehelfsbelehrung; effektiver Rechtsschutz); Zulassung<br />
eines Beistan<strong>de</strong>s im Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>verfahren.<br />
Art. 19 Abs. 4 GG; § 23 EGGVG; § 26 Abs. 1 EGGVG;<br />
§ 22 Abs. 1 BVerfGG<br />
1. Aus Art. 19 Abs. 4 GG, <strong>de</strong>r einen möglichst effektiven<br />
Zugang zu <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>r jeweiligen Prozessordnung eröffneten<br />
gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, folgt die<br />
Verpflichtung, die Anfor<strong>de</strong>rungen an einen Antrag auf<br />
Wie<strong>de</strong>reinsetzung in <strong>de</strong>n vorigen Stand nicht zu überspannen.<br />
2. Das Fehlen einer – wenngleich gesetzlich nicht vorgesehenen<br />
– Rechtsbehelfsbelehrung kann im Einzelfall<br />
dazu führen, dass die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist<br />
als unverschul<strong>de</strong>t anzusehen und Wie<strong>de</strong>reinsetzung<br />
in <strong>de</strong>n vorigen Stand zu gewähren ist.<br />
3. Die komplexe Rechtslage bezüglich <strong>de</strong>r Justiziabilität<br />
von Gna<strong>de</strong>nentscheidungen erfor<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />
<strong>de</strong>s Art. 19 Abs. 4 GG die Erteilung einer Rechtsbehelfsbelehrung.<br />
Ist diese unterblieben, darf bei <strong>de</strong>r<br />
Entscheidung über eine Wie<strong>de</strong>reinsetzung in die Frist<br />
nach § 26 Abs. 1 EGGVG nicht allein auf Erkundigungspflichten<br />
<strong>de</strong>s Betroffenen abgestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
4. Die Zulassung eines Beistan<strong>de</strong>s im Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>verfahren<br />
nach § 22 Abs. 1 Satz 4 BVerfGG<br />
kommt nur in Betracht, wenn sie objektiv sachdienlich<br />
und subjektiv notwendig ist. Hierfür muss es <strong>de</strong>m Be-<br />
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