„Bauernbefreiung“ – eine kurze Einführung
„Bauernbefreiung“ – eine kurze Einführung
„Bauernbefreiung“ – eine kurze Einführung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Zwischen 1650 und 1800 verdoppelte sich mithin die Zahl der Hofstellen im<br />
Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. An dieser Verdoppelung waren aber die<br />
einzelnen Hofklassen unterschiedlich beteiligt. Am geringsten war die Zunahme bei<br />
den Halbmeiern, größer fiel sie bei den Ackerhöfen und den Kothöfen aus;<br />
entscheidend für die Zunahme war jedoch die Entstehung der neuen unterbäuerlichen<br />
Schicht der Brinksitzer (und Anbauer), die 1800 deutlich mehr Stellen umfasste als die<br />
übrigen Höfe zusammen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in den anderen<br />
niedersächsischen Territorien in z.T. noch größerem Maße beobachten. Vom Ende des<br />
Dreißigjährigen Krieges bis 1800 hatte sich die Einwohnerzahl auf dem flachen Lande<br />
etwa verdoppelt. Diese Verdoppelung ist insofern bemerkenswert, als es sich dabei um<br />
Anerbengebiete handelte, in denen es gewisse Grenzen für die Anlage neuer Hofstellen<br />
gab. Im Realteilungsgebiet des Eichsfeldes wuchs die Einwohnerzahl sogar um das<br />
Dreifache. 129 Überall hatte die Zahl der kl<strong>eine</strong>n Stellen rapide zugenommen, während<br />
die Zahl der bäuerlichen Betriebe aufgrund des Anerbenrechts begrenzt blieb. 130<br />
Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Westniedersachsen statt. Im Kirchspiel<br />
Belm blieb seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Zahl der großen Höfe konstant, die<br />
der kl<strong>eine</strong>ren stieg erst Anfang des 19. Jahrhunderts etwas an, während die Haushalte<br />
von 250 Anfang des 17. Jahrhunderts bis auf knapp 600 Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
zunahmen, worunter sich über 400 Heuerlingsstellen befanden. 131 Das Anerbenrecht<br />
verhinderte damit zwar erfolgreich <strong>eine</strong> Auflösung der bäuerlichen, jedoch nicht die<br />
Entstehung <strong>eine</strong>r breiten landlosen Bevölkerungsschicht. „Nicht innerhalb des Kreises<br />
der bäuerlichen Besitzer fanden also die wesentlichen Verschiebungen statt, sondern<br />
das außerordentliche Wachstum der eigentumslosen Schicht veränderte das Gesicht<br />
dieser ländlichen Gesellschaft.“ 132<br />
Die innerdörflichen Verhältnisse standen in <strong>eine</strong>m größeren sachlichen wie<br />
räumlichen Kontext. Sie waren abhängig von der allgem<strong>eine</strong>n Politik des Landesherrn<br />
und s<strong>eine</strong>r Beamten, zugleich eingebunden in die überregionale Nachfrage nach<br />
Arbeitskräften oder gewerblichen Erzeugnissen. Damit war die dörfliche Gesellschaft<br />
vor den Agrarreformen weder harmonisch noch stabil. Dass sie nicht idyllisch war,<br />
dürfte inzwischen k<strong>eine</strong> besondere Aufmerksamkeit mehr erregen, wichtiger ist aber<br />
ihre Instabilität. Das war die notwendige Folge der beschriebenen Verhältnisse. Analog<br />
zur Konjunkturforschung kann man zwei Arten der Instabilität beschreiben. Zuerst<br />
war diese Gesellschaft in hohem Maße von den natürlichen Ressourcen abhängig,<br />
wobei die entscheidende Variable nicht der Boden, sondern das Klima war. Die in<br />
unterschiedlichen Abständen ausbrechenden Erntekrisen und die von Jahr zu Jahr stark<br />
schwankenden Erntemengen sind darauf zurückzuführen. 133<br />
Diese Dynamik wurde überlagert und ergänzt durch die interregionalen und<br />
internationalen Verflechtungen nordwestdeutscher Regionen, welche zwar den<br />
ländlichen Regionen <strong>eine</strong> relativ lange und vermeintlich stabile Wohlfahrtsphase<br />
verschafften, sie aber in neue, elementare Abhängigkeiten führten. Diese<br />
Verflechtungen führten allerdings zu <strong>eine</strong>m regionalen Anpassungsmuster, das durch<br />
<strong>eine</strong> hohe Variationsbreite gekennzeichnet ist, und in zeitgenössischen Reiseberichten<br />
129 SCHNEIDER, SEEDORF (1989), S. XX.<br />
130 GREES (1983).<br />
131 SCHLUMBOHM (1994), S.54 f.<br />
132 Ebd., S. 58.<br />
133 Dazu allgemein und immer noch grundlegend: ABEL (1978b).<br />
31