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Heimat-Rundblick Frühjahr 2018

Magazin für Kultur, Geschichte und Natur

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Heinrich Vogelers Friedensappell von 1918<br />

- aktuell bis heute<br />

H. Vogeler; Schützengraben<br />

32<br />

In unseren heute so friedlichen Zeiten in<br />

Europa scheinen die Gräuel der beiden Weltkriege,<br />

die von Deutschland angezettelt wurden,<br />

langsam in Vergessenheit zu geraten. Mit<br />

großer Distanz können wir die Kriege dieser<br />

Welt von sicherem Territorium aus betrachten.<br />

Kaum vorstellbar ist das Risiko, das vor einhundert<br />

Jahren Heinrich Vogeler auf sich nahm, als<br />

er seinen Friedensappell an den deutschen Kaiser<br />

schrieb. Dieser Protestbrief hat, dank der<br />

vielen weltweiten Kriegsschauplätze, heute<br />

nichts von seiner Aktualität eingebüßt, und so<br />

veröffentlichte zum Jahresanfang der Kenner<br />

der Worpsweder Kunstgeschichte Bernd Stenzig<br />

ein akribisch recherchiertes Buch über „Das<br />

Märchen vom lieben Gott“, wie Vogeler selbst<br />

sein Schreiben an den Deutschen Kaiser betitelte.<br />

Der Autor, der Privatdozent und Hochschullehrer<br />

am Institut für Germanistik der Universität<br />

Hamburg ist, schrieb schon zahlreiche<br />

Publikationen über Heinrich Vogeler. Durch<br />

seine profunden Kenntnisse von Originalquellen<br />

entsteht eine spannende Chronologie der<br />

Ereignisse – ausgehend vom Originaltext des<br />

Friedensappells, der in einem Worpsweder<br />

Museum als handschriftliche Abschrift von<br />

Heinrich Vogeler vorliegt. Vogelers militärische<br />

Karriere vom kriegsfreiwilligen Oldenburger<br />

Dragoner bis zum zeichnenden Kundschafter<br />

und Gestalter von Drucksachen ist nicht durch<br />

Heldentaten und Nationalpatriotismus<br />

geprägt, sondern zunächst von einem naiven<br />

Glauben an den Kaiser. Immer wieder pendelt<br />

der sensible Künstler zwischen Generalstab und<br />

Front hin und her und ist zunehmend erschüttert<br />

vom Elend und der Sinnlosigkeit des Krieges.<br />

Anfang Januar 1918 kehrt Vogeler, für die<br />

Familie überraschend, aus dem Krieg zurück. Er<br />

ist empört über das deutsche Verhalten<br />

während der in Brest-Litowsk stattfindenden<br />

Verhandlungen über einen Separatfrieden mit<br />

der Sowjetunion, das einen baldigen Frieden<br />

verhindert. Interessant und neu ist, dass sich<br />

Vogeler zu dieser Zeit noch als einen treuen<br />

Anhänger der Monarchie bezeichnet. Sein am<br />

20. Januar 1918 formulierter Brief an den Kaiser<br />

und auch ein weiterer Brief drei Tage später<br />

an seinen vorgesetzten Major sollen den Kaiser<br />

sowie die Oberste Heeresleitung Hindenburg<br />

und Ludendorff zu einem baldigen Friedensschluss<br />

bewegen.<br />

Im ersten Brief verwendet Vogeler dafür eine<br />

Erzählform, die an die zeitgenössische expressionistische<br />

Literatur erinnert, wie Bernd Stenzig<br />

schlüssig erläutert. Hierin kommt der „liebe“<br />

Gott als alter, trauriger Mann am 24. Dezember<br />

auf den Potsdamer Platz in Berlin und verteilt<br />

ein Flugblatt, auf dem steht: „Friede auf Erden<br />

und den Menschen ein Wohlgefallen“. Nachdem<br />

er durch die Staatsmacht standrechtlich<br />

erschossen wurde, erscheint er ein paar Tage<br />

später wieder und verweist auf die zehn Gebote.<br />

Er findet aber keine Aufmerksamkeit. Zum<br />

Abschluss fordert Vogeler Kaiser Wilhelm II. auf:<br />

„Sei Friedensfürst […] In die Knie vor der Liebe<br />

Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens.“<br />

Stenzig hält Heinrich Vogelers Bekenntnis zum<br />

Christentum für eine durchaus „gläubige“ Haltung,<br />

die sich auch ab 1917 in mehreren Briefen<br />

an seine Frau Martha und an Harry Graf<br />

Kessler belegen lassen. Heinrich Vogeler und der<br />

kunstaffine Ordonnanzoffizier Graf Kessler hatten<br />

sich 1915 bei einer gemeinsamen Frontinspektion<br />

kennengelernt.<br />

Aus Sorge der erste Brief würde vielleicht den<br />

Kaiser nicht erreichen, sendet Vogeler am 23.<br />

Januar 1918 einen weiteren Brief mit einer<br />

Abschrift des ersten auf dem ordentlichen<br />

Dienstweg über seinen Major mit der Bitte um<br />

Weiterleitung an Ludendorff. In diesem doppelt<br />

so langen Begleitbrief ist zu spüren, dass Vogeler<br />

über die Auswirkungen des Krieges außer<br />

sich ist. „Unser Volk ist am Ende, die Revolution<br />

lebt wie eine fressende Flamme. Kein Brot, keine<br />

Sättigung kann sie ausschalten! Wahrheit!<br />

Wahrheit, gebt den Menschen Wahrheit!“<br />

Diese Briefe setzt Bernd Stenzig in den historischen<br />

Kontext und bescheinigt Vogeler eine<br />

politische Weitsicht. Wenige Tage später treten<br />

über anderthalb Millionen Arbeiter, angeführt<br />

durch das linke politische Spektrum, in den<br />

Streik – und Heinrich Vogeler findet sich<br />

„unversehens auf Seiten derLinken wieder. Im<br />

Bürgertum ist er damit ein Sonderfall, er tritt<br />

ein erstes Mal heraus aus seiner Klasse“, so<br />

Stenzig. Beide Briefe könnte man todesmutig<br />

nennen, vielleicht sind sie aber auch in einer<br />

tiefen Depression geschrieben worden. Es ist<br />

nicht überliefert, ob der Kaiser die Briefe gelesen<br />

hat. Im Hauptquartier beim Ersten Generalquartiermeister<br />

Erich Ludendorff sorgte der<br />

Brief für Empörung. Der Befehl, Heinrich Vogeler<br />

standrechtlich zu erschießen, ist dann aber<br />

doch zu einer Einweisung in die Bremer Irrenanstalt<br />

abgewandelt worden. Am 27. Februar<br />

wird Vogeler wieder entlassen.<br />

Im Verlauf der nächsten Jahre entwickelt<br />

Vogeler eine eigene politische Weltanschauung,<br />

in der er auf unorthodoxe Weise Religion und<br />

Rätekommunismus verknüpft, findet dafür aber<br />

weder bei den örtlichen noch bei den Bremer<br />

Kommunisten Verständnis. Seine Kommune<br />

Barkenhoff, eine Insel im kapitalistischen Staat,<br />

bleibt ein Solitär und scheitert nach wenigen<br />

Jahren.<br />

Im letzten Kapitel geht Bernd Stenzig ausführlich<br />

auf die Bedeutung des Kaiserbriefs in<br />

Vogelers letzten Lebensphase von 1931 bis 1942<br />

in der Sowjetunion ein. Heinrich Vogeler bezog<br />

sich später immer wieder auf diesen Brief, um<br />

seinen frühen Einsatz für den Kommunismus<br />

deutlich zu machen. Er geht dabei so weit, seine<br />

eigenen Intentionen und politischen Einstellungen<br />

nachträglich umzudeuten, um sich als<br />

treuen Parteigänger darzustellen. Warum er<br />

dies tat, stellt Stenzig umfassend dar – sein<br />

Ausschluss 1929 aus der KPD in Deutschland,<br />

die Umsiedlung nach Moskau 1931, seine<br />

beruflichen und persönlichen Schwierigkeiten<br />

bis hin zu seiner Zwangsevakuierung 1941, die<br />

1942 zu seinem einsamen Tod in der kasachischen<br />

Steppe führt. Insbesondere das Studium<br />

der Komintern-Kaderakte im Russischen Zentrum<br />

für die Aufbewahrung und Erforschung<br />

RUNDBLICK <strong>Frühjahr</strong> <strong>2018</strong>

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