Alnatura Magazin Juni 2018
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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG FAMILIE<br />
»Es ist normal, nicht<br />
normal zu sein.«<br />
Wenn Eltern zu viel über die Eigenheiten ihrer<br />
Kinder nachdenken, hat das auch gesellschaftliche<br />
Gründe. Ein Gespräch mit der Identitätsforscherin<br />
Ursula Stark Urrestarazu.<br />
Redaktion: Frau Stark<br />
Urrestarazu, Sie haben selbst<br />
zwei Kinder. Sind die normal?<br />
Ursula Stark Urrestarazu: »Ich würde<br />
sagen, ich habe zwei Bilderbuchkinder.<br />
Was nicht heißt, dass es immer einfach<br />
war. Um Eltern ans Ende ihrer Kräfte zu<br />
bringen, braucht es kein schwieriges<br />
Kind. Das schafft jedes.«<br />
Kann es sein, dass Eltern das immer<br />
weniger zugeben können? Die Anzahl<br />
der Kinder, denen ein Label zugewiesen<br />
wird, steigt. Es gibt ADHS, diverse<br />
Lernschwächen, inzwischen auch Hochsensibilität<br />
und High-Need-Kinder.<br />
»Ja, die ›Labelitis‹ nimmt zu. Wobei man<br />
genau unterscheiden muss. Es gibt Fälle,<br />
in denen eine medizinische Diagnose viel<br />
Sinn macht und eine große Erleichterung<br />
für das Leben der Familien bedeutet.<br />
Mit Labelitis meine ich: Eltern, die danach<br />
suchen, weshalb ihr Kind besonders sein<br />
könnte. Sie suchen nach einem Grund für<br />
ihre eigene Verunsicherung und ihre<br />
Erschöpfung.«<br />
Warum sind Eltern denn so erschöpft?<br />
»Der soziale Druck ist hoch, die Rahmenbedingungen<br />
sind schwierig. Oft sind beide<br />
Partner berufstätig, Entlastung durch<br />
Großeltern hat nicht jede Familie. Bei Problemen<br />
suchen Eltern Orientierung bei<br />
anderen Eltern, wo sie schnell das Gefühl<br />
bekommen: Alle anderen haben einfache<br />
Kinder, nur wir nicht. Dass es nur Ausschnitte<br />
sind, die man von den anderen<br />
sieht, macht man sich zu wenig bewusst.<br />
Läuft es nicht gut, sucht man Erklärungen<br />
– und findet Labels. Für mich sind Labels<br />
Identitätsmarker.«<br />
Was bedeutet das genau?<br />
»Identitätsmarker sind Merkmale, die dabei<br />
helfen, sich in sozialen Gruppen zu<br />
verorten. Das ist ein menschliches Grundbedürfnis.<br />
Wir alle wollen wissen, wer wir<br />
sind. Traditionelle Identitätsmarker wie<br />
Religion oder Dorfzugehörigkeit haben<br />
an Bedeutung verloren, leichter definiert<br />
man sich heute über die Kinder oder den<br />
Erziehungsansatz.«<br />
Ein Heft für Sie – und Ihre Kinder!<br />
Das Interview in voller Länge finden<br />
Sie im <strong>Magazin</strong> »Süddeutsche Zeitung<br />
Familie«, das es ab jetzt am Kiosk oder<br />
im Abo zu kaufen gibt. »Süddeutsche<br />
Zeitung Familie« besteht aus zwei Teilen,<br />
einem für Kinder und einem für Erwachsene.<br />
Die Hefte können nebeneinander<br />
und miteinander gelesen werden. Das<br />
Kinderheft eignet sich für Kinder ab vier<br />
Jahren und ist komplett werbefrei.<br />
Unter sz.de/alnatura können Sie eine<br />
Testausgabe gratis bestellen!<br />
Wurde über Erziehung früher<br />
weniger diskutiert?<br />
»Ja, als es noch stabilere Familienstruk turen<br />
gab. Das Wissen wurde von Ge neration<br />
zu Generation weitergegeben und<br />
über das, was richtig und falsch ist, war<br />
man sich weitgehend einig. Heute trifft<br />
eine Explosion an Deutungsmöglichkeiten<br />
auf verunsicherte Eltern. Wir müssen uns<br />
mehr anstrengen, um heraus zufinden,<br />
wer wir sind und sein wollen.«<br />
Das ist ein Fortschritt: Wir entscheiden<br />
selbst, was für Eltern<br />
wir sein wollen.<br />
»Ja, das ist bei aller Verunsicherung auf<br />
jeden Fall eine große Errungenschaft.«<br />
Ist es eine gute Idee, sich der eigenen<br />
Identität zu versichern, indem man<br />
seinem Kind ein Label verpasst?<br />
»Es ist weder gut noch schlecht. Wichtiger<br />
ist es, zu erkennen, dass wir labeln und<br />
weshalb wir das tun. Und sich gleichzeitig<br />
bewusst zu machen, wie vielschichtig<br />
und veränderbar Kinder dennoch sind.<br />
Ein einzelner Begriff ist nicht ausreichend,<br />
um einen Menschen zu beschreiben. Jeder<br />
trägt so viele Eigenschaften, Interessen<br />
und Begabungen in sich, die sich zum Teil<br />
ergänzen, zum Teil aber auch widersprechen.<br />
Labels neigen dazu, diese Komplexität<br />
zu reduzieren.«<br />
Und helfen den Eltern?<br />
»Ja, sie können helfen. Statt sich ausgegrenzt<br />
zu fühlen und ständig zu<br />
bedauern, dass sie ein – in ihren Augen –<br />
44 <strong>Alnatura</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>Juni</strong> <strong>2018</strong>