08.06.2018 Aufrufe

Alnatura Magazin Juni 2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG FAMILIE<br />

»Es ist normal, nicht<br />

normal zu sein.«<br />

Wenn Eltern zu viel über die Eigenheiten ihrer<br />

Kinder nachdenken, hat das auch gesellschaftliche<br />

Gründe. Ein Gespräch mit der Identitätsforscherin<br />

Ursula Stark Urrestarazu.<br />

Redaktion: Frau Stark<br />

Urrestarazu, Sie haben selbst<br />

zwei Kinder. Sind die normal?<br />

Ursula Stark Urrestarazu: »Ich würde<br />

sagen, ich habe zwei Bilderbuchkinder.<br />

Was nicht heißt, dass es immer einfach<br />

war. Um Eltern ans Ende ihrer Kräfte zu<br />

bringen, braucht es kein schwieriges<br />

Kind. Das schafft jedes.«<br />

Kann es sein, dass Eltern das immer<br />

weniger zugeben können? Die Anzahl<br />

der Kinder, denen ein Label zugewiesen<br />

wird, steigt. Es gibt ADHS, diverse<br />

Lernschwächen, inzwischen auch Hochsensibilität<br />

und High-Need-Kinder.<br />

»Ja, die ›Labelitis‹ nimmt zu. Wobei man<br />

genau unterscheiden muss. Es gibt Fälle,<br />

in denen eine medizinische Diagnose viel<br />

Sinn macht und eine große Erleichterung<br />

für das Leben der Familien bedeutet.<br />

Mit Labelitis meine ich: Eltern, die danach<br />

suchen, weshalb ihr Kind besonders sein<br />

könnte. Sie suchen nach einem Grund für<br />

ihre eigene Verunsicherung und ihre<br />

Erschöpfung.«<br />

Warum sind Eltern denn so erschöpft?<br />

»Der soziale Druck ist hoch, die Rahmenbedingungen<br />

sind schwierig. Oft sind beide<br />

Partner berufstätig, Entlastung durch<br />

Großeltern hat nicht jede Familie. Bei Problemen<br />

suchen Eltern Orientierung bei<br />

anderen Eltern, wo sie schnell das Gefühl<br />

bekommen: Alle anderen haben einfache<br />

Kinder, nur wir nicht. Dass es nur Ausschnitte<br />

sind, die man von den anderen<br />

sieht, macht man sich zu wenig bewusst.<br />

Läuft es nicht gut, sucht man Erklärungen<br />

– und findet Labels. Für mich sind Labels<br />

Identitätsmarker.«<br />

Was bedeutet das genau?<br />

»Identitätsmarker sind Merkmale, die dabei<br />

helfen, sich in sozialen Gruppen zu<br />

verorten. Das ist ein menschliches Grundbedürfnis.<br />

Wir alle wollen wissen, wer wir<br />

sind. Traditionelle Identitätsmarker wie<br />

Religion oder Dorfzugehörigkeit haben<br />

an Bedeutung verloren, leichter definiert<br />

man sich heute über die Kinder oder den<br />

Erziehungsansatz.«<br />

Ein Heft für Sie – und Ihre Kinder!<br />

Das Interview in voller Länge finden<br />

Sie im <strong>Magazin</strong> »Süddeutsche Zeitung<br />

Familie«, das es ab jetzt am Kiosk oder<br />

im Abo zu kaufen gibt. »Süddeutsche<br />

Zeitung Familie« besteht aus zwei Teilen,<br />

einem für Kinder und einem für Erwachsene.<br />

Die Hefte können nebeneinander<br />

und miteinander gelesen werden. Das<br />

Kinderheft eignet sich für Kinder ab vier<br />

Jahren und ist komplett werbefrei.<br />

Unter sz.de/alnatura können Sie eine<br />

Testausgabe gratis bestellen!<br />

Wurde über Erziehung früher<br />

weniger diskutiert?<br />

»Ja, als es noch stabilere Familienstruk turen<br />

gab. Das Wissen wurde von Ge neration<br />

zu Generation weitergegeben und<br />

über das, was richtig und falsch ist, war<br />

man sich weitgehend einig. Heute trifft<br />

eine Explosion an Deutungsmöglichkeiten<br />

auf verunsicherte Eltern. Wir müssen uns<br />

mehr anstrengen, um heraus zufinden,<br />

wer wir sind und sein wollen.«<br />

Das ist ein Fortschritt: Wir entscheiden<br />

selbst, was für Eltern<br />

wir sein wollen.<br />

»Ja, das ist bei aller Verunsicherung auf<br />

jeden Fall eine große Errungenschaft.«<br />

Ist es eine gute Idee, sich der eigenen<br />

Identität zu versichern, indem man<br />

seinem Kind ein Label verpasst?<br />

»Es ist weder gut noch schlecht. Wichtiger<br />

ist es, zu erkennen, dass wir labeln und<br />

weshalb wir das tun. Und sich gleichzeitig<br />

bewusst zu machen, wie vielschichtig<br />

und veränderbar Kinder dennoch sind.<br />

Ein einzelner Begriff ist nicht ausreichend,<br />

um einen Menschen zu beschreiben. Jeder<br />

trägt so viele Eigenschaften, Interessen<br />

und Begabungen in sich, die sich zum Teil<br />

ergänzen, zum Teil aber auch widersprechen.<br />

Labels neigen dazu, diese Komplexität<br />

zu reduzieren.«<br />

Und helfen den Eltern?<br />

»Ja, sie können helfen. Statt sich ausgegrenzt<br />

zu fühlen und ständig zu<br />

bedauern, dass sie ein – in ihren Augen –<br />

44 <strong>Alnatura</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>Juni</strong> <strong>2018</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!